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V.

Während sich das Schicksal der Mörder Irenen's und das ihrer bedauernswerthesten Opfer, Helenen's und Auguste's entschied, hatte sich Paul Vitrac finster brütend in sein Atelier eingeschlossen. Er hatte sich in dasselbe geflüchtet, nachdem er aus dem Gerichtsgebäude, wo er nicht verhört worden, zurückkehrte und hatte es seither nicht mehr verlassen.

Er harrte daselbst der Lösung der Dinge und daß er sich derart zur Unthätigkeit verurtheilte, geschah nicht aus dem Grunde, als hätte er den Folgen der Angelegenheit, in die ihn das Schicksal verwickelt hatte, kein Interesse entgegengebracht; er hegte im Gegentheile den innigen Wunsch, es möchte Klarheit in die Sache kommen und der Tod Irenen's gerächt werden. Doch befand er sich thatsächlich in einer schwierigen und höchst eigenthümlichen Lage. Der Beginn des Dramas hatte sich in seinem Atelier, alle weiteren Ereignisse aber außerhalb seines Hauses abgespielt; er war vom Untersuchungsrichter nur ganz kurz verhört worden und hatte seither nichts mehr gehört, nichts mehr gesehen und auch aus der verhältnißmäßig unklaren Scene in dem Pavillon des angeblichen russischen Grafen keinerlei Schlüsse ziehen können. Zudem war er seit jenem Unglücksabende mit keinem seiner Freunde zusammengetroffen und in Folge dessen befand er sich in derselben Unwissenheit wie zuvor.

Er glaubte, daß man Borodino und dessen Nichte verhaftet hatte, und besaß fast keine Kenntniß von dem Vorhandensein einer gewissen Auguste Bernier, deren Verschwinden euren solchen Umschwung der Dinge herbeigeführt hatte. Wohl hatte Grisaille in seiner Gegenwart von einer kleinen Putzmacherin gesprochen, die Borodino gewaltsam zurückhalten wollte, ebenso erwähnte er seines Lieblingsschülers Jean Dangelas; trotzdem vermochte sich aber Vitrac nicht zu erklären, weshalb sein bevorzugter Jünger so warmes Interesse an dem Mädchen nahm und wo er mit demselben bekannt geworden.

Nach dem entscheidenden Abend, an welchem die arme Helene bei Jonville ein schützendes Obdach gefunden und während Dangelas auf das Schiff Jagd machte, auf welchem man Auguste Bernier entführte, erwog Vitrac die Frage, wie er es anstellen sollte, um neues zu erfahren, als ihm sein Diener meldete, daß der Rittmeister Cavaroc ihm einen Besuch abzustatten gedenke. Selbstverständlich ertheilte Vitrac sofort Befehl, den unerwarteten Gast hereinzuführen, denn es war ihm im ersten Momente klar, daß es kein bloßer Höflichkeitsbesuch sei, den ihm der Rittmeister abstatten wolle; derselbe würde ihm wenigstens über seinen Freund Jonville berichten können, den er, Vitrac, vorgestern so unvermittelt verlassen und der ihm gegenüber kein Hehl aus den Gefühlen gemacht hatte, die ihm die Nichte des Grafen Borodino einflößte. Er beeilte sich also, Cavaroc zu empfangen und er that wohl daran, denn der Officier hatte eine Menge Neuigkeiten zu berichten.

»Werther Herr,« begann der Besucher; »ich hätte eigentlich schon heute Morgens zu Ihnen kommen sollen; doch lieber später als niemals, auch hätte ich Ihnen heute Morgens bloß den Beginn eines Abenteuers melden können, welches eurer Dame – einer Dame, die Sie genau kennen, widerfuhr.«

Cavaroc hatte eine Umschreibung versucht, sah sich aber dann genöthigt, die Betreffende beim Namen zu nennen und fügte hinzu: »Ich meine Fräulein Wanda.«

Vitrac machte eine Geberde, die seine Enttäuschung ausdrücken sollte und sagte dann:

»Die Dame hat für mich kein Interesse mehr.«

»Sprechen Sie im Ernste?« fragte der Rittmeister.

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß unsere Verlobung aufgehoben ist.«

»Dann darf ich Ihnen ja rückhaltslos berichten, daß Fräulein Wanda heute Nachts verhaftet wurde.«

»Also doch! Ich wußte ja, daß sie mit dem Mörder Irenen's im Bunde war!« rief Vitrac aus. »Unser Freund Jonville wußte es auch, wollte es mir aber nicht sagen, als ich ihn besuchte, da Sie zugegen waren.«

»Ich langte ja gerade an, als Sie sich bereits entfernen wollten. Ueberdies kann ich Ihnen sagen, daß Jonville gar nichts wußte. Ich komme soeben von ihm, und er war ebenso erstaunt über meine Mittheilungen, wie Sie es sein werden.«

»Sprechen Sie, ich bitte Sie darum.«

Cavaroc berichtete nun getreulich über die Vorgänge der verflossenen Nacht, deren Augen- und Ohrenzeuge er gewesen, und nachdem er auch gesagt hatte, daß man Fräulein Dubois ins Gefängniß geführt habe, fügte er hinzu:

»Sie ist jedoch bereits in Freiheit gesetzt worden. Der Untersuchungsrichter stellte heute ein langes Verhör an mit ihr, worauf er sie sofort in Freiheit setzte, da er die Ueberzeugung gewann, daß Fräulein Dubois in keiner Weise an dem Verbrechen betheiligt sei und die von ihr über den Gatten der Ermordeten gemachten Angaben der Polizei die Verhaftung dieses Banditen ermöglichen werden.«

»Darf ich mir die Frage erlauben, woher Sie so genau unterrichtet sind?«

»Ich wurde vor den Untersuchungsrichter beschieden, der ein sehr ritterlicher Mann ist und mich von der Wendung, die die Dinge genommen, in Kenntniß setzte. Die Behörde weiß bereits ganz genau, welchen Antheil jede Person, die in die Angelegenheit verwickelt war, thatsächlich an derselben genommen, und kann ich Ihnen demzufolge die Versicherung geben, daß weder Sie, noch ich, noch Ihr Freund Jonville weiter belästigt werden sollen. Was hingegen die eigentlichen Mörder betrifft, so fürchte ich, daß dieselben entkommen werden.«

»Die Mörder? Sind es denn mehrere?«

»Es sind ihrer zwei, abgesehen von den Dienstleuten Borodino's, die ihnen möglicherweise Hilfe leisteten. Das Verbrechen wurde von dem Gatten Irenen's, einem Griechen, Namens Caritides, einem ehemaligen Banditenhäuptling, begangen, und der falsche Graf, der einst Seeräuber gewesen, half ihm dabei. Im Uebrigen wurden über diesen angeblichen Russen schöne Dinge bekannt. Die russische Botschaft, die zuerst recht befriedigende Auskünfte gegeben, benachrichtigte den Untersuchungsrichter heute Morgens, daß sich diese Auskünfte auf den wirklichen Borodino bezogen, der vor etwa dreißig Jahren Ausflüge auf das griechische Meer unternahm und von einem Seeräuber ermordet worden sein mag, der ihm seine Papiere abgenommen haben dürfte und sich jetzt für ihn ausgeben mag. Wohl hat man noch keine unwiderleglichen Beweise für diese Annahme; sie ist aber überaus wahrscheinlich. Es ist das genau dieselbe Geschichte wie mit dem Galeerensträfling Pierre Coignard,« schloß Cavaroc seine Mittheilungen, »der sich die Würde eines Grafen von Sanct Helena beilegte und als solcher unter der Restauration zum Obersten befördert wurde. Als man seinen Betrug entdeckte, ward er in die Strafcolonie versetzt. Ich hege den innigen Wunsch, Borodino möge mit seinem würdigen Genossen auf dem Blutgerüste enden, fürchte aber, daß dies ein frommer Wunsch bleiben wird.«

»Man hat die Beiden also entkommen lassen?«

»Die Polizei langte wie in den Operetten Offenbach's zu spät an. Das Haus in der Rue Berton war leer, als man sich heute dahin begab, um Borodino zu verhaften; er hatte heute Nachts mit seiner Bande das Weite gesucht, um sich mit seinem Collegen Caritides zu vereinigen. Man hat keine Ahnung, welchen Weg er genommen. Man hat nach allen Grenzstationen telegraphirt; doch ist es zweifelhaft, ob man ihrer habhaft werden wird.«

»Und wie verhält es sich mit der Nichte dieses Bösewichtes?« fragte Vitrac plötzlich.

»Die ist vollkommen unschuldig,« erwiderte der Rittmeister eifrig. »Zudem ist sie weder seine Nichte, noch ist sie stumm –«

»Ich vermuthete es ja.«

»… sondern ein armes, bedauernswerthes Geschöpf, welches die Elenden ebenso wie ihre Schwester Irene getödtet hätten, wenn ihnen Zeit dazu geblieben wäre.«

»Wie! Irene war die Schwester? Das ist also die Erklärung für diese wundersame Aehnlichkeit!«

»Ja – und trotzdem waren sie keine Zwillinge, Helene ist um einige Jahre jünger als –«

»Was ist aus ihr geworden? Wurde sie von den Nichtswürdigen fortgeschleppt?«

»Das – ist noch ein Geheimniß,« erwiderte Cavaroc nach einigem Zögern.

Es war in der That ein Geheimniß für jedermann, nur nicht für den Rittmeister, daß Helene bei Jonville Schutz und Obdach gefunden, und hatte Cavaroc diesbezüglich niemandem gegenüber etwas verlauten lassen.

Eines Tages wird man ohne Scheu über die Sache sprechen können, sobald die völlige Unschuld des jungen Mädchens nachgewiesen sein wird, und dieser Tag war nicht mehr fern, denn der Untersuchungsrichter Francastel neigte selbst der Annahme zu, daß die Aermste bloß ein willenloses Werkzeug gewesen und die eigentlichen Verbrecher Mittel und Wege gefunden hätten, um sie aus dem Wege zu schaffen, wie sie es mit ihrer unglücklichen Schwester gethan.

Der Rittmeister brachte Vitrac gewiß kein Mißtrauen entgegen; doch konnte er ihn nicht ins Vertrauen ziehen, ohne die Ansicht des in erster Linie Betheiligten einzuholen, und das war Jonville, den die Ereignisse ohnehin bereits in eine peinliche Situation gebracht hatten.

»Es genügt mir zu wissen, daß sie von keiner Gefahr bedroht ist,« sagte Vitrac.

»Diesbezüglich kann ich Sie vollkommen beruhigen,« erwiderte Cavaroc. »Die junge Dame befindet sich nicht in der Gewalt dieser Bösewichter – und ich glaube sogar versichern zu dürfen, daß man sie nicht mehr im Verdachte hat, die Mitschuldige derselben gewesen zu sein.«

»Es freut mich von ganzem Herzen, daß sie nichts mehr zu fürchten hat, weder von Seiten der Behörden, noch von den Mördern ihrer Schwester. Ich werde Jonville, der sich warm für sie zu interessiren scheint, meine Glückwünsche überbringen.«

»Sie wären dabei der Gefahr ausgesetzt, ihn nicht daheim anzutreffen,« wendete der Rittmeister ein, da er – und mit Recht – fürchtete, daß dieser Besuch seinen Freund in Verlegenheit bringen könnte. »Er wurde gestern mit einer dringenden Arbeit betraut, die ihn während der ganzen Woche im Ministerium zurückhalten wird.«

»So werde ich einige Tage warten, da ich ihn nicht gern stören würde.«

»Ich selbst, werther Herr, bin gegenwärtig auch mit Arbeit überhäuft. Seit dem Costümballe bei Ihnen wohnte ich den Vorträgen in der Kriegsschule kaum mehr bei, und wenn ich in dieser Weise fortfahre, so werde ich gewiß der Letzte bei der Beförderung sein. Ich wollte Sie nur von den jüngsten Ereignissen unverweilt in Kenntniß setzen und werde jetzt wieder gehen. Hoffentlich zürnen Sie mir nicht darob, daß ich Ihnen über Ihre frühere Verlobte Bericht erstattete?«

»Gewiß nicht, Herr Rittmeister; ich danke Ihnen sogar dafür. Ich werde die arme Todte niemals vergessen, will aber fortan nur an ihre Schwester denken, die noch am Leben weilt und gewiß glücklicher sein wird als sie es gewesen. Haben Sie aber während der verschiedenen Verhöre nichts von dem jungen Mädchen gehört, welches mein Schüler Jean Dangelas, wie ich glaube, in seinen Schutz genommen hat, aber recht ungenügend beschützt zu haben scheint, da auch dieses Mädchen verschwunden ist?«

»Ich gestehe, daß ich der Sache keine sonderliche Beachtung schenkte; wie ich zu bemerken glaubte, waren Untersuchungsrichter und Polizeiagent der Ansicht, daß Borodino der Armen einen schlimmen Streich spielte. Im Uebrigen sprach man in meiner Gegenwart nicht von Ihrem Schüler und glaube ich, daß man auch nicht weiter an ihn dachte, worüber er nur erfreut sein muß. Auf Wiedersehen, werther Herr,« schloß Cavaroc und schüttelte herzlich die Hand des Künstlers, der ihn bis zur Treppe begleitete.

Allein geblieben, konnte Vitrac ungestört über die unerwarteten Mittheilungen des Rittmeisters nachdenken, die ihm streng genommen nur Angenehmes berichteten. Das Los seiner früheren Verlobten ließ ihn ziemlich unberührt, und dann freute es ihn zu wissen, daß er von der Behörde fortan nicht mehr belästigt werden sollte. Die arme Todte konnte er nicht zum Leben erwecken, auch hing es nicht von ihm ab, ihren Tod zu rächen; er würde also unbehelligt nach Venedig reisen können, wo er Ruhe und Vergessenheit finden wird.

Seine Gedanken wendeten sich nun dem wackeren Dangelas zu, der ihm so treu ergeben war und den er wiederholt zu empfangen verweigert hatte. Eine Ahnung dämmerte auf in ihm, daß seine Weigerung dazu beigetragen hatte, die lästigen Verwickelungen herbeizuführen, in die er seit jener Ballnacht gerathen war. Hätte er noch vor dem Besuche des Grafen Borodino mit Dangelas gesprochen, so hätte er, Vitrac, gewiß nicht eingewilligt, das Bild der angeblichen Nichte zu malen und die Dinge hätten sich in anderer Weise entwickeln können. Doch bedauerte er es nicht nur im eigenen Interesse, daß er Dangelas nicht vorgelassen, und wünschte er nicht bloß seiner selbst willen jetzt mit ihm zu sprechen; sondern er hegte für seinen Schüler wirkliche Zuneigung und begann zu fürchten, daß demselben ein Unglück widerfahren sei. Möglicherweise würde Dangelas, um sich nicht abweisen zu lassen, überhaupt nicht mehr bei ihm vorsprechen.

Nach kurzem Nachdenken beschloß Vitrac, seinen Schüler selbst aufzusuchen, und er kleidete sich zum Ausgehen an, fest entschlossen, nicht früher nach Hause zu kommen, als bis er über Dangelas Erkundigungen eingezogen, und sollte er dieserhalb während der ganzen Nacht auf den Füßen sein müssen. Er rechnete nicht darauf, ihn in seiner Wohnung anzutreffen, wo sich Dangelas nur einfand, um zu schlafen, sondern gedachte der Reihe nach die Kaffee- und Wirthshäuser aufzusuchen, in welchen der junge Mann sich regelmäßig einzufinden pflegte.

Cavaroc war ziemlich spät gekommen, so daß es bereits Dinerzeit war und Vitrac den Entschluß faßte, nicht daheim zu speisen. Er wußte aber nicht, wo er seine Abendmahlzeit einnehmen sollte, um seinen Mann anzutreffen, der dort aß, wohin ihn der Zufall führte. Zuweilen schlürfte er seinen Absinth in der »Brasserie des Martyrs«, und Vitrac lenkte seine Schritte zuvörderst dahin, doch ohne Dangelas anzutreffen.

In dem Locale wimmelte es von Künstlern aller Art, bei denen er sich nach seinem Schüler hätte erkundigen können; doch war er nicht in der Stimmung, um sich mit den jungen Leuten, die er nur sehr oberflächlich kannte, in ein Gespräch und vielleicht sogar in Auseinandersetzungen einzulassen.

Er begab sich also in den »Goldenen Fasan«, ein Restaurant, das sich in der Nähe des vorgenannten Locales befand, um daselbst sein Diner einzunehmen. Er zog dasselbe möglichst in die Länge, da er wußte, daß er umsomehr Aussicht habe, Dangelas irgendwo anzutreffen, je später er seine Nachforschungen fortsetzte. Es war demgemäß ungefähr zehn Uhr geworden, als Vitrac durch die Rue des Martyrs schreitend, die mehr minder künstlerischen und literarischen Kaffeehäuser zu besuchen begann, die am Fuße des Montmartrehügels gelegen sind.

Er machte den Anfang mit der »Schwarzen Katze«, traf daselbst aber bloß einige Journalisten an, die ihn mit Freudenrufen empfingen, da er bereits ein berühmter Mann war und die Zeitungen zu seinem Ruhme beigetragen hatten. Er ließ sich mit den Herren in ein längeres Gespräch ein; doch vergeblich, Jean Dangelas kam nicht zum Vorscheine.

Von hier begab sich Vitrac der Reihe nach wohl noch in ein Dutzend Kneipen und Garküchen; doch erwies sich alles als vergebens, nirgends konnte er die unternehmende Mähne seines geliebten Schülers entdecken und schließlich mußte er es aufgeben, demselben nachzuforschen. Er hätte seine Bemühungen mit dem gleichen Erfolge bis zum Anbruche des Tages fortsetzen können und dazu fühlte er sich bereits zu müde.

Schließlich war es ja nicht unbedingt erforderlich, daß er noch heute Abends mit ihm sprach, und um am nächsten Tage nicht von vorn beginnen zu müssen, brauchte er ihm ja bloß zu schreiben. Selbst in dem Falle, daß Dangelas seinem geliebten Meister zürnte, würde er dem Rufe desselben Folge leisten. Und so beschloß er denn, sich nach Hause zu begeben, zumal er auf seinen Irrgängen seiner Wohnung ziemlich nahe gekommen war.

Vor seinem Thore angelangt, sah er zu seiner nicht geringen Ueberraschung, daß beinahe gleichzeitig mit ihm ein Fiaker vor demselben anhielt. Wer mochte zu dieser Stunde, es fehlte nicht viel auf Mitternacht, noch zu ihm kommen? Plötzlich fiel ihm ein, daß es möglicherweise Wanda sei, die eine Aussöhnung versuchen wolle, und da er über eine derartige Aussicht nicht sonderlich erfreut war, so blieb er in einiger Entfernung stehen, da er dem Fräulein auf diese Weise auszuweichen hoffte.

Sein Diener werde sicherlich auf den Ton der Klingel erscheinen und zur Antwort geben, daß sein Gebieter nicht zu Hause sei. Vitrac hatte ihm beim Verlassen des Hauses die Weisung ertheilt, niemanden einzulassen und so würde der Mann gewiß auch bei Wanda keine Ausnahme machen. Er wartete also und beobachtete von weitem die Vorgänge, die sich jetzt abspielen würden.

Die Thür des Fiakers wurde langsam geöffnet und blieb fast eine volle Minute offen, ohne daß jemand zum Vorscheine gekommen wäre. Es war aber keine Frau, die den Wagen endlich verließ, sondern ein Mann, dessen Oberkörper noch im Inneren des Wagens verblieb, so daß Vitrac bloß das Ende von zwei langen Beinen sehen konnte. Offenbar sprach der Mann mit einer zweiten Person, die mit ihm gekommen war und es mit dem Aussteigen nicht sonderlich eilig zu haben schien.

Die Verhandlung zog sich in die Länge, nahm aber doch ein Ende, und als sich die männliche Gestalt emporrichtete, erkannte Vitrac zu seinem nicht geringen Staunen Jean Dangelas, den er so lange vergebens gesucht hatte und den er endlich vor seiner Hausthür antraf.

Auch Dangelas erkannte Vitrac, und ohne erst den Wagenschlag zu schließen, kam er auf ihn zu.

»Da bist Du endlich!« redete ihn der Künstler an. »Ich habe Dich heute während des ganzen Abends gesucht. – Aber woher kommst Du denn, mein Gott? Du befindest Dich in einem netten Zustande!«

In der That ließ das Aeußere des jungen Mannes so manches zu wünschen übrig. Von Hut und Halsbinde war nichts zu sehen, und sein Beinkleid, das bis zum Knie mit einer Schlammkruste überzogen war, schien in eine Pfütze getaucht worden zu sein.

»Ich komme geradewegs aus der Seine,« erwiderte Dangelas heiseren Tones. »Doch handelt es sich jetzt um andere Dinge, die wichtiger sind; ich bin nicht allein.«

»Das sehe ich; wen hast Du denn bei Dir?«

»Meine Braut.« Und da Vitrac bei diesen Worten eine namenlos erstaunte Miene machte, fügte Dangelas hinzu: »Sie werden jedenfalls wissen, daß dieser nichtswürdige Borodino ein junges Mädchen gewaltsam seiner Freiheit beraubte und daß ich dasselbe im Hause des Banditen suchte?«

»Gestern hörte ich von dieser Sache sprechen, doch ist mir Näheres nicht bekannt.«

»Nun denn, dieses junge Mädchen habe ich soeben aus der Gefangenschaft befreit.«

»Wo? – In Passy?«

»Nein – sondern auf der Seine, unterhalb von Poissy. Ich holte sie von einem Schiffe, auf welchem sie dieser nichtswürdige Borodino gefangen hielt. Um zu ihr zu gelangen, mußte ich schwimmend über die Seine setzen.«

»Und er?«

»Borodino? Der befand sich auf einem anderen Schiffe – auf einem Dampfer. – Als er sah, daß er verloren sei, steckte er die Pulvervorräthe, die er an Bord hatte, in Brand und sprengte sich mit seiner ganzen Besatzung in die Luft. Sie werden doch darob keine Thräne vergießen, wie?«

»Gewiß nicht.«

»Leider befand sich auch Augusten's Großvater auf dem Schiffe und flog mit diesem in die Luft.«

»Auguste ist wohl die kleine Putzmacherin, die Du in die Rue Berton begleitetest.«

»Und die ich in kürzester Zeit zu heiraten gedenke, ja, Meister. Sie hat niemanden mehr auf Erden, der sich um sie sorgt – doch bin ich da.«

»Und Du willst sie im Ernste heiraten?«

»Gewiß! Und sie ist auch einverstanden. Auf der Fahrt von Poissy nach Paris haben wir uns geeinigt. Indessen ist ein Umstand vorhanden, der uns Schwierigkeiten bereitet. Man kann nicht ohneweiters, von heute auf morgen heiraten, selbst wenn man die redlichsten Absichten hat; es müssen eine Menge Formalitäten erfüllt werden, und Auguste weiß nicht, wo sie in der Zwischenzeit wohnen soll. In die kleine Wohnung, die sie mit ihrem Großvater inne hatte, will sie nicht zurückkehren, ebenso wenig will sie in einem Gasthofe übernachten.«

»Und da hast Du nichts Vernünftigeres thun können, als sie zu mir zu bringen?« rief Vitrac ein wenig unwillig aus.

»Nein, nein, Meister, Sie irren.«

»Du hast sie doch in dem Wagen da?«

»Allerdings – doch habe ich so wenig wie die arme Auguste daran gedacht, Ihre Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen.«

»Weshalb bist Du also hierher gekommen?«

»Weil alle Schwierigkeiten beseitigt werden können, wenn Sie uns ein wenig behilflich sein wollten. – Meine Mutter hat zwar keine große Wohnung inne, wird aber für ihre zukünftige Schwiegertochter ein Plätzchen übrig haben.«

»Das ist wahr; daran hatte ich nicht gedacht, und Du kannst nichts Besseres thun, als sie zu Deiner Mutter zu führen. Nur scheint es mir, als führte der Weg zu ihr nicht über die Place Pigalle.«

»Auch das ist wahr; doch verhält sich die Sache folgendermaßen. Ueberfalle ich meine Mutter noch heute Abends mit meiner Braut, so schlägt sie mir die Thür vor der Nase zu. Sie würde mich fragen, für wen ich sie eigentlich ansehe, und mir nicht glauben, wenn ich ihr auch den ganzen Sachverhalt wahrheitsgetreu berichten wollte.«

»Das kann sich sehr leicht ereignen,« gab Vitrac zu; »doch womit vermag ich Dir dabei zu helfen?«

»Auf die einfachste Art und Weise, Meister. Für meine Mutter sind Sie kein Mensch, sondern ein Gott, und Ihre Worte sind für sie die reinste Offenbarung. Was Sie ihr auch sagen wollten, sie würde Ihnen blindlings Glauben schenken, und was Sie von ihr begehren werden, wird Sie unbedenklich thun.«

»Ich werde sie also morgen aufsuchen.«

»Morgen! – Die Arme soll die Nacht also in diesem Fiaker verbringen? Ich habe den Wagen beim Bahnhofe Saint Lazare genommen und gestehe Ihnen offen, daß ich dabei darauf rechnete, daß Sie ihn bezahlen werden, da ich keinen Pfennig in der Tasche habe. Ich mußte sogar beim Gendarmeriewachtmeister von Poissy eine kleine Anleihe machen, um für Auguste und mich Fahrkarten für die Bahn zu lösen, und wenn ich den Kutscher nicht bezahle, so führt er mich mit meiner Braut aufs nächste Polizeiamt.«

Obschon sich Vitrac in keiner rosigen Stimmung befand, konnte er sich eines Lächelns und einer gewissen Bewunderung über die sorglose Philosophie dieses jungen Menschen nicht erwehren, der sich in derartige Abenteuer stürzte, ohne einen Heller in der Tasche zu haben. Gleichzeitig sagte sich aber Vitrac auch, daß er dem Begehren seines Lieblingsschülers wohl oder übel willfahren müsse, und so sagte er:

»Du kannst von Glück sagen, daß Du mich hier angetroffen hast. Ich werde Dich also zu Deiner Mutter begleiten und den Kutscher bezahlen. Ich fürchte aber, daß wir eine vergebliche Fahrt machen, denn Deine Mutter liegt jedenfalls schon im Bette.«

»Sie wird mir willig öffnen, sobald ich ihr sagen werde, daß Sie da seien.«

»Mir ist es recht. Und nun stelle mich Deiner Braut vor.«

»Kommen Sie, Meister!« Und damit trat Dangelas auf den Fiaker zu, durch dessen offene Thür er Auguste anrief, doch ohne eine Antwort zu erhalten. Das junge Mädchen war vor Kälte und Erschöpfung ohnmächtig geworden, und Vitrac, der auf den angstvollen Ruf seines Schülers herbeigeeilt war, sagte zu ihm:

»Es wäre ihr Tod, wenn Du sie jetzt zu Deiner Mutter bringen wolltest. Ich werde Dir behilflich sein, sie zu tragen; die Nacht wird sie in meinem Hause verbringen und morgen werden wir weiter sehen.«

Dangelas hielt das junge Mädchen, welches leicht war wie eine Feder, bereits in seinen Armen, während Vitrac die Thorglocke in Bewegung setzte. Sein Diener, der auf seine Heimkehr wartete, öffnete sofort, und zwei Minuten später hatte man Auguste auf einen Divan in dem Atelier des Künstlers gebettet.

Es währte nicht lange, so hatte sie sich erholt und ihre ersten Worte waren:

»Wo bin ich?«

Der erstaunte Ausdruck ihrer Augen besagte deutlich, daß sie noch in einem luft- und lichtlosen Raume zu sein meine, wo sie Borodino auf Gnade und Ungnade anheimgegeben sei.

»Sie sind bei einem Freunde,« sagte Vitrac sanften Tones.

»Bei meinem verehrten Meister,« fügte Dangelas hinzu, der während der Eisenbahnfahrt, die er mit ihr gemacht, ausführlich über Vitrac und den Beistand gesprochen hatte, den er von ihm erwartete.

In diesem Augenblicke trat der Kammerdiener, dem Vitrac den Auftrag ertheilt hatte, den Kutscher zu bezahlen, eiligst in das Atelier und meldete, daß der Rittmeister Cavaroc mit einer jungen Dame im Vorzimmer sei. Sprachlos vor Staunen eilte Vitrac hinaus und erblickte thatsächlich den Officier, der ihm mit einem jungen Mädchen am Arme entgegentrat.

»Sie fragten mich vor einigen Stunden, was aus Helene geworden sei,« hub Cavaroc ohne jede Einleitung zu sprechen an; »und statt aller Antwort bringe ich sie Ihnen ins Haus. Sie hatte Zuflucht bei unserem Freunde Jonville gefunden, der sie in den Räumen unterbrachte, welche seine Mutter bewohnt, wenn sie nach Paris kommt. Nun langt Frau von Jonville zufälligerweise noch heute Nachts an, und ihr Sohn erhielt erst um elf Uhr Kenntniß von ihrer Ankunft, so daß er in der Eile nicht wußte, was er anfangen sollte. Da kam ich auf die Idee, er möge sich an Sie wenden und Sie bitten, Fräulein Helene bis morgen Unterkunft in Ihrem Hause zu gewähren, womit auch die junge Dame einverstanden wäre. Wir hoffen nun, daß Sie unserem gemeinschaftlichen Freunde Julius den erbetenen Dienst nicht verweigern werden.«

Vitrac hatte nichts dagegen einzuwenden; doch befand sich bereits ein unvermutheter Gast in seiner Wohnung, und es wäre einigermaßen schwierig gewesen, dem Rittmeister die Sachlage auseinanderzusetzen. So that er denn das Klügste, was er thun konnte, er öffnete die zu seinem Atelier führende Thür und Helene bei der Hand erfassend, geleitete er sie zu Auguste, die ohnmächtig zu werden glaubte, als sie mit einemmale das junge Mädchen, das leibhaftige Ebenbild der Todten vor sich sah.

Cavaroc kannte Auguste nicht, dagegen kannte er vom Sehen aus Jean Dangelas, und die Sache ward ihm sofort klar, ebenso wie der junge Maler den Zusammenhang begriff. Bei Helene und Auguste währte das etwas länger; doch hatten sie oft genug voneinander sprechen gehört, um gegenseitig zu errathen, wer sie seien, und kurze Zeit darauf hing die Griechin bereits an dem Halse der Pariserin, die ihre Liebkosung von ganzem Herzen erwiderte. Der Rittmeister betrachtete das rührende Bild und lächelte still vor sich hin.

»Werther Herr,« wendete er sich sodann zu Vitrac, »da haben wir eine Lösung, an die wir sicherlich nicht gedacht. Auf diese Weise wird sich wohl alles in Wohlgefallen auflösen.«

Er hatte noch nicht zu sprechen aufgehört, als den Anwesenden eine abermalige Ueberraschung zutheil wurde. Der Kammerdiener trat ein und meldete zwei Herren, die ihm auf dem Fuße folgten und die niemand erwartet hatte: den Untersuchungsrichter Francastel und den wohl unvermeidlichen Grisaille.

Daß das Erscheinen dieser beiden Personen Aufsehen erregte, ist eigentlich selbstverständlich. Auguste Bernier, die dieselben noch niemals gesehen, blieb bei ihrem Anblicke ganz unbewegt; dagegen wich Helene, die sich an die Schaustellung des Kopfes ihrer Schwester erinnerte, in eine entfernte Ecke des Ateliers zurück, als sie des Untersuchungsrichters ansichtig wurde. Auch Vitrac und Dangelas konnten sich einer leichten Unruhe nicht erwehren und selbst Cavaroc büßte seine gewohnte Zuversicht theilweise ein.

Francastel säumte aber nicht, sämmtliche anwesenden Personen zu beruhigen, indem er liebenswürdigen Tones zu sprechen begann:

»Ich war darauf gefaßt, meine Herren, daß ich Herrn Dangelas mit dem jungen Mädchen, welches er gerettet hat, hier antreffen werde. Soeben erhielt ich aus Poissy einen Bericht, worin mir mitgetheilt wird, daß Herr Dangelas die Absicht äußerte, die Gerettete zu Herrn Vitrac zu führen –«

»Ja, das äußerte ich in der That dem Gendarmeriewachtmeister gegenüber,« bemerkte Dangelas.

»Der Bericht rührt von ihm her und legte ich besonderes Gewicht darauf, noch heute mit Ihnen zu sprechen und Sie für Ihr heldenhaftes Vorgehen zu beglückwünschen. Sie, mein Herr,« wendete sich Francastel zu Cavaroc, den er nicht kannte; »sind jedenfalls ein Freund des Herrn Vitrac?«

»Der Herr ist der Officier, den wir jüngste Nacht in der Wohnung des Fräuleins Dubois antrafen,« erklärte Grisaille.

»Ich mache gar kein Hehl daraus,« sagte der Rittmeister; »und will Ihnen auch die Anwesenheit Helenen's an diesem Orte erklären. Sie kam mit mir hierher, nachdem ich ihr vor zwei Tagen in vorgerückter Abendstunde auf dem Quai d'Orsay begegnet und sie zu meinem Freunde, Herrn Julius von Jonville, Attaché im Ministerium des Auswärtigen, geführt hatte. Ich beging den Fehler, daß ich Ihnen nicht sagte, was aus ihr geworden; doch wollte ich Herrn von Jonville ganz aus dem Spiele lassen. Wir, nämlich er und ich, warteten darauf, daß die Angelegenheit des falschen Russen endgiltig geklärt werde.«

»Das ist bereits der Fall,« erwiderte der Untersuchungsrichter. »Wir wissen alles und zweifeln nicht länger an der vollkommenen Unschuld des armen Mädchens, das Borodino für seine Nichte ausgab. Sie ist nicht stumm, wie?«

»Nein; sie spricht sogar vorzüglich griechisch und deutsch. Wenn Sie es wünschen, wird sie Ihnen ihre Lebensgeschichte erzählen, gleichwie sie dieselbe Jonville und mir erzählte.«

»Ich werde ihre Schicksale mit Vergnügen zur Kenntniß nehmen, sobald sie des Französischen mächtig sein wird.«

Dies besagte klar, daß sich die Behörden nicht weiter um Helene kümmern würden, und Cavaroc beschloß, Jonville so bald als möglich von dieser erfreulichen Kunde Mittheilung zu machen. Inzwischen hatte Helene ihren Schrecken einigermaßen überwunden und neben Auguste Platz genommen, und da die beiden jungen Mädchen sich auf keine andere Weise verständigen konnten, mußten sie sich auf ein Augen- und Mienenspiel beschränken, welches ihrer gegenseitigen Sympathie Ausdruck verlieh.

»Und nun, Herr Dangelas,« nahm der Untersuchungsrichter von neuem auf; »bitte ich Sie, mir offen und rückhaltslos mitzutheilen, auf welche Weise es Ihnen gelungen ist, den Mörder zu finden, der unseren Agenten zu entschlüpfen verstand.«

»Ein glücklicher Zufall begünstigte unsere Bemühungen,« gab Dangelas bescheiden zur Antwort; »richtiger gesagt, ein Brief, welchen Fräulein Bernier auf den Quai werfen konnte und welchen ein menschenfreundlicher Mann zur Post gab. Der Brief war an den unglücklichen Großvater meiner Braut gerichtet. Ich begab mich mit dem alten Herrn nach Passy, und während Sie in der Rue Berton das Nest leer antrafen, ertheilte uns ein alter Fischer, den wir am Ufer angeln sahen, die erforderlichen Auskünfte. Dieser Mann führte uns auch nach Poissy – alles übrige wissen Sie, da Sie ja den Bericht des Wachtmeisters erhielten.«

»Allerdings. Und dieser wackere Fischer blieb in Poissy zurück?«

»Ja. Ich wollte mit ihm zurückkehren; doch zog er es vor, in Poissy zu bleiben, um dort ein Gasthaus mit Fischen zu versorgen.«

»Schön. Es ist Ihnen jedenfalls bekannt, daß der kleine Neger, der das Fräulein bewachte und bei Ihrer Ankunft in die Seine sprang, verhaftet wurde, als er ans Ufer gelangte?«

»Ich habe davon gehört.«

»Wir wußten dem Burschen die Zunge zu lösen und haben von ihm erfahren, daß sein Gebieter einen Genossen hatte, der mit ihm den Tod fand, daß der Nichtswürdige einstmals Seeräuber gewesen sei und das Fräulein seiner Freiheit beraubt hatte, um es in der Türkei an einen Pascha zu verkaufen. Der Elende betrieb diesen in den türkischen Staaten noch immer blühenden Handel und wollte ihn auch in Paris ausüben. Zum Glücke fand er das wohlverdiente Ende und damit ist die Untersuchung in dieser Angelegenheit endgiltig abgeschlossen.«

Die Mienen der anwesenden Personen erhellten sich und auch Helene blickte ruhiger, denn wenn sie auch nicht verstand, was gesprochen wurde, so errieth sie immerhin, daß die Dinge eine freundliche Wendung genommen.

»Und nun,« sagte Francastel, »bitte ich Sie nicht als Untersuchungsrichter, sondern als Mensch, mir Einiges zu beantworten.«

»Wir stehen Ihnen zur Verfügung,« erklärte Vitrac.

»Dürfte ich erfahren, was Sie für die beiden jungen Damen, die Sie aus den Klauen dieses Borodino befreiten, zu thun gedenken? Ich interessire mich warm für dieselben und wenn Sie eines Beistandes bedürfen sollten, so will ich Ihnen gern behilflich sein, die Existenz der Mädchen zu sichern. Ich verfüge über zahlreiche Verbindungen und bin auch Mitglied zweier großer Wohlthätigkeitsvereine.«

»Für Fräulein Auguste werde ich sorgen,« ließ sich Dangelas vernehmen. »Sie ist bereit, meine Gattin zu werden, und sobald den Formalitäten Genüge geleistet worden, heiraten wir.«

»Und mein Freund Jonville wird für Fräulein Helene sorgen,« erklärte Cavaroc. »Ob die Vermählung schon in kurzer Zeit stattfinden wird, kann ich nicht wissen, denn Jonville hat auf seine Mutter Rücksicht zu nehmen, und ich glaube, daß die adelsstolze Dame nicht ohneweiters in die Verbindung einwilligen wird. Sie wird Zeit zum Ueberlegen und zum Einziehen von Erkundigungen verlangen und Jonville wird gezwungen sein zu warten. Inzwischen wird Fräulein Helene jedenfalls in einem Kloster Aufenthalt nehmen und bis zu ihrer Vermählung dort bleiben. Bevor Borodino sie nach Paris kommen ließ, befand sie sich auch in einem Kloster zu Wien. Und so wird alles heiraten, nur ich nicht!« schloß Cavaroc heiteren Tones.

»Und ich auch nicht,« sagte Vitrac halblaut.

Herr Francastel zog sich nach diesen Mittheilungen zurück, nachdem er von den Anwesenden freundlichen Abschied genommen. Vitrac, Dangelas und der Rittmeister dagegen hatten einander zu viel zu sagen, als daß sie an eine Heimkehr gedacht hätten. Indessen mußte für die Unterkunft der beiden Mädchen Sorge getragen werden, und Vitrac erledigte die etwas schwierige Frage in der Weise, daß er den Damen das eigene Schlafzimmer überließ, worauf die drei Herren gemüthlich zusammenrückten und in angeregter Unterhaltung den Anbruch des Tages erwarteten.

Zwei der Herren kannten den dritten seit kaum acht Tagen, denn weder Vitrac noch Dangelas hatte den Rittmeister vordem gesehen; doch werden die Menschen durch die Ereignisse einander näher gebracht, und es wollte allen Dreien bedünken, als wären sie bereits alte Freunde. Ein jeder hielt Einkehr in sich selbst und ein jeder fand, daß er sich etwas vorzuwerfen habe: Vitrac seine freiwillige Zurückgezogenheit, Dangelas gewisse Thorheiten und Cavaroc sein langes Fernbleiben. Sie konnten nichts anderes thun, als sich gegenseitig ihre Vergehen zu verzeihen und sich für die Zukunft neue Freundschaft zu geloben.

Vitrac war dem Rittmeister stets sympathisch gewesen und auch Dangelas gefiel ihm immer mehr, obschon ihm der junge Maler anfänglich etwas zu leichtfertig geschienen hatte, als daß ihn dessen Bekanntschaft sonderlich entzückt hätte. Dangelas erstattet eingehenden Bericht über seine Erlebnisse seit dem Augenblicke, da er mit der kleinen Modistin vor der Morgue bekannt geworden, und obschon er heute Abends vollauf Grund hatte, ernst zu sein, so wußte er die Dinge dennoch in einer Weise vorzubringen, die seinen beiden Zuhörern wiederholt ein Lächeln abgewann. Trotz aller schmerzlichen Erinnerungen verfloß die Nacht heiter und angenehm, und als der Tag anbrach, mußte man daran denken, die jungen Mädchen endgiltig unterzubringen.

Für eine Nacht hatte die Freundlichkeit Vitrac's ausgeholfen; doch konnte die Sache unmöglich von Bestand sein. Das Haus eines bekannten Malers ist kein Aufenthaltsort für junge Mädchen, und handelte es sich jetzt darum, für jede der beiden Waisen ein entsprechendes Asyl zu finden, bis endgiltig über deren Schicksal entschieden wurde.

Für Auguste war das Asyl gefunden; wenigstens dachte Dangelas, daß sich seine wackere Mutter nicht weigern werde, sie auf die Fürsprache Vitrac's hin bei sich aufzunehmen und zu beherbergen. Schwieriger war es schon, für Helene zu sorgen, deren Beschützer bloß ein verliebter Edelmann und ein Kürassierofficier waren; man würde ja mit der Zeit ein entsprechendes Auskunftsmittel finden, doch mangelte es am wichtigsten Factor: der Zeit.

Die drei Verbündeten hielten Kriegsrath und beschlossen einstimmig, vor allem die kleine Putzmacherin zu Frau Dangelas zu führen. Hernach würde man sich mit Jonville besprechen, der möglicherweise ein Kloster oder eine Pension wird namhaft machen können, wo man der unglücklichen Helene Aufnahme gewähren würde.

Sie beschlossen, zu Dreien einen derartigen Aufenthaltsort ausfindig zu machen und der Rittmeister erbot sich sogar, mit einem Schlage zwei Fliegen zu treffen, das heißt auf dem Wege zu Frau Dangelas auch bei Jonville vorzusprechen. Er wollte nicht in dessen Wohnung gehen, da ja er seit gestern Abends seine Mutter bei sich hatte, sondern ihn durch den Hausbesorger herunterrufen lassen und auf der Straße Rücksprache mit ihm nehmen.

Nachdem man all diese Vereinbarungen getroffen, blieb nichts anderes übrig, als ruhig das Erscheinen der Damen abzuwarten, die gegen acht Uhr Morgens, Hand in Hand wie zwei Schwestern, das gemeinsame Schlafgemach verließen. Das Unglück hatte ihre Herzen einander nahe gebracht, und obschon sie nicht dieselbe Sprache redeten, vermochten sie sich zu verständigen.

Dangelas theilte seiner Verlobten mit, worin ihre drei Beschützer übereingekommen waren, und Auguste erklärte, daß sie glücklich darüber sei, daß die Herren sie begleiten wollten. Zu gleicher Zeit setzte der Rittmeister der schönen Griechin in sehr mangelhaftem Deutsch auseinander, daß seine Freunde sie bäten, bis zu ihrer Rückkehr bei Vitrac zu bleiben, und daß er ihr eine baldige Rückkehr zu Jonville in Aussicht stellen könne.

Es hätte gar nicht so vieler Worte bedurft, um ihre Einwilligung zu erhalten, denn das arme Kind segnete seine Retter und kannte keinen anderen Willen als den ihrigen.

Es war neun Uhr geworden, als die drei Herren mit Auguste Bernier in einen viersitzigen Fiaker stiegen, um die Place du Palais Bourbon zu erreichen.

Die Enkelin des alten Cordouan hatte in der Rue de la Paix gearbeitet, und als Auguste im Vorüberfahren den Laden ihrer Principalin erblickte, konnte sie dem Verlangen, ans Fenster zu treten und hinauszublicken, nicht widerstehen. Frau Lucie Courtois war in leichtem Morgenanzuge soeben aus der Ladenthür getreten, um die Wirkung eines erst seit heute Morgens im Schaufenster prangenden neuen Hutes zu studiren.

Sie erkannte auf den ersten Blick ihre frühere Arbeiterin und setzte so eilig über das Trottoir, um mit ihr zu sprechen, daß Dangelas dem Kutscher ein Zeichen gab, zu halten. Der wackere Junge war nicht gut auf die Putzmacherin zu sprechen, und es freute ihn, daß Auguste eine Gelegenheit geboten wurde, der Dame ihre Meinung zu sagen.

Die kleine Auseinandersetzung fand auf offener Straße statt: doch seitdem sie vor dem Untersuchungsrichter gestanden, hatte Frau Courtois die denkbar beste Meinung von Auguste, die sie ursprünglich so unwürdig verdächtigte. Sie wußte nunmehr, daß der vornehme Herr aus der Rue Berton weder ein Graf, noch ein Russe gewesen, so wenig wie er der Gatte der Gräfin Irene war, die den Hut bestellt, und nachdem sie von Grisaille nach der Rue Berton geführt worden, hatte sie auch den eleganten Landauer und die beiden Pferde erkannt, die sie wiederholt vor ihrem Laden gesehen.

Als sie Auguste in so guter Gesellschaft sah, wagte sie nicht, sie viel mit Fragen zu belästigen; Vitrac aber glaubte ihr in wenigen Worten mittheilen zu müssen, daß die verschiedenen Abenteuer, welche Auguste zu bestehen hatte, mit einer Heirat abschließen würden. Frau Courtois zerfloß bei diesen Worten förmlich in Rührseligkeit und wollte um jeden Preis ihre ehemalige Arbeiterin auf beide Wangen küssen, was sich jene wohl oder übel gefallen lassen mußte.

Die Rundfahrt hatte also gut begonnen, und der Rittmeister machte seine beiden Freunde darauf aufmerksam, daß dies eine gute Vorbedeutung für den Erfolg ihrer Bemühungen sei.

Bei Jonville liefen die Dinge aber weniger glatt ab. Als der junge Diplomat hörte, daß ihn sein Freund vor der Hausthür erwarte, eilte er auf die Straße hinab und war nicht wenig erstaunt, ihn in so zahlreicher Gesellschaft anzutreffen.

Jonville kannte Dangelas nur sehr wenig und Auguste gar nicht; um so besser kannte er aber Vitrac, und dieser war es auch im Vereine mit Cavaroc, der ihn von der gegenwärtigen Lage Helenen's in Kenntniß setzte. Jonville dankte seinen beiden Freunden in herzlichen Worten. Er verbarg ihnen nicht, daß seine Mutter in sehr übler Stimmung angelangt sei und man augenblicklich nicht daran denken könne, sie für das traurige Schicksal der jungen Dame zu erwärmen. Die wackere alte Dame scheine zu ahnen, was sich in dem Hause ihres Sohnes zugetragen, denn sie wurde nicht müde, die alte Monika mit ihren Fragen zu bestürmen, so daß jene alle Mühe habe, die Wahrheit vor ihr geheim zu halten. Nur die Zeit konnte den Widerstand besiegen, welchen die alte Frau von Jonville den Heiratsprojecten ihres Sohnes zweifellos entgegensetzen wird, und er wagte nicht, daran zu denken, daß es ihm gelingen werde, die Einwilligung seiner Mutter in kurzer Zeit zu erlangen.

Er mußte sich demzufolge ohne Zeitverlust darum kümmern, der unglücklichen Schwester der Ermordeten ein entsprechendes Unterkommen zu sichern, bis es ihm möglich sein wird, dieselbe zu heiraten, mußte aber alsbald auch mit ihr selbst Rücksprache nehmen, um sie besser als es der Rittmeister vermochte, in Bezug auf die Zukunft zu beruhigen.

Vitrac forderte ihn auf, sich so bald als möglich bei ihm einzufinden; ja, er sagte sogar, Helene möge sein Haus für das ihrige ansehen, bis Jonville ein passendes Obdach für sie gefunden.

Der Fiaker setzte sich wieder in Bewegung, und Vitrac sagte seinem Schüler nichts davon, daß er in Bezug auf die Zukunft der armen Helene durchaus nicht beruhigt sei. Er wollte Dangelas nicht entmuthigen in einem Augenblicke, da auch er seine Mutter um Gastfreundschaft für eine verlassene Waise bitten wollte.

Der junge Maler zweifelte im Uebrigen nicht im geringsten an dem Erfolge des Schrittes, den er unternehmen wollte. Seine wackere Mutter wußte nicht einmal, was Stolz und Eigendünkel war; dagegen besaß sie ein goldenes Herz und Dangelas rechnete mit Sicherheit darauf, sie zu seinen Gunsten stimmen zu können. Sie wohnte in der Rue d'Arcole, au der Ecke des Quai aux Fleurs, dem neuen Krankenhause gerade gegenüber, im dritten Stocke eines sehr freundlich aussehenden Hauses.

Vor dem Thore desselben angelangt, stiegen Alle aus, nur der Rittmeister nicht, der seinen Freunden erklärte, er wolle deren Rückkunft auf der Straße abwarten und inzwischen eine Cigarre rauchen. In der That hatte Cavaroc bei Frau Dangelas nichts zu suchen, denn erstens kannte er dieselbe nicht und zweitens würde die gute Dame ohnehin genügend entrüstet sein, wenn ihr Sohn mit einem jungen Mädchen bei ihr Einzug halten würde.

Man vereinbarte, daß man sich nach vollbrachter That auf dem Quai wieder vereinigen wird, und obschon Auguste nichts weniger als ruhig war, so stieg sie doch ohne Zögern am Arme Paul Vitrac's die drei Treppen empor.

Ihr Verlobter war ihnen bereits vorangeeilt, und da er vier Stufen auf einmal nahm, so langte er viel früher als Auguste und Vitrac bei der Thür der Witwe an, die selbst öffnete, da sie keine Dienstmagd hielt und zurückwich, als sie ihn erblickte.

»Guten Tag, Mutter,« sprach Dangelas so gelassen, als wäre er erst gestern hier gewesen. »Ich bringe Dir Gesellschaft.«

»Was für Gesellschaft?« sprach die Wackere ein wenig unwillig. »Wenn Du Dich einmal im Jahre an mich erinnerst, könntest Du recht gut auch allein kommen!«

Sie machte indessen sofort eine andere Miene, als sie Vitrac erblickte, der mit der Enkelin des alten Cordouan auf dem Treppenabsatze erschien. Vitrac war für sie ein höheres Wesen; sie wußte, daß es ihr Sohn ihm zu verdanken habe, wenn er im Begriffe war, ein ernst zu nehmender Künstler zu werden, und die Ehre, die ihr der berühmte Meister zum erstenmale erwies, überwältigte sie förmlich.

»Sie hier, verehrter Meister!« sprach sie so erregt, als hätte ihr der Präsident der Republik einen Besuch gemacht. Sie wagte ihn nicht zu fragen, was er mit dem hübschen Kinde wolle, das den Blick nicht zu erheben wagte, und trat zur Seite, um ihren Gästen den Weg freizugeben.

»Ich stelle Dir hiermit meine Verlobte vor,« sprach ihr Sohn, der ein Feind aller Weitschweifigkeiten war. »Du wolltest mich schon lange verheiraten, und da ich eine Frau gefunden habe, die mir paßt, so bin ich gekommen, Dich um Deine Einwilligung und Deinen Segen zu bitten.«

Auguste wußte nicht, wohin sie sich flüchten sollte, und es war die höchste Zeit, daß Vitrac das Wort ergriff. Er that es denn auch ohne Zögern und wußte so gut zu sprechen, die Geschichte der armen Verwaisten so rührend und beweglich zu gestalten, daß Frau Dangelas, die ihn schweigend angehört hatte, ohne ihn mit einem Worte zu unterbrechen, bei seiner Schlußbemerkung, daß er den Entschluß seines Schülers nur billigen könne, die Hand nach dem verwaisten Mädchen ausstreckte, es an ihre Brust zog und sanft auf die Stirn küßte.

Als Jean Dangelas dies sah, erfaßte er den Kopf seiner Mutter mit beiden Händen und bedeckte ihn mit ungezählten Küssen, wobei er immer wieder rief:

»Ich wußte ja, daß Du Dich nicht bitten lassen wirst!«

»Das hast Du Herrn Vitrac zu verdanken,« erwiderte die gute Alte, ihre Haube zurechtrückend, die durch die stürmischen Liebesbezeigungen ihres Einzigen ganz aus ihrer Lage gebracht worden.

»Und nun soll er Dir erklären, was ich von Dir erbitte.«

Vitrac, dem das Messer derart an die Kehle gesetzt wurde, entledigte sich sehr gut seiner Aufgabe. Er wies kurz und bündig nach, daß die zukünftige Gattin eines Jean Dangelas bis zu ihrer Vermählung nur bei ihrer zukünftigen Schwiegermutter wohnen könne, nachdem der einzige Verwandte, den sie gehabt, gestorben sei. Und um die grausame Lage zu schildern, in welcher sich die arme Verwaiste befand, wußte er Worte und Vergleiche zu finden, daß die verwitwete Frau Dangelas Thränen vergoß. Auguste Bernier hatte gewonnenes Spiel. Weiter in die alte Dame zu dringen, wäre zumindest eine Unzartheit gewesen, und Vitrac konnte sich beruhigt zurückziehen. Dangelas bedurfte seiner nicht mehr und suchte ihn auch nicht zurückzuhalten.

Vitrac empfahl sich denn nach kurzem, freundlichem Abschiede. Die Treppe hinabsteigend, konnte er nicht umhin, sein Los mit dem dieses jungen Menschen zu vergleichen. Für ihn gab es so gut wie gar keine Hoffnung mehr; für ihn galt es, das Leben von vorn zu beginnen, während dieser sorglose Bursche gleich zu Beginn ein Glückslos aus der Lotterie des Lebens gezogen hatte. Dangelas hatte ein weniger hohes Ziel vor Augen gehabt als sein Meister, und es auch erreicht. Ihm lächelte das Glück von allen Seiten, während Vitrac den Horizont um sich her mit lauter schwarzen Wolken verhängt sah. Er hätte auch Cavaroc beneiden mögen, der dieses Drama, welches andere Leute ihrer Ruhe und Ehre beraubte, ohne Fährlichkeiten überstanden hatte.

Als Vitrac das Haus verließ, in welchem Dangelas auf dem Gipfelpunkte des Glückes zurückgeblieben, sah er, daß sein neuer Freund von der Höhe des Quai aux Fleurs die Arbeiten an der Arcole-Brücke beobachte, und die Aufmerksamkeit, die er denselben schenkte, zeugte deutlich genug für seine völlige Unbefangenheit. Trotzdem erkundigte er sich eifrig nach dem Resultate der bedeutungsvollen Unterredung, und als er davon Kenntniß erhalten, bemerkte er mit philosophischem Gleichmuthe:

»Dies ist wieder einmal ein Beweis dafür, daß Reichthum und Adel nicht allein ausreichen, um glücklich zu machen. Hätten die Vorfahren Ihres Schülers an den Kreuzzügen theilgenommen und besäße seine Mutter ausgedehnte Ländereien in der Normandie, so befände er sich in derselben peinlichen Lage wie unser Freund Jonville und hätte er ebenso wenig Aussicht wie dieser, die Auserwählte seines Herzens zu heiraten.«

»Sie haben vollkommen recht,« gab Vitrac zur Antwort; »und könnten hinzufügen, daß mein Schüler weit glücklicher ist als ich. Hätte ich doch auch einen leichtfertigen Lebenswandel geführt gleich ihm, statt mich mit aller Leidenschaft meiner Kunst zu widmen und mein Herz rückhaltslos einer Frau zu eigen zu geben, die ich kaum kannte, wenigstens wäre mein Leben heute nicht zerstört für immer!«

»Das ist es auch nicht, verehrter Meister! Ihnen blieb vor allem die Kunst, in der Sie bereits ein anerkannter Künstler sind und die Ihrem Ehrgeize ein weites Wirkungsfeld eröffnet. Sie werden reisen, ein Stück Welt kennen lernen und –«

»Das ist wahr, und verlasse ich Frankreich schon demnächst.«

»Aber nicht für immer, hoffentlich?«

»Nein – für sechs Monate – vielleicht auch für ein Jahr. Ich werde erst zurückkommen, wenn Ruhe und Vergessenheit in mir eingezogen sind, und das wird lange dauern. Soll ich Sie nach Ihrer Wohnung bringen?«

»Nein, ich danke,« erwiderte der Rittmeister, »ich habe das Bedürfniß, etwas Bewegung zu machen.«

»Und ein wenig zu schlafen, was nach einer durchwachten Nacht nur selbstverständlich ist.«

»O nein! Ich muß in die Kriegsschule, denn ich habe in den letzten acht Tagen die Vorträge oft genug geschwänzt und muß das Versäumte nachholen. Auf Wiedersehen also, mein lieber Vitrac, und betrachten Sie mich fortan für Ihren wahren Freund. Doch halt! Noch ein Wort. Wenn Sie Jonville wären, würden Sie Helene heiraten?«

»Das ist eine schwer zu beantwortende Frage,« erwiderte Vitrac nach einigem Zögern. »Ich bin nicht Jonville, und in solchen Fällen ist der Interessirte der einzig maßgebende Factor.«

»Da haben Sie recht. Doch wenn er Sie um Rath fragen würde?«

»So würde ich es ablehnen, einen solchen zu ertheilen.«

»Das werde auch ich thun,« erklärte Cavaroc, sich mit einem herzlichen Händedrucke von dem Künstler verabschiedend.

Lange blickte ihm Vitrac nach, denn es schien ihm, als nähme der lebenslustige Officier die ruhige Heiterkeit mit sich, die sich leise auf ihn, Vitrac, herabgesenkt hatte. Er fühlte eine große Leere in und um sich; eine tiefe, schier unausfüllbare Lücke war in sein Leben gerissen worden. Er hatte zuerst das Los seiner Freunde beneidet und nun beneidete er sogar die an dem Brückenbau beschäftigten Arbeiter, die sich so schwer für das tägliche Brot zu mühen hatten. Diesen war wenigstens die Hoffnung geblieben, die trostspendende, stützende Hoffnung.

Für Vitrac aber war nichts weiter geblieben als schmerzliches Erinnern und tiefes Bedauern, fast Gewissensbisse, denn seine Liebe zu dem schönen Kinde war die erste Veranlassung erschütternder Katastrophen gewesen und ein Verlangen nach dem Tode, nach ewiger Ruhe und Vergessenheit bemächtigte sich seiner.

Es stand aber geschrieben, daß er leben, und die Arbeit, diese letzte Zuflucht der vom Schicksale Heimgesuchten, ihn vor der Verzweiflung bewahren werde. –

Neun Monate sind seit den geschilderten Begebenheiten verflossen, und Paris, das durch dieselben acht Tage hindurch in Athem gehalten worden, Paris hat bereits daran vergessen. Allerdings spielten sich die Ereignisse in zu rascher Reihenfolge ab, so daß man kaum recht zur Besinnung kommen konnte, und auch die an den erschütternden Vorgängen betheiligten Personen pflogen zu spärlichen Verkehr mit der eigentlichen Gesellschaft, als daß dieselben eine nachhaltigere Wirkung zu erzielen vermocht hätten.

Der abgeschnittene Kopf war, kaum aufgetaucht, auch wieder aus der Morgue verschwunden, so daß die Liebhaber derartiger Schaustellungen kaum Zeit fanden, denselben zu sehen. Und auch die Zeitungen hatten sich kaum mit den geheimnißvollen Vorgängen in der Rue Berton zu befassen begonnen, als man erfuhr, daß alles zu Ende sei.

Die Polizei ist discret und verschwiegen, weil sie es sein muß, und die an der Sache Betheiligten unterließen es wohlweislich, sich ihrer Wissenschaft zu rühmen. Und so kam es, daß gar viele Leute der Meinung waren, die greuliche Scene auf dem von Vitrac veranstalteten Costümballe sei bloß ein Atelierscherz gewesen; in den Personen aber, die an den tragischen Vorgängen in irgend einer Weise betheiligt gewesen, haben dieselben tiefe Spuren und unverwischbare Erinnerungen zurückgelassen.

Um denselben, so weit es ermöglicht war, zu entgehen, hatte sich Vitrac nach der Eröffnung des Salons, wo sein neues Bild einen ungeheueren Erfolg erzielte, nach Italien begeben, um während des ganzen Winters in dem Lande zu verweilen, wo die Citronen blühen.

Vor seiner Abreise konnte er seinem Lieblingsschüler als Zeuge dienen; Jean Dangelas führte glückstrahlend die niedliche Auguste Bernier zum Traualtare. Dem alten Cordouan war es leider nicht vergönnt, seine Enkelin zum Maire und von dort in die Kirche zu begleiten; dafür aber war die Mutter des Bräutigams zugegen, die ganz stolz auf ihre Schwiegertochter war, deren treffliche Eigenschaften sie während der Zeit, die sie in ihrem Hause verbrachte, kennen und schätzen gelernt hatte.

Jean Dangelas ist seit seiner Verheiratung ein ganz anderer Mann geworden: er besucht weder Gast- noch Kaffeehäuser mehr, sondern arbeitet fleißig und ernstlich in seinem Atelier, welches er sich eingerichtet hat, und da er stets Talent gehabt, so ist er auf dem besten Wege, ein tüchtiger Künstler zu werden. Dabei betet er seine kleine Frau an, die mit noch größerer Liebe vielleicht an ihm hängt, und fühlt sich vollkommen glücklich.

Bei Jonville und Helene haben sich die Dinge nicht so rasch entwickelt, worauf übrigens Beide vorbereitet waren. Eine aristokratische Mutter giebt nicht so schnell ihre Einwilligung zu der Verbindung ihres einzigen Sohnes mit einer Ausländerin, die nicht nur kein Vermögen, sondern auch keinerlei Verwandte besitzt. Es war Jonville gelungen, die Verwaiste in einem sehr achtbaren Hause unterzubringen, wo nur Mädchen aus den ersten Familien Zutritt haben; aber es hatte große Stürme zwischen dem jungen Diplomaten und seiner Mutter abgesetzt, bis er es nur so weit gebracht hatte, daß sie sich die Lage der Dinge schildern ließ.

Darauf hatte Frau von Jonville mit großer Energie erklärt, daß sie es niemals zugeben werde, daß ihr Sohn eine Abenteurerin heirate. Mit diesem Worte bezeichnete sie ohne Bedenken die arme Helene, die diese Bezeichnung durchaus nicht verdiente.

Allerdings hatte Helene viele Abenteuer gehabt, dieselben aber nicht gesucht, und die richtige Bezeichnung für diese Abenteuer lautete Unglücksfälle. Es galt nun, diesen Beweis einer Aristokratin gegenüber zu erbringen, die in Bezug auf Moral und eheliche Verbindung keinen Spaß verstand.

Diesen Beweis zu führen, war aber noch schwieriger, als den Nachweis einer vornehmen Abstammung zu erbringen, und so groß auch die Liebe Jonville's war, so war er nicht der Mann dazu, um sich diese Beweise auf unlauterem Wege zu verschaffen. Er entschloß sich, zu warten, zog aber in Wien und Smyrna ununterbrochen Erkundigungen ein, um über die Herkunft und das Vorleben seiner Braut bestimmte Angaben zu erhalten.

Hierbei kamen ihm seine Verbindungen mit den verschiedenen Gesandtschaften und Botschaftsämtern vortrefflich zu Statten, und es gelang ihm in der That, auf diese Weise in Erfahrung zu bringen, daß Caritides ein nichtswürdiger Halunke war, und daß Irene und Helene nicht die Töchter eines russischen Obersten waren, wie es der niederträchtige Borodino behauptet hatte, sondern eines rechtschaffenen griechischen Handelsmannes, den der Krieg vom Jahre 1877 zugrunde gerichtet hatte.

Ueber das Leben, welches Helene vor ihrer Ankunft in Paris geführt, förderten die eingeleiteten Nachforschungen nichts zu Tage, was ungünstig gewesen wäre; doch befriedigte dieses Resultat Frau von Jonville noch nicht, die etwas anderes zu erhalten wünschte als negative Auskünfte, gerade als könnte man das tadellose Verhalten eines jungen Mädchens durch ein amtliches Schriftstück bekunden.

So stehen die Dinge, und Julius wird wohl zu anderen Mitteln greifen müssen. Er hofft, daß ihm eine Freundin seiner Mutter ihren Beistand leihen wird. Diese Freundin steht nämlich in Verbindung mit den Damen des Hauses, in welchem Helene ein Unterkommen gefunden hat, das junge Mädchen daselbst zu sehen Gelegenheit gehabt und ist geneigt, sich zu Gunsten desselben zu verwenden.

Frau von Jonville hat ihren Sohn beinahe nicht mehr verlassen, seitdem sie eines Abends so unerwartet bei ihm eintraf. Statt wie gewöhnlich auf ihren Landgütern in der Normandie, hat sie den Sommer in Paris verbracht. Noch leistet sie wackeren Widerstand; doch bemerkte sie, daß Jonville zusehends abmagert und sie sagt sich bereits, daß man mitunter auch an unglücklicher Liebe stirbt.

Um sich gegen die mütterliche Hartnäckigkeit zu stählen, kann Julius nicht einmal mehr zu Cavaroc seine Zuflucht nehmen; der lebenslustige Rittmeister absolvirte die Kriegsschule mit glänzendem Erfolge und wurde nach Toulon versetzt. Vor seiner Abreise hat er keinerlei Versuche gemacht, seinen Freund in dem Entschlusse, Helene zu heiraten, wankend zu machen oder zu bestärken. Er verhielt sich vollkommen neutral, da er der Ansicht huldigt, daß es im Leben Situationen giebt, wo ein Mann von niemandem einen Rath annehmen soll und darf. Jonville ist ihm ob seiner Neutralität nicht gram.

Inzwischen aber ist die arme Helene eifrig bemüht, sich die französische Sprache anzueignen, sie spricht dieselbe schon ziemlich geläufig und harrt ergebungsvoll der Stunde, die über ihr Schicksal entscheiden soll.

Wenn Frau von Jonville den Bitten ihres Sohnes endlich Gehör schenkt, so wird der Abschluß unserer tragischen Geschichte nicht wie in einem Lustspiele von Scribe in einer, sondern in zwei Heiraten bestehen.

Dies ist der Lauf der Welt.

Ende.

 


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