Helene Böhlau
Ratsmädelgeschichten
Helene Böhlau

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Zweite Geschichte.

Es geschehen Dinge, über die man sich in unseren Tagen verwundern würde.

Das war eine schöne, urwüchsige Zeit, in der man zu Weimar lebte. Von allen vier Windseiten ging Frische, die ganz Deutschland durchwehte, auch über das kleine Nest.

Es war kurze Zeit nach Beendigung des Freiheitskrieges, kurze Zeit nach des großen Napoleons Sturz, und die Befriedigung, etwas erreicht und errungen zu haben, lag wie eine gute, gesunde Luft, die jeder zu seinem Wohl, zur Stärkung seiner Menschenwürde und Kraft einatmen konnte, über den Landen ausgebreitet. Den Gemütern, die jahrelang unter Druck und Not gelitten, die um ihr Hab und Gut und ihre Sicherheit sich geängstigt hatten, war in dieser Zeit, von der ich rede, auch der Rausch des Befreitseins und der Begeisterung geschwunden und hatte sich in das Gefühl einer allgemeinen Genesung umgewandelt. Und welche Frische, welche Hoffnungskraft erhebt sich in einem Menschen, der nach langer Trübsal, nach schwerem Drucke gesundend aufatmet! und ein ganzes Volk, das zu Leben wieder erwacht, welcher Reichtum, welche Überfülle an Freude, an Heiterkeit, an Leichtsinn entfaltet sich da!

Der Ausdruck von Elend, von Aufruhr, der einstimmig aus den Völkern sich erhebt, ist die gewaltige Sprache, die das Menschengeschlecht mit dem Schicksale spricht. Kein Donner der Elemente ist so großartig drohend, wie die einige Stimme des murrenden und in Elend gesunkenen Volkes. Und kein Ausdruck der Freude ist so mächtig, so herzerquickend, wie das Aufleben des zu neuem Behagen erwachenden Volkes.

Kein Sonnentag gleicht der heiteren, lebendigen Ruhe, die nach Angst und Kampf über Dörfern und Städten liegt; das Unbedeutendste ist in solcher Zeit Träger und Verkünder einer großen Errungenschaft.

Jede frohe Scene zeigt uns das Gedeihen von Generationen, zeigt uns, daß die alte, bewährte, auf hohe Ziele deutende Kraft des Menschengeschlechts wieder siegreich durchgedrungen ist.

In der kleinen Stadt Weimar aber hatte diese Kraft gerade in den Jahren der Bedrängnis ihre höchste Offenbarung gegeben; ungestört von den tiefgreifenden Unruhen ihrer Nation lebten in den Mauern des Städtchens die hervorragenden Menschen, die durch ihr Leben und ihr Wirken verkündeten, daß die Sterblichen Schöpfermacht in sich tragen, daß sie dem, was wir göttlich nennen, verwandt sind. Aber nicht jene Großen sind es, von denen ich erzählen will, sondern denen wende ich mich von neuem zu, die, während die Gewaltigen für Ewigkeit und Ruhm lebten, unscheinbar sich ihres unscheinbaren Daseins freuten; denen neige ich mich zu, die vergessen sind; denen, deren Lieblichkeit, Hoffen und Träumen wie Blütenregen niedersank, im Niederfallen schon vergehend. Die beiden »Ratsmädel« sind es, die Röse und Marie, mit den dicken Zöpfen, die aus jener vergangenen Zeit wieder auftauchen sollen, die beiden schelmischen Kinder, die in den Kriegsunruhen aufgewachsen sind, die in ihrer Kindheit, in der Wünschengasse, vor ihrem Hause die Franzosen haben kampieren sehen, die mit dem Kosacken, der bei ihnen im Quartier lag, in seiner Kibitka über die guten deutschen Felder in Weimars Umgebung geflogen, gesaust und gerasselt sind, denen die Plünderung des Städtchens zu allerlei merkwürdigen Erlebnissen verhalf – die beiden Mädchen, die in der unruhigen, sorgenvollen Zeit eine überschwänglich lustige, freie Kindheit erlebt hatten, die das Glück genossen, weniger, als es in ruhigeren Jahren der Fall gewesen wäre, erzogen, beobachtet und gebildet worden zu sein.

Zu welch einer fröhlichen, gesegneten Generation gehörten die beiden Ratsmädel, die mit ihren Kameraden und Kameradinnen ein sorgenloses, unbedrücktes Leben führten!

In aller Harmlosigkeit schwänzten sie die Schule und trieben ihren Schabernack, wie wir wissen, mit Nachbarn und Nachbarinnen.

Wie bedrückt und unfrei erscheint die Jugend in unseren Tagen, der das Harmloseste als Vergehen, jeder Freiheitsdrang, der sie einmal von ihrem ehrbaren Wege ablenkt, als schwer strafbar gekennzeichnet wird.

O, du arme heutige Jugend! Ahntest du, welchen Reichtum »Jugend« im Anfange jenes Jahrhunderts umschloß, welchen Überschwall von Leben! Du könntest dich bitter beklagen, gekränkt und betrogen würdest du dir erscheinen, von Anfang an gealtert, in Pflichten eingezwängt! Welchen trübseligen Eindruck würden deine kärglichen Freiheitsstunden dir geben, die man klug und berechnend wie eine Medizin, nach Überanstrengung dir zugemessen hat, wenn du vergleichen könntest! wenn du wüßtest, was ich weiß!

Ja, ein unbefangenes, menschenfreundliches Auge findet, trotz aller weisen, sachgemäßen Widerlegung, daß es dir, o Jugend, übel in unseren Tagen ergeht!

Doch auf und nieder bewegen sich die Ereignisse auf Erden, und es kommt eine Zeit, wo die Jugend wieder aufatmen kann.

So ruhig und bedächtig geht es nicht fort, wie jetzt.

Aus Bewegung, aus Kampf, aus Besorgnis der Erwachsenen, der Alten, werden ihr wieder unbeaufsichtigte, berückende Freiheitsstunden erstehen, – aber wann?

Jetzt zu jener vergangenen Zeit, die den jungen Herzen von damals ihre Wünsche, ihre Rechte, ihr Streben nach Wundersamem, Bedeutungsvollem im reichsten Maße erfüllte.

Röse und Marie waren, wie wir aus dem ersten Teil ihrer Abenteuer und Erlebnisse erfahren haben, noch zur rechten Zeit in die Hände der Jungfer Concordia geraten und zu der Freundschaft von deren Neffen, des guten, vortrefflichen Budang, ehe alle Aussicht, daß sie etwas lernten und ein paar tüchtige Mädchen wurden, bei ihnen verloren war. Ihr Budang hatte ihnen treulich geholfen, daß sie mit Ach und Krach bis zu einer höheren Klasse ihrer Schule gekommen waren. Was für ein guter, prächtiger Junge war doch dieser Budang! Seit die beiden Mädchen ihn kennen gelernt hatten, schien für sie gesorgt.

Sie arbeiteten unter seiner Leitung, machten mit ihm und seinen Freunden Streifzüge in die Umgegend. Die Mutter unserer beiden, die Frau Rat, konnte ruhig ihre Rangen dem ihr als ausgezeichnet bekannten Neffen der Jungfer Concordia überlassen.

Sie hatte damals mit Bedacht Concordia als Lehrerin ihrer Kinder ausgewählt und freute sich, wie heimisch Röse und Marie in der Gassenmühle, in der, wie wir wissen, Concordia mit ihrem Bruder, dem Müller, und dessen Sohn Budang hauste, geworden waren.

Ich will jetzt wie folgt beginnen:

Im Winter wurde bei Rats eine einzige Stube geheizt. In der stand der Arbeitstisch des Vaters, in der saßen die Mutter, die Brüder und die beiden Ratsmädel. – Alle Geduld miteinander übend, alle auf den Vater Rücksicht nehmend, alle so still und besonnen wie möglich.

Die Ratskinder waren an diese bedachtsamen Winterstunden gewöhnt, die ihre starken Lebensgeister zu dem außerordentlichsten respektvollen Schweigen herabdrückten.

Die Brüder arbeiteten während dieser Zeit. Man hörte das Kritzeln der Federn von Vater und Söhnen. Die Mutter und die Mädchen waren mit Näharbeiten beschäftigt.

Ein Flüstern, von dem Marie und Röse einen ausgedehnten Gebrauch machten, war gestattet.

Die beiden hatten sich unausgesetzt zu erzählen, trotzdem sie alles und jedes miteinander erlebten, oder gerade deswegen. Sie hatten jede ihre verschiedenen Auffassungen von den mancherlei Dingen, die sie tagsüber aufstöberten; denn, gottlob, die würdigen Stunden im Familienzimmer währten nicht lange, der Vater hatte durch sein Bürgermeisteramt viel außer dem Hause zu thun, und eine feste Regel war, um fünf Uhr etwa wurde Schicht gemacht; da drehte er den Schlüssel an seiner Schreibtischklappe um.

Mit diesem Tone strömten die Lebensgeister zurück in die Gemüter.

Die Augen leuchteten, Röse und Marie legten ihre Näharbeit beiseite, brachten dem Vater übereifrig den Pelz und Hut, denn der Bürgermeister machte jetzt seinen ihm zuträglichen Gang um die Stadt, um dann mit seinem alten Freunde, dem Kupferstecher Müller im »Elephanten« sein behagliches Stündchen zu verschmauchen.

Kaum aber war er zur Thür hinaus, so langten Röse oder Marie hinter den großen Ofen; da hatten sie einen Stock, an dem ein weißes Tuch wie ein Fähnlein befestigt war, den steckten sie zum Fenster hinaus. Das geschah Abend für Abend und mochte seinen guten Grund haben.

Denn nicht lange währte es, da hörten die lauschenden Mädchen von ferne einen munteren, rhythmischen Pfiff, so energisch, so lustig, so voller Leben.

Es war eine charaktervolle Art zu pfeifen und immer gleichbleibend, nie mit einem Tone von der gewohnten Art abweichend. Mit diesem Pfiffe kündigte sich Budang an, der treue Kamerad.

Vorsichtig und freundlich steckte Budang, wenn das Signal gegeben war, den blonden Ruschelkopf zur Thüre hinein, um sich erst zu überzeugen, ob das Feld auch rein sei, das heißt, ob der Herr Rat auch wirklich nicht mehr an seinem Arbeitstische sitze.

»Nun komm nur,« rief ihm dann die Mutter entgegen, und die Mädchen standen schon bereit, ihn zu empfangen. Darauf machte Budang, ehe er noch eintrat, ein Zeichen nach der Treppe zu, und zwei seiner Kameraden, die auf einer der oberen Stufen auf seinen Wink lauerten, traten mit ihm ein.

Der eine war Franz Horny, ein bildschöner Junge von siebzehn Jahren. Er wohnte an der Ecke der Wünschengasse und war von jeher ein guter Freund der Ratsmädel gewesen, bei denen er auch in Achtung stand. Sie hielten beide viel von seiner Fertigkeit im Zeichnen, hatten darin auch nicht unrecht und bewiesen Geschmack; denn Franz Horny bildete sich in der Folge zu einem guten Künstler aus, der in Amalfi in bester Jugend starb. Sein Bild hängt sonderbarerweise dort in einer Kapelle und wird als Heiligtum verehrt. Es mag aus Zufall dahin gekommen sein oder durch irgend ein wunderliches Geschick.

Man erzählt sich, daß der schöne, liebenswürdige Künstler in dem Orte, in dem er gestorben, eine abgöttische Verehrung von der Bevölkerung erfahren habe. Er soll ein merkwürdiger und einnehmender Mensch gewesen sein, dessen Schönheit und Talent auffallend waren. Dies habe ich von Friedrich Preller, dem Maler der Odyssee und dem Jugendfreunde Hornys. Zu der Zeit, als er mit seinen Kameraden die Winterabende bei den Ratsmädchen sich vergnügte, war er ein träumerischer, sanfter Junge, der von allen gern gesehen wurde.

Der zweite Gefährte, den Budang mitbrachte, war Schillers jüngster Sohn Ernst, frisch im Aussehen und Wesen, der seine freie Zeit gar zu gern in Rats behaglichem Familienzimmer verbrachte. Das erste, nachdem die Begrüßung vorüber, war, daß Budang sich zu seinen Gefährten wendete, die sogleich mit den Mädchen in ein lustiges Plaudern kommen wollten, und sagte: »Erst müssen sie zeigen, daß sie mit ihren Arbeiten fertig geworden sind.«

Budang war seiner, von Jungfer Concordia erhaltenen Aufgabe, die Mädchen zu überwachen, treu geblieben. Röse und Marie mußten ihm ihre Arbeiten bringen. Sie thaten es auch, wie etwas, was sich von selbst versteht, mit allem Ernste.

Nun setzte er sich, nahm die Hefte vor, und war etwas nach seiner Meinung gar zu unmöglich geraten, so mußten sich die beiden Faulpelze daran machen und unter seiner und Ernst von Schillers Leitung die Sache noch einmal schreiben.

Unangenehm war es für alle Teile, wenn sie ihr Pensum, wie die Arbeiten der Ratsmädel gelehrt benannt wurden, schlecht gelernt hatten. Da gab es ein äußerst langweiliges Überhören ohne Ende, ehe man an die beliebte Abendunterhaltung kam, und die Mädchen wurden von Budang hart angelassen. In einer Ecke mühte sich Ernst von Schiller, abwechselnd mit Budang, an Röse ab, die das Auswendiglernen so schwer zu stande brachte, daß es ein Skandal war, wie Röses Freunde sich über diesen Mangel ausdrückten.

Für Marie, deren Gedächtnis vorteilhafter ausgestattet sein mochte, genügte einfache Hilfe. Sie war ein für allemal Franz Horny zugewiesen, der sich seinem Amte mit Geduld und Bewunderung für das schöne Geschöpf unterzog.

Die Ratsmädel glichen zwei Knospen von lebensvollster Frische und Kraft. An ihnen mochte nichts Angekränkeltes sein, nichts, was nicht ebenmäßig sich entfaltet hatte, und nichts, was nicht auf eine noch viel lieblichere Vollendung hindeutete. Sie schienen mehr, als man gewöhnlich unter jugendfrisch versteht. Sie waren urwüchsig, eigenartig und harmlos, wie es junge, von Menschen unbehelligte Tiere sind.

Und unbehelligt waren sie, von aller Welt gern gesehen, die Freude der Wünschengasse; wer blickte ihnen nicht nach, wenn sie mit ihren langen, schweren Zöpfen, die noch vor kurzem so manchem Gassenbuben um die Ohren gesaust waren, die Straße hinabgingen? Sie bildeten den Stolz der Untergebenen ihres Vaters, »die Ratsmädel«, denen man allen Respekt erzeigen mußte.

Ja, ihr Ruf war bis ins Schloß gedrungen, wie wir wissen. Überall aber fühlten sie sich gleich wohl, gleich sicher, ob auf den Gassen, ob im Schloß, ob unter den würdigen Bekannten ihres Vaters, oder unter ihren guten Freunden und steckten bis über den Kopf in Wohlbehagen. Die urgesunden Geschöpfe! Wer aber hatte auch solche Freunde, wie unsere beiden?

Hatten sie die unumgängliche Überhörungsstunde, den Anfang der schönen Winterabende, hinter sich, und blickten Budangs Augen unter den dicken, blonden Locken nicht mehr so strenge auf Beantwortung seiner Fragen dringend, die den beiden oft sauer genug wurde, dann begannen die behaglichen, unvergeßlichen Stunden. Was aber thaten, was unternahmen sie an solch einem Abend? Sie spielten Lotto. Sie saßen eng aneinander gedrängt, die Mutter, die Brüder, die Mädchen, die Freunde und spielten Lotto um Pfeffernüsse vom Konditor Ortelli, den die Franzosen damals ausgeplündert hatten; aber mit welchem Eifer wurde gespielt, mit welchem Feuer! und wie wurde gelacht! Worüber sie wohl lachten? Über unschuldige Scherze, über eine Anekdote aus dem Leben der drei braven Jungen, über einen Ausspruch Rösens, die groß war in trocknen, vielsagenden Bemerkungen; darüber, daß Budang eine Locke über das Auge gefallen war, und er gerade durch den Ringel blickte. Dergleichen konnte Röse und Marie außer Rand und Band vor Lachen bringen, so daß die Mutter sie manchmal ermahnte, ja, sie aus dem Zimmer steckte, damit sie sich draußen in der Dunkelheit und Kälte einmal erst wieder auf sich selbst besinnen sollten. Sie kamen dann jedesmal in unverminderter Heiterkeit wieder herein und immer mit einer guten Idee, die ihnen wahrscheinlich bei der Abkühlung gekommen war.

Sie schlugen eine Verkleidung vor, einen Tanz. Sie kamen mit der Bitte zurück, die Freunde und Brüder sollten sie im Stuhlschlitten fahren.

Durch solch einen lebensvollen Vorschlag entstanden die schönsten Stunden. Er schien so ganz aus dem Herzen zu kommen, aus dem innersten Verlangen heraus, und wie er von Herzen kam, so ging er zu Herzen, so wurde er ausgeführt, so wurde er auch von der Mutter gestattet, die eine liebevolle Frau war und wohl wissen mochte, wie göttlich, wie unwiederbringlich, wie leichthinschwindend die Jugend ist.

So haben die Ratsmädel herrliche Winterfahrten gemacht, bei Sonnenuntergang, bei Mondschein; jede in einem Stuhlschlitten, Bruder und Freunde hinter sich, die sie in Windeseile durch die Straßen der Stadt fuhren. So zog das leichte, lustige, vergängliche Gesindel auch an dem Hause vorüber, in dem der lebte, der für die Ewigkeit schuf.

Sie fuhren über die hellen Lichtscheine, die aus den Fenstern Goethes auf den Schnee fielen, und dachten sich nichts dabei, wußten wohl kaum, daß sie vorübergefahren.

Was kümmerten sich unsere Ratsmädchen um »die großen Leute« in Weimar. Mochten die thun und schreiben, was sie wollten, die Ratsmädchen hätten nie und nimmer mit ihnen tauschen mögen! So im Schlitten sitzen, von lieben Freunden geschoben zu werden, daß es ist, als sprühten Funken, und hinaus in den Mondenschein, unter bereiften Bäumen, auf glatter Schneebahn hinzufliegen, das ist Seligkeit, das ist Glück!

Und welche Streiche spielten sie, über die man jetzt Ach und Weh schreien würde, steckten Budang in Mädchenkleider und gingen mit ihm spazieren. Weshalb sie das thaten? Gott weiß es! Sie wußten es jedenfalls selbst nicht, thaten es grundlos, vergnügten sich herrlich, hatten alle dreie das Bewußtsein eines wunderbaren Geheimnisses, wollten sich über jeden, der ihnen begegnete, totlachen, brachten harmlose Spaziergänger durch ihr Gelächter in Verlegenheit, kauften sich bei Ortelli Kuchen, den sie, nachdem Budang zu Hause sich wieder ausgeschält hatte bei einem Täßchen Kaffee, das ihnen warm gestellt worden, verzehrten, im süßen Bewußtsein, eine Heldenthat ausgeführt zu haben.

In einem alten weimarischen Hause hatten sie zu jeder Zeit Zutritt, konnten dahin mitbringen, wen sie mitbringen wollten, und blieben immer willkommen, das war die Apotheke am Markte.

Der Apotheker stand mit Rats in Verwandtschaft. Er war ein gelehrter Herr, mit dem Titel Professor, und zu der weimarischen Apotheke durch seine Heirat gekommen; die Frau war Witwe des früheren Apothekers und hatte ihrem zweiten Manne das blühende Geschäft zugebracht.

Zu diesen Leuten gingen die Mädchen mit Vorliebe. Die Vettern und Basen im Hause paßten zu ihnen, und sie konnten immer sicher sein, dort eine wohlgemute Gesellschaft zu treffen. Die Frau Professor hatte die Genugthuung, wegen ihrer Kochkunst in der ganzen Bekanntschaft berühmt zu sein; so gab es auch für die beiden Schleckermäuler, die zu Gaste kamen, immer etwas Gutes zu schnabulieren, was ihnen zu jeder Zeit gelegen war; denn bei Rats ging es nicht hoch her.

Und was war diese Apotheke für ein sonderbares Haus! Ein alter, reichverzierter Erker schmückte es, den ein steinernes, verzwicktes Weiblein auf seinem Nacken zu tragen schien. Das alte Weib war unsern beiden von jeher rätselhaft und unheimlich erschienen. Ein langgestrecktes Gewölbe diente zum Apothekerladen. Dies Gewölbe war außerordentlich finster. Nur soweit die niedere Glasthür und das einzige Fenster Licht einließen, machte es einen behaglichen, wohlthuenden Eindruck; nur so weit schienen die verschiedentlichen Düfte, die aus ungezählten Büchsen und Büchschen, aus unendlichen Schiebkästen aufstiegen, angenehm und zuträglich zu sein. Die Mädchen hielten es für ausnehmend gesund, in der Apotheke tief Atem zu holen; und wenn einem der Apothekerkinder etwas fehlte, setzte es sich hinunter zu den Gehilfen und atmete fleißig.

Auch Röse und Marie hatten schon öfters solch eine Kur sich vorgeschrieben; aber sie hielten sich nur da auf, soweit das Tageslicht, unverfälscht durch Dämmerung, die sich weiter nach hinten in dem Raume ausbreitete, eindrang.

Das Gewölbe war an seinem letzten Ende fast dunkel. Bei dem Scheine eines Lämpchens hantierte dort ein widerwärtiger Gehilfe, vor dem Röse und Marie ebenso wie ihre Vettern und Basen eine außerordentliche Scheu hegten.

Aus seiner finstern Ecke drangen scharfe Gerüche, die durchaus nicht heilkräftig sein mochten. Der Gehilfe rieb, stieß im Mörser und rührte in mächtigen, weißen Schalen, die aus der Dämmerung gespenstisch herausleuchteten. Um diesen ältlichen Gesellen, der einen gar sonderbaren Blick hatte, spannen sich allerlei Sagen und Gerüchte. Man erzählte sich, daß dieser unheimliche Bursche in seinem kleinen, wackeligen Schreibpult, das im Gewölbe stand, ein Buch bewahre, in dem er den Sterbetag so manchen guten Weimaraners vierzehn Tage, bevor derselbe einträte, sich notiere, wie man sich seine Hemden auf den Wäschezettel aufschreibt.

Dies Verfahren des Gesellen hatte ihn mit einem furchterregenden Nimbus umgeben.

Unter den weimarischen Leuten würde sich ein jeder geweigert haben, das Medizinfläschchen oder Pulver, das er abzuholen kam, aus der Hand des fatalen Gehilfen in Empfang zu nehmen, denn man sagte, daß er es, ehe man hinter seine Schliche gekommen sei, mit einem unheilbringenden Lächeln überreicht habe. Was an dem Treiben des Gehilfen wahr sein mochte, hat wohl schwerlich jemand erfahren; denn ich weiß nicht, ob das Buch der dem Tode geweihten Weimaraner, das in der Apotheke geführt wurde, je zum Vorschein gekommen ist.

Der Gehilfe hatte jedenfalls ein einsames, unbehelligtes Leben. Wohl möglich, daß dies seiner Natur zusagte; es giebt ja sonderbare Käuze genug auf Erden.

Er hatte unbedingt etwas Hämisches, Spöttisches in seinem Wesen, machte den kleineren Apothekerskindern Grimassen, wenn er an ihnen vorüberging, und versteckte der ganzen jungen Gesellschaft den Syrup, nach dem sie allerseits großes Verlangen trugen, in die Giftkammer. Das verhinderte die Apothekerskinder durchaus nicht, mit Gästen und ohne Gäste auch dort ihren Syrup aufzuspüren und sich eine Güte daran zu thun. Sie wurden bei ihrem Treiben in der verhängnisvollen Kammer von dem Gehilfen im stillen beobachtet, und die unartige Bande bemerkte das gar wohl, und jedes dachte bei sich: »Da kann er lange warten, bis wir uns einmal vergreifen, der Esel.« Sie kannten ihren Syrupstopf, Syrupus simplex!

Bei all und jeder Gelegenheit ging es im Apothekerhause festlich zu. War das Geschäft besonders gut und einträglich, das heißt, war das gute Weimar eine hübsche Zeit lang von irgend einer Krankheit gründlich heimgesucht, so lebten sie bei Apothekers besonders reichlich. Dann saß die Familie mit Kind und Kegel vergnügt und hilfreich bei einander, wenn zur Zeit irgend einer Epidemie mehr Hände im Geschäft gebraucht wurden, als gewöhnlich, um Papier zu Pulverpäckchen und zu den roten Flaschenkäppchen zuzuschneiden und allerlei nach Bedarf zu mörsern und zu reiben. Sie thaten das mit ganz besonderem Behagen, und schwerlich konnte man den braven Leuten nachsagen, sie hätten die guten Bissen mit dem Bewußtsein zu sich genommen, daß sie ihre vorzügliche Nahrung aus dem Verderben ihrer Mitbrüder zögen, wie die Bienen Honig aus den Giftblumen. Sie dachten so wenig über den Grund ihres Wohlstandes nach, wie es Millionen andere auch nicht thun, die sich durch das Elend und den Tod ihrer Mitgeschöpfe nähren. Wohin sollte unsere Ehrbarkeit, Würde und Vortrefflichkeit geraten, wenn wir darüber simulieren wollten! Gott behüte uns davor!

Apothekers verstanden es, festlich zu leben, und wohl den Kindern und Vettern und Basen, denen das Schicksal solch ein Haus zugänglich gemacht hat! Die können einer munteren Jugend gewiß sein.

Eines Nachmittags in der allerschönsten Zeit, in der das Pfund Kirschen zwei Pfennige kostete, war bei den guten Leuten die ganze Gesellschaft versammelt, Röse und Marie mit ihren drei Freunden Budang, Horny und Schiller, ferner die Wirte mit allen Kindern, der alte Kupferstecher Müller mit drei erwachsenen Sprößlingen, Müllersch Lotte, Müllersch Ernst und Müllersch Heinrich.

Die einstige Gouvernante des Prinzen Konstantin, eines Sohnes Karl Augusts, war auch zugegen. Die hielt mit der Apothekerin, die früher bei Prinzeß Karoline Kammerfrau gewesen, gute Freundschaft und war eine muntere, alte Person, die es sich nicht zweimal sagen ließ, wenn es irgendwo eine Feierlichkeit gab, bei der man sie gebrauchen konnte. Die Dame war ein Fräulein von Knebel.

Sie war bei Hofe und in der ganzen Stadt durch eine artige Geschichte, die man allenthalben von ihr erzählte, zu einer gewissen Berühmtheit gelangt.

Eine drollige Geschichte stirbt so leicht nicht aus, und Fräulein von Knebel hatte sich mit guter Manier darin gefunden, die Heldin einer Anekdote zu sein, die man nicht müde wurde, immer wieder bei guter Gelegenheit anzubringen.

Ihr Zögling, Prinz Konstantin, war einst in eine solenne Hofgesellschaft aus irgend einer knabenhaften Laune mit einem Purzelbaum zur Thür hereingekommen und hatte allgemeines Entsetzen erregt. Seine Erzieherin, die ihm folgte, war von dem etikettelosen Benehmen ihres Zöglings bis ins Innerste erstarrt, und die Herzogin Luise, die Mutter des kleinen Übelthäters, ging mit einem äußerst ungnädigen Blick auf Fräulein von Knebel zu, richtete ein paar das Benehmen des Prinzen rügende Worte an sie und erhielt von ihr mit pathetischer, unschuldsreiner Stimme zur Antwort: »Hoheit, von mir hat er das nicht gelernt!«

Man denke sich!

Und wer die tiefempfundene Antwort gehört hatte, dachte sich jedenfalls das ehrbare, würdige Fräulein als Vorbild des unartigen Prinzen, daher eine unbezwingliche Heiterkeit und die Langlebigkeit der kleinen Geschichte. So ist Fräulein von Knebel bei jung und alt, hoch und niedrig bekannt geworden. Sie war überall gern gesehen, konnte einen Spaß vertragen und ging selbst nicht allzu zart und respektvoll mit ihrer eigenen Persönlichkeit um.

An diesem Nachmittage war die Gesellschaft bei Apothekers eigentümlich beschäftigt. Auf dem großen Tisch stand ein Korb mit kleinen, losen Heften, die von den Anwesenden geklebt oder genäht wurden. Die weiblichen Hände befestigten die losen Blätter mit ein paar Stichen ineinander und die männlichen klebten schmale rote, blaue oder grüne Papierstreifen um den Rücken der kleinen Broschüren.

Was aber enthielten diese Bogen, daß man sie in so heiterer Vereinigung bei Wein und Kirschkuchen vergnüglichst miteinander heftete?

Sie enthielten nichts Geringeres, als ein getreues Konterfei in Kupferstich von zwei berüchtigten Spießgesellen, Niklas Sommer und William Becher, nebst deren kurz und bündig gefaßter Lebensbeschreibung, zu Nutz und Frommen für alle, die dieses Heftchen kaufen und lesen würden. Der alte Müller hatte die Porträts selbst in Kupfer gestochen, die Lebensbilder selbst verfaßt, Papier- und Druckkosten selbst getragen, und morgen sollten sie auf dem Markte, während über die genannten Delinquenten der Stab auf einem Gerüst, das jetzt schon stand, gebrochen wurde, zum Verkauf ausgeboten werden.

Der Kupferstecher war mit seiner Arbeit mit knapper Not halbwegs bis zum bestimmten Termin fertig geworden und hatte noch, um das Werk zu vollenden, die Hilfe seiner Nachbarn, der Apothekersleute und deren Freunde und Verwandte in Anspruch nehmen müssen. So saß die Gesellschaft und heftete unter Lachen und in allerbester Stimmung schmausend die Lebensbeschreibung der beiden armen Tröpfe, die ihrem letzten Stündlein entgegensahen. Damals war die gute Zeit, in der man sich über gar viele Dinge weit weniger Skrupel machte, als in der unsern; das, was in aller Ordnung vor sich ging, wurde harmlos und unkritisch entgegengenommen. Man glaubte z. B. in der Wünschengasse allgemein, daß aus den Brotkrumen, die in den Honigtopf fielen, Ameisen entständen, und hütete sich deshalb natürlich, Brotkrumen hineinfallen zu lassen. Man glaubte tausend solche Dinge und befand sich wohl dabei.

Die beiden schlimmen Kerle waren von dem hochlöblichen Gericht verurteilt und mußten wohl oder übel den Lohn für ihre Thaten, den Tod, erleiden. Dagegen konnte nichts einzuwenden sein, es war eine abgemachte, durchaus erledigte Sache, die einfach und naturgemäß aussah, so daß hierbei nicht angebracht sein mochte, sich andern Gefühlen hinzugeben, als einem angenehmen Gruseln, das über diesen und jenen bei der munteren Arbeit wohl einmal hinlief. Bedenken über Todesstrafe oder sonstige humane Bestrebungen hatten die Apothekersleute und ihre Gäste wohl schwerlich berührt. Auch der Kontrast, der zwischen den beiden machtlosen Schelmen, die der Tod schon am Wickel hatte, und die ihre kurze Galgenfrist in einem von Gott und der Welt verlassenen Raume, von allem Troste und Verkehr abgesperrt verbrachten, und der lebensfrohen Sicherheit und Behaglichkeit, in der man hier beisammen saß, kam wohl keinem recht zu Sinnen.

Ernst von Schiller blätterte in dem Büchelchen und war mit des Kupferstechers Darstellung von William Bechers Gefangennahme nicht einverstanden. »Das soll ja eine tolle Geschichte gewesen sein, er muß sich verzweifelt gewehrt haben! Sie haben das ein bißchen kurz gehalten, und so etwas gefällt gerade.«

»Ja, das schreibe einer,« sagte der alte Müller; »der Becher war ein Prachtskerl, das läßt sich nicht so leicht berichten, dazu gehört einer!« Sie sprachen schon in der Zeitform, die das Vergangene beherrscht, von den noch für eine Weile, wahrscheinlich bis zum Übermaß bewußt Lebenden. Aber was gehen eine so allerliebste, unschuldige Gesellschaft die letzten Stunden, die Todesfurcht und alles menschliche Weh zweier armen, so gut wie schon gerichteten Sünder an!

Man lachte über den Eifer des Fräulein von Knebel, die mit einer wahren Vehemenz heftete und einen ganz erklecklichen Haufen der Diebs- und Mordsgeschichte vor sich aufgestapelt hatte, den sie eifersüchtig bewachte, daß nicht etwa eins oder das andere Heft entwendet wurde, um ihr den Ruhm zu nehmen, die größte Zahl gefertigt zu haben.

Fräulein von Knebel war eine Person, die alles und jedes mit ganzer Kraft betrieb.

Also hier sitzt die Familie mit ihren Gästen in Wohlsein beisammen, und man denkt mit Behagen an die beiden armen Sünder; die stecken miteinander in dem gar festen Stübchen, zu dem keine menschliche Hilfe mehr dringt.

Es liegt hoch oben in dem düstern Hause, das zu Strafe und Zucht der frechen, unklugen, unglücklichen und infamen menschlichen Kreatur, die sich nicht erziehen lassen will, erbaut wurde. Jetzt, in unseren Tagen, ist das Haus in ein ehrenwertes Landesgericht umgewandelt, und statt der Spitzbuben sitzen würdige Männer darin, ehrenwerte Landräte und Landrichter, die frei und fröhlich ein und aus gehen können, die mit Behagen die Sonne, ganz wie die seligen Spitzbuben einst, durch die vergitterten Fenster scheinen fühlen, die leben, atmen, ganz wie diese, nur daß sie durch ihre kluge und würdige Lebenswahl freie, angesehene Leute geblieben sind und bewahrt wurden vor straffälligen, verpönten, unklugen Sünden und Thorheiten, wie sie nur ein Unsinniger, ein Verzweifelnder fertig bringt.

Die beiden Spitzbuben aber, Becher und Sommer, saßen im Hause, als es noch seine Leute hinter Schloß und Riegel hielt; die Wolken zogen darüber hin und zogen auch über den Galgen, der auf zwei baumelnde Gestalten in aller Gemütsruhe wartete. Die beiden Spitzbuben kannten Weimars Umgegend, kannten den Galgen, sahen sich zappeln, sahen sich baumeln. Das Haar stand ihnen zu Berge, die Kniee schlotterten ihnen, die Zunge klebte am Gaumen, das Herz stieß und klopfte. Die Hände waren naß von kaltem Schweiß, und die Apothekergesellschaft dachte ihrer in Behagen bei dem Heften der Bogen, die den Tod, die letzte kommende Qual der armen Burschen schon schilderten; und als unsere Gesellschaft gerade im besten Heften und Kleben sich befand, jeder auch schon bei seinem zweiten und dritten Stück Kirschkuchen angelangt war, bei gutem Appetit, den muntere Arbeit förderte, da öffnete sich die Thüre, die von dem Zimmer aus direkt auf die Treppe führte, und herein trat vorsichtig, den Kopf zuerst durch die Thürspalte steckend, der unheimliche Geselle unten aus der Apotheke.

»Diener, meine Herrschaften,« sagte er mit seiner knarrigen Stimme und grüßte mit der dürren Hand, die aus einem allzu kurzen Ärmel sonderbar hervorstand. »Ich wollte nur oben vermelden, daß es diesmal mit den Büchern nichts ist. Sie haben den einen begnadigt. 's bleibt nur bei Sommern.« Wie aus einem tiefen Traum plötzlich erweckt, starrte die Gesellschaft sprachlos den gefürchteten Todesverkünder an, der heute ausnahmsweise seine Rolle geändert und, wenn man recht gehört hatte, der Verkünder eines erfreulichen Ereignisses geworden war. Aber man mochte wohl nicht recht gehört haben, denn es war nach der Botschaft des Gehilfen ein augenscheinlicher, ungemütlicher Druck bei einigen Gliedern der Gesellschaft zu konstatieren, und zwar gehörten diese Glieder durchweg der Familie des Kupferstechers an. Die erste, die sich sammelte, war Fräulein von Knebel; die fragte den Gehilfen, der noch in der Thür stand: »Nun sag' Er mal, wie ist das denn gekommen, und gerade Bechern?«

Der Gehilfe zuckte, wie es seine Art war, die Achseln und blickte spöttisch auf die Gäste, ohne etwas zu erwidern.

Nach einer Weile sagte er trocken: »Gesegnete Mahlzeit!« und wendete der Gesellschaft langsam den Rücken, um aus der Thüre zu gehen.

»Das ist aber schrecklich!« rief Anne Müller, die jüngste der Kupferstecherkinder, in enttäuschtem Ton, »da wird's nun nichts.«

»Seht mir das blutdürstige Geschöpf an,« sagte der Apotheker schmunzelnd. »Na, Anne,« und er klopfte ihr auf die Schulter, da drangen dicke Thränen in Annas Augen und rannen ihr über die roten, runden Wangen.

»Teufel auch, was hat sie denn?« fragte der Apotheker und blickte die Glieder der Kupferstecherfamilie der Reihe nach an. »Na, was habt Ihr denn?« fragte er noch einmal; denn auch die andern Müllerskinder und selbst der behagliche, rundliche Freund Kupferstecher konnte eine gewisse Niedergeschlagenheit nicht verbergen. »Was habt Ihr denn mit Bechern gehabt, daß Euch seine Begnadigung so zu Herzen geht; das ist mir ja etwas ganz Neues, erzählt doch! – Kennt Ihr ihn denn?«

»I, bewahre,« sagte der Kupferstecher, »das ist den Kindern ihre Sache; Anne, wollen wir's sagen?« wendete er sich an seine Tochter, deren Thränen noch immer reichlich flossen; »aber das merke Dir: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Erzähle!«

Anne blickte unter Thränen auf ihre Geschwister, die beide übellaunig und verdrossen dasaßen.

»Der Vater hatte mir's geschenkt,« begann Anne schluchzend und blieb im Anfange stecken, denn ihre Thränen machten ihr zu schaffen.

»Na,« ermunterte sie der Vater. Anne war aber jetzt erst recht ins Weinen gekommen und schenkte der Aufforderung fortzufahren kein Gehör, so daß der Kupferstecher selbst das Wort nahm und sagte: »Man muß immer auf das junge Volk bedacht sein, das will sich bald so vergnügen, bald so. Ein armer Vater hat seine liebe Not! Vor ein Wochner sechse verehre ich meiner Anne zu ihrem Geburtstag die beiden kleinen Zeichnungen,« der Kupferstecher schlug mit der Hand auf eins der Heftchen, »und sagte Anne, was ich damit vorhab, daß sie in Kupfer gestochen werden sollen u. s. w., und daß der Erlös, den ich damals dem armen Tierchen im voraus verehrte, zu einer Partie nach Schwarzburg bestimmt sei. Nun haben wir's gehabt,« sagte er und schlug sich auf die runden Kniee. »Jetzt können wir den ganzen Schwindel einpacken, und die armen Kinder sind um ihr Sommervergnügen gekommen.«

»Das weiß der liebe Himmel,« rief die Apothekerin mitleidig und bewegt. »Wenn von oben etwas gethan wird, Gott sei's geklagt, daß es immer am unrechten Platze geschieht!« Anne heulte unaufhaltsam, und die beiden älteren Geschwister versanken in einen unergründlichen Mißmut.

Der Kupferstecher war aufgestanden und ging im Zimmer auf und nieder, hatte die Hände in der Erregung über dem Bäuchlein gefaltet und schnippte mit den Daumen. Fräulein von Knebel hatte sich ganz der christlichen Pflicht zu trösten hingegeben und karessierte Annen auf alle Weise, indessen die übrige Gesellschaft nachdenklich auf die Hefte blickte, die mit einem Male wert- und bedeutungslos vor ihnen lagen.

Der Kupferstecher blieb nach längerem Aufundniedergehen stehen und sagte mit einer komischen und bittersauren Miene: »Ich bleibe dabei, es hätte dem Kerl nichts geschadet, wenn sie ihn morgen mitsamt dem andern ins Jenseits spediert hätten.« Er schnippte mit der Hand in der Luft. »Da haben wir uns hineingerannt, allein das Papier vier Reichsthaler, Druckkosten und dergleichen gar nicht gerechnet.«

»Ja, ja, ja,« sagte der Apotheker und schüttete ein Glas süßen Weins hinunter.

Die Gesellschaft hatte ein stilles und bedrücktes Aussehen angenommen.

Da klang plötzlich die helle, frische Stimme unseres guten Ratsmädels, der Röse. »Ich wüßte schon, wie man es machen könnte,« sagte sie ruhig.

»Na?« fragte der Apotheker.

»Streicht doch den Bechern aus und verkauft nur Sommer, das schadet ja nichts, wenn Becher mit daran hängen bleibt.«

»Teufelsmädchen!« rief der Kupferstecher überrascht. »Das läßt sich hören! Ja, wenn man Kopf und Herz auf dem rechten Flecke hat!«

»Hoch Röse!« rief der Apotheker und schwang sein Gläschen. Neues Leben fuhr in die Gesellschaft. Blaustifte wurden geholt, es wurde gestrichen, gestrichen, gestrichen, der Begnadete wurde von dem Verurteilten, dem armen, geschieden, wie das ja überall auf Erden der Fall ist.

Die Geschwister blickten wieder munter ihrer Sommerpartie entgegen, die ihnen der Tod des armen Burschen, aller Berechnung nach, einbringen sollte. Nur Anne sagte als Nachklang ihrer Schwermut mit weinerlicher Stimme: »Wenn sie den andern nur nicht auch begnadigen.«

Röse wurde an diesem Abend außerordentlich gefeiert.

»Ein heller Kopf ist etwas wert,« sang der Apotheker in allerlei schelmischen Melodieen und Variationen ihr zu. Röse war sein ganz besonderer Liebling.

Als am Abend die Gesellschaft nach Hause ging, mußten sie an dem Gerüste vorüber, auf welchem über dem armen Schelme Sommer der Stab am andern Morgen in aller Frühe gebrochen werden sollte.

Als die lustigen Leute in der unheimlichen Nähe standen, da wurden sie alle still und bedenklich.

Röse, die am Arme Budangs ging, sagte, indem sie sich fester an ihn hing: »Morgen wird Sommer doch auch, wie damals der andere, auf einer Kuhhaut nach dem Galgen geschleift?«

»Ja,« sagte Budang.

»Ach, Budang,« fuhr Röse nach einer Weile fort, »ich will wirklich immer recht gut sein!«

»Ja, das denke ich,« sagte Budang lächelnd; »aber Du bist müde,« fügte er hinzu, »Du hängst Dich ja ganz schwer an meinen Arm. Paß auf, ich will Dir noch etwas sagen.«

»Na,« fragte Röse.

»Die Schillers-Mädchen und Ernst, Ihr, Horny und ich, wir sind miteinander zu Sperbers aufs Gut eingeladen. Wir wollen es jetzt noch auf dem Weg bereden.«

»So?« sagte Röse, »das ist vom alten Sperber vernünftig, daß er endlich sich entschlossen hat.«

»Was hast Du denn zu versäumen?« fragte Budang.

»Ich, daß ich nicht wüßte! Ich kann nur solch ein Zaudern nicht leiden. Vor vier Wochen läßt er es bei uns durch die Butterfrau sagen, und nichts wird dann wieder von ihm gehört.«

»Ernst,« rief Budang, »wartet einmal.« Ernst, Marie und Horny gingen vorauf und blieben auf Budangs Ruf stehen.

»Ihr seid wohl auch gerade im Sprechen?« fragte Röse. »Wie machen wir es denn mit Sperbers?«

»Wir gehen, natürlich gehen wir,« sagte Ernst von Schiller. »Wir wollten es nur oben bei Apothekers nicht bereden. Es paßt doch nicht, wenn wir halb Weimar dem alten Sperber auf den Hals bringen, und Müllers wären ruhig mitgegangen, die machen alles mit. Nein, wir wollen unter uns bleiben. Die Schwestern sind natürlich bereit und lassen Euch sagen, Ihr sollt Eure rotpunktierten, hellen Kleider mitnehmen. Sie machen es auch so.«

»Nun, und wann gehen wir?« fragte Röse.

»Heut' haben wir Freitag,« erwiderte Marie, »da dächte ich, wir setzten Montag fest, da kommen wir um die Kirche, denn Sperber würde uns auf alle Fälle hineinstecken, der hält's nun einmal mit seinem Pfarrer.«

»Und wir müssen so schon bei Pastors schlafen,« fuhr Röse dazwischen. »Wir wissen es, wie es dort ist, nicht, Du?« sagte sie lachend zu Marie.

»Ja, schade, daß Ihr nicht bei Sperbers unterkommen könnt,« meinte Budang.

So waren sie bis vor Röses und Maries Haus gekommen. Großer Abschied, und die Mädchen tappten miteinander die dunklen Treppen hinauf.

Am andern Morgen sah die Mutter mit ihnen die rotpunktierten Kleider durch; beide bestürmten sie auf das innigste, liebenswürdigste und überzeugendste, sie wollten ein neues Band auf ihre großen Hüte, und sie bekamen es und waren glücklich.

Mittlerweile war der unglückliche Sommer auf seiner Kuhhaut dem Tode zugeschleift worden, und der Galgen trug seine Zierde zum letztenmal, denn Sommer war Weimars letzter Gehenkter.

Am Montag, himmelfrüh, brach von der Wünschengasse die Gesellschaft auf, unsere fünf guten Freunde, die beiden Schillerschen Töchter und ein kleines, mageres Pferdchen, das mit Ernst von Schiller in Beziehung stand, da es von ihm schon zu manchem Spazierritt gemietet worden war, wenn er einmal Lust bekam, auf Pferdesrücken sich dem Leben und seinen Gefühlen hinzugeben.

Jetzt war es mit Shawls, mit Päckchen und Körben beladen. Die rotpunktierten Kleider von den Ratsmädchen und den Schillerschen waren sorgsam dem guten Tiere anvertraut worden, und Ernst bekam von den Schwestern und von Röse und Marie wahrhaft begeisterte Erklärungen, die seine Klugheit, seinen ausgezeichneten Verstand betrafen. Er hatte nämlich die Gesellschaft mit der Idee und deren Ausführung, das Pferdchen zu engagieren, überrascht. So zogen sie durch die morgenstille Stadt, dem langgestreckten Ettersberge zu, nach dem Gute des alten Sperber.

Welch schöne Verbindung von erster Jugend, herrlicher Morgenfrische, Aussicht auf ein paar gute Tage, allseitigem Wohlgefallen aneinander und Sorglosigkeit gab unsere Gesellschaft ab!

Sie hatten einen tüchtigen Marsch bis zum Gute des Herrn Sperber vor sich, und ein gutes Stück mußten sie über Felder, über schattenlose Wege gehen; aber ein frischer Wind wehte den ganzen Tag. Das Korn stand in Blüte und duftete, und die Sonne ließ die Wangen höher glühen; sie ließ die Züge der schönen Mädchen noch weicher, lebensvoller als sonst erscheinen.

Budang, ein großer Botaniker, war bemüht, die Gesellschaft auf allerlei Merkwürdigkeiten aufmerksam zu machen, und es dauerte nicht lange, so hatte das Pferdchen eine kleine Naturaliensammlung auf dem Rücken, und die Mädchen rote Mohnkränze auf den Köpfen.

Die Wege auf dem Ettersberg gaben dem Sammler reiche Ausbeute an allerlei Versteinerungen, und die Mädchen wußten es schon, es gab für alle zu schleppen, wenn sie mit Budang dort lustwandelten.

Gegen Abend erst gelangten sie zu ihrem Ziele, denn der Weg war durch allerliebste Aufenthalte, kleine Mahlzeiten, so viel als möglich verlängert worden.

Vor dem Gutsthore kam ihnen eine wohlbekannte Gestalt entgegen. Das war die Gutsbesitzerin selbst, die lustige, kleine Alte mit der großen, rosa Schürze, dem Schlüsselbunde, den nickenden Bändern an der Haube. Ein Windzug bewegte ihr die weite Schürze und ließ sie, bestrahlt von der Abendsonne, flattern und in unerhört Rosa-Farben-Tönen leuchten.

Die wartende Gestalt mochte auf die ankommenden Gäste einen verheißungsvollen Eindruck machen; denn mit Jubel und Winken und heiteren Lauten, mit noch durch die Entfernung unverständlichen Zurufen näherte man sich ihr.

Und ebenso schien sie erfreut zu sein, als die mit rotem Mohn bekränzten Mädchen, das Pferdchen, die drei Kameraden herankamen, denn sie schlug einmal über das andere Mal die Hände zusammen, man sah sie schon von weitem lachen, und als die Gäste so nahe waren, daß man wagen konnte, die Begrüßungsformeln etwas detaillierter und augenscheinlicher machen zu können, schwenkte die kleine, runde Frau ihr Schlüsselbund in der Luft und ließ es klingen und that dies mit außerordentlicher Geschicklichkeit, bog sich dabei mit dem Oberkörper hin und her, im Takte, je nachdem sie mit dem Schlüsselbunde, das sie wie eine Castagnette handhabte, klirrte und klapperte.

Die Gäste kamen schließlich laufend auf ihre Wirtin zu, und auch das Pferdchen wurde dazu veranlaßt, einen gelinden Trapp anzuschlagen. Nun allerausführlichste Begrüßung, Umarmung, jedes bekam seinen festen Kuß von der Frau Gutsbesitzerin.

»Nun, mein Alter wird Augen machen, wenn er Euch in den Kränzen sieht,« sagte sie und betrachtete die Mädchen. »Seht nur einer, Klatschrosen! Ja, die Jugend! Die liebe Jugend! Die verdammten Klatschrosen! Und hier machen sie sich, ja, alles hat seinen Zweck auf Erden!«

Sie klopfte Röse auf die Wangen. »Aber habt Ihr denn gesehn,« sie wies auf Rösens Kranz, »was das Zeugs dies Jahr gediehen ist? Da stecken ja die Felder voll zum Erbarmen. Na, der Alte wird Augen machen,« schloß sie wieder. »Wo habt Ihr denn den Klepper her?« begann sie aufs neue und klopfte dem Pferdchen auf die Schenkel, »der soll sich wundern, wie es ihm diese Tage gehen wird. Du alter Häckselsack,« und wieder bekam das magere Viehchen einen freundlichen Klapps von seiner Wirtin, der gleichbedeutend war mit einer Anweisung auf ein paar tüchtige Metzen Hafer. Jetzt traten sie in den Gutshof ein.

Das war ein Gutshof! Jeder Mensch, dem Gott wohl will, sollte in schönen Jugendtagen einmal auf solch einem Gutshof ein paar Tage, ein paar Wochen gewesen sein, damit er wenigstens weiß, was Behagen, was Fülle, was Sauberkeit, Nützlichkeit, was gesunder, kräftiger Geruch, was schönes Vieh in gut gepflegten Ställen, was Wohlhabenheit und Stattlichkeit ist; damit er erst begreifen lernt, welche Harmonie zwischen dem schön geschichteten Misthaufen und der hohen, breiten Linde auf solch einem Hofe besteht, wie sie beide miteinander ein Ganzes bilden, einen einzigen Eindruck.

»Da kommt er ja, mein Alter,« rief die muntere Herrin des schönen Hauses, und richtig, aus dem Laubengang, der um das Wohnhaus führte, trat der alte Sperber, der wunderlich gut zu seinem Frauchen paßte.

Auch er war eine kurze, rundliche Gestalt, wie es schien, behende, denn auch er bewillkommnete die Gäste schon von weitem mit den lebhaftesten Bewegungen, und wie die Frau das Schlüsselbund, so schwenkte er die große Tabakspfeife. Sein Gesicht hatte eine stark rötliche Färbung und leuchtete vor Behagen.

»Da kommt ja die Gesellschaft!« rief der alte Sperber, als er schon unter der Bande stand. »Ihr habt's gut gemacht, daß Ihr Euch Zeit genommen, unser Jochen Henner hat Euch ja vor so ein sieben Stündchen in Lützendorf getroffen, danach erwarteten wir Euch um eins, zwei herum.«

Der behagliche Alte zog seine dicke Uhr und hielt sie Budang unter die Nase. »Und was zeigt's jetzt? Jetzt geht's stark auf achte. Ihr mußtet dem Klepper wohl oft zureden, he? oder was habt Ihr denn eigentlich gemacht? Das ist ein miserables Vieh, wie kommt Ihr denn dazu?«

»Das ist Ernst sein Reitpferd,« sagte Röse einigermaßen pikiert. Sie fand, daß das Pferdchen gar so übel nicht war, und daß sich Ernst oft sehr stattlich, wenn man nur den rechten Standpunkt hatte, darauf ausnahm.

»I, der Tausend, wohnt bei Euch in der Stadt ein närrisches Volk, wenn man das ein Reitpferd nennt! Meinetwegen!«

Er rief einen Knecht herbei und befahl ihm, »das Reitpferd« in den Stall zu führen und abzuladen, und ging mit seinen frischen Gästen dem Hause zu.

»Schade, das ganze Gesindel kann nicht bei uns unterkommen, wir haben Euch beide, da – Euch beide« – er wies auf Röse und Marie. »Ihr müßt eben zum Pfarrer, weil Ihr die Frau kennt; schlimm genug für Euch.« Das murmelte er in den Bart und paffte blaue Wölkchen aus seinem Pfeifenkopf. »Sapperlotsches Volk, die Pastors,« brummte er. »Aber jetzt wollen wir erst bei einander sitzen. Übrigens seid Ihr nur für die Nacht dort untergebracht. Am Tage werde ich mich hüten, Euch drüben zu lassen in dem Gewirre. – Teufel auch, es ist kein Spaß, dort unterkriechen zu müssen.«

»Uns macht es nichts aus, und wenn sie dort noch mehr hätten,« versicherten die Mädchen. Es handelte sich hier um den großen Kindersegen des Pfarrhauses, das durch diesen Umstand für den Gutsbesitzer Sperber, der über alles seine Behaglichkeit und Ruhe liebte, etwas Unheimliches hatte.

Er verehrte den würdigen Pfarrherrn. Er war ihm ein angenehmer Begleiter, um mit ihm über Land zu gehen.

Sie spielten Tarok miteinander; doch bei allem, was er mit dem Pfarrer vornahm, mußte dieser durchaus von den Seinen isoliert sein. Ja, der alte Sperber vermied es sorgfältig – nur in den dringendsten Fällen machte er eine Ausnahme – sich nach des Pfarrers Frau und Kindern zu erkundigen. Er bestritt auch auf das heftigste und wiederholt gegen seine eigene Frau, daß er wisse, ob der Pfarrer zehn, dreizehn oder siebzehn Kinder habe, trotzdem er von der kleinen Gutsbesitzerin mit der Anzahl dieser armen Kinder auf das nachdrücklichste und eindringlichste, so oft er fragte, bekannt gemacht worden war. Er wollte es nicht wissen und damit basta!

Der Pfarrer hatte nach dem Tode seiner ersten Frau zur Lebensgefährtin eine Elementarlehrerin gewählt, die auch unsere Ratsmädel einmal unter der Fuchtel gehabt und die sich jetzt zur Beherbergung ihrer beiden früheren Zöglinge erboten hatte.

Als der Pfarrer dem Gutsbesitzer vor einigen Jahren seine in Aussicht stehende Verbindung mit dieser würdigen Person anzeigte, mit besonderer Hervorhebung eben dieser Eigenschaft, »der Würde«, sah der Gutsbesitzer ihn gleichgültig an, sagte: »Bon«, pfiff ein Stückchen, um vielleicht anzudeuten, daß der gegenwärtige Augenblick ihm von außerordentlicher Gleichgültigkeit sei.

Das Gutsbesitzerpaar hatte den einzigen Sohn in der Kriegszeit verloren.

Er war fürs Vaterland gefallen, und die beiden Alten hatten den Verlust tapfer getragen. Das schöne Gut war ohne Erben; aber sie zeigten sich beide gelassen darüber, hatten ihre Einrichtungen getroffen, Stiftungen bedacht und trugen ihren Kummer nicht zur Schau, hatten sich wohl auch damit auf eine gottergebene Weise abgefunden und lebten in Wohlgefallen aneinander ganz behaglich.

Das Abendessen, das die junge Gesellschaft bei ihren Wirten erwartete, zeugte von ländlichem Überfluß an den Dingen, womit die Leute unten in Weimar sparsam umgehen mußten.

Röse und Marie hatten seit jeher den Eindruck von dem Gute des alten Sperber gehabt, als wäre in Wahrheit hier das Land, in dem Milch und Honig fließt.

Bis in die Baumblüte hinein erhielt die Frau Gutsbesitzerin die besten Äpfelsorten noch so frisch und schmackhaft wie um Weihnachten und konnte ihren Gästen immer Überraschendes, Ausgesuchtes vorsetzen. Die alte Sperber hatte ihre ganz besonderen Geheimnisse, hinter die sie niemanden so leicht kommen ließ. Sie buck berühmte Kuchen, und in welchen scheinbar unvertilgbaren Massen! Rats hatten so manche Kiste, vollgepackt mit verlockenden Dingen, zu allerlei Festen und zur Kirmeß von der Frau Pate, wie die Gutsbesitzerin in der Wünschengasse benannt wurde, geschickt bekommen.

Und das Bild der Frau Pate stand Marie und Röse vor der Seele, stets umgeben von den verlockendsten Produkten ländlicher Koch- und Gartenbaukunst.

Während des Abendessens war man äußerst heiter, der Abendglanz des sonnigen Tages, den die junge Gesellschaft in aller Muße im Freien zugebracht hatte, in sorglosem Behagen, lag noch über den Gesichtern ausgebreitet, und die Stimmung aller schien wie von klarer Sommersonne durchdrungen.

Nachdem sie allen Herrlichkeiten gründlich zugesprochen, spielten sie in der großen Laube vor dem Hause Pfänderspiele; zwei junge Leute, die auf dem Sperberschen Gute ihre Lehrjahre durchmachten, fanden sich noch zu den übrigen, und mitten unter der ausgelassenen Jugend vergnügte sich das Gutsbesitzerpaar auf das beste.

Die beiden Ratsmädel befanden sich in einem Taumel von Vergnügen. Der Gutsbesitzer that mit, als gehörte er zu dem jungen Volke und gewann bei den Pfändern auch wohl einen Kuß von den Mädchen.

Röse, der Schelm, war hellsehend genug, ihre Küßchen keineswegs für etwas Gleichgültiges zu halten.

Bei einer Gelegenheit, wo es zweifelhaft erschien, ob der Wirt solch einen artigen Gewinn gemacht hatte oder nicht, und man sich darüber stritt, sagte Röse, um die es sich handelte, zu Budang und Franz Horny: »Das nehmen wir bei dem guten Sperberchen nicht so genau, Ihr seid mir die Rechten, so zu streiten,« damit sprang Röse auf und fiel dem alten Gutsbesitzer um den Hals und küßte ihn auf das anmutigste. »Du Prachtmädchen, Du,« sagte der gute Sperber und drückte das liebe Geschöpf gerührt an sich. »Ja, so ein Töchterchen zu haben!« murmelte er und strich Röse über das dichte blonde Haar. »Ja, meine Alte!« und er nickte seiner Frau mit feuchten Augen zu.

Als Röse zu Marie und Budang trat, blickte die Schwester sie unzufrieden an. »Siehst Du, Röse,« sagte sie, »was mußt Du denn den Leuten die Nase lang machen. Ich glaub's wohl, daß sie sich für ihr Gut ein paar Mädchen wünschen oder auch ein paar Jungen. Nun hast Du den beiden das Herz schwer gemacht.«

»I, gar. Na, Budang,« sagte Röse mit schon von Thränen unsicherer Stimme, »nun siehst Du einmal, wie Marie sein kann.«

Damit wendete sich Röse ab und huckte sich neben die Gutsbesitzerin auf ein Fußbänkchen, das dort stand, legte ihren Kopf auf die Knie der kleinen Frau und ließ sich wie eine Katze streicheln und im blonden Haar krauen und knurrte dabei vor Behagen; vielleicht, um damit zu beweisen, dass sie sich trotz des Ärgers außerordentlich wohl befände.

»So macht sie's,« sagte Marie zu den drei Kameraden, »da mag zu Hause geschehen, was da will, und wenn sie eine um die Ohren gekriegt hat. Wir kennen das schon.«

Franz Horny fragte: »Dauert's lange bei ihr?«

»Bewahre,« teilte Marie ihm mit, »wenn wir irgend etwas Neues jetzt anfangen, da ist alles vorbei; aber hört nur!«

Wie Marie vorausgesagt hatte, so geschah es; als man mitten in einem neuen Spiele sich vergnügte, war unsere Katze glatt und munter wieder dabei. Nicht gar zu spät trennte man sich, denn die Ratsmädchen durften die Pastorsleute nicht aus dem Bette holen. Die Gutsbesitzerin trieb die beiden an, als es Zeit war, zu gehen, lud ihnen ihr Bündelchen auf und entließ sie mit der Weisung, vernünftig zu sein und dort die Wirtschaft nicht noch zu verschlimmern. Als sie durch den Pfarrgarten gingen, kam ihnen ihre frühere Lehrmeisterin entgegen. Sie schien vor dem Hause etwas zu lustwandeln.

»Da kommt Ihr ja,« rief sie den Mädchen zu. »Ihr müsst aber mit unten schlafen, hat es Euch die Sperbern schon gesagt?«

»Ja,« erwiderte Marie.

»Nehmt's, wie es ist,« fuhr die Pfarrerin trocken fort. –

Sie traten miteinander in den Hausflur ein; da drang aus einer halb offenen Thür, aus der ein matter Lichtschein in die Dunkelheit fiel, ein merkwürdiges Summen, Poltern, Kreischen, Quieken, Schimpfen, Rücken, Zischen und Huschen.

»Da schlafen die Kinder,« teilte die Pfarrerin mit und öffnete die Thür vollends. Welcher Anblick! In einem durch eine Öllampe, die mitten im Zimmer von der Decke herabhing, dämmerig erleuchteten Raume bewegte es sich auf eine überraschende Weise. Überall schlüpften rosige, weiße Gestalten. Auf den Betten sprang es, auf der Diele schlüpfte es, und bei dem ersten Schritte in dieses Reich zupfte es schon von allen Seiten den Mädchen an den Röcken.

»Dass Euch doch gleich!« rief die Pfarrerin und schwang in demselben Augenblick einen Stock, den wohl ein guter Geist ihr während ihres Eintrittes in die Hand gespielt haben musste, denn kurz vordem wußten Marie und Röse, dass sie unbewaffnet gewesen war.

»Wollt Ihr wohl!« rief sie, »Ihr Pack, geht in die Betten!«

Erheitert durch diese kräftige Anrede wurde dem Befehle der Pfarrerin auf schreiende, kreischende Weise nachgekommen. Sie gingen in die Betten.

Marie und Röse folgten den Bewegungen ihrer früheren Lehrmeisterin, wie diese sich über das eine und andere Bett bog: in jedem lagen zwei bis drei Pastorskinder für die Nacht verpackt. Sie sahen, wie die Herrin dieser Schlafstube Decken energisch feststopfte, bedeutungsvolle Püffe austeilte und auf alle Weise bemerklich zu machen suchte, dass sie Ruhe wünsche.

In unklaren, kurzen Redensarten teilte sie, wie es schien, Befehle aus, wie: »Fort, Du da aus dem Bett, fort da in das Bett! Das Bett bleibt frei!«

»Der haben sie schon übel mitgespielt,« bemerkte Röse trocken zu Marie gewendet. »Sieh nur, wie verschlumpt sie ist. Du lieber Gott, sie war zwar unsere Lehrerin, aber leid thut sie mir doch!«

Es brauchte nur ein armer Sterblicher nach Rösens Meinung das Unglück gehabt zu haben, Mariens oder ihr Lehrer gewesen zu sein, so schien er ihnen für eine fühlbare Wiedervergeltung des Jammers, den er ihnen verursacht hatte, reif genug.

Aber dieses Maß, das über die arme Pfarrerin ausgeschüttet wurde, erschien selbst Rösen überreichlich.

»Ihr müsst schon hier fürliebnehmen,« sagte die Frau außer Atem. »Hier in dem Bett könnt Ihr schlafen.« Sie wies auf ein breites Bett, das wahrscheinlich drei Pfarrerskinder, die nun enger zu einander gesteckt waren, den Gästen zuliebe hatten räumen müssen.

»Macht's Euch bequem.« Diesen kühnen Ausspruch in dieser Umgebung that die Pfarrerin auf eine sonderbare, fast spöttische Weise, als wollte sie sagen: »Mache es sich hier einer bequem!«

»Na, legt Euch nur hin, sie werden es ja gnädig heut Nacht machen ... Dass Ihr mir die Mädchen nicht stört!« rief die Pfarrerin mit Feldherrnstimme. »Hier den Fritze,« sie zeigte nach einem Bette, »den lasst nur ruhig, der hat den Keuchhusten. Er macht es mit sich allein ab, das ist das Beste, schlafet wohl, ich muss hinauf zu den zwei kleinen Schreihälsen, wenn das nicht wäre, da hätte ich es anders mit Euch eingerichtet.«

Die Pfarrerin ging und ließ die beiden Mädchen mit der heimtückischen Gesellschaft allein. Kinder, die mit blinzelnden Augen warten, bis die Mutter glücklich zur Thür hinaus ist, um dann unter den Decken vorzuschlüpfen und einen Hexensabbath nach ihrer Art zu feiern, sind das heimtückischste, was man sich vorstellen kann.

Noch blieben sie ruhig, und die Mädchen begannen, sich auszuschälen, vorsichtig, lautlos, denn es verlangte sie durchaus nicht danach, das Schauspiel von vorhin, als sie eintraten, wiederholt zu sehen.

Sie saßen miteinander in ihren Röckchen auf dem Bettrand und flochten sich die Zopfenden fester; da regte es sich hinter ihnen, zwei Burschen und ein Schwesterlein huckten da, befühlten die Zöpfe der Gäste, und der kleinste Bube krabbelte vorsichtig mit den Fingerchen über Rösens Hals. –

»Da sind sie,« sagte Marie seufzend, die sich durchaus nicht gern um ihren Schlaf bringen ließ.

Ja, da waren sie. Jetzt noch schweigsam, vorsichtig, etwas scheu; aber schon wichen diese mildernden Umstände. Das Bübchen, das zaghaft über Rösens Hals hingetippt hatte, schlug jetzt, in erwachendem Sicherheitsgefühl, mit der flachen Hand auf ihr weißes Fellchen los.

Die machte kurzen Prozeß, langte sich den kleinen Schelm vor und zog ihm ein paar Tüchtige über, denn sie fand es für vorteilhaft, sogleich ein Exempel zu statuieren. Statt der erwarteten Wirkung aber trat eine allgemeine Begeisterung über Rösens Handlungsweise ein.

Sie sprangen wie auf ein gegebenes Zeichen aus den Betten und bestrebten sich allesamt und sonders, auf das Lager der armen, müden Dinger zu gelangen. Sie überpurzelten sich, die größeren stießen die kleinen herab, die kleinen kniffen und bissen die größeren in die Beine.

Schon hatten einige der kleinen Gestalten ihre weißen Lümpchen verloren und umkrochen, umpurzelten, über und über rosig, die beiden guten, ratlosen Ratsmädchen.

Es schien bei Pfarrers, wie bei den alten Römern, Sitte zu sein, in der höchsten Regung der Begeisterung, wenn ein Schauspiel zum vollen Beifall aufforderte, ein Kleidungsstück nach dem andern in die Höhe zu werfen, bis die Begeisterung befriedigt, und die Kleider ein Ende erreicht hatten.

Hier war das Ende schnell erreicht. Eines nach dem andern warf sein Hemdchen den Mädchen an die Köpfe und freute sich seiner Nacktheit ganz augenscheinlich.

Der Lärm wuchs, die Lage der Mädchen wurde wahrhaft bedrohlich, denn es zerrte und riß an ihnen von allen Seiten.

Mit einem Male fing Fritzens Husten an. Der unglückliche Schlingel huckte sich an einem Bettpfosten nieder und würgte und keuchte zum Erbarmen. Marie machte sich von dem zudringlichen Schwarm los, wickelte den armen Jungen in ein Kittelchen ein, setzte ihn auf eine Bettdecke, daß er doch etwas Behaglichkeit hatte und ging zurück, Rösen zur Hülfe, die eben einen ungefähr achtjährigen Ruhestörer in der Mache hatte, ihn mit Schlapps und Bengel auf das freigiebigste traktierte. »Schlapps« schien den Pfarrerskindern ein neues, verheißungsvolles Wort zu sein, denn im Chor wurde es freudig wiederholt. »Ihr seid selbst ein Schlapps!« rief ein kleiner Dicker, zu den Mädchen gewendet.

»Ja, sie sind Schläppse!« rief es von allen Seiten. »Das sind Schläppse!«

»Ihr seid ein unerhörtes Volk,« räsonnierte Röse dazwischen; »das ist ja eine miserable Wirtschaft bei Euch.«

»Ja, Schlapps! Ja, Schläppse!« schrie es wieder durcheinander, quiekend, lachend, sprudelnd.

Jetzt schien der Höhepunkt, der diese Nacht unter den obwaltenden Verhältnissen zu erreichen war, erreicht zu sein. Der arme Fritz hustete, weinte und lamentierte aus vollem Halse, und die von menschlichen Leiden unbehelligten Bälger trieben ihre Ausgelassenheiten und Frechheiten unentwegt weiter, und zum Überfluß entwischten noch zwei, liefen zur Thür hinaus in den monddurchschienenen Garten. Röse ging ganz erschreckt in ihrem Röckchen den beiden Flüchtlingen nach, durch den Mondschein, über den großen Rasen im Garten. Der Tau rann ihr über die bloßen Füße, das Unbehagen, so nachts im Pfarrgarten zu stehen, trieb sie, umzukehren, ohne die Ausreißer mitzubringen, die sie wie Gespensterchen im Mondschein zwischen den Büschen hüpfen und aufschimmern sah. Sie war noch nicht lange wieder eingetreten und hatte kaum auf dem Bette neben Marien Platz genommen, als die Thür aufging und eine mächtige, gespenstische Gestalt in einem dunklen, faltigen Mantel und einer Schirmmütze eintrat. Neben dieser Gestalt tauchten in derselben Thür die beiden Ausreißer auf.

»Marsch, in die Betten,« sagte das Gespenst in ruhigem, sachgemäßem Tone und auf eine Weise, als wäre es ihm nichts Neues, um diese Stunde hier ein und aus zu gehen. »Allons, allons, wird's bald, Ihr boshaftes Volk!«

»Du, das ist der Nachtwächter,« sagte Röse, »da hat er ja sein Horn.«

»Herr Jesses, ja,« flüsterte Marie und schlüpfte unter die Decke.

Als alles in Frieden lag, wendete sich der Nachtwächter, der vollkommen unterrichtet zu sein schien, an Röse und Marie und sagte: »Die Jungfern sind da in etwas Schönes hineingeraten. Ich dachte mir es gleich, daß es heute Nacht schön hergehen würde und bin darum schon zeitig gekommen. Ich sah vorhin die Jungfer auch im Garten stehen und wußte schon, wie es hier zuging.«

»Kommt er denn jede Nacht herein?« fragte Röse.

»Ja, ja,« sagte der Nachtwächter, »sonst ging's wohl nicht. Ich komme gar oft und schaue nach, Stunde für Stunde; aber nichts für ungut, ich werde mich schon vorsehen, daß die Jungfern jetzt schlafen können.«

So zog der Nachtwächter ab, und die Pfarrerskinder versanken in einen respektvollen Schlaf, den ihnen die würdige Erscheinung der hohen Obrigkeit eingeflößt hatte. Und auch Marie und Röse fanden endlich Ruhe und bemerkten nicht, wie allstündlich, bis die Sonne aufging, der Nachtwächter die Runde durch das große Schlafzimmer machte, die Decken der Pfarrerskinder zurechtrückte, wie er auch vor dem Bette der Ratsmädchen stehen blieb und wohlgefällig auf sie hinblickte. Sie hörten auch nicht, wie er jedesmal, wenn er aus dem Hause trat, in sein Horn tutete und sein Lied absang. Das war Bestimmung des Pfarrerpaares, das dadurch des Nachtwächters Umschau im Schlafzimmer kontrollieren konnte.

Er tutete aber auch an keiner Stelle des Dorfes mit der Befriedigung und dem schönen Bewußtsein der Pflichterfüllung, wie in dem Garten des Pfarrers.

Als der Nachtwächter nach seinem ersten Rundgange auf die Landstraße trat, stand der Mond in vollster Klarheit am Himmel, schimmerte über die Felder und über das Dörfchen, das in sanfter Ruhe im Silberlichte lag, in dem jetzt auch das unruhigste Haus, das dem Frieden des guten Dorfes Abbruch gethan, durch den Nachtwächter beruhigt und eingeschüchtert worden war.

 

Am frühen Morgen schlüpften die beiden Mädchen in die Kleider als hätten sie gestohlen und machten sich eiligst aus dem Staube, ehe alles im Haus zum Leben erwachte. Sie banden sich die Schuhe in ihrer Hast auf der Dorfstraße zu. Als sie in den Gutshof traten, kam ihnen Budang entgegen. »Na, wie habt Ihr denn geschlafen?« rief er.

»Da schlaf' einer,« bekam er von Röse zur Antwort, »das sind ja miserable Zustände dort!« Jetzt kam auch der alte Sperber auf sie zu, schlug die Mädels zum Morgengruß auf die runden Schultern:

»Pastors Kinder und Müllers Vieh
Gedeihen selten, – oder nie.«

fügte er belehrend hinzu.

»Das muß wahr sein,« brummte Röse.

»Wenn das so bekannt ist, daß man sogar einen Vers darauf gemacht hat, da sollten die Pfarrer doch wahrhaftig lieber keine Kinder haben, wenigstens nicht so viele, wie Deiner drüben.«

»Da bin ich ganz Deiner Meinung,« nickte der Gutsbesitzer nachdenklich.

»Ja, aber mit dem Vers, Röse, wenn Du wüßtest, wie wenig es nützt, ob auf das Ding ein Vers gemacht ist oder nicht. – Da unten, Eure Gesellschaft, frag sie nur, was es der Welt nützt, daß sie solche strafbare Massen zusammenschreiben – in dem verruchten Nest! Sie werden selbst sagen, wenn sie noch einen Tropfen gesunden Verstand übrig behalten haben, daß alles beim Alten bleiben wird. Was schwarz und weiß dasteht, hilft verflucht wenig; nur die Dinge sind die wahren, die aus den Tages- und Nachtstunden, wie aus ihrem Erdreiche selbst herauswachsen. Das andere Zeugs taugt nichts! Es ist gut, daß wir einmal darauf kommen, ich muß sagen, mir ist's lieb, daß zwischen mir und Eurem verdrehten Weimar der gute, alte Ettersberg liegt. Bei Euch ist mir die Wirtschaft mit der Dichtersbagage nachgerade zu überschwenglich geworden! Das geht ja über unsereins hinweg, als wären wir bis aufs letzte im Preise gesunken! Na, mich hat Weimar lange nicht gesehen; fragt einmal, was dazumal, ehe der Schwindel bei Euch losging, der alte Sperber in Weimar galt, fragt einmal, ob er nicht überall der erste gewesen ist. Ja, das waren damals noch Zeiten! – Du lieber Gott!« –

Der Gutsbesitzer ging gedankenversunken zwischen den beiden Mädchen.

»Na,« sagte Röse begütigend, »wie die Zeit für den Herrn Paten bei uns vergangen ist, so vergeht sie auch für die andern.

»Nur mit dem Unterschiede,« setzte der Gutsbesitzer hinzu, »den alten Sperber haben sie bei Lebzeiten schon vergessen. Mit denen jetzt werden sie's anders halten.«

»'s ist auch natürlich, Pate,« meinte Röse. »Die haben auch ihren redlichen Plack gehabt, bis sie so weit gekommen sind. Wir wollen's ihnen gönnen, du lieber Himmel, und wenn ich dächte, ich sollte mein lebelang wie unsere Weimarischen arbeiten, um schließlich berühmt zu werden. Proste Mahlzeit, ich würde mich bedanken!«

»Hör' einmal, Röse,« unterbrach Budang sie, »laß Horny so etwas hören, der hat so wie so gesagt, daß wir dich das nächste Mal nicht mit ins Theater nehmen, weil Du so unartig und unverschämt sprichst, und dann will ich den Jammer nicht sehen.«

»Wenn Ihr Röse nicht mitnehmt, geh ich auch nicht,« bekam Budang von Marie zur Antwort, und die Sache war erledigt.

 

Ein überreichliches Frühstück versammelte die ganze Gesellschaft. Währenddem wurde beraten, was man weiter beginnen wollte, und schon im voraus gab der Tag, da alle Wünsche betreffs der Unternehmungen zusammenfielen, das heiterste und anmutigste Bild. Es war für den Nachmittag ein Gang auf des Paten große Wiesen verabredet, auf denen gerade Heuernte gehalten wurde. Sie zogen nach Tisch aus; die Gutsbesitzerin hatte ihnen einen Korb voll verlockender Gegenstände gepackt, die Ernst Schillers Reitpferd aufgeladen wurden. Das gute Tier mußte seine Motion haben.

Dieser fröhlichen Heufahrt, als sie am Nachmittage zur Ausführung kam, gab Röse einen ganz besonderen, interessanten Beigeschmack.

Auf des Paten Wiese war ein großer Teich, an dessen Ufer die Gesellschaft sich gelagert hatte. Röse war wie besessen vor Vergnügen über das schöne Wasser, hatte sich platt an das Ufer gelegt und die Arme in den Teich gehängt, und diese hübschen, festen Arme »Fisch« spielen lassen. – Zu dieser Vorstellung verlangte sie, daß alle zusehen müßten. – »Nun seht doch, seht doch!« rief sie. »Wie sie in den Grund fahren, die beiden großen Hechte – da wird wohl etwas für ihren Schnabel stecken; – da, und nun sind sie wieder oben und plätschern.« Und während sie Wasserfunken über sie und die Zuschauer hinfuhren. Darauf sprang sie in die Höhe – um sich irgend eine andere Vergnüglichkeit auszudenken. Und nach unendlichem Gaukeln und Tollen platschte Röse von einem Steg, der zum Schöpfen in den Teich hinausgebaut war, wie es kaum anders zu erwarten stand, endlich ins Wasser.

Es wurde, während sie noch darin steckte, von Marie statistisch bewiesen, daß es das siebente Mal in Röses Leben war, daß man sie aus dem Wasser ziehen mußte. Marie litt auch nicht, daß einer der Kameraden sich hineinstürzte, um die Schwester zu retten.

»Wartet nur, ich will es schon sagen, wenn es nötig ist. Es wäre ja schade um die Anzüge.«

»Röse, stehst Du, hast Du denn Grund?«

»Ja,« prustete Röse, die tüchtig getaucht war, und der das Wasser bis an das Kinn ging.

»Dann tapp vorwärts,« kommandierte Marie mit aller Kaltblütigkeit. Die beiden hatten Routine und benahmen sich bei solchen Gelegenheiten tadellos.

»Hier ist verdammter Schlick am Boden! Pfui Kuckuck!« schimpfte Röse.

»Warum bist Du 'rein gefallen!« gab die Schwester zur Antwort. »Vorwärts!«

Budang und Ernst von Schiller zogen den Fisch schließlich zum Ufer hinauf.

»Nehmt Euch in acht, nehmt einen Stock, daß sie Euch nicht so sehr anfaßt!« ermahnte Marie bei dieser Prozedur fortwährend. »Ihr habt keine Wäsche weiter mit.«

Da stand nun der arme Schelm, die Röse, in der warmen Sonne lebendig zwar, aber triefend und tropfend. Um die allerliebste Gestalt lag das dünne Kattunkleidchen wie ein Schleier, aus den Zöpfen rannen Wasserbächlein.

Ernst von Schiller war auf seinem geschmähten Reitpferd davon galoppiert, um ihr vom Gute Kleider zu holen.

Franz Horny, der zukünftige Maler blickte wie versunken auf Röse hin und sagte ruhig und träumerisch, wie es seine Art war, zu Budang: »Giebt es etwas Hübscheres, als unsere beiden Mädchen?« Budang nickte ihm zu.

Inzwischen hatten sie Rösen ein Kämmerchen aus duftendem Heu aufgeschichtet, in dem sie aus ihren nassen Kleidern in trockene kriechen konnte, die durch Ernst von Schillers Bemühen und durch des Pferdchens Anstrengung schnell genug da sein mußten. Und so schnell, wie es sich irgend erwarten ließ, kam er auch angesprengt und schwenkte das punktierte Kleid lustig, wie eine Fahne. Als er Marie alles überreichte, sagte er in der lebendigen Erregung des schnellen Rittes: »Famos ist es, was für Unsinn die Leute sagen, wenn man mit einer unverhofften Nachricht kommt. Die Patin steht in der Thür, und ich rufe: Röse steckt im Wasser bis über die Ohren! Herr Jeß! schreit die Patin: Da ist sie gewiß naß? Damit war sie aber schon in vollem Trab ins Haus hinein und nach den Kleidern.«

Marie reichte der Schwester die Sachen in das Heukämmerchen von oben hinein. Und es dauerte nicht lange, da bohrte sich Röses freudestrahlendes Gesicht durch die duftende Wand.

»Ich bin jetzt schon ganz hübsch trocken!« versicherte sie der Gesellschaft. »Es dauert gar nicht mehr lange, aber es geht so schwer, ich muß mich auf den Knieen anziehen, sonst gucke ich oben übers Heu heraus!«

»Na, mach nur,« rief Marie, »und trödle nicht!«

Als Röse nun wieder im Schmucke des punktierten Gewandes, heiter und lustig wie ein Morgenstern, durch ihre Heumauer kroch, stieg die prächtige Laune höher und höher. Sie sprachen dem Apfelwein der Patin auf das lebhafteste zu, verzehrten, was sich von ihrem Vorrat verzehren ließ, alles, bis auf Gläser und Teller, und verabredeten für den andern Tag abends einen Rettungsball zu Rösens Ehre. Die Volontäre auf dem Gute wollten sie veranlassen, noch einige Freunde und Mädchen aufzufordern, denn die Sache sollte außerordentlich werden.

 

Und es kam zu diesem Balle. Es kam zu allem Glanze dieses Balles, es kam noch zu den schönsten Stunden.

Die blumengeschmückten, hübschen Kinder tanzten bis in die stille Nacht mit ihren lieben Kameraden, schienen die fremden Gäste nur deshalb gewünscht zu haben, um desto ungestörter mit den Freunden zusammen sein zu können, und es war ihnen eine Erhöhung des Vergnügens, daß sich außer ihnen noch mehr festliche Gestalten im Garten und Haus bewegten. Durch ihre frohen Gäste bekamen sie wohl unbewußt die Bestätigung, daß das Leben wirklich schön, wirklich überreich sei. Was that es den Ratsmädchen, daß sie aus dem lustigen Treiben am späten Abend in das Schlafzimmer der Pfarrerskinder schlüpfen mußten, daß sie dort nachtsüber allerlei Abenteuer durchzumachen hatten, allerlei sonderbares Zeug und viel Geschrei und Gezänk.

Sie hatten sich auch bald in Respekt gesetzt durch tüchtige Püffe, die sie am Morgen von ihrem Bette aus, halb im Schlaf, jedem versetzten, der sich ihnen nähern wollte, und sie blieben unbehelligter.

Tagelang hatten sie schon auf dem Gute die Zeit überdauert, die sie anfangs bleiben wollten, da kam eines Morgens Franz Horny in den Pfarrersgarten gelaufen und pfiff vor dem Fenster des großen Schlafzimmers.

Die Mädchen hörten es und schlüpften eiligst in ihre Kleider und standen bald erwartungsvoll draußen vor der Thür.

»Macht Euch fertig,« rief Franz Horny, mit der Miene, als käme er, etwas Herrliches zu verkünden. »Macht Euch fertig, wir gehen heut' alle miteinander hinunter nach Weimar ins Theater. Wir wollen uns schon hineindrängeln, da seid ohne Sorge. Sie geben ein neues Stück von Goethe, den ›Tasso‹.«

»Wir sind dabei,« meinte Marie. »Und wer wollte Rösen erst nicht mitnehmen?«

»Laß sein! Die kommt natürlich mit. Flöten-Lobe wird uns schon wieder einlassen!«

»Flöten-Lobe?« fragte Röse gedankenlos.

»Ja doch,« antwortete Horny.

Daß es jedermann genau wisse: Etliche Thüren und Pförtlein im Theater wurden besonders geschlossen, und ein junger Musiker hatte die Aufsicht, er hieß Lobe, blies die Flöte, folglich »Flöten-Lobe«.

Diesen verband eine warme Freundschaft mit unseren Helden, und diese Freundschaft vermochte ihn, der Kasse des Theaters ein Schnippchen zu schlagen, so daß die leichtsinnige Gesellschaft auf Schleichwegen ihre Kunstgenüsse umsonst hatte, was bei einem Kunstgenuß von schöner und bedeutungsvoller Wirkung ist.

Wären die Ratsmädel auf bezahlte Theaterplätze angewiesen geblieben, da hätte es windig damit ausgesehen; aber deshalb, weil sie zwei schlimme Schmeichelkatzen waren und mit aller Welt anbanden, und weil sie so viele gute Freunde hatten, saßen sie im Theater, wann sie Lust spürten, hörten die herrlichsten Dinge, sahen vielberühmte Menschen – und gaben nie einen Heller dafür aus.

Heute also wurde ›Tasso‹ gegeben. Das war unsern beiden recht. Besonders wohl weil sie fürs Leben gern etwas Neues sahen.

So verabschiedete sich die Gesellschaft mit tausend Dank und dem Versprechen, sehr bald zurückzukehren, von ihren Wirten und zog mit dem gepackten Pferdchen den Ettersberg hinab, Weimar zu, einem neuen Genusse entgegen. –

Frau Rat empfing ihre Kinder auf das liebevollste und zärtlichste, ging gern auf ihren Theaterplan ein, hatte dies und das an ihren Fähnchen auszubessern, denn so ein paar übermütige Tage nehmen den Sommerstaat ausgelassener Mädchen stark mit, und Frau Rat wollte, wenn die Kinder auch auf Hintertreppen und Schleichwegen ins Theater gelangten, daß sie ihr, wenn sie glücklich darin säßen, wenigstens keine Schande machten.

Sei Du gepriesen, Frau Rat!

Es soll Dich niemand schelten, der sich klüger dünkt und in rechtlichen Dingen korrekter zu denken gewohnt ist, als Du!

Budang und Franz holten die Mädchen ab, und die Mutter ermahnte noch zur Vorsicht, wegen des Erwischtwerdens.

»Da seien Sie außer Sorge, Frau Rat,« sagte Budang, einigermaßen in seiner Ehre gekränkt. »Wenn die Mädchen mit uns sind, geschieht ihnen nichts. Wir haben sie noch jedes Mal durchgebracht.«

Und es ging auch diesmal vortrefflich. Flöten-Lobe hatte die Thüren aufgelassen, die zum Einschlüpfen erforderlich waren, und bald standen sie in dem heiligen Raume, zuerst sehr bescheiden in einem Eckchen; aber schon mit dem Vorhaben, sobald es thunlich, ein paar recht gute Plätze zu erwischen.

»Da ist er schon,« sagte Franz Horny und blickte nach Goethes kleiner, düsteren Loge, unter der herzoglichen. Dort in der Dämmerung saß er.

Der Vorhang ging auf, und Schönheit, Reinheit und Vollendung strömte über die Seelen hin. Weihe umhüllte alle, andächtiges Schweigen erfüllte den Raum, und die Herzen der Schauenden schlugen in erhöhtem Leben. Die ernste Gestalt in der kleinen, dämmerigen Loge verschwand zu Zeiten, war dann wieder gegenwärtig. Welch ein Abend war dies, welch ein Empfinden, den Schöpfer solcher Größe, solcher Schönheit nahe zu wissen! Über unsere guten Freunde war alles Große, was sie hörten, erhebend, mächtig gekommen.

Sie waren alle verschönt und gaben ein Bild beseligter Jugend ab. Sie sprachen kein Wort, aber sie hatten das einige Gefühl, daß sie miteinander genossen und das Vertrauen zu einander, daß jeder verstand und jeder entrückt war.

 

Nach dem Ende der Vorstellung blieben sie an einer Thüre draußen auf dem Platze stehen.

»Ich will ihn heute noch einmal sehen,« sagte Franz Horny leise zu den Mädchen. »Wir wollen hier warten.« Und sie warteten. Ernst von Schiller hatte sich auch noch zu ihnen gefunden. Bald gingen sie einer mächtigen, schön schreitenden Gestalt nach, die in einen weiten Mantel gehüllt war; alle schweigend.

Sie gingen durch die Esplanade, die Frauenthorstraße und folgten der Spur des größten Menschen.

Sie sahen ihn die Stufen zu seinem Hause ruhig hinanschreiten. Sie sahen ihn eintreten und blickten hinauf nach den erleuchteten Fenstern.

So standen sie eine Zeitlang.

Marie sagte: »Hört einmal, weil alles jetzt gar so schön war, da wollen wir auch einmal etwas thun: in Wielands Garten blühen jetzt die Lilien, die ganze Partie um die Kaffeeküche ist voll davon. Von Iris haben sie auch ganze Klumpen in Blüte – und was man sonst noch findet. Ihr,« sie wies auf die Kameraden, »Ihr sollt übersteigen und zusehen, was Ihr bekommen könnt, wir sagen es Wielands einmal, oder sagen es auch nicht, wie es sich macht. Es wächst dort wie Unkraut. Die Blumen binden wir dann in zwei große Büschel an die Kettensteine hier vor der Treppe. Er wird sie morgen schon sehen, aber es müssen tüchtige Büschel sein, viel Grünes dazu. Bast zum Binden, daß wir sie an den Steinen festbekommen, der hängt in Wielands Kaffeeküche, links am Haken, hinter der Thür.«

Die Freunde waren einverstanden und machten sich in aller Begeisterung auf, um unschuldsvoll in Wielands Garten einzubrechen.

Ernst von Schiller, Budang und Horny kletterten glücklich über, warfen den Mädchen ganze Ladungen der frischesten, tauigsten Blumen zu und Zweige Bandgrasbüschel – Röse und Marie rafften und banden mit brennenden Wangen, was ihnen zufiel, zusammen – und ehe die drei glücklichen Diebe wieder zurückgestiegen waren, standen die Mädchen schon bereit, jedes mit einem Riesenwerk von einem sommerlichen Strauß in dem Arme.

»Der Tausend, so viel haben wir gelangt?« rief Budang erstaunt.

So zogen sie denn wieder beladen zurück. Und bald duftete es um die Prellsteine an den breiten Stufen, die zur Hausthür führten, von dem Blumenopfer, das die begeisterten, von Lebensgenuß und Jugendkraft durchdrungenen Diebe gebracht hatten.

Während Röse sich noch an ihrem Strauß etwas zu schaffen machte, sagte sie: »Übrigens ist es kein Wunder, wenn es ihm,« sie zeigte hinauf nach dem Fenster, »so gelingt. Wenn man einmal ein großer Mensch von Natur ist, da braucht man nur zu leben, und es macht sich von selbst, gerade so, wie sich bei uns nichts macht. Mir thut Ernsten sein Vater leid, daß er so früh hat sterben müssen.«

Ohne daß sie noch ein Wort dazu sprach, steckte sie eine Knospe, die sie aus dem großen Blumenreichtum brach, ihrem guten Freunde an die Brust.

Jetzt brachten die drei Kameraden die Mädchen nach Hause, und über die schönen Erlebnisse des Tages sanken die Träume.


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