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In unserm stillen Leben ist etwas geschehen – etwas Trauriges – ich kann es gar nicht fassen. Rotplätz ist vor Gericht gekommen. Es waren so Wilderergeschichten, und Rotplätz wurde als Zeuge gegen einen Arbeiter, der mit ihm in der Fabrik ist, geladen.
Er hat aber nichts ausgesagt, obwohl er sehr wohl alles wußte, und so ist er als Hehler verurteilt worden zu vier Monaten Gefängnis.
Wir, Frau Birnstingel und ich, müssen nun für die Kinder einstweilen sorgen.
Aber in der Fabrik soll er, gottlob, dann wieder eintreten.
Seit Rotplätz fort ist, da ist's noch einmal so still bei uns.
Meine Mutter hat mir geschrieben, schon öfter, und ich schrieb ihr wieder, aber noch verstehen wir einander gar – gar nicht – mein armes – armes Mamachen. Wie allein bist du!
Und wie würden wir dich lieben, wenn du zu uns kämst!
Peregrin wird nun schon zwei Sommer lang in dem Bach, der vor unserm Hause durch die Wiesen fließt, gebadet an jedem guten Tag, und das ist ein großes Vergnügen; wenn der kleine, schöne, braune Kerl in dem klaren, fließenden Wasser steht zwischen den Wiesenufern – da ist er grenzenlos lustig, da spritzt er und wirtschaftet, und ganz besonderes Vergnügen macht es ihm, vom Wasser aus Blumen zu pflücken.
Ein Verschen sagt er immer, wenn er im Bache steckt, das gehört dazu:
Ist ein Mann ut Hutendücken,
Hätt en Rock ut tusend Flicken,
Hätt en knäkern Angesicht,
Hätt en Kamm und kämmt sich nicht.
243 Solche dummen Verschen lernt er so leicht. Und vor dem Bad, daß ich es nicht vergesse, da spielt er gestiefelten Kater und läuft nackt auf der Wiese umher und hat nur seine Stiefelchen an, und ist so seelenvergnügt wie ein junges Tier.
Heute hat Peregrin sich mit einem Jungen vom Rotplätz wütend gezankt und gehauen, und ich sagte ihnen, das dürften sie nicht, sie müßten sich lieb haben. »Ach,« meinte Peregrin, »man hat nur lieb, was mer selbst ausgebrüt hat, und den hab' ich nich' ausgebrüt.«
Dies und mehr schrieb Kristine in ihr Kinderbuch; aber es kam eine Zeit, da schrieb sie lange nicht. Peregrin war erkrankt. An einem Herbstnachmittag, als die Kinder draußen getollt und geschrien hatten, kam er so müde nach Hause, setzte sich seinem Mamachen auf den Schoß und legte seinen Kopf an ihre Schulter, saß still und schwer und seufzte manchmal tief auf.
Sein Atem, der Kristinens Hals traf, war heiß; Kristine fühlte sein Köpfchen an, das glühte und brannte, da faßte sie das böse, verzweifelte Erstarren, daß sie sich nicht vom Stuhle erheben konnte.
»Nun ist es da – nun ist es da – das Unglück!« Sie preßte ihn an sich und sah hinauf gen Himmel wie ein verwundetes Tier, ohne Gedanken, ohne Gebet – nur in Todesangst.
Und nach diesem ersten Schrecken kamen Nächte und Nächte, Tage und Tage, schwer und erdrückend, während deren ihre Augen an einem glühenden Gesichtchen hingen, während deren ihre Hände ein wildes, heißes Körperchen immer von neuem einhüllten, während deren sie so schmerzliche Seufzer hörte von den lieben Lippen; Peregrins Augen waren in dieser Krankheit von Fieber befangen, und jetzt erst schienen sie ihr geheimnisvoll, wenn er still und 244 ruhig vor sich hinsah und die kleinen Pulse flogen und der Atem so schnell ging. Da lag sie auf den Knien vor dem Bettchen und blickte in diese Augen wie ein verzweifelter Mensch in tiefes, dunkles Wasser. »Werd' ich jetzt zermacht?« frug Peregrin in einer dunkeln, trostlosen Nacht. Da stand ihr das Herz still. – Wer lehrte ihn, die furchtbaren Worte so zu setzen? Bewußt und unbewußt flüsterten ihre Lippen immer das gleiche, immer vor sich hin: »Wenn du ihn mir nimmst, dann nimm mich auch!« Das klang so hart, so wild, so trostlos; und immer wieder, immer wieder.
Und dann dachte sie, wenn sie nun doch leben blieb, und wenn in Jahr und Tag Ker käme, was sie da sagen würde; wie sie von Peregrin sprechen würde wie von etwas Vergangenem. Da liefen ihr die heißen, trostlosen Tränen über die Wangen.
Manchmal rief sie auch nach ihrem Mamachen, jammervoll hilfesuchend.
Das erste klare Wort ihres Kindes, das zersprengte ihr fast das Herz vor Freude.
In der Zeit der Genesung, da hielt sie Peregrin wie ein Heiligtum; wenn sie ihn berührte, dankte sie immer Gott in ihrem Herzen, und wenn Peregrin unvermutet sie etwas fragte, da kamen ihr die Tränen in die Augen.
Wie er aber die Krankheit abschüttelte und frischer und kräftiger wurde als vordem, kam auch das Gefühl ins alte Geleise, und auf ein leeres Blatt in ihrem Buche schrieb sie: »Peregrin war schwer krank.« Mehr konnte und wollte sie nicht schreiben.
Rotplätzens Strafzeit lief ab und er wurde zurückerwartet. Und eines schönen Morgens kam der Bote aus Berka, der zwischen Berka und Blankenhain geht, und brachte eine Postkarte.
245 »Motag aben – kumm heim. Rotplätz.«
Eifrig ging es da im Reisberghaus zu. Frau Birnstingel mußte scheuern und fegen, es wurden aller Art Vorbereitungen getroffen.
Frau Birnstingel wurde ausgeschickt, Einkäufe zu machen zu einem Nachtessen, und sie war es, die auf den Gedanken verfiel, am Abend zur Feier Lotto zu spielen. Sie besaß so ein altes Lotto, aber da fehlten Nummern und Glasscherben zum Zahlenbedecken. Das alles wurde wieder instand gesetzt von Kristine und Rotplätzens Kindern. Aber die Gewinne! Die wurden auch besorgt, die brachte Frau Birnstingel mit aus der Stadt. Zuckerwaren aller Art und Tabak, den Rotplätz gewinnen sollte, und Zwirn und Nadeln, was die Frauenzimmer gewinnen sollten.
Und Frau Birnstingel versuchte es vorsorglich, Peregrin klarzumachen, daß, wenn er den Tabak und den Zwirn gewönne, er ihn nicht behalten, sondern eintauschen müßte. Im Reisberghaus wurde gebraten und gebacken, Frau Birnstingel hatte für die Kinder einen Kuchen zustande gebracht.
Und gegen Abend waren sie alle auf der Lauer und gingen Rotplätzen entgegen.
Das war ein Wiedersehen, so harmlos, als käme Rotplätz von einer Badereise heim. Rotplätz mußte erzählen, und Kristine und Frau Birnstingel erzählten ihrerseits; und dann das wunderschöne Essen und die glückseligen Kinder und das Lottospielen und die Gewinne! – An diesem Abend saßen in der Stube bei Rotplätz nicht Philosophen beisammen, Gott bewahre, die allereinfachsten Leute von der Welt. Aber Lottospielen, wenn der Vater aus dem Gefängnis kommt, und braten und backen? Ja, wäre Rotplätz ein gebildeter, vornehmer Mann, so hätte er, um sich und seinen Kindern die Ehre wiederzugeben, Grund genug gehabt, sich eine 246 Kugel durch den Kopf zu schießen. Aber er gehört zu denen, die nicht viel zu verlieren haben. Und das junge schuldbeladene Weib mit ihrem Kind – welche Zuflucht hat sie hier gefunden!
Kristine schreibt:
Nun ist's wieder einmal Winter, wieder dichter Schnee. Nun kommt Weihnachten wieder heran – das einsame Weihnachten, das das Herz in Sehnsucht vergehen läßt und in Hoffnungslosigkeit.
Und gerade zu Weihnachten, da darf ich nicht trauern.
Mein armes Kind soll eine schöne, liebe Erinnerung fürs Leben haben.
Er soll nicht fühlen, was für abgerissene Blätter wir beide sind. Gewißlich nicht. Ach, daß er dies nie zu fühlen hätte!
Seit zwei Weihnachten sind nun auch die Hennebergs aus Jena fort. Mit meinem Mamachen wohnen sie in Heidelberg zusammen. Sie haben ihr Haus verkauft. Mamachen schrieb mir: Es war ihm unmöglich, länger in Jena zu bleiben. Er fühlte sich dort wie gebrandmarkt. Alles um meinetwillen. Wie sie noch in Jena waren – hab' ich am Weihnachtsabend ganz still zum Fenster hinausgeschaut, der Gegend zu, wo Jena liegt – und habe so ein Gefühl gehabt, als wäre ich doch noch nicht ganz allein und verlassen.
Mein Mamachen schrieb mir, daß Jekatirina Alexándrowna gestorben ist – schon vor drei Jahren – und ich habe es nun erst vor wenigen Wochen erfahren! Ich hab' oft an sie gedacht, und mir war immer, wenn jemand kommen würde, so müßte sie es sein. – Ja, ich habe auch auf sie gewartet.
Und zu Weihnachten, wie habe ich da immer vom Fenster aus den verschneiten Weg hinabgesehen, bis ich müde wurde.
Der lange, bange Weg.
247 Ach Weihnachten!
Und wie er sich freut, mein guter, kleiner Junge. Die Lichter am Baum, die Nüsse, der Pfefferkuchen, die bunten, kleinen Sachen, die erfüllten seinen Geist.
Das Christkind liebt er sehr. »Mama,« sagt er, »beten wir denn zu einem Wickelkind eigentlich? – das mag ich nicht, so ein großer Junge wie ich. – Lieb hab' ich's – aber beten?«
Ich habe ihm erzählt, daß aus dem Wickelkind ein herrlicher, guter Mensch geworden ist, der so gut war, wie nie einer vor ihm und nie einer nach ihm – und daß er alle Menschen geliebt habe.
Das hat Peregrin sehr gefallen – und er fragt mancherlei noch darüber – und wir sitzen abends wieder vor unserm Öfchen und hören zu, wie es pustet und faucht, und freuen uns, wenn es glüht, und erzählen uns allerlei. Peregrin mir und ich ihm.
Etwas ist mir in die Einsamkeit gefolgt, etwas, das mit mir spricht! etwas, das meine Seele ganz erfüllt – das mir sagt: Was hast du erlebt, du glückseliges Geschöpf! Du kennst sie – die große, große – heilige Liebe!
»Mächtiger ist die Liebe als der Tod,
Fest wie die Hölle.
Unbezwinglich wie das Niederreich.
Ihre Gluten sind Feuergluten
Wie Jehovahs lodernde Flammen,
Wasserwogen löschen die Liebe nicht,
Und Ströme ersticken sie nimmer.«
Etwas, was ich in heiliger Stunde an mein Herz drücke – – ist dein Lied, Ker!
Dein Hohes Lied! Dein Judenlied, wie du sagtest – dein 248 Lied, was du in meine Hände legtest! – Dein lebendiges Lied!
In stiller, trostloser Nacht ist es von brennenden Augen gelesen. Gebetet und geweint ist darüber.
Die Sehnsucht hat sich in die Worte tief – tief eingegraben, hat deine Stimme hören wollen, hat nach dir gejammert und gerufen und geschrien, hat in jedem Bilde, jedem Worte dich erkannt! Hat die Arme nach dir ausgestreckt und hat auf dich gehofft! – gehofft! – gehofft!
Zu deinem Liede komme ich, wenn ich leben will! Da breite ich die Arme danach aus, da drücke ich es an mich, da liebe ich es, wie ich die ganze, für mich versunkene Welt liebe.
Auch diese Weihnachten, wenn alles schläft, soll es wieder zu mir sprechen.
Auch ich will meine heilige Stunde haben!
Ich Glückliche! Ich Arme! 249