Ida Boy-Ed
Ein königlicher Kaufmann
Ida Boy-Ed

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X

Die ersten Tage waren einfach wundervoll. Therese hatte mittags und abends eine ganz köstliche Heiterkeit, die ihrem Mann wohltat. Wie anders ruhten ihn diese Mahlzeiten aus, als jene früheren, wenn er einsam saß, hastig essend, daneben die Zeitung lesend oder so vertieft einer Geschäftsangelegenheit nachgrübelnd, daß er oft ganze Schüsseln übersah. Therese behauptete von sich, ein Laster habe sich bei ihr entwickelt, sie sei wie beschwipst von Besitzerhochmut und Befehlshabermacht. So ein großes Haus voll schöner Sachen! Und alles ihr Miteigentum! Und den Dienstboten Anordnungen geben dürfen, ohne daß Mama hinterdrein kam und einen vor den Mädchen blamierte, indem sie die gegebenen Anweise als unverständig tadelte.

Allein die Stunden mit Schrötter auf dem Boden! Denn natürlich, mit dem Inspizieren fängt man von oben an und geht systematisch herunter bis zum Keller. »Das Systematische habe ich von Papa.« Und wenn sie nun lebendig erzählte, sah Bording es förmlich vor sich, wie die beiden da auf dem Hausboden hockten und eigentlich nichts taten, als ein bißchen Götzendienst mit seiner Person trieben.

Die Hausfront, die sich der Kirche zuwendete, hatte oben, in Reih und Glied vor dem Ziegeldach stehend, drei merkwürdige kleine Treppengiebel und in jedem war ein Fensterchen. In diese ovalen Glasscheiben kam vormittags das Sonnenlicht herein, in Strahlenbündeln, die gelb und glänzend die Dämmerung des Bodens durchschnitten.

Ein Teil des Bodens war durch eine Lattenwand von dem anderen geschieden. Das eine war die prosaische, das andere die poetische Hälfte. Die Hausfrau konnte der prosaischen höchstihre Zufriedenheit nicht vorenthalten. Da gab es nur saubere Dielen, ganz neue, noch weiße Waschkörbe, Waschleinen und Klammern in bester Ordnung nebeneinander.

Aber die poetische Hälfte erregte einfach Entzücken. Da standen alte Bettschirme, deren Rahmen von faltig gezogenem, buntem Kattun ausgefüllt waren. Eine alte Mahagonikommode mit schönen Beschlägen fand sich, nichts fehlte ihr als zwei Füße und ein Schloß. Sie sollte nicht länger als gefallene Größe dort verbleiben, sondern restauriert werden. Drollige Stühle gab es, von deren Art und Bestimmung man gar nicht sprechen konnte, ohne vor Lachen umzukommen. Zwei köstliche Delfter Blumenkübel, deren Kanten leider fast ausgezahnten Mauerrändern glichen – aber man konnte ihnen einen breiten, stilisierten Messingrand obenherum legen, und dann würden sie sich, mit blühenden Blumen gefüllt, höchst prunkvoll ausnehmen. Und welch ein Stapel alter Bilder, zum Teil schauderhaft eingerahmt! Verblaßte Photographien. Schrötter konnte alle erklären. Auch Knabenbilder Jakobs waren dabei. Die wurden feierlichst herausgesondert und sollten in Theresens Schlafzimmer hängen. Hundert Sachen – ganz zerbrochen, die nur nicht fortgeworfen worden waren, weil die Hausfrau gefehlt hatte, die es hätte befehlen können.

Und vor allen Dingen war eine Wiege da – von Mahagoni, breit, niedrig, Dach und Bett mit ganz verschossenem, fast grau gewordenem, grünem Damast gefüttert. Und Schrötter erzählte, daß er damals den kleinen Jakob darin habe liegen sehen, und vielleicht ging Schrötters alte Phantasie ein bißchen durch, oder an seine tatsächlichen Erinnerungen hatten sich so viel Vorstellungen herankristallisiert, genug, es war beinahe, als habe er Jakobs ersten Schrei mit angehört und ihn selbst großgezogen. Therese aber hockte auf dem Estrich, während ein Strahlenbündel ihren Kopf in seinen flimmernden, durchstäubten Glanz nahm, und stieß leise an die Wiege, die im Schatten lag und sich schaukelte, in jener etwas ungleichen und widerwilligen Querbewegung, wie eben Wiegen tun, die leer sind...

Und wenn ihr Mann sie von diesen Stunden erzählen hörte, dachte er froh: »Ja, sie ist glücklich.«

Therese vergaß in ihrem Vergnügen nicht ihre Eltern und ein paar andere Beziehungen. Die förmlichen Besuche wollte das Ehepaar erst zu Beginn der Saison machen, jetzt war doch der halbe Senat auf Ferien, viele Familien wohnten an der See.

Aber Therese hatte ein kleines Häuflein Menschen, die für gesellschaftliche Berücksichtigung nicht in Frage kamen, an denen sie aber mit Herzlichkeit hing. Die alte Großtante Voß lebte immer noch, Therese war ihr Patenkind und ihre Erbin, auf welche Tatsache die Greisin seit vielen, vielen Jahren immer etwas anspruchsvoll hinwies, die Rücksichten einfordernd, die man auf eine Erbtante nimmt. Dabei wußte Landskron genau, daß die alte Dame den größten Teil ihres bißchen Vermögens auf Leibrenten gegeben hatte und daß Therese vielleicht einmal acht- oder zehntausend Mark bekommen würde. Großtante Therese hatte kein übles Geschäft aus diesem Erbe gemacht – denn bei der Senatorin Landskron, ja sogar auch bei dem Senator war es stehende Rede geworden: »Man muß sich um Tante Therese bekümmern.« Auch Therese selbst kannte es gar nicht anders, dachte nicht daran, sich dieser Familientradition zu entziehen, und sagte schon am zweiten Tag fast ängstlich: »Ich muß aber zur Tante.« Jakob lachte sie aus und stellte Betrachtungen darüber an, wie oft aus solchen eingebildeten Zusammenhängen und Rücksichten das bestehe, was man »Familiensinn« nenne und wie viel Zeit damit vertrödelt werde. »So,« fragte Therese, »und daran denkst du nicht, daß alte Frauen schrecklich einsam sind und sich freuen, wenn man noch was aus ihnen macht? Was bist du für ein Realist!«

Welchen Tadel sie gleich dadurch milderte, daß sie mit ihrer Hand ganz leise über die seine strich. Das war überhaupt ihre Zärtlichkeitsgeste; wenn er etwas sagte oder getan hatte, was ihr besonders gefiel, dankte sie ihm damit; wenn sie anderer Ansicht war als er, gab sie damit ihrem Widerspruch Objektivität. Und er mochte es gerne haben, wenn die leichte, weiche Hand so über die seine strich.

Außer der alten Großtante, die besucht werden mußte, waren da noch zwei, drei Freundinnen, mit denen Therese durch Erinnerungen der Schul- und Mädchenzeit verbunden war. Diese wollte sie gern begrüßen. Sie hoffte auch, sie manchmal zu sich einladen zu dürfen, falls es Jakob nicht störe – er verreiste ja auch zuweilen. Das alte Fräulein Westfehling wiederzusehen, drängte es sie auch von Herzen. Die saß nun gebückt und schon ein wenig zittrig, als Konventualin des Sankt Johannis-Jungfrauenklosters am Fenster hinter ihren Blumenstöcken, nachdem sie vielen, vielen Jahrgängen heranwachsender Mädchen feine Handarbeit und englische Konversation gelehrt hatte. Alle Schülerinnen »schwärmten« immer für Fräulein Westfehling. Das war auch Tradition. Sie hatte so niedliche weiße, still gescheitelte Haare und ein Gesicht voll wehmütiger Güte und ganz flinkbewegliche Händchen. Die Mütter erzählten den Töchtern, daß Fräulein Westfehling einen schmerzlichen Liebesroman erlebt habe. Genaues wußte man nicht mehr. Aber es gab ihrer kleinen, verschüchterten Persönlichkeit doch einen geheimnisvollen Reiz. Fast alle ihre Schülerinnen hingen treu an ihr und besuchten sie ab und an im Kloster, in dem sie als Tochter eines dereinst angesehenen Bürgers eine Freistatt gefunden. Da saßen dann, in der hellen und friedvoll behaglichen kleinen Wohnung, die jede Konventualin ganz allein für sich hatte, die Frauen und jungen Mädchen und erzählten Fräulein Westfehling von den schrecklichen Unruhen des Lebens und beneideten sie, daß sie hier diese stimmungsvolle Zuflucht gefunden habe. Und Fräulein Westfehling lächelte klug in sich hinein.

Ganz allein traf man das alte Fräulein beinahe nie. Als Therese an einem schwülen Augustnachmittag das Johanniskloster, einen erneuten, stattlichen Barockbau, betrat, sagte ihr der Pförtner, daß Fräulein Westfehling im Garten sei. Da hatte sie unter einem Birnbaum ihr Plätzchen und eine samtgrüne Rasenfläche mit einem roten Geraniumbeet vor sich. Ihr Tisch war für Kaffeebesuch gedeckt, und es saß schon ein Gast vor den uralten Tassen mit Vergoldung und Rosenmalerei.

Therese drückte Fräulein Westfehling wieder auf die Bank nieder, legte ihr ein Paket mit Schokolade und Konfekt in den Schoß und sagte dann: »Guten Tag, Trudi.«

Aber Fräulein Gertrud Gundlach, des weißbärtigen kleinen Konsuls vollblütige, große und breite Tochter mit dem mißfarbigen Blondhaar um das feiste Gesicht, antwortete der freundlichen Begrüßung mit Steifheit. Therese wußte ja nicht, daß der Konsul ein gehässiger Feind ihres Mannes geworden sei, und daß die dicke Trudi eigentlich verlegen war, weil sie im Elternhaus so viel über den Senator Bording klatschen hörte. Vor allen Dingen wußte die Gundlachsche Familie genau, aber absolut genau aus der allersichersten Quelle, daß Therese den geizigen und herrschsüchtigen Mann gar nicht gewollt hatte, daß ihre Eltern sie kniefällig gebeten hatten, und daß sie noch am Hochzeitstage gejammert habe, sie könne nicht, er sei ihr zu verhaßt. Trudi war aber der Ansicht, noch auf dem Standesamt hätte ein Mädchen von Charakter lieber nein sagen, als sich an einen Mann verkaufen sollen, und sie verachtete deshalb Therese. Denn sie, Trudi, sie würde ganz gewiß und unter gar keinen Umständen den Senator Bording genommen haben.

Therese ließ sich aber durch diese Unmanier der Schulgenossin nicht die gute Laune verderben, sondern sagte, daß sie natürlich sehr gern Kaffee mittrinken würde, worauf Trudi Gundlach dem alten Fräulein den Weg abnahm und ins Haus ging, um noch eine Tasse zu holen.

»Da sind vier Tassen – wer kommt denn noch? Sehen Sie, Fräulein Westfehling, das finde ich ja reizend, daß Sie Ihre Schülerinnen immer noch so voll Güte um sich zusammenhalten. – Frau Sanders kommt und Betti Rothhaus? Fräulein Rothhaus kenne ich beinahe gar nicht, sie ist so viel älter als ich – auch Frau Sanders nur wenig, wenn es Frau Nikoline Sanders ist. – Ach, Frau Thora Sanders? So, so.«

Therese wußte gar nicht, daß sie sich schon das »So, so« ihres Mannes angewöhnt hatte.

»So, so, Thora Sanders!« dachte sie. Es war ihr recht lieb. Man hatte damals so viel davon gesprochen, daß das Sanderssche Ehepaar sich schwer enttäuscht gefühlt habe, als die Wahl nicht auf Meno Sanders, sondern auf ihren Jakob gefallen war. Nun wollte sie Thora recht herzlich begegnen und vor allen Dingen vermeiden, von der vielen Freude zu sprechen, die sie durch die glänzende Wandlung ihres Lebens erfahren habe. Aber inzwischen erzählte sie dem lieben alten Fräulein mit raschen Worten, wie schön die Hochzeitsreise gewesen und wie glückselig sie sich als Hausfrau fühle, was für ein unerhört bedeutender Mann der ihre sei, und wie er sie auf Händen trage.

Fräulein Rothhaus kam, eine lange, magere Dame, die mit Entschlossenheit dem Altjungferntum zustrebte, entzückt war, die Senatorin Bording zu treffen, und gleich ihre Mitgliedschaft und ihre Beiträge für mehrere Vereine erzwang, in denen allen Emmeline Rothhaus als organisatorisches und agitatorisches Element eine unruhige Rolle spielte.

Und endlich erschien auch Thora Sanders.

Wie sie so durch den Garten schritt, langsam, um sich nicht zu erhitzen, weil Erhitzung entstellt, sah sie sehr schön aus. Sie war weiß gekleidet, und ein Federhut in allen Schattierungen von graurot saß schräg und malerisch auf ihrem bleichen Kopf mit dem breitaufgebauschten dunklen Haar.

Nun bemerkte sie Therese. Ihr Auge weitete sich ein wenig – irgend etwas blitzte darin auf – feindseliges Erstaunen – Therese sah es wohl und konnte es nicht deuten.

Man begrüßte sich und Therese sagte: »Wir haben uns lange nicht gesehen. Ich glaube, seit dem Fest im Mai bei Senator Hedenbrink nicht.«

»Kann sein. Wir waren in Schottland,« antwortete die schöne Frau kurz.

Und dann, als man wieder saß und die fünf Damen in enggeschlossener Reihe das runde Tischchen umgaben, nahm Thora Sanders das Wort mit einer Art von Eile – als denke sie darauf, das Gespräch zu beherrschen, nur keine andere zu irgend welchen Berichten kommen zu lassen. Sie sprach nur Oberflächliches. Von ihrer Reise: Land, Leute, Beförderungsgelegenheiten, Klima, Kultur. Lauter Dinge, die auch nicht die allermindesten persönlichen Beziehungen zu einer der hier Anwesenden hatten.

Aber was kann eine Frau nicht alles sagen ohne Worte! Sie braucht keine Beziehungen und Brücken und Übergänge und greifbare Anspielungen.

Sie kann vom Planetensystem sprechen und einer anderen Frau dabei zu verstehen geben: ich halte dich für unbedeutend. Sie vermag zu erzählen, daß der Kaiser von China den Schnupfen habe, und kann zugleich Wendungen treffen, die der anderen verraten: man findet dich allgemein häßlich. Sie ist imstande, von mangelhaften Schiffsanschlüssen und Zugverbindungen zu plaudern und zugleich der andern ins Gesicht zu schleudern: du bist geschmacklos. Sie kann bei ihrem Vortrage in der allerunbefangensten Weise nur mit den eigensten Erlebnissen beschäftigt scheinen und doch Pfeil auf Pfeil gegen eine überraschte und wehrlose Zuhörerin abschnellen. –

Therese war nicht mißtrauisch und empfindlich veranlagt. Sie war vor allen Dingen auch von dem Wunsch beherrscht, Frau Thora Sanders verbindlich, ja herzlich zu begegnen. Aber allmählich mußte ihr doch die deutliche Empfindung kommen, daß die schöne Frau einen versteckten Hochmut, eine scharfe Gehässigkeit und Geringschätzung gegen sie ausdrückte – nein, nicht ausdrückte. Ungreifbar war alles, übertrug sich aus Mienen, Klangfarbe eines Wortes, Vieldeutigkeit eines Satzes – vielleicht spürten die übrigen Anwesenden es nicht. Aber es kam auf Therese zu, wie zuweilen etwas von einem Menschen zum anderen hinüberwirkt – Nichts kann man beweisen und fühlt doch für gewiß: es ist so.

»Wie schade,« dachte Therese sehr ruhig. »Die Sanders haben es also nicht verwunden, und die Frau läßt es mich entgelten.«

Sie beschloß sogleich, ihrem Manne von dieser Frauenkleinheit nichts wiederzuerzählen. Da er doch mit Meno Sanders zusammen kam, nicht nur in vaterstädtischen und Regierungsangelegenheiten, sondern auch bei den Aufsichtsratssitzungen der Baumwollgesellschaft. »Frauen,« dachte sie, »müssen bei Männern, die zusammen zu arbeiten haben, keine Verstimmungen schüren.«

Sie fand auch jetzt die Haltung, die ihrem klaren und sicheren Wesen die gemäße war. Frau Thora Sanders mit ihrer Gereiztheit tat ihr ja leid – sie meinte aber auch: mit solcher Art Gereiztheit vergibt man sich selbst etwas. Sie blieb also ganz gelassen, tat, als ob sie nicht von fern die Möglichkeit annähme, daß man sie kränken wolle. Und das war die beste Waffe. Unverwundbar saß sie da – im Bewußtsein ihres Glücks, das von Äußerlichkeiten nicht abhängig war. –

Am Abend dieses Tages kam Bording mit großer Verspätung zum Abendessen. Therese war darauf vorbereitet. Sie wußte: es fand nach Kontorschluß noch die erste Aufsichtsratssitzung der Gesellschaft für Baumwollkultur und Spinnerei statt. Sie wartete aber nicht auf ihn, sondern aß zur pünktlichen Zeit allein.

»Findest du es vernünftig oder nimmst du es übel?« fragte sie, während sie ihn auf das sorgsamste selbst bediente. »Ich beobachtete, daß Papa es fast wie eine Art Vorwurf empfand, wenn Mama so ostentativ wartete; auch hetzte er sich oft in dem Bewußtsein, daß man hungrig dasaß und nach der Uhr sah, ob er nicht endlich bald käme.«

»Vernünftig,« sagte er einfach und fühlte sich sehr erleichtert, denn er hatte unterwegs, im Auto, etwas beklemmt gedacht: »Die arme Therese – aber Geschäft geht doch eben vor.«

Und nachher erzählte er Therese allerlei. Es war ihm schon Gewohnheit, ja Bedürfnis geworden, sich zu ihr auszusprechen.

»Männer sollten ihren Frauen niemals auf ihre Fragen mit der Antwort kommen: ›das verstehst du doch nicht‹,« sagte er.

Aus Ostafrika waren die ersten Nachrichten eingetroffen, berichtete er. Es war Borgwardt, dem Direktor der Plantagen, geglückt, den großen Arbeiterbedarf genügend zu decken. Zu den Eingeborenen hatte er indische Arbeiter anwerben können, und von einem arabischen Vermittler geführt, wurde noch eine Anzahl tüchtiger Sudanesen vom oberen Nil her auf dem Gelände erwartet. Da die Arbeiterfrage drüben immer als die erste und schwerste Sorge gelte, so habe man schon aus ihrer guten Bewältigung erkannt, daß Borgwardt der rechte Mann sei für die auf ihn gefallene Aufgabe.

Aber Bording hatte auch Sorgen. Abenddepeschen und Telephonnachrichten brachten fatale Gerüchte aus Hamburg: das Haus Steffens und Kahler sollte schwanken. Es war ein Kolonialwarenhaus en gros, eine alte Firma, die aber auch vielerlei Geldgeschäfte nach Art der Handelsbanken gemacht hatte. Jakob Martin Bording selbst stand in regem Verkehr mit ihr; Steffens und Kahler waren auch die Kreditgeber einer Anzahl hiesiger Detailgeschäfte, die ganz gewiß in Verlegenheiten, wo nicht in Gefahr kamen, wenn nun, bei einem Zusammenbruch, die Kredite sistiert und das Debet abgerechnet werden mußte. Er hatte gleich eine vorläufige Besprechung mit Burmeester gehabt, der morgen vormittag mal hinüberfahren wollte, um sich an Ort und Stelle zu informieren.

»War Sanders denn nicht da?« fragte sie, »Der hat doch wohl auch in Verbindung mit Steffens und Kahler gestanden.«

Bording konnte ja nicht mehr unbefangen von dem Manne sprechen und hatte es deshalb umgangen, ihn zu erwähnen. Aber nun mußte er wohl antworten.

»Freilich. Und zeigte sich, an der Besprechung teilnehmend, als der tüchtige und klare Kopf, der er ja in kaufmännischen Dingen ist. Sanders würden einen mäßigen Verlust haben, es ficht sie nicht sehr an, nimmt ihnen aber die Stimmung, irgendwie einzutreten. Schade und komisch, daß der Mann, der sonst so 'n gesunden Verstand hat, vor Hochmut immer geschwollener wird – er war speziell gegen mich von den hochnasigsten Allüren.«

»Ja, das ist amüsant,« sagte Therese. Und dann, aus einer nur zu natürlichen Ideenverbindung heraus, setzte sie hinzu: »Ich traf heute Thora Sanders bei Fräulein Westfehling.«

»Wie war sie?« fragte Bording und erschrak schon zugleich über die Hast seines Tones. Was mußte Therese davon denken!

Aber sie dachte nichts, sondern antwortete nur, getreu ihrem Vorsatz, nicht den Mann mit Frauenkleinlichkeit aufzuhetzen: »Sie sprach sehr angeregt von ihrer Reise nach Schottland.«

Bording verfiel in ein vollkommenes Schweigen, bis seine Frau, an seine Mitteilungen anknüpfend, fragte: »Du sagtest etwas von ›Eintreten‹. Würdest du das tun?«

»Wahrscheinlich.«

»In welcher Art?«

»Indem ich die Verpflichtungen der hiesigen kleinen Firmen gegen Steffens und Kahler übernähme und an deren Stelle als Kreditgeber träte. Steffens und Kahler kann ich und will ich nicht halten, wenn ihr Zusammenbruch sicher ist. Aber der hiesige Platz soll keinen Schaden erleiden.«

»Erklär' mir das alles ganz genau ...«

So saßen sie einander gegenüber am Tisch, den das von orangefarbenen Stoffen umschleierte elektrische Licht beschien. Bording sprach angeregt, wie Männer tun, die sich vor einem intelligenten Zuhörer über ihre eigensten Interessen verbreiten können.

Und plötzlich fühlte Therese: gerade so hatte sie oft und oft ihrem Vater gegenüber gesessen, wenn er ihr juristische Fragen oder gesetzgeberische Maßnahmen erklärte. Gerade so ruhevoll und behaglich war es gewesen ...

Da war die unbegreifliche Wehmut wieder, die ihr das Herz schwer machte – diese Wehmut, die das Glück umschlich und es anzuzweifeln schien ...

Sie wehrte sich dagegen – sie wollte, nein, sie wollte nicht zugeben, daß dies alles wie Nüchternheit sei – gerade neun Wochen war sie seine Frau – und man saß hier – in friedlichster Stimmung – als nähere man sich ungefähr der silbernen Hochzeit ...

»Ich bin undankbar,« dachte sie voll Strenge gegen sich. »Ist denn sein Behagen nicht mein Glück? Hab' ich nicht meine Erinnerungen an die Wundertage? ...«

»Höre du,« sagte sie am anderen Tag bei Tisch, »wenn nun zu deinen laufenden Geschäften noch all diese Besprechungen in Sachen Steffens und Kahler kommen, dann werd' ich wohl in den nächsten Tagen sozusagen nichts von dir haben. Ich presse dir also nachher noch ein paar Minuten für mich ab. Du sollst Augen machen – es gibt eine Überraschung! Und dann zeig' mir auch gleich die Kniffe, wie man die Schränke im Rauchzimmer öffnet; ich will da ausräumen lassen –«

»Gut, ja. Vortrefflich. Also es wird dunkelgrün, sagtest du? Sehr einverstanden. Und überrascht soll ich werden? Mit was?«

Sie lachte ihn einfach aus.

»Was für eine unlogische Frage!«

Er lachte mit. Er tat ihr sogar den Gefallen, eine gewisse Neugier zu heucheln, als sie nach Tisch zusammen treppab gingen. Wenn er sich so auf ihre harmlosen kleinen Unterhaltungen einließ, war es nie aus selbstverständlicher Gutmütigkeit oder gar in der Stimmung, die sonst junge Ehemänner haben, die selber wichtig in ihrem neuen Hausstand mit herumzukramen nicht verschmähen. Nein, wachsam und vorsätzlich zeigte er ein Interesse, das er eigentlich nicht hatte, damit Therese nicht gekränkt werde.

Sie ersuchte ihn in der Diele mit fröhlicher Feierlichkeit, Platz zu nehmen, und schob einen Klubsessel zurecht. Er sah vor sich die Wand, in ihrem unteren Drittel mit Eichentäfelung verkleidet, darüber geweißt. Und auf dem weißen Grunde die alte Spindeluhr, die da immer hing.

Therese griff in die langen Ketten und zog das einzige Gewicht langsam und knarrend in die Höhe. Schwer stieg die uralte, mit punktiertem Messing umkleidete Bleirolle, die das Gewicht bildete, empor. Nun nahm Therese einen langen, bereitstehenden Stock und stieß mit Vorsicht den Pendel an, der unter der buntbemalten Uhrfassade heraushing.

Dann trat sie hinter ihren Mann, legte die Arme über seine Schultern und faltete die Hände unter seinem Kinn. So hatte sie früher oft auch den Kopf ihres Vaters umschlossen und gleichsam an sich genommen.

»Am Tage nach unserer Ankunft hab' ich die Uhr fortgegeben, und es hat dem Uhrmacher riesig viel Spaß gemacht, mit dem alten, verstaubten Werk, das wohl zweihundert Jahr gestanden hat, sich zu versuchen. Ich ängstigte mich jeden Tag, daß du es merken könntest – Aber du hast es natürlich nicht gemerkt ... hör zu ...«

Sie legte, sich tief neigend, ihre Wange oben auf seinen Scheitel.

So lauschten sie beide schweigend.

Hart und laut tickte die alte Uhr, deren Stimme so lange geschlafen hatte. Wie wunderlich ihn das berührte – als kamen die Geister vergangener Geschlechter wieder – diesem Tick – tack hatten seine Vorfahren einst gelauscht, nun wachte es wieder auf zugleich mit seinem Hause ...

»Das war eine wunderschöne Idee von dir,« sprach er leise, als habe die Uhr so sehr das Wort, daß man ihr, wie einer Respektsperson, nicht laut in die Rede fallen dürfe.

Plötzlich schlug die Uhr. Elf volle dunkle Schläge ... Als sie verhallt waren, sagte Therese: »Richtig gehen und schlagen kann sie nicht mehr – aber das find' ich gerade so geheimnisvoll ... Nicht? Ist es nicht wie mit dem Glück? Man wartet, die Zeit wär' da – aber die Stunde schlägt nicht – Und auf einmal, wenn man gar nicht daran denkt, schlägt es voll und hallend.«

Er nahm ihre Hände und küßte sie eine nach der anderen, indem er damit sich zugleich aus ihnen löste.

Dann stand er auf.

»Was du alles denkst und fühlst,« sprach er mit einem schwachen Lächeln.

Sie fühlte es: es hatte ihn tief erfreut, dieser ihr Einfall, die alte Uhr wieder lebendig zu machen. Aber immer, wenn sie etwas getan oder gesagt, das ihn irgendwie wirklich nah berührte, hatte er dies Lächeln, das sie nicht verstand und von dem Burmeesters einmal gesagt hatten, es sei »schüchtern« – was natürlich Unsinn war. »Vielleicht lern' ich mit der Zeit, was das Lächeln sagt,« dachte sie.

»Aber nun die Schränke.«

»Burmeester kann jeden Moment aus Hamburg zurück sein.«

»Du sollst ja auch nicht mit auskramen.«

So gingen sie denn zusammen ins Rauchzimmer. Das lag in einer stillen, kraftlosen Helle, denn es war nachmittag, und da gab die Sonne drüben den roten Mauern der Kirche orangefarbene Lasur, und gegen diese breite und riesengroße Glanzfläche fielen alle anderen Dinge wie in Schwächlichkeit ab.

Bording, der ja ein Liebhaber von alten Eichenschnitzereien war, besah mit seiner Frau den großen Schrank noch genau, ehe er ihr zeigte, wo man drücken und schieben müsse, um ihn zu öffnen. Er machte sie auf die kleinen Laubgirlanden aufmerksam, die zum Teil hohl gearbeitet waren. In den Füllungen sah man biblische Szenen. Eine Zierleiste, die sich senkrecht vor dem Schrankschloß hinabzog, war auf das feinste kanneliert und von stilisierten Rosen in Zwischenräumen verziert. Den Kelch jeder Rose bildete eine kleine Halbkugel.

In seinem satten, warmschimmernden, tiefbraunen Ton war der Schrank eine Schönheit, und sein Besitzer konnte wohl ganz verliebt in ihn sein.

»Paß auf – da – aber sehr stark drücken – so.«

Die Schranktüren sprangen auf und Therese sah so etwas wie einen Zigarrenladen vor sich. Sie hob gleich dieses und jenes Kistchen auf. »Leer, leer. Du meine Güte, alles durcheinander! Wie Männer doch sind! Und der ordentliche alte Schrötter?« Na ja, an den Zigarrenschrank ging er aus unsicheren, überpeinlichen Gefühlen heraus niemals. Er rauchte selbst sehr gern, und sein Herr sollte nie denken, daß ... »Unsinn, Schrötter, das denk' ich nie,« hatte Bording oft gesagt, aber so Leute sind komisch.

Therese sonderte schon die Kistchen voneinander. Ach, und die vielen hübschen Aschbecher, kleine Messingkübelchen mit Silbereinlage. Arabische Arbeit, aus Ägypten mitgebracht.

Burmeester, der auf der Türschwelle von der Diele her eintrat, blieb da erst mal erstaunt stehen.

Bording, Jakob Martin Bording, Senator Jakob Martin Bording kramte hockend wie ein guter Hausvater, oder – wie ein verliebter junger Ehemann mit seiner Frau in Kisten und Kasten herum? Herkules und Omphale?

»Hast du ihn schon so weit?« fragte er vergnügt, während Bording sich rasch und wie ertappt erhob.

»Ach nein,« sagte Therese, »dies ist bloß schöner Schein. Das will ich sonst auch gar nicht haben. Aber seine Zigarren – und sein Rauchzimmer? Nicht?«

»Also hier hast du immer noch ein bißchen Herrentum behaupten können? Ich nicht mal mehr das. Neuerdings hatte Grete sich sogar mit meinem Zigarrenhändler in Verbindung gesetzt, und ich muß eine leichtere Sorte rauchen, die sie mit ihm verabredet hat.«

»Was bringst du aus Hamburg?« fragte Bording.

Burmeester machte ein Gesicht wie jemand, der üble Dinge riecht.

»Die Lage ist ernst?«

»Sie scheint hoffnungslos.«

»Komm in mein Zimmer – Therese, du verzeihst ...«

Sie nickte nur, im Begriff, die Aschbecher zu zählen und nach ihrem Muster zusammenzustellen.

Die Männer schlossen die Tür zwischen den Räumen. Ihre Stimmen aber hörte man doch, denn sie waren beide mit sonoren Organen begabt und sprachen, im Eifer, ungedämpft. Therese kramte, mit dem Vergnügen, das sie nun einmal an solcher Beschäftigung hatte, emsig weiter. Neben ihr auf dem Teppich standen schon neun leere Zigarrenkistchen. Der scharfe Tabakgeruch, der aus dem Schrank kam, strömte durch das Zimmer hin.

Nun war alles geordnet. Man mußte morgen alle Borde gründlich auswischen und den Inhalt des Schrankes, so lange bis der Tapezier das Zimmer umdekoriert hatte, nach irgend einem anderen Raum schaffen lassen. Nervöser Einfall übrigens von Jakob, das noch Wohlerhaltene alles fortnehmen und durch neue Stoffe ersetzen zu lassen.

Ach wie schade, daß Jakob abberufen worden war. Hätte er doch vorher noch rasch den anderen Schrank geöffnet. Sie stand und versuchte auf eigene Faust, die Stelle zu finden. Sie hätte ja Schrötter rufen können, der die Mechanik kannte. Aber es machte gerade Spaß, mit der eigenen Schlauheit weiterzukommen. Ob man wohl auch hier nur sehr kräftig auf diese kleinen Halbkugeln zu drücken brauchte, die stilisierte Kelche waren?

Auf der Platte des niedrigen Schränkchens standen vier Bronzen, die mit ihren Scheiteln fast den Rahmen des Heidebildes berührten. Ratlos sah Therese in die blanken Metallgesichter, als könnten sie ihr Auskunft geben.

Sie legte die Linke fest auf die Platte, bückte sich ein wenig und preßte den Daumen ihrer Rechten auf die Halbkugeln, der Reihe nach. Einmal – zweimal – beim Druck auf die dritte sprang die einflügelige Tür auf.

Ach wie reizvoll – was sah man da! Therese wußte ja von Burmeesters: zuweilen, wenn sie einmal bei Jakob gespeist hatten, war man hier gemütlich gewesen, trank Tee und an sehr strengen Winterabenden auch wohl einen Grog, und die Herren räucherten Grete entsetzlich ein. Noch ehe sie ein einziges Stück besehen hatte, dachte sie gleich: »Das muß hier beisammen bleiben, das gehört nun einmal zu dem Zimmer.«

Fast mit Andacht nahm Therese jedes Ding heraus und stellte es nach genauer Besichtigung wieder hin, wo es gestanden hatte. Aus dem obersten Bord die Teekanne, das durchbrochene Körbchen, Zuckerschale, Sahnenguß, alles von sehr altem Silber; sechs Tellerchen waren da, mit Tulpen und Nelken und einem Meißener Zeichen ganz früher Jahre. Und im unteren Borde die feinen Tassen, vielleicht jede ein Wertstück, und auf jeder ein besonderes Löffelchen. Ganz hinten, fast versteckt, in der Tiefe einer Ecke blinkte etwas Leuchtendes, feurig, wie Wein. Ja, das besprochene Rubinglasschälchen. Wie eine weitentfaltete Blume lag es auf dem zierlichen runden Silbergestell.

Therese holte es zu sich heran. Und sah mit Erstaunen, daß Pralinen darauf gehäuft waren, in einer zierlichen kleinen Pyramide. Sie waren weißlich, wie angetrocknete Schokolade wird, aus der der Zuckergehalt herausschwitzt. Gewiß mal für Grete oder für Georgette und Jakob beschafft und vergessen.

Was lag denn da ...?

Mt vorsichtig spitzen Fingern nahm Therese das dünne Platinkettchen und zog daran. Wie ein bunter, blanker Käfer, der in seinem Schlupfwinkel aufgestöbert wird, kam ein längliches Etwas heraus, hing an der Kette, folgte ihrem Zuge, gelangte an den Rand des Schälchens, glitt darüber fort und hing nun freipendelnd: ein veilchenblauer Stein und an ihm, durch einen kleinen Brillanten mit ihm verbunden, eine Birnenperle vom schimmernden Glanz des weißen Atlas! – –

Therese starrte dies Ding an – es pendelte noch immer fort ...

Von nebenan kam der Klang der kraftvollen Männerstimmen her – angenehm gedämpft – gesellig ...

Die Bewegung, die durch den Körper der Frau wie ein jähes Frösteln ging, setzte sich bis in ihre Fingerspitzen fort und machte sie eiskalt und unsicher.

Sie stand lange so. Ganz benommen – beinahe zu sehr, um überhaupt zu denken ...

Sie tat dann etwas völlig Mechanisches. Sie legte mit großer Behutsamkeit den Amethyst wieder auf das Rubinschälchen. Die Platinkette wurde von den Fingerspitzen losgelassen und sank, wie geschmeidiger, grauer Faden, wieder in sich zusammen.

Dann stellte Therese das blutrote, leuchtende Glas in die tiefe Ecke, aus der sie es hervorgeholt, und drückte den Schrank wieder zu.

Mit hartem Knacks schnappte die Feder ein ...

Darüber erschrak Therese und meinte, der Knall sei so mächtig gewesen, daß er nebenan den Mann entsetzen mußte – daß er durchs Haus hinschwelle – mißtönig, hart, drohend – ein Klang des Unheils ...

So laut krachte diese Tür zu – so laut – Therese war, als wurde dieser Ton immer, immer in ihrem Gedächtnis bleiben ...

Sie ging aus dem Zimmer – kam auf die Diele ... da tickte die alte Uhr – die so unerwartet Glückstunden schlagen konnte und schwieg, wenn man gespannt auf sie horchte ... Durch den großen, prächtigen Raum ging der Pendelschlag – Therese schien es, als käme er hinter ihr drein, wie sie nun treppan stieg ... höhnte hinter ihr her.

Sie ging in ihr Wohnzimmer und setzte sich an das Fenster. Es war jenes, an welchem sie damals so grundlos und so leidenschaftlich an Gretes Schultern geweint ...

»Man muß nachdenken,« sagte sie beinahe laut vor sich hin – verdummt – verwirrt war sie und suchte nun ihre alte Klarheit und Zuversicht wieder.

Das war der Amethystanhänger von Thora Sanders!

Hierüber gab es keinen Zweifel. Therese hatte ihn oft am Halse der schönen Frau gesehen, erinnerte sich der Gespräche über seinen Verlust, der groß gedruckten Anzeigen, des lächerlichen Interesses ihrer Mutter daran – an alles.

Aber wann war das alles gewesen? Wie kam das Ding hierher? Warum hatte man es ihr nicht zurückgesandt?

»Man muß nachdenken,« sagte Therese wieder mit farblosen Lippen vor sich hin.

Ja, ganz genau – Datum für Datum – – Tage gibt es, die für das Herz einer Frau unvergeßlich sind, von deren Stunden sie jeden Inhalt anzugeben vermöchte, von denen sie noch nach Jahren, sollte sie Zeugnis ablegen müssen, auszusagen imstande wäre. Solche Tage waren für Therese alle die gewesen, in denen der von fern geliebte Mann ihrem Leben sich zu nähern anfing. Sie erinnerte sich so genau jenes Morgens, an welchem ihr Vater ihr von der überraschenden Aufforderung Bordings zur Versammlung der Baumwollgesellschaft Mitteilung gemacht. Für Theresens Buchführung in Sachen ihrer Liebe hatte an jenem Morgen und mit jener Aufforderung das Vorspiel seiner Bewerbung begonnen. Und das war für ihr Gedächtnis wie ein Markstein. Sie wußte mit absoluter Sicherheit: an eben jenem Morgen hatte die Mutter aus dem Anzeigenteil der Zeitung den Verlust des Amethystanhängers der Frau Thora Sanders mitgeteilt.

Das Schmuckstück war demnach einen oder längstens zwei Tage vorher verloren gegangen. Wenn Jakob es auf der Straße gefunden hätte, würde er es abgeliefert haben. Wenn einer seiner Dienstboten der Finder war, würde dieser sich die Belohnung im Hause Sanders geholt oder, bei Unkenntnis der Inserate, den Anhänger zur Polizei getragen oder aus Ratlosigkeit bei sich verwahrt haben.

Der Stein konnte also nur hier, in diesem Zimmer, von seiner Besitzerin verloren oder vergessen worden sein, und Jakob ahnte nicht, daß ein solches verräterisches Zeugnis zurückgeblieben war.

Plötzlich fiel Therese ein: auf dem Maifest bei Senator Hedenbrink hatte man von dem Anhänger gesprochen. Irgend eine Dame redete Thora darauf an – sie ward ungeduldig, fast unartig – wandte sich merkwürdig eindringlich an den schräg hinter ihr sitzenden Bording und fragte ihn ... ja, jetzt, in ihrem Gedächtnis merkte Therese: eine versteckte Frage war es gewesen ... Und mit einem Male hörte sie auch wieder, wie gepreßt und nervös seine Stimme dann geworden war ... Für das Vorhandensein des Anhängers hier im Hause, in jenem Zimmer, gab es ja nur eine Erklärung...

»Er hat sie geliebt,« dachte Therese, »vielleicht war es keine rechte Liebe, nur so ein böses Abenteuer, wie Frauen ohne Gewissen und leichtlebige Männer haben –

»Aber er, er, er – – Er ist doch kein leichtlebiger Mann?

Welche Zauberkraft muß ihre Schönheit und ihr Temperament ausgeübt haben ...

»Ob es wohl ein kurzer Rausch gewesen ist? Oder ein langer Roman? ... Hat er vielleicht deswegen so lange gewartet mit einer Heirat?

»Und so unmittelbar kam er von ihr zu mir?

»Seine Liebe zu mir half ihm vielleicht aus dem Unrecht heraus?«

Therese fühlte sich ein wenig schwach. Sie hatte das Empfinden einer leichten Ohnmacht, legte sich zurück, drückte ihren Haarknoten fest gegen die Lehne und schloß die Augen. Ein paar Minuten gab sie sich einem Dämmerzustand hin, der beruhigend und erlösend schien – so, als werde von ihr keine weitere Teilnahme an den Mühseligkeiten des Lebens erwartet.

Der erste deutliche Gedanke, der wiederkam, war: »Ich darf es nicht wissen – ich habe ihn nicht gesehen... Nichts weiß ich – nichts ...«

Sie atmete schwer auf – seufzend, als fehle ihr rechte Luft.

»Die Frau eines anderen,« dachte sie in schmerzlichem Erstaunen, »die seines Feindes – was man so Feind nennt, im geordneten bürgerlichen Leben, wo man sich nicht niederschlagen und einander nicht in romantischen Intrigen vernichten kann – wo man höflich sogar mitsammen am gleichen Tisch sitzt und sich doch heimlich und ohnmächtig haßt ...«

War vielleicht dies der eigentliche Grund gewesen, weshalb die beiden Männer sich voll Abneigung mieden – dies, und nicht, wie man sagte, die geschäftliche Rivalität? ...

Die Frau eines anderen! Das hatte er gekonnt – Er, der so hoch, so lauter, so bedeutend vor ihr auf einem Altar stand –

Und nun mußte sie begreifen: sein Junggesellenleben war von einem gewagten häßlichen Abenteuer ausgefüllt gewesen!

Therese hatte immer gedacht: Er, der mächtige Arbeiter, der Sklave seiner vielen Aufgaben, ist unfrei gewesen, wie Fürsten sind, er kann sich nur mal ganz gelegentlich und ganz flüchtig ein wenig ausgetobt haben – er hatte auch gar kein Talent und keine Veranlagung zum unbedenklichen Genießer ...

Und er! Er! Die Frau eines anderen war heimlich in sein Haus gekommen ... Welche Macht mußte sie über ihn gehabt haben, daß er ihretwegen seine und eines anderen Mannes Ehre vergaß ...

Als Therese das dachte, wallte ihr Blut kochend empor und färbte ihr das Gesicht heiß.

Eine nachträgliche, wahnwitzige Eifersucht fiel über sie her ... Die Vorstellung, daß er damals ein zärtlicher Liebhaber gewesen sei – er, der von sich manchmal sagte, daß er kein Talent dazu habe ... ja, diese Vorstellung machte sie krank ...

Dumpf stieg so etwas wie eine Erkenntnis in ihr empor, daß sie ihrem Mann keine Geliebte sei – nicht seine Leidenschaft erwecke ...

Sie wehrte sich dagegen ...

»Er liebt mich – er liebt mich!« Sie holte ihren Verstand herbei. Der rechnete ihr vor, daß ihr Verlobter, später ihr Gatte, sie von Stund an, wo sie ihm ihr Ja gegeben, auf Händen getragen habe.

Ja. Gewiß. In einem verbotenen Abenteuer wird wohl die Temperatur heiß und beängstigend sein ... In der Ehe herrscht Klarheit und Wärme und ein anderes Klima – denn sie soll bis zum Tode dauern ...

Über Theresens Wangen liefen Tränen.

»Was früher war, weiß ich nicht,« sagte sie sich tapfer, »was jetzt ist – weiß ich aber.«

Und jetzt war Jakob ihr Gatte, gehörte ihr allein – immer ergeben, immer voll Dank für alles, was sie tat, immer bestrebt, ihr jede freie Minute zu schenken, die er fand, immer voll zarter Rücksicht.

Mit dem Genie der Liebe kam sie in vorwärtsstürmenden Gedanken dahin: er war verführt worden, er hatte gelitten, er verdiente Mitleid; das Bewußtsein dieser Schuld war es, das oft den harten Ausdruck in sein Gesicht brachte und ihn sich in Schweigsamkeit verlieren ließ.

Aber dann stockten die Gedanken doch wieder wie Renner vor dem einen Hindernis: »So schnell kam er von ihr zu mir – so unmittelbar?«

Therese wollte nachrechnen, wie lange Zeit zwischen dem Tag, wo hier der Anhänger verloren ging, bis zu jenem verstrichen war, da er kam, um sie zu werben.

Sie verwirrte sich – sie fühlte wieder, in einem fast kindlichen Bedürfnis nach Trost: »Ja, seine Liebe zu mir half ihm aus dem Unrecht heraus ...«

Das war gut zu denken ...

Sie schrak auf. In der Tür zeigte sich eine schwarze Gestalt.

Sie strich sich die Haare aus der Stirn. Mein Gott, welche Nervosität ...

Es war ja nur Sophie.

»Frau Senator Landskron haben eben telefoniert,« meldete die Jungfer, »das alte Fräulein Voß habe einen Schlaganfall bekommen und gnädige Frau möchten sich gütigst sofort hinbemühen, es ginge zu Ende.«

»Schön – schön,« sagte Therese und erschrak über die törichte Antwort; »ja – ja – sofort –«

Sie stand ein wenig schwindelig auf. »Gnädige Frau sehen aber leidend aus,« meinte Sophie.

»Es ist nichts –«

Der Hut war rasch auf die Haare gesteckt; während sie sich die Handschuhe anzerrte, sagte sie: »Wissen Sie zufällig, ob der Herr noch mit Herrn Doktor Burmeester unten in seinem Zimmer ist? Ja? Also passen Sie auf. Sowie der Herr herauskommt, melden Sie ihm, daß ich fortgehen mußte und wohin.«

Die Besprechung der beiden Herren dauerte an drei Viertelstunden und endete in dem Beschluß, daß alle hiesigen Interessenten an dem drohenden Bankrott von Steffens und Kahler noch für heute abend halb acht Uhr zusammenberufen werden sollten. Am stärksten gefährdet war die Firma Gundlach Söhne, die einen sehr großen Kredit von Steffens und Kahler laufend beansprucht hatte und unter allen Umständen zusammenbrechen mußte, wenn diese Verbindlichkeiten nun auf einmal und an einem unerwarteten Termin einzulösen waren. Von seinem Bureau aus wollte Burmeester die Telephonnachricht herumsenden, daß die Herren sich im Konferenzsaal des Kontorhauses der Firma Jakob Martin Bording einfinden möchten.

»Kommst du mit?« fragte Burmeester, indem er nach seinem Panamahut griff.

»Ich möchte erst noch Therese benachrichtigen,« sagte Bording.

»Wer hätte geglaubt, daß aus dem mal so 'n rücksichtsvoller Ehemann werden würde,« dachte Burmeester bei sich, denn Rücksichten waren früher eben nicht sehr die Sache Bordings gewesen.

Der Senator fand sein Rauchzimmer leer; er hatte sich eingebildet gehabt, daß Therese hier in unermüdlicher Geduld auf ihn warten würde. Aber es sah fast aus, als sei sie plötzlich abberufen. Denn dies war nicht ihre Gewohnheit: weit geöffnete Türen an einem Schrank zu lassen und davor auf dem Teppich einen Stapel leere Zigarrenkistchen ... Nun, vielleicht kam sie gleich zurück. Er wollte ihr nur endlich den Gefallen tun und auch den kleinen Schrank öffnen. Ein Druck und die Tür schlug auf ... Silber und Porzellan schimmerte ihm entgegen.

Er dachte sofort: Thora! Aber voll Trotz verscheuchte er diesen Gedanken. Es war vielleicht wie eine Antwort, dieser Erinnerung ins Gesicht geschleudert, daß er sich sagte: »Ich will Therese doch das Rubinglasschälchen schenken.«

Er bückte sich ein wenig und holte es aus dem unteren Borde heraus ... Er erschrak. Da lagen die armen kleinen, weißlich gewordenen Pralinen – vergessen – eingetrocknet –

Welch ein peinlicher, jämmerlicher Anblick –

Und welch ein Glück, daß Therese nicht zugegen war ...

Diese alten Süßigkeiten, von denen ein weichlicher Duft nach Kakao und Vanille immer noch aufstieg, erregten seinen Widerwillen ...

Er trug die Schale in sein Schreibzimmer, um die Bonbons in seinen Papierkorb zu schütten.

Und da sah er das kleine Häuflein der in sich verschlungenen grauen Kette – mit spitzen Fingern, gerade wie vorhin Therese getan, erfaßte er die dünne, feingegliederte Metallschnur und zog daran, bis der lila Stein und die schimmernde Perle über den Rand der blutroten Schale fortglitten ...

Er war wie geschlagen vom Schreck ...

Mit quälender Deutlichkeit erinnerte er sich plötzlich an jenen Morgen, wie er hier auf dem Fußboden herumkroch und suchte – im Gefühl einer elenden, schmachvollen Demütigung.

Hörte denn diese Vergangenheit niemals auf, sich in sein Leben zu drängen! In sein friedvolles, freundliches Leben, darin nun eine kluge, gütige und unendlich verehrungswürdige Frau wie ein Engel des Segens stand ...

Er trat mit dem Fuß auf – hart – zornig – verzerrt von Verachtung war sein Gesicht.

Was nun? Nicht eine Stunde durfte dies Ding da in seinem Hause mehr bleiben. Wenn Therese es sähe – Welch ein gnädiger Zufall, daß sie abberufen worden war ... Sie kannte zweifellos diesen vielbesprochenen Anhänger. – Sie hätte erraten. Und das wäre nicht nur unnötig, es wäre gefährlich gewesen. War dieses kleine Stück auch nur ein Requisit aus einer Vergangenheit: es hätte den Frieden der Gegenwart zerstören müssen ... Es würde in Therese Gedanken erweckt haben – Fragen ...

Ihn selbst brachte es fast aus aller Fassung. Was für Rätsel doch in Liebe und Leben! Unbegreifliche, grausame ...

Diese Frau, von der er sich so vollkommen losgelöst, daß er die Erinnerung an sie wie eine Last trug, diese Frau hatte einen starken sinnlichen Reiz auf ihn ausgeübt – noch an dem Tage, wo er sich von ihr trennte, hätte der beinahe betäubend gewirkt – und dennoch fand er die männliche Festigkeit, die starke Energie, sie aus seinem Leben fortzuweisen ...

Sein Weib aber, sein eigenes, das er hoch über alle Menschen stellte, das er achtete wie sonst nichts auf der Welt, der er jeden Gram und jede Kränkung fernzuhalten wünschte, der er in unendlicher Dankbarkeit ergeben war, sein Weib übte diesen Reiz nicht auf ihn aus – und kein fester Wille, kein starker Wunsch zur Leidenschaft konnte sie aufflammen lassen.

Der Verstand kann machtvoll sein, wenn es Entsagung gilt. Er hat wohl Fäuste zum Erwürgen, aber den Prometheusfunken der Liebesleidenschaft kann er nicht entzünden ...

Eine lächerliche Frage kam nun. Auf welche Weise konnte er das Schmuckstück unauffällig an seine Eigentümerin zurückstellen? Die Schwierigkeit, die sich hier ergab, erbitterte ihn abermals.

Dann dachte er böse: »Sie kann ja so gewandt lügen!« alle Schwierigkeiten wollte er ihr überlassen ... Er packte den Anhänger in scharf zusammengefaltetes Papier, zwei-, dreimal, tat das kleine Paketchen dann in einen festen Briefumschlag, siegelte und schrieb mit seiner eigenen, großzügigen, unverkennbaren Handschrift die Adresse darauf ...

Er dachte: »Jemand, der wie in eine Versenkung aus unserem Leben verschwinden kann, hat nie das Recht gehabt, einen Platz darin zu behaupten.«

Und so war Thora aus seinem Dasein verschwunden.

Nach ihrem Abschied war alles so fürchterlich banal verlaufen – heimlich war das Unrecht gewesen – heimlich blieben die nagenden, zerstörenden, erbitternden Zorngedanken. Katastrophen können befreiend wirken – die gesellschaftliche Ordnung aber liebt Stille, und unter der lärmlosen Glätte kann die Reue zusehen, wie sie sich unterduckt ...

Er ging, den versiegelten Brief in der Tasche, um Therese zu suchen. Er wollte ihr sagen: »Ich habe dir den kleinen Schrank geöffnet.« Ferner: »Verzeih, daß ich heute abend abermals spät heimkomme.«

In der Diele saß Sophie. Ein bißchen kokett in ihrem schwarzen Kleid mit der weißen Wäsche und der Spitzenschleife im Haar. Sie häkelte und wartete auf den Herrn, sich bei seinem Eintritt sofort erhebend.

»Frau Senator sind dringlichst abberufen worden,« meldete sie, »es ist telephoniert worden. Das alte Fräulein Voß hat einen Schlaganfall bekommen.«

»So, so,« sagte Bording zerstreut.

Das traf sich günstig – so, so – deshalb also eiligst alles im Stich gelassen – offene Schranktüren – Zigarrenkisten auf dem Fußboden – in der alten Gehorsamsgewohnheit, zu laufen, wenn die greise Verwandte winkte ... Aber heute hatte dieser blinde Gehorsam eine große Peinlichkeit verhütet – vielleicht mehr als das ...

Er verließ sein Haus. Aber ehe er den Weg nach seinem Geschäft nahm, ging er mit raschen und festen Schritten zur Post hinüber und gab den Brief auf.

Er hatte oben auf den Umschlag geschrieben: Einliegend Probe ohne Wert –

Er wollte keine Einschreibsendung machen, und diese Aufschrift schien einen gleichgültigen Inhalt vorzutäuschen.

Ehe er den Brief in den Briefkasten warf, las er noch einmal mit einem sonderbaren Lächeln die Worte: Probe ohne Wert ...


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