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Mutter Hildegard.

Das Edelfräulein, dessen Erscheinen die bemerkenswerthe Erörterung der Norbertiner über das Frauengeschlecht veranlaßte, hatte den Burgweg verlassen, und einen Pfad betreten, der steil bergab führte, das enge Thal durchschnitt und die jenseitige Höhe wieder emporstieg. Ohne Zweifel würde sie die Geneigtheit der überraschten Sänger, in ihr ein überirdisches Wesen zu erblicken, erschreckt haben; denn Editha, die einzige Tochter des Ritters Baldemar von Auerberg, war bei allen geistigen und körperlichen Vorzügen dennoch bescheiden und demüthigen Sinnes. Im Kloster Handschuhsheim erzogen und gebildet, vereinigte sie feine Lebensart mit einem für ihre Zeit nicht geringen Maße von Kenntnissen. Abgesehen von gründlichem religiösen Unterrichte, verstand sie einiges Latein, schrieb eine zierliche Handschrift und war in allen weiblichen Arbeiten wohl bewandert. Ihren größten Schatz besaß sie aber in der Unschuld ihres Herzens, in lebendiger Gottesfurcht, und in einem reichen und tiefen Gemüthe. Mit achtzehn Jahren aus dem Kloster entlassen, kehrte sie vor wenigen Monaten bleibend nach der väterlichen Burg zurück, war im Haushalt thätig und bewies ihren Aeltern die kindlichste Liebe und Aufmerksamkeit. Bei der Einförmigkeit des Lebens in Burgen, die auf Bergeshöhen gleichsam von der übrigen Welt abgeschlossen waren, mußte ein engeres Anschließen an Standesgenossen der Nachbarschaft natürlich erscheinen. So fand die lebhafte Editha zu Greifenstein seit früher Kindheit ein zweites Heim, und an der Burgfrau, der Wittwe Hildegard, einer von Lebensschicksalen schwer heimgesuchten Dame, eine zweite Mutter. Besuchte Editha, im Laufe ihrer regelmäßig wiederkehrenden Ferienzeit, auf einige Wochen das väterliche Haus, so verweilte sie Tage lang zu Greifenstein, angezogen durch die milde Güte und liebreiche Sanftmuth Hildegards, die keine Tochter besaß und die mütterlichen Empfindungen auf das liebenswürdige Mädchen des benachbarten Edelsitzes übertrug.

Editha fand in der Ferienzeit zu Greifenstein den Klosterschüler Sighard, welcher zu Lorsch die äußere Schule besuchte und vier Jahre älter war. Während der Kinderjahre streiften sie zusammen durch die umliegenden Wälder, suchten Beeren und Vogelnester, fanden in tiefen Thälern, wo Quellen zwischen bemoosten Felsen emporsprangen und sich wunderliche Naturgebilde den Kindesaugen darboten, allerlei Merkwürdigkeiten, nebenbei auch finstere Schluchten und schauerliche Höhlen, von Farrenwedeln und langbärtigem Moose überhängt. Sighard erzählte von Riesen und Zwergen, die im Innern der Berge hausen, und Editha, die neben dem Erzähler auf einem Steine saß, schmiegte sich furchtsam an ihren Beschützer und blickte scheu nach den dunklen Höhlen, unter deren Eingängen jeden Augenblick ein Zwerg oder Riese erscheinen konnte. Diese kindlichen Streifereien mußten freilich in späteren Jahren unterbleiben, aber sie hatten unverlöschbare Eindrücke in Editha und Sighard zurückgelassen.

Seit drei Jahren hatten sich beide nicht mehr gesehen. Nach Vollendung seiner Ausbildung und Erziehung in Lorsch, kam Sighard, einer zeitläufigen Gewohnheit des Adels gemäß, seine Söhne an Fürstenhöfe zu schicken, an den Hof der Pfalzgrafen in Heidelberg. Dort lernte er ritterliche Sitte und Kampfesweise, und wurde eingeweiht in den Geist den Ritterthums. Seine vorzüglichen Eigenschaften und seine Wohlgestalt erhoben ihn zur Zierde des Fürstenhofes. Dann folgte er im Dienste des Pfalzgrafen, als wehrfähiger Edelknappe, dem Heere Rudolphs nach Böhmen, und bis zur Stunde harrte die ängstliche Mutter in banger Sorge vergebens auf Nachricht über das Schicksal ihres Sohnes. Man wußte nicht, ob er in der mörderischen Schlacht auf dem Marchfelde verwundet worden, oder gar gefallen sei. Kein Bote stellte sich ein, der Kunde brachte, kein Krieger, der am Greifenstein vorüber nach der Heimath zog, meldete über den Verschollenen. – In diesem trostlosen Lichte betrachtete die einsame Burgfrau den Stand der Dinge, und ihre Betrachtungsweise entsprang weniger einer vernünftigen Ueberlegung der gegebenen Verhältnisse, als den Folgen überstandener Leiden; denn Menschen, die von einem harten Geschicke verfolgt werden, sind immer geneigt, das Schlimmste zu befürchten.

Editha empfand die lebhafteste Theilnahme für den Jugendfreund. Fast täglich ging sie hinüber nach Greifenstein, in der Hoffnung, frohe Kunde über Sighard zu hören. Statt dessen fand sie regelmäßig eine trauernde Mutter, die im hochgelegenen Thurmzimmer saß, weit hinausspähend in das Land nach dem etwa heimkehrenden Sohne. Setzte sich dann Editha ihr gegenüber auf die Fensterbank und hörte auf die Befürchtungen der Geängstigten, aus deren Augen Thränen hervorbrachen, so wurde auch sie von Besorgnissen ergriffen.

Als Editha aus dem Walde hervortrat und der Greifenstein auf sonniger Bergeshöhe in unmittelbarer Nähe vor ihr lag, blieb sie stehen, und sah in beklommener Spannung nach der Burg.

Heiter, wie der Sommermorgen, und kühn wie der Adler, der im Aether sich emporschwingt, erhob sich die kleine Veste mit ihren Thürmen, Zinnen und Gebäuden auf einem nach drei Seiten jäh abstürzenden Felsen. Das röthliche Gestein der Mauern war so blank, als sei es abgewaschen, und alle Verhältnisse des zierlichen Bauwerkes hoben sich so bestimmt und fein ab von dem Luftkreise, als seien die schlanken Thürme und das Wohnhaus mit seinen Erkern und Söllern aus Elfenbein geschnitzt. Bei dem beschränkten Raume des Felsens, ging der Bau nicht in die Breite, Alles strebte zur Höhe und verlieh dem Ganzen den Charakter des Kühnen, Luftigen, Zierlichen. Hiezu kam eine so vollendete Abrundung und Einheit aller Verhältnisse, daß es, von einiger Entfernung betrachtet, schien, man könne den niedlichen Adelssitz mit Händen umspannen und wie ein geschnitztes Kleinod der Baukunst in die Tasche stecken. Der Wartthurm, alle übrigen Thürme weit überragend, trug auf seiner Zinne, die eine Mauerkrone bildete, eine Fahnenstange, seit langer Zeit ohne wehendes Banner, ein Zeichen der Trauer um den abwesenden Burgherrn.

»Wird Kunde eingetroffen sein, – und welche?« sprach Editha bange vor sich hin.

Und so groß war ihre Beklommenheit, daß sie beide Hände über die Brust legte, zur Beruhigung des stürmisch pochenden Herzens. Hastig schritt sie die vom Bergrücken ansteigende Höhe zur Burg hinan, wo der alte Thorwart, die Mütze in der Hand und ehrerbietige Zuneigung in dem runzelichen Gesichte, der Nahenden harrte.

»Gott grüße Euch, Jungfräulein!« sprach er, sich achtungsvoll verbeugend. »Immer noch nichts,« fuhr er fort, Edithas ängstlich forschenden Blick gewahrend. »Es will Keiner da herauf reiten und melden von meinem guten, edlen Herrn.«

Die Worte lösten Edithas ängstliche Spannung; denn sie hatte gefürchtet, schlimme Mär zu hören.

»Hoffen wir das Beste, Arnold! Gott und seine Heiligen schirmen alle gute Christen, mithin auch Sighard von Greifenstein. – Ist Mutter Hildegard oben?«

»Wie gewöhnlich in der Thurmstube, – spähend und auslugend und in großen Nöthen um ihr einziges Kind.«

Editha schritt über den einsamen Hof, wo kein lebendes Wesen die Stille unterbrach. Verlassen und öde schien die Burg, wenigstens gab kein Merkmal Zeugniß von dem Betriebe des beschränktesten adeligen Haushaltes. Diese Erscheinung lag theilweise in den mangelhaften Vermögensverhältnissen der Familie Greifenstein. Mutter Hildegard konnte sich großen Besitzthums nicht rühmen, und nur ihre Anspruchslosigkeit verhinderte das betrübende Gefühl einer fast dürftigen Lage. Sie besaß zwei Höfe, von hörigen Leuten bewohnt, aber die Leistungspflicht dieser Leibeigenen betrug zusammen nur zwölf Malter Korn, sechs Malter Hafer, zehn Ferkel und sechs Gänse jährlich. Ohne die Weinberge, welche Süd- und Westseite des Berges schmückten und die einen ganz vorzüglichen Wein lieferten, würde auch der bescheidenste Haushalt unmöglich gewesen sein. Zur Herbstzeit erschienen Händler reicher Kaufleute aus Worms und erwarben um hohen Preis den Ertrag der Rebgelände. Dagegen war der Greifenstein, und was dazu gehörte Allod, das heißt freies, von keinem Herrn abhängiges Familieneigenthum. Nicht einmal zur Heeresfolge im Reichsdienste waren die Freiherrn von Greifenstein verpflichtet, da sie von Kaiser und Reich kein Lehen trugen.

Mit allen Räumlichkeiten genau bekannt, hatte Editha bereits drei Stockwerke erstiegen. Jetzt begann sie, die enge Wendeltreppe des südlichen Thurmes empor zu eilen. Sie gelangte auf einen schmalen Vorplatz, wo die einzige Kammerzofe der Burgfrau ihr grüßend entgegen kam und sie nach dem Zimmer Hildegards geleitete.

Eine bleiche Dame, mit überaus sanften und milden Zügen, saß spinnend am Fenster. Sie war in ein dunkelfarbiges einfaches Gewand gekleidet, und ihr Haupt bedeckte eine tadellos weiße Haube. Während sie die Spindel drehte und aus dem Rocken den Flachs zog, entstand zwischen ihren Fingern ein ungemein feiner Faden, glatt, ohne das geringste Knötchen, die ausgezeichnete Spinnerin bekundend. Nach damaliger Sitte spannen nicht allein Edelfrauen, sondern auch Fürstinnen. Und beim Spinnen blieb es nicht, sie pflegten zugleich auf zierlichen Webstühlen das Gesponnene aus Linnen oder Wolle in Tuch zu verwandeln, – ohne Zweifel eine preiswürdige Beschäftigung, welche das müßige, auf Putz und Vergnügen gerichtete Sinnen des Frauengeschlechtes einer weit späteren Zeit sehr in Schatten stellt.

Die Aussicht des Fensters, vor welchem Frau Hildegard saß, ging auf die Rheinebene, deren mannigfaltige Schönheiten und reizender Wechsel von der Spinnerin kaum beachtet wurden, obschon sie in kurzen Pausen in die Ferne spähte. Stets blieb ihre Aufmerksamkeit auf die Straße gerichtet, welche am Fuße der Vorberge gegen Süden zog, bis sie in weiter Ferne einem weißen Faden glich. Diese südlich ziehende Straße mußte ihr Sohn kommen, nicht die Landstraße gegen Worms. Gewahrte sie blitzenden Waffenschein fahrender Ritter, so ruhte die Spindel, und eine namenlose Spannung überkam die sehnsüchtig harrende Mutter. Doch ihr Sohn war nicht unter den Reisenden, welche vorüberzogen. Mutter Hildegard spann weiter und ihre Thränen befeuchteten das Gespinnste.

»O mein Sighard, – nimmer kehrt er wieder!« seufzte sie. »Auch er wurde mir entrissen, wie meine übrigen vier Kinder und mein herzlieber Gatte. O ich Arme, – ich Verlassene!«

Dann verhüllte sie mit beiden Händen das Gesicht und weinte.

Dieses fortgesetzte bangvolle Harren, verbunden mit den erschütterndsten Vorstellungen und Befürchtungen, gestaltete ihre Züge zur kummervollen Schrift des geängstigten Mutterherzens. Sie gehörte nicht zu jenen Heroischen ihres Geschlechtes, die auch das letzte Kind mit Gleichmuth und Selbstgefühl im Kampfe verbluten sehen, – innige Mutterliebe bildete vielmehr in Frau Hildegard eine Macht, die alle übrigen Seelenkräfte weitaus überstieg.

Als Editha eintrat, erhob sich die Burgfrau und ein liebevolles Lächeln belebte ihr Angesicht.

»Willkommen, mein trautes Kind!« sprach sie, die Begrüßte auf die Stirne küssend. »Seit vier Tagen habe ich Dich nicht gesehen, – eine gar lange Zeit.«

»Wir hatten viele Arbeit und Gäste, die Mutter bedurfte meiner; dafür bleibe ich heute bis zum Abend. Mutter läßt Euch herzinnig grüßen und bitten, ein Stück von unserer Jagdbeute anzunehmen.«

Sie öffnete das Körbchen und zog einen fetten Birkhahn hervor.

»Die fortgesetzte Güte Deiner lieben Aeltern erweckt mir die größte Freude, zugleich aber auch Beschämung, da ich mit gar nichts zu entgelten vermag.«

»Eure wohlwollende Annahme kleiner Aufmerksamkeiten ist Entgelt genug, Mutter Hildegard! Ihr wißt ja, Geben ist freudiger, als Nehmen, – daher liegt schuldiger Dank ganz auf unserer Seite,« scherzte Editha, indem sie aus dem Kruge einen Becher mit Wasser füllte und den Rosenstrauch hineinstellte.

»Gar hübsche Blumen!« rühmte die Burgfrau. »Schon beginnen sie, das Gemach mit ihrem lieblichen Dufte zu erfüllen.«

»Meine Zöglinge, – meine Kinder!«

»Deine Kinder, – und meine Kinder! O du mein Gott, vielleicht liegt auch mein Letztes verwelkt, – dahin gerafft vom grausen Tod, in der Blüthe seiner Jahre!«

Thränen schlichen in ihre Augen.

»Seien wir nicht allzu ängstlich, Mutter Hildegard! Nach Böhmen ist ein gar weiter Weg, darum bildet das lange Ausbleiben Sighards keinen Grund, das Schlimmste zu befürchten. Außerdem hatte der Knappe keine freie Wahl, gebunden an den Dienst seines Herrn. So lange Pfalzgraf Otto nicht heimkehrte, ist Sighards Rückkehr unmöglich.«

»Sehr wohl, meine gute Editha! Wenn aber ein Mensch so Schweres erduldet, wie ich, blickt er zagend und bangvoll in die Zukunft. Meine vier Kinder starben dahin, und dann mein Gatte. Nur Sighard blieb mir, – bei dem Gedanken an den frühen Tod seiner Geschwister, für mich ein Kind des Schreckens, eine Quelle steter Angst und qualvoller Sorge. Er wuchs heran zum Jünglinge, zum jungen Manne, und mit jedem Jahre entfalteten sich glänzender seine hohen Eigenschaften. Vielleicht mußte er mit zwei und zwanzig Jahren und sieben Monaten sterben, damit sein Verlust mich desto zermalmender treffe. Und ich Schwergeprüfte kann vor Gott nicht immer sprechen, mit der duldenden Entsagung des frommen Job: Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen, – der Name des Herrn sei gepriesen! Möchte Gott mich Schwache stützen und schirmen!«

»Das wird er gewiß, Mutter Hildegard! Nur keine Selbstpeinigung durch trübe Vorstellungen und Sorgen für die Zukunft. Der süße Jesus hat ja gemahnt: Sorget nicht ängstlich für den kommenden Tag; denn jeder Tag hat seine Plage. – Wenn Sighard heute nicht kam, so wird er morgen kommen, oder an einem andern Tage. Lassen wir den lieben Gott nur walten.«

Die einfachen Trostworte blieben nicht ohne Eindruck auf das religiös gestimmte Gemüth Hildegards. Ihren Glauben an die weisen Führungen einer göttlichen Vorsehung hatten selbst die schmerzlichsten Heimsuchungen nicht zu erschüttern vermocht.

»Du hast Recht, mein Kind! Lassen wir den guten Gott nur walten. Wer fest hält im Vertrauen auf seine Güte und Barmherzigkeit, kann niemals zu Schanden werden.«

Sie öffnete einen Wandschrank, dem sie eine Platte mit köstlichen Weintrauben entnahm. Editha aß von der süßen Frucht, ließ sich dann vor ihrem Stickrahmen nieder und sprach von Sighards Heimkehr, wie von einer sicheren Thatsache der nächsten Zeit.


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