Helene Böhlau
In frischem Wasser
Helene Böhlau

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Siebentes Kapitel.

Hans Ludwig Schmidt führt seinen Freund in das stille Reich, das er ihm erobert hat. – Aus der Dunkelheit fällt ein Schuß und trifft, und der, welcher den Schuß getan hat, wandert weiter und weiß nichts davon, daß durch seine Schuld ein Verwundeter am Wege liegt. – Es wird etwas geplant, und Hans Ludwig Schmidt ist obenauf.

Hans Schmidt ging den Tanten nach, und als sie glücklich die Schwelle überschritten hatten, so daß die Gefahr 132 ihrer Wiederkehr minder groß schien, rief er sie zurück und gab ihnen kurze, deutliche Befehle, welche die Räumung ihres Zimmers betrafen.

Die Tanten hörten kopfschüttelnd zu und stiegen wehmütig und erstaunt die Treppe hinauf, um das Werk der Zerstörung in dieser nächtlichen Stunde zu beginnen.

Ebenso gab Hans Schmidt an Anna die Anordnung, Obrists Bett in das Zimmer hinaufschaffen zu lassen. Er bot seine Hilfe dazu an.

Dickchen blieb bei dem Vater zurück. Im Hause war inzwischen alles wach geworden, alles fragte, alles lief, alles rannte durcheinander. Alles wollte helfen, wollte beistehen. Und Hans Schmidt hatte übermenschlich zu tun, das Leben, das aus jeder Ecke quoll, zu beschwichtigen. Er ruhte keinen Augenblick, verlor keinen Augenblick, bis das Zimmer für seinen Freund so weit hergerichtet war, daß der Kranke darin gebettet werden konnte. Die Tanten hatten die Wände ihres Aufenthaltes mit Heiligtümern aller Art belebt. Photographien, verblaßte und unverblaßte, gestickte Haussegen in allen Farben, Stammbuchblätter, Flanellherzen und -würste mit Stecknadeln gespickt, alldies hing in mannigfaltigstem Durcheinander. Hans Schmidt, der offenbar wenig pietätvoll von diesen Kostbarkeiten dachte, entfernte alles miteinander, ziemlich eilfertig und übergab es den Tanten, die es mit stummer Entrüstung in Empfang nahmen und sehr energisch auch nach den Drahtstiften fragten, mit denen ihre Heiligtümer befestigt waren. Bei allem, was die beiden würdigen Damen während dieser geschäftigen Nacht vorbereiten halfen, bei allem, was sie hantierten, fragten, erwiderten, einwandten, war bei beiden eine merkwürdige Spannung und Erregtheit gegen Hans Ludwig Schmidt bemerkbar.

133 Nachdem alles beendet war, begab sich Hans Schmidt zu seinem Freunde ins Atelier.

Als er eintrat, stand Anna am Fenster und blickte sonderbar forschend auf ihn. Dickchen stand in ihrer Nähe, und beide machten auf Hans Ludwig Schmidt den Eindruck wie zwei verscheuchte Vögel, die sich müde und verwirrt mit pochendem Herzen an einen Zufluchtsort angeduckt haben und das Schicksal über sich ergehen lassen.

Hans Schmidt beugte sich über Heinrich Obrist, legte diesem die Hand auf die brennende Stirn und flüsterte ihm ein paar Worte zu. Dickchen folgte gespannt seinen Bewegungen. Er flüsterte weiter, stützte den Kopf in die Höhe, und Obrist schien wie im Traume auf das zu achten, was Hans Schmidt zu ihm sprach. Er nickte einmal kaum merklich, und sein Kopf sank an die Schulter seines Freundes. So blieb er eine geraume Weile ruhen, ohne sich zu regen, in dumpfer, fieberhafter Teilnahmlosigkeit.

Hans Schmidt half ihm behutsam sich weiteraufrichten, stützte, führte, hielt ihn, bis er endlich auf den Füßen stand, hing ihm den Mantel um die Schultern, der auf den Teppich geglitten und von Dickchen aufgehoben worden war, und geleitete ihn fest umfangen und gehalten zur Tür. Anna war ein paar Schritte vorwärts geeilt, um zu helfen. Über ihrem ganzen Wesen lag ein Hauch von Hilfsbedürftigkeit und jetzt der scheue Wunsch, alles zu tun, alles zu leisten, was nur zu erdenken war.

So, wie sie in ihrer Heiterkeit, ihrer unerschütterlichen Harmlosigkeit wie ein gutartiges Kind geblieben war, so trug sie auch den Schmerz wie ein von seinem Schuldbewußtsein ganz betroffenes und überraschtes Kind, ohne Bitterkeit, ohne Stolz, ohne Selbstbewußtsein.

Als sie dem Armen nacheilen wollte, hielt ein Blick von 134 Hans Schmidt sie zurück, und sie blieb befangen und unschlüssig stehen.

Auf der Treppe mußten sie an den Tanten vorüber, die sich da wieder hinpostiert hatten.

»Nun – und Anna? – Anna?« fragten diese beiden im Chor, als hätten sie es sich eingeübt.

Hans Schmidt erwiderte nichts.

Er hielt seinen Freund mit einer Miene, als entführte er ihn aus der Welt. Er hielt ihn wie einer seine Beute hält, die er aller Augen entziehen will und die er in irgendeinen unbekannten Aufenthaltsort zu schleppen vorhat.

Die Tanten blickten erstaunt und sprachlos einander an. Die eine machte Miene, Obrist, der sich kaum zu halten vermochte, zu stützen.

»Fort – fort«, sagte Hans Schmidt ruhig und unerschütterlich, so daß sie so hastig, als hätte sie sich verbrannt, in allerhöchstem Ärger die Arme zurückzog.

So gelangten die beiden in das stille, einsam gelegene Zimmer. Die grauweiße Morgendämmerung war hereingebrochen; die Lampe, die dem kranken Gast leuchten sollte, stand verdeckt hinter einem großen Buche und brannte schon strahlenlos, dunstig rot.

»So, nun sollst du Ruhe haben«, sagte Hans Schmidt wie zu einem Kinde; half ihm sich entkleiden und half ihm sich niederlegen.

Und als der Kranke brennend und glühend in seinem Bette lag und sein treuer Wächter neben ihm saß, war in dem freundlichen Zimmer ein Anfang von Frieden und Ruhe zu spüren.

Hans Ludwig Schmidt hatte sich, ohne jemand darum zu befragen, im Hause seines Freundes eingenistet und benahm sich in diesem Hause so, als hätte das Schicksal ihm 135 unbestrittenes Anrecht an dem Menschen gegeben, den er, von allem Lebensmut verlassen, vom Leben ausgestoßen, am Wege, den Tod erwartend, gefunden hatte.

Niemand ließ er das Zimmer betreten, Tag und Nacht blieb er allein um den Kranken.

Nur ein paar Stunden des Tags löste Anna ihn ab.

Außerdem aber bewachte er die Tür wie ein Teufel.

Dickchen durfte die Botin sein, die hin und wieder leise pochte, um etwas zu bringen oder nach Hans Ludwig Schmidts Wünschen zu fragen. Über dem ganzen Hause lag eine angstvolle, unnatürliche Stille, eine Stille, als wäre eine Quelle, die stark und lärmend aus der Erde sprudelte, mit einemmal verschwunden und verkrochen und man müßte jeden Augenblick ihr Hervorbrechen wieder erwarten.

Die Kinder schlichen umher und wurden dennoch von aller Welt zur Ruhe gewiesen.

Wer eigentlich krank war, wen sie zu bedauern hatten, wem zu Liebe jeder Ton im Hause erstorben war, schien ihnen nicht klar. Der Vater war ihnen entrückt, das Zimmer, in dem er lag, das sie nicht betreten, in dessen Nähe sie sich nicht wagen durften, war für sie meilenweit entfernt. Ihre Mutter aber, die sie sehen und sprechen durften, derentwegen schienen sie große Bedenken haben zu müssen.

Durch den Gegensatz wurden sie vom Schicksal belehrt, das nun einmal einen jeden in die Kur nimmt und niemand von erster grüner Jugend an ungeschoren läßt, daß es sehr angenehm sei, eine lustige, gesprächige, geduldige Mutter zu haben, eine Mutter, bei der es eine gewöhnliche Erscheinung war, daß sie auf der Treppe sang, bei der Arbeit pfiff und zu jeder Zeit sich als gesprächig erwies; eine Mutter, von der es nicht einmal unangenehm war, 136 einen tüchtigen Klapps zu bekommen, weil dieser Klapps keine weiteren üblen Folgen nach sich zog, sondern gestattete, in kurzer Zeit dennoch ebenso heiter und geachtet sein zu dürfen wie vordem.

Diese Mutter war ihnen, wie schon gesagt, äußerst angenehm gewesen. Die Knaben, die die Schule besuchten, waren sich längst klar darüber und befürchteten in diesen Tagen das Schlimmste, nämlich, daß ihr Stolz, eine Mutter mit einem langen, blonden Zopf und einem blauen Malerkittel zu besitzen, sein Ende erreicht haben könnte. Ihr Ernst, ihre Schweigsamkeit machte ihnen den Eindruck, als hätte sie eine große lila Mütze aufgesetzt, wie sie die Tanten hin und wieder trugen. Sie kam ihnen wie eine alte Frau vor, tat ihnen leid, und sie hielten sich in einer ziemlich herzlosen Scheu, wie sie gesunden, kräftigen Kindern in solchem Falle eigen ist, fern von ihr.

Hans Ludwig Schmidt hatte einen schweren Posten, Obrist war von einem gehörigen Fieber gepackt und von einer qualvollen Unruhe. Keinen Augenblick, Tag und Nacht, fand er körperlich und geistig Frieden. Träume, Phantasien, undeutlich verworrene Vorstellungen und Empfindungen quälten ihn. Hans Schmidt, der tief überzeugt war, daß ein Arzt nicht helfen könne, hatte darauf gedrungen, keinen Arzt zu rufen. Das Gespräch, das er vor wenigen Tagen über Patienten und Arzte geführt, hatte ihn zu diesem Entschluß gebracht. Er fürchtete, wenn er zum Beispiel seinen guten Bekannten mit den Tabellen in der Rocktasche würde kommen lassen, daß dieser über die kranke Halbnatur, die bewußtlos und leidend dalag, die Nase rümpfen, eine Tabelle hervorziehen und beweisen würde, daß man damit anfangen müßte, die Ursache dieser krankhaften Ausartung zu beseitigen, zum Beispiel ein 137 unvorteilhaftes, Kräfte aussaugendes Unterrichtswesen, daß es aber verlorene Mühe sei, an einer verkrüppelten, schwachen Natur herumzudoktern.

So ein elender Theorienmensch!

Hans Ludwig Schmidt hatte ganz recht. Ein Mensch, der auffällig von irgendeiner Theorie gepackt ist, ist wie ein Geblendeter, ein Unzurechnungsfähiger, dem man um Gottes willen nur solange allenfalls trauen darf, solange er auf seiner gewohnten, von ihm ausgetretenen Straße geht.

Jedes Rezept, das der Verfasser der Tabellen seinem Freund gereicht hätte, wäre Hans Schmidt als persönliche Beleidigung gegen diesen erschienen.

Er wollte nicht, daß irgendeiner seinen armen Meister, dessen reich begabter Geist jetzt in einem kranken, zerrütteten Körper steckte, von oben herab ansehen sollte, wie ein Aufgeblasener einen schön gewachsenen, mit Lumpen bedeckten Bettler ansehen mag. Niemand sollte ihn jetzt berühren, der ihn nicht hochhielt, achtete und liebte.

Die Tanten waren über Hans Schmidts gottloses herausforderndes Benehmen, einen Schwerkranken ohne Beihilfe eines verständigen und gewissenhaften Arztes zu pflegen, empört. Jeder zu beschaffende Medizinalrat oder gar Obermedizinalrat aus der Nachbarschaft schien in den Augen der würdigen Damen dies schmeichelhafte Prädikat unbedingt zu verdienen.

Sie machten Anna bittere Vorwürfe über ihren Leichtsinn, »einen Familienvater« so einem jungen, unverständigen Menschen vollkommen zu überlassen.

 

An einem der Tage, in denen Obrists Zustand zwischen dumpfem Schlaf und heftigen, erregten Fieberanfällen 138 wechselte, saß Anna in seinem Zimmer mit einer Arbeit in der Hand.

Hans Schmidt war ausgegangen.

Schon seit Stunden lag Obrist ohne jede Regung mit geschlossenen Augen. Sein heftiger, schwerer Atem zeigte, daß er von keinem gesunden Schlaf befangen war, sondern von Fieberglut bedrückt und niedergehalten wurde. Anna arbeitete, ohne aufzublicken, und über dem Zimmer lag eine trübe, schwere Stimmung. In des armen Weibes Herz sah es bewegungslos und hoffnungslos aus.

Was sollte sie hoffen, was wollen? Er war lange Jahre unglücklich, krank gewesen, unfähig, sich in den Verhältnissen, in denen er lebte, seine Kraft zu erhalten. Sollte er wieder genesen? ganz genesen? Sie glaubte es nicht. Sollte es der Tod sein, auf den es jetzt schon hinauslief? Vielleicht.

Annas Herz zog sich krampfhaft zusammen. Es war zum erstenmal, daß sie den Tod wahrhaft fühlte, fühlte, als ginge er sie selbst etwas an – die Todesangst kroch ihr zum Herzen. Wer sollte sterben? Wer sollte es sein? Mußte man sterben, müssen alle sterben? Unumgänglich sterben? War es denn nötig? War es denn so? Konnte er, der hier vor ihr lag, so vor ihren Augen zu nichts werden – zu nichts, zu gar nichts? – Das konnte nicht sein. Nein – nie!

Sie stellte ihn sich tot vor. Sie dachte: so wird er liegen, wenn er tot ist – so in seinem Bett ausgestreckt –, die Augen werden ihm geschlossen sein. Das Haar wird ihm über die Stirn liegen so wie jetzt – es wird alles sein wie jetzt – – kühl wird er sein – zum Entsetzen. Ihre Gedanken begannen sonderbar zu erstarren.

So ein Mensch, den man geliebt hat, geliebt mit jedem 139 Herzschlag, den soll man einmal liegen sehen müssen als etwas ganz Fühlloses, Kaltes, Wertloses, als ein Stück leblose Natur, als ein Stück herzlose Erde. Wie ist ein Toter schrecklich! schrecklich! tönte es erschütternd durch Annas ganzes Wesen.

So stand sie unter dem Bann der erbarmungslosen Natur, die keine Rettung, keine Ausnahme, keine Gnade kennt.

Anna wagte nicht, nach ihrem Manne zu blicken. Sie wagte nicht, die Augen zu erheben. Sie wagte, während die Qual alles Lebendigen, die Todesangst, sie in verzweiflungsvolle Furcht hineinjagte, nicht, mit ihrer Arbeit innezuhalten. Ihre Finger regten sich emsig, währenddem ihre arme Seele wie ein gehetztes Tier da hin und dort hin stürzte, um dem Verderben zu entfliehen.

Sie atmete kaum. Ihre Stirn und ihre Hände waren kalt.

Während sie die größte Qual empfand, die auf jedem lebenden Geschöpfe liegt, die mit ihm geboren wird, wie sein Atmen, sein Hören, Sehen und Fühlen, die Qual, die es nie und nimmer abschütteln kann, bis zum letzten Augenblick nicht, in dem es von dieser Qual endlich selbst gepackt, erwürgt und vernichtet wird; – während sie dies namenlose Leid im vollen Bewußtsein ungemildert von jedem Trost über sich ergehen ließ, ruhten ein paar fieberglühende, trübe Augen auf ihr.

»Geh nur – geh nur!« rief eine heftige, hastige, fremde Stimme, wie sie noch nie über diese Lippen gekommen war. »Du bist nie gegangen, wenn ich es dir gesagt habe – du bist immer aufgesessen – du gehst nicht.« – Die Stimme wurde hastiger, angstvoller. – »Du gehst wieder nicht, 140 wenn ich es sage. – Du hast es nie glauben wollen!« Er stöhnte tief auf. »Ja bleibt – bleibt alle!«

Anna hatte sich erhoben – zitternd. Ihre Augen waren groß und starr auf den Kranken gerichtet, der ausdruckslos und unruhig um sich blickte, der nichts sah und nichts begriff. »Heinrich! Heinrich!« flüsterte das arme Weib angstvoll. Sie hielt sich an dem Stuhl, von dem sie aufgefahren war, und stand, ohne sich zu bewegen, wie gelähmt. Sie sah, wie die trüben, kranken Augen sich wieder schlossen, wie wieder die dumpfe Ruhe über das Gesicht schlich und die Erregtheit daraus verlöschte.

Die erste Bewegung, die Anna überkam, war, daß sie sich nach dem Herzen fuhr, als hätte sie eine Wunde empfangen. Eine Kugel, abgeschossen, von einem, der nicht wußte, daß sie getroffen hatte, und der nun unbekümmert seinen Weg in Nacht und Nebel fortsetzte. Dumpf, durch Trostlosigkeit gehend, schlich Anna aus dem Zimmer, schloß die Tür hinter sich und sank in die Knie, getroffen und verwundet. So blieb sie lange. Ihre Augen waren voll Tränen, aber sie weinte nicht. Eine bittere Klage lag auf den Lippen; sie schwieg aber regungslos still. Wozu weinen? Lauschend kniete sie, ob irgend etwas im Zimmer sich regte. Es blieb totenstill. Der, der das arme Herz getroffen hatte, war von dumpfer Nacht umgeben und weit entrückt.

Als Anna Hans Schmidts Schritte auf der Treppe hörte, machte sie sich auf und ging, ohne ein Wort an ihn zu richten, an ihm vorüber. Sie trat zu den Kindern ein, die um den großen Tisch, auf dem die Lampe schon brannte, unter der Oberaufsicht der Tanten versammelt waren.

Da blieb sie einen Augenblick in der Tür stehen. Gerade 141 vor ihr, den Rücken ihr zugekehrt, saß einer der beiden blonden Lockenköpfe. Er hatte die Arme auf den Tisch gestemmt und sah ins Licht. Anna eilte auf ihn zu, umfaßte ihn, hob das stramme Bürschchen zu sich empor und küßte es warm und lebensvoll – und küßte es mit aller Liebe und Zärtlichkeit, deren ihre Natur fähig war. Es schien, als müßte sie sich von allen Schrecken, aller Qual, aller Hoffnungslosigkeit dadurch ihre Seele wieder rein baden. Und es währte nicht lange, da hingen alle Kinder an ihr, umdrängten sie und glaubten, die lustigen Zeiten sollten wieder beginnen. Aber enttäuscht sahen sie heiße Tränen über die Wangen ihrer Mutter fließen. Sie ließen scheu von ihr ab. Anna ging ins Atelier, schloß die Tür hinter sich, und nur Dickchen folgte ihr mit einer Lampe, die sie hastig währenddem angezündet hatte.

 

An diesem Abend spät, als Anna, die Tanten und Dickchen still beieinander waren, trat Hans Schmidt ins Zimmer. Alle blickten forschend auf den Eintretenden. »Nun, wie geht's? Ist etwas geschehen?« fragten die Tanten eifrig.

Es war zu ungewohnter Stunde, daß Hans Ludwig Schmidt herabkam. Hans Schmidt verneinte die Fragen der Tanten nur mit einer Handbewegung, nahm sich einen Stuhl, setzte sich und legte die Arme übereinander auf den Tisch. Darauf blickte er ruhig vor sich hin wie einer, der etwas auf dem Herzen hat und sich erst sammeln will.

Die Tanten wurden ungeduldig, und zwar ganz augenscheinlich. Sie klapperten mit den Stricknadeln. Hans Schmidts bedächtiges, unerschütterliches Wesen schien ihre Nerven zu irritieren.

142 »Ich kam herunter«, begann Hans Ludwig Schmidt und wandte sich an Anna, »um mit Ihnen zu besprechen, was in nächster Zeit geschehen muß.«

Anna blickte auf, ihr Gesicht war bleich und die Augen rot von Tränen.

»Ich glaube, daß Obrist die Krankheit übersteht«, sagte Hans Schmidt trocken. »Aber ein anderer Mensch muß er werden – ein anderer Mensch, sonst ist ihm das Lebenbleiben nichts nütze. Er muß fort von hier. Er muß in andere Umgebung. Ich bin mit mir die Zeit her zu Rate gegangen, wie alles zu machen sei und wie es am besten sei – und mein Plan ist jetzt fertig. Ich sage noch einmal: er muß fort von hier – nicht auf eine kurze Zeit der Erholung, nicht in ein Bad, nicht so eine oberflächliche Sache ist jetzt am Platz. – Er muß leben können: als wäre er neu geboren. Er darf keine Verpflichtung spüren, in alte Verhältnisse zurückzukehren. Er muß frei sein. Nur Freiheit kann ihm helfen. Das mag nun unrecht und hart erscheinen, es mag nun dumm oder gut sein.« Hans Schmidt machte eine Pause, während der er seine Art zu blicken nicht veränderte, sondern weiter ruhig vor sich hinsah.

»Er wird mit mir gehen«, fuhr er nach einer Weile fort, »sobald er irgend reisen kann. Wir werden die Donau hinabfahren, bis wir finden, was wir suchen, einen Aufenthalt, der ihm wohltut. Mein Plan ist, wie gesagt, schon fertig; die Hauptsache ist, daß eine Art zu reisen gefunden wird, die ihn kaum anstrengen würde. Ich denke, daß wir von Dresden soweit es geht die Elbe hinauffahren werden; von Prag bis Wien die einzige längere Strecke Bahn. Von Wien an die Donau hinab. Ich habe mir heute über das mögliche Ziel unserer Reise Auskunft 143 bei einem Bekannten geholt, habe mir die Adressen von Personen geben lassen, die uns nützlich sein können.«

Annas Augen ruhten auf Hans Schmidt mit einem dumpfen Ausdruck. Sie erwiderte nichts.

Die Tanten blickten beide erstaunt und sprachlos auf Anna, sahen einander fragend an, mit weit geöffneten Augen, wie es ihre Art in jedem besonderen Falle war, der ihre Verwunderung erregte. Eine ganze Zeitlang lag es wie ein Bann über den Anwesenden, und niemand wagte zu sprechen. Endlich setzte die eine Tante sich in Positur, legte den Strickstrumpf nieder und sagte zu Anna gewendet: »Wir haben bis jetzt aus Übereinkunft über dein höchst sonderbares Benehmen nichts gesagt; aber was zu arg ist, ist zu arg! Wie kannst du jetzt zum Beispiel stillschweigen? Weißt du, was er will?«

Sie blickten beide wie zwei Richter, die den Angeklagten mit einemmal in seiner ganzen Niederträchtigkeit und Strafbarkeit erkannt haben, auf Hans Schmidt, der diese durchbohrenden Blicke mit Gleichmut aushielt.

»Er will dir deinen Mann abwendig machen«, sagte die Chorführerin mit Nachdruck. »Er hat seine Pläne. Er handelt mit Absicht. Wir sind uns vollkommen klar darüber. Wir halten die Augen offen, glaub' uns das.«

Sie sprachen in auffallend kurzen Sätzen und verwandten währenddem keinen Blick von dem Angeklagten.

»Glaub' uns, er hat von jeher spöttisch über euer Familienleben gelächelt.

Wenn du dich besinnst«, sie wandten die Häupter wieder zu Anna, »so wirst du dir verschiedene Momente zurückrufen können, in denen wir Herrn Hans Ludwig Schmidt auf euer liebenswürdiges und reizendes Beieinandersein 144 aufmerksam gemacht haben; zum Beispiel in der Art, daß wir ihm zuriefen: Sieh, welch ein liebliches Familienbild! – Damals, zum Beispiel, als ihr mit den jungen Hühnern spieltet und Obrist leidend auf dem Sofa lag.

Es ist immer ein rührendes, herzerfreuendes Bild, ein Kranker, um den die Familie in aller Liebe versammelt ist!«

Hans Schmidt lächelte den Tanten beistimmend zu.

»Ja, lächeln Sie nur«, rief die Älteste, »lächeln Sie nur! Nehmen Sie es ruhig auf sich, einen Familienvater seiner Familie zu entreißen. Wir hindern Sie nicht; aber bedenken Sie: Obrist ist nicht frei – wenn es auch Ihre Absicht ist, ihn als frei zu betrachten. Er ist nicht mehr frei. Obrist gehört der Familie. Seine Kräfte gehören der Familie und niemand sonst. Was Sie da andeuten und sagen und wollen, ist unmoralisch, mein Herr, glatt herausgesagt. Sie bekräftigen noch höchst unnötigerweise, daß es sich um keine Badekur handelt, sondern um unbestimmte Abwesenheit, was, wenn wir nicht irren, vor Gericht ›böswillige Verlassung‹ benannt wird.

Ein anständiger Mann verläßt seinen Posten nicht. Auf Leben und Sterben kommt es nicht an, sondern darauf, daß ein Mensch moralisch bleibt. Wir sagen noch einmal: Obrist gehört der Familie. Er ist gewissermaßen das Eigentum der Familie. Wir wissen, worauf Ihr Plan hinausgeht. Sie glauben, daß er außerhalb der Familie ein besserer Künstler würde. Das ist das rechte! Wir sagen Ihnen: auf den Künstler kommt es in einem solchen Falle nicht an, durchaus nicht an. Merken Sie sich das!«

Mit dieser letzten Bekräftigungsformel nahmen die Tanten ihre Strickstrümpfe wieder auf, lehnten sich starr wie Bildsäulen in ihre Stühle zurück und waren ihrerseits vollkommen befriedigt, denn sie hatten geredet, ohne 145 unterbrochen worden zu sein, und das ist für die menschliche Natur eine außerordentliche Wohltat.

Anna sagte ruhig zu Hans Ludwig Schmidt: »Reisen Sie – Gott gebe, daß Ihr Plan gelingen möge. – Er ist noch sehr krank«, setzte sie hinzu, und ein heißer Tränenstrom stürzte ihr aus den Augen. Dickchen trat zu ihr, faßte das Gesicht der Mutter mit beiden Händen und küßte sie auf die weinenden Augen.

»Er wird zurückkommen«, sagte das Kind einfach.

Die Tanten schüttelten die Köpfe, sahen sich gegenseitig an, sprachen aber kein Wort weiter. Sie hatten ihre Pflicht erfüllt, und was darüber hinauslag, konnte ihnen nur zum Schauspiel dienen.

Hans Schmidt erhob sich, rückte den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, unter den Tisch und sagte: »Ich muß hinauf zu ihm«, und ging aus der Tür.

Als er diese hinter sich geschlossen hatte, schien sein würdiges und unerschütterliches Wesen ihn zu verlassen. Er sprang die Treppe hinauf, vorsichtig leise, nahm aber zwei Stufen zu gleicher Zeit und zeigte das leichtsinnige Benehmen eines Menschen, der froh ist, etwas, was ihm unbequem gewesen ist, hinter sich zu haben.

Er blieb vor der Tür des Krankenzimmers einige Augenblicke stehen, und auf seinen Zügen lag ein unternehmender und lebensfroher Ausdruck, der in diesem Krankenzimmer, wie es schien, nicht zur rechten Anwendung gebracht werden konnte. Als er aber eintrat und seinen Freund so ruhig, wie er ihn verlassen hatte, noch liegen sah, mit geschlossenen Augen, blieb er an dem Fußende des Bettes stehen und sagte leise mit Leben und Gefühl durchbebter Stimme: »Nun warte nur – warte nur, Alter.« 146

 


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