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Der Abend eines Tages

Zwei mächtige Saugapparate, die Hunderte Meter tief an allen Stollenetagen ihre dicken Röhren vorbeiführen, pumpen ununterbrochen das Grundwasser der Grube hoch. Hinter der Schmiede gluckert das trübe Wasser aus braunen, tönernen Röhrenöffnungen in einen Teich, in dem sommertags die Jungens der Bergarbeiter junge Katzen ertränken oder Steine hineinplumpsen lassen. Gebadet wird darin nicht, vielleicht sieht den Kindern das Wasser zu ölig, morastig, gefährlich aus, vielleicht ist es auch nur eine merkwürdige Überlieferung, daß man im »Pumpteich« nicht baden kann. Im Frühjahr, Herbst und Winter aber geht der Teich in die Breite, und Ortsunkundige sinken plötzlich auf den Grubenstraßen tief in den Dreck ein. Der Teich hat auch einen Abfluß, es ist jenes kleine Gewässer, das quer über die Wiesen der Kille fließt. Tagsüber könnte man meinen, der Teich sei ein stehendes Gewässer, heute aber, in einer Nacht, die feucht von Regen ist, kreisen die Wellen silberglänzend dem hölzernen Wehr zu, wo sich der Abfluß befindet. Die Schwärze des Himmels, ohne Sterne und ohne Wind, kann den Silberglanz über dem Wasser nicht ersticken, denn in breiten Streifen fließt das brandige Licht vieler Fackeln über den Pumpteich.

Die Feuerwehr ist noch nicht abgefahren, pro forma, denn zu retten gibt es nichts mehr. Ein dicker, brandiger Rauch zieht den Leuten in die Nase, die stumm im Grubenhof warten, er kommt von den vielen Fackeln, aber die Leute meinen, es sei Rauch aus der Grube.

Sie stehen mit gesenkten Köpfen da, manchmal durchschüttelt sie ein Schluchzen, ein leiser gequälter Laut, der nichts mit Weinen zu tun hat, denn alle Tränen sind versiegt.

Sie warten hier schon seit dem frühen Morgen, als sich in der Stadt blitzschnell die Nachricht verbreitete: Grubenunglück! Man sieht aber merkwürdig wenig Leute aus der Kolonie. Zwischen den kleinbürgerlichen Gestalten, Frauen jener armseligen Eleganz, die häufig im Mittelstand zu finden ist, behäbige Männer mit pensionierten Bäuchen, junge verweinte Mädchen in seidenen Strümpfen, verschwinden die wenigen typischen Proleten, die mit zerfurchten, von Arbeit und Not angefressenen Gesichtern auf ihre zerstörte Arbeitsstätte blicken. Die Kolonie hat nicht viel Opfer zu beklagen, die verunglückten Streikbrecher und technischen Nothelfer wohnten fast alle in der Stadt.

Vorn, neben dem Prellbock, an dem die Nebengleise der Zeche enden, steht Frau Moll. Am Morgen war sie schon einmal hiergewesen, dann mußte sie in die Stadt zur Arbeit: Wäsche waschen. Warum sollte sie auch den ganzen Tag vor der Zeche warten? Es ist aus. Neunundzwanzig mühevolle Jahre haben sie zusammen gelebt. Sie war damals Köchin bei einem Arzt in Duisburg, er kam gerade von der Wanderschaft zurück. Rom und Neapel hatte er kennengelernt, Österreich, die Schweiz. Abends, nach dem Tanz im alten Fischergarten, erzählte er, was er gesehen und erlebt hatte.

An einem solchen Abend, die Kähne zogen rheinwärts, und der Sommer kam herauf, sah sie ihn zum erstenmal, ein stämmiger, witziger Kerl mit schönem weichem, braunem Haar. Sie hatte Lust, ihm die Haare zu zerzausen. Nun, das durfte sie auch, nicht viel später, an einem ähnlichen Abend. Die Linden, unter denen die Jugend tanzte, dufteten träge, er kniff in ihre vollen Arme und führte sie an den Rhein hinunter.

Sie hatten sich versprochen und wollten im Herbst heiraten. Aber der Herbst ging vorüber, er vertröstete sie, bald würde er Arbeit bekommen. Ein bitterer Winter kam. Er suchte tagsüber Arbeit und schlüpfte abends in die Küche zu seiner Braut, dort gab es Wärme, Essen und Trinken. Eines Tages erzählte ihm jemand, daß an der Ruhr neue Gruben in Betrieb gesetzt werden sollten. Er fuhr sofort hinauf und hatte am nächsten Tag Arbeit.

Die Essen begannen damals zu wachsen, das Kohlensyndikat war vor ein paar Jahren erst gegründet worden, und neue Zechentürme drängten sich zwischen die Martinswerke, Stahlformgießereien, Lokomotivenbauanstalten. Arbeiterhäuschen, kleine häßliche Serienquartiere, mußten in der Nähe neuer Gruben angelegt werden, das Land zitterte unter den Stößen dieser jungen Kraft.

Vater Moll wohnte zuerst in Untermiete bei einem Bergarbeiter in einer Mansarde hoch oben unter dem Dach. Marianne Moll, damals noch Marianne Kircheisen, kündigte am nächsten Ersten, quartierte sich in der engen Dachkammer ein, und am Sonntag darauf fand die Hochzeit statt, vierzehn Tage später die Taufe des ersten Kindes, eines Sohnes. Sie nannten ihn August, nach dem Vater. In dieser Mansarde, das Kind in einem Waschkorb, verlebten sie die glücklichste Zeit. Schuften mußten beide vom frühen Morgen bis in die späte Nacht, aber dann hatten sie einige Stunden für sich, und sie konnte sein braunes Haar zerzausen.

Das zweite Kind kam, ein Mädchen: Helene. Was dann folgte, Peter und Paul, war unerwünscht. Die Mansarde reichte nicht mehr, die Familie mietete in der neuen Kolonie ein Haus. Die Pfennige wurden gezählt, gespart an Brot und Kleidern. Sonntags, wenn Schützenfest im Dorf war oder Sommervergnügen, Tanz, Flußfahrt, Besoffenheit, in der alles Leid ertrank, blieben Molls in ihrem Haus.

Und nicht nur Molls! Die Kumpels verschuldeten, wenn sie die Riemen nicht enger zogen. August Moll trank und rauchte nicht, nur die Zahlabende besuchte er regelmäßig. Aber wenn eine Reichstagswahl vor der Tür stand, wurde er lebendig und sauste von Tür zu Tür, um unter den Bergarbeitern für Bebels Partei zu werben. Die Jahre vergingen, die Partei wurde groß und stark, aber Moll fühlte, daß er nicht mehr der alte war. Die Schufterei machte kaputt, die Kumpels ermüdeten, erlahmten frühzeitig.

Eines Sonntags gingen die beiden wieder einmal nach Duisburg hinüber, wo sie sich kennengelernt hatten, da sahen sie die ersten Züge über den Rhein rollen mit grauen Soldaten, mit Gewehren und Kanonen. Zwei Jahre später wurde August, der älteste, vermißt. Bei Berry au Bac. Er kam nie wieder.

Jahr schließt sich an Jahr, die Hoffnung stirbt langsam. Neue Ereignisse in der Kolonie bringen Leid und Tränen, das Herz macht nicht mehr recht mit. Nun ist es aus, nach neunundzwanzig Jahren. Die Kinder sind fortgegangen, auf eigenen Wegen. Sie wird sich die paar Jahre schon noch durchbeißen können, und Mieke bleibt ihr immer noch.

Dreckige, schweißige Rettungsmannschaften mit Sturzhelmen und Gasmasken verlassen die Einfahrtshalle. Uninteressiert, die Hände über dem dicken aufgequollenen Bauch gefaltet, der Mutter Kauschen das Aussehen einer Schwangeren gibt, blickt sie über den Zechenvorplatz.

Gestern abend saßen sie noch zusammen beim Abendbrot und wußten nicht, daß es das letztemal sein würde. August hatte sich gegen seine Gewohnheit in Wut geredet, die Kumpels aus der Kolonie, die in die Grube zurückgegangen waren, vertrugen sich nicht mit den Streikbrechern aus der Stadt, die sich untereinander nach Rang und Stand absonderten. Ein merkwürdiges Gemisch hatte die Zechenverwaltung zusammengeholt: stellenlose Angestellte, Werkstudenten, sogar einige abgebaute Beamte und dann Arbeitslose, eine ganz bestimmte demoralisierte Schicht, typisch lumpenproletarische Elemente, von denen täglich weniger zur Zeche kamen, weil sie merkten, daß sie hier schuften mußten und nicht zu Pinkertonzwecken verwendet wurden, wie man ihnen wahrscheinlich versprochen hatte.

»Morgen höre ich wieder auf!« hatte August gesagt, ehe er zur Tür hinausging. Ja, nun hatte er aufgehört.

Hambruch kommt aus dem Verwaltungsgebäude, im weißen Licht der elektrischen Lampe, die über der Tür baumelt, ist der kleine Kerl deutlich zu erkennen. Mieke ruft ihn. Er schiebt sich durch die Menschenmauer. Seine kurze Pfeife geht zwischen den harten gelben Zähnen langsam in Stücke, er zieht, er beißt. Deswegen bemerkt er auch nicht, daß er schon seit Stunden kalt raucht. Seit Stunden, denn die örtliche Gewerkschaftsleitung hatte durchgesetzt, daß die Zechenverwaltung sofort eine bindende Erklärung über die Neueinstellung der Streikenden abgeben mußte. Die Kumpels sollen zu den Wiederherstellungsarbeiten verwendet werden im gleichen Arbeitsverhältnis wie früher. Nun streitet man sich noch, ob die Inbetriebsetzung der Grube rentabel sei.

Die Betriebsratsmitglieder wissen genau, daß sie diese günstige Position nur heute noch haben, heute, wo die furchtbare Katastrophe noch so nahe steht und jeder die Schuldigen kennt. Deshalb verlangen sie sofortige Regelung. Herr von Heyd, kühl und reserviert hinter dem grünen Tisch, fordert vergeblich Vertagung.

Ein alter, tuberkulöser Kumpel, ein zäher, ausgemergelter Kerl, dessen unwahrscheinlich große Hände auf der Tischplatte ruhen, erhebt sich. »Wir haben Verstärkung der Verschalung verlangt, und Sie vertrösteten uns, Sie zögerten die Kontrolle hinaus, Sie ließen Wochen vergehen, obwohl Sie gewarnt waren. Folge: die Toten da unten. Schreiben Sie die auf Ihr Konto!«

Ein kleiner untersetzter Herr springt auf, einer der geschäftsführenden Direktoren, und schlägt mit der Faust auf den Tisch. »Ich verbitte mir diese Beschuldigungen, Herr Nosters.« Er dreht sich zu dem Zentrumsabgeordneten herum, der diese Verhandlung leitet. »Es befremdet mich außerordentlich, daß Sie diese unerhörten Anwürfe nicht zurückweisen.« Die Uhrkette auf dem verfetteten Bauch tänzelt graziös auf und ab. »Ich glaube nicht, da die ..., daß der ...« Er verschluckt sich und wird immer erregter, eine brenzlige Stimmung zieht durch das Zimmer.

Arbeitnehmer und Arbeitgeber sind paritätisch vertreten, außerdem hat die Stadtverwaltung eine Kommission geschickt, denn die Stadtverordnetenversammlung war schon am Vormittag durch einen Dringlichkeitsantrag gezwungen worden, Stellung zu nehmen. Die Zechenverwaltung versuchte von Anfang an, den katholischen Gewerkschaftssekretär und damit auch das einzige christliche Betriebsratsmitglied, den Zentrumsarbeiter Hahnepot, herumzukriegen. Mit diesen zwei Stimmen können die Direktoren Stimmengleichheit und Vertagung erzwingen. Eigentlich brauchen sie sich überhaupt nicht mit diesen Leuten an einen Tisch zu setzen und zu verhandeln, rechtlich sind sie nicht dazu verpflichtet. Aber da gibt es so eine kleine mißliche Angelegenheit, die es ratsam erscheinen läßt, das eine Übel über sich ergehen zu lassen, um einem größeren aus dem Weg zu gehen. Neben der Zeche Prinz Heinrich liegt nämlich wichtiges Grubenland, das der Stadt gehört. Diese ist bereit, die Konzessionen an das Syndikat zu vergeben, und die Verhandlungen stehen schon vor dem Abschluß. Diese könnten sich aber unter dem Druck der rebellierenden Arbeitermassen eventuell zerschlagen, vor allem nach diesem Unglück, wenn man nicht hier einen Schritt zurückgegangen wäre und die Untersuchungskommission anerkannt hätte.

Hambruch kennt die Position beider Parteien genau und manövriert so, daß möglichst viel für die Kumpels und vor allem für das Prestige der Partei dabei gewonnen wird, denn die Kumpels erwarten nun nach dem Unglück, daß man sie wieder einstellt.

Hambruch ist der einzige, der seine Pfeife zwischen den Zähnen hat, die anderen wahren die Würde der Versammlung, die aber spürbar aus anderen Gründen in die Brüche geht. Stickige Luft, niemand wagt ein Fenster zu öffnen, denn draußen stehen die Trauernden.

Herr von Heyd benimmt sich immer reservierter und läßt seine Leute sprechen. Hambruch sieht zu ihm hinüber. Aha, denkt er, alter Fuchs, du meinst, wenn die Stimmung noch ein bißchen dicker wird, kann man die Verhandlung gleich aufheben? Dir werden wir einen Strich durch die Rechnung machen, und er steht auf und meldet sich zur Geschäftsordnung. Herr von Heyd widerspricht.

»Herr Nosters, ich glaube, bis jetzt sind die parlamentarischen Fronten noch gewahrt worden. Darf ich sprechen oder nicht?«

Er bekommt das Wort, und es macht ihm Spaß, wie ruhig und fast teilnahmslos er die Worte aneinanderfügen kann. Die Temperatur sinkt merklich.

»Meine Herren, man sollte annehmen, daß an dem Tag dieses entsetzlichen Unglücks alle bemüht sind, zu einem befriedigenden Abschluß zu kommen. Wir brauchen jetzt noch nicht die Fragen nach den Ursachen aufwerfen, wir wollen nur das Selbstverständliche schriftlich festlegen: die Wiedereinstellung aller streikenden Arbeiter. Dazu brauchen wir nicht viel Lärm und nur wenig Worte, darüber sind wir uns hoffentlich alle einig.«

Der Zentrumsarbeiter Hahnepot, ein alter ehrlicher Kerl, nickt zustimmend.

Herr von Heyd steht auf und beugt sich zu seinen Freunden herunter, flüstert ihnen etwas in die Ohren. Aber obwohl Hambruch längst nicht mehr zur Geschäftsordnung spricht, wagt ihn niemand zu unterbrechen.

»Ich glaube deshalb, daß wir diese unfruchtbare Diskussion erst nach der formalen Bestätigung dieser selbstverständlichen Sache fortsetzen.« Hambruch bleibt stehen und macht Nosters mit einer Handbewegung darauf aufmerksam, daß er fertig sei.

Herr von Heyd klopft mit einem Bleistift auf den Tisch und legt los, ohne das Wort erhalten zu haben.

»Meine Herren, Sie wissen ganz genau, daß wir durchaus nicht verpflichtet sind, uns heute schon festzulegen. Wir sind redlich bemüht, die Lage klarzustellen und zu helfen, wo es nötig ist, aber wenn wir in diesem Ton behandelt werden, sind wir genötigt, die Verhandlungen abzubrechen ...«

Jetzt muß Hambruch alles auf eine Karte setzen, er lächelt, schlendert, die Hände in den Hosentaschen, um den Tisch. Es ist plötzlich ruhig geworden, sie spüren alle, daß jetzt der Endkampf kommt. Ich kann dem Kerl auch in die Pomadenfresse hauen, denkt Hambruch, aber es handelt sich hier nicht um mein Privatvergnügen.

»Sie wollen gehen? Sehr gut, meine Herren. Sie wollen die Verhandlung abbrechen? Einverstanden. Während Sie sich anziehen, werde ich die Fenster ein bißchen öffnen, dann können wir Ihre Opfer da draußen informieren, wie die Herren hier drinnen spielen. Ich garantiere Ihnen allerdings nicht, daß Sie unter diesen Umständen heil nach Hause kommen. Falls Sie aber vor Ihrer Abfahrt telephonisch eine Hundertschaft herbeirufen, wird wohl Terrain F., nicht wahr, Herr Nosters, unter diesen Umständen unter städtische Regie kommen.«

Herr von Heyd beugt sich vor, seine dunklen Augen blitzen. Die Direktoren und Syndici, die sich bei den Worten ihres verwaltungstechnischen Chefs erhoben haben, stehen nun unentschlossen herum, die Mäntel auf den Armen. Der kleine Dicke, der vor einigen Minuten erst so große Töne geschwungen hat, steckt hilflos in seinem Überzieher, mit dem er nicht fertig werden kann, und niemand hilft ihm.

Der katholische Gewerkschaftssekretär fühlt, daß von ihm nun eine Entscheidung verlangt wird. Sein käsiges Gesicht hebt sich zu den Direktoren, und mit einer entschuldigenden Geste über die Versammlung hin verkündet er: »Ich glaube nicht, daß wir zu einem Ergebnis kommen, und empfehle Vertagung.«

Herr von Heyd wird wieder lebendig. »Herr Nosters, lassen Sie bitte abstimmen.«

Die Arbeitervertreter wissen genau, warum es Herr von Heyd plötzlich so eilig hat. Wenn die beiden Christen auf seiner Seite sind, ist die Schlacht für die Zechenverwaltung gewonnen! Hambruch hat diesen Verlauf erwartet, nun muß das Spiel zu Ende gehen.

Entweder verliert die Betriebsleitung, oder seine Rechnung stimmt nicht.

Als letzte Reserve bleiben die Leute im Grubenhof.

Aber seine Rechnung stimmt.

Hahnepot, der Zentrumsarbeiter, vor dem plötzlich ein Zettel liegt: »Denke daran, warum das Unglück passierte!«, stimmt entschlossen, zur größten Verwunderung des Gewerkschaftssekretärs, gegen Vertagung.

Herr von Heyd setzt sich wieder, die Direktoren ziehen ihre Mäntel wieder aus. Der alte Fuchs weiß genau, jetzt muß er einige Schritte zurückgehen, um nicht noch tiefer hineinzurutschen. Die Wiedereinstellung wird schriftlich festgelegt, nun dreht sich die weitere Diskussion um die Rentabilität.

Hambruch geht hinaus auf den Hof, jetzt wird eine stundenlange Diskussion beginnen, die Betriebsingenieure bringen Zahlen und Statistiken, die Stadtverordneten schlucken alles, und im übrigen wird der anwesende Essener Parteisekretär dafür sorgen, daß kein großes Unheil entsteht. Die Hauptsache ist, daß er mit einem greifbaren Ergebnis vor die Proleten hintreten kann. Draußen hört er Miekes helle Stimme. Er begrüßt Frau Moll.

»Tscha, Paul kommt bald zurück, der wird für euch sorgen.« Furchtbar dumm klingt das, außerdem hat er in den letzten Tagen nichts von seinem Genossen gehört, aber wie soll er sonst die Frau trösten. Trösten? Vielleicht tröstet der Wind, der ruckweise in die Nacht vorstößt, mehr als alle Worte oder dieses kleine Arbeiterkind, diese Mieke, die er jetzt hochhebt und die an seinem Halse den tränenreichen Tag vergißt.

Kumpels verteilen unter den Angehörigen der Erschlagenen und Begrabenen Flugblätter, die erst heute nachmittag bei Mutter Kauschen abgezogen worden sind.

Viele gehen jetzt fort, über den Hof, durch das eiserne Tor, vor dem die Sipoautos rattern. Sie müssen nach Hause, an die Arbeit, zu den Kindern, zu den Überlebenden. Sie werden wieder schlafen und essen und schuften. Dieser Tag ist verloren, morgen muß alles nachgeholt werden. Ihre Freunde, ihre Väter, Brüder, Gatten liegen tief unten, und die Rettungstrupps werden in dieser Nacht nicht mehr bis zu dem Unglücksplatz vorstoßen können. Außerdem wird die Luft kälter, nutzlos steht man da, frierend, den schalen Geruch im Gesicht, an den Händen Ruß und Tränen. Hambruch sieht sich die Leute an, die heimwärts stapfen. Die Sipobeamten schlagen die Kragen ihrer Mäntel hoch und betrachten mit etwas betroffenen und unsicheren Blicken die Menschen auf dem Grubenhof. Sie wagen nicht, gegen die Flugblattverteiler vorzugehen.

Hambruch weiß nicht recht, wo er jetzt hingehen soll. Er ist todmüde. Er kann sich ruhig eine Stunde drücken, solange kommen die auch ohne ihn aus. Er denkt wieder an Paul, das heißt, eigentlich denkt er an jemand anderes, an Helene nämlich. Aber Paul Moll ist nun der Verbindungsmann geworden zwischen ihm und der Verschollenen, die in seiner Erinnerung noch das trotzige kleine Mädchen ist, die Genossin.

Er hatte sie damals in jener wilden, unruhigen und doch so hoffnungsvollen Zeit, im Jahre neunzehnhundertzwanzig, wenn sie täglich zusammenkamen bei Molls, in Versammlungen, im Kino oder draußen hinter den Halden, wo die roten Hundertschaften exerzierten, mit seinen kräftigen Armen gepackt, hochgehoben, umarmt, geküßt, und sie machte lachend mit. Er wußte, daß er eigentlich bei der zwanzig Jahre Jüngeren nie den Liebhaber spielen könnte, er wußte, daß sie in ihm einen treuen Kameraden sah und nicht mehr; darauf deutete auch ihre Anrede hin. »Onkel« nannte sie ihn. Aber er konnte warten, vielleicht brauchte sie ihn einmal.

Verdammt, er wird immer wütend auf sich, wenn diese Gedanken wiederkommen. Er malt sich immer aus, wie das wäre. Möbel kann er selber bauen, das Haus in der Kolonie ist zwar futsch, aber nun, wenn die Streikenden wieder eingestellt werden, wird er wohl auch eine neue Wohnung kriegen. Sie würden Mieke zu sich nehmen und glücklich werden. Das hatte er einmal in einem amerikanischen Film gesehen, da bekam schließlich auch der ältere Mann (und er denkt dabei: sechsundvierzig, ist das eigentlich alt?) das junge Mädchen. Wenn seine rührseligen, kleinbürgerlichen Gefühle ihn wieder mal übermannen, beginnt er zu fluchen. So hat er aber die Jahre gewartet und nie die Hoffnung verloren. Auch damals nicht, als Mieke geboren wurde. Wenn Helene jetzt hier die Straße heraufkommen würde neben Paul! Er geht die Grubenstraße hinunter zu Mutter Kauschen. Jemand läuft ihm in die Arme, aber weder Paul noch Helene, sondern Fiete Dossen.

»Mensch! Ich such dich schon die ganze Zeit. Die Polizei hat Genossin Kauschen verhaftet und räumt oben die Bude aus.«

Beide rennen den Weg hinunter, ruckweise, im Laufen erzählt Fiete, was passiert ist. Sechsgroschenjungs müssen den Flugblattverteilern nachspioniert haben. Als diese Genossen sich neues Material holen wollten, folgte ihnen die Polizei, besetzte die Wohnung, stellte die Namen aller anwesenden Genossen fest, verhaftete als Wohnungsinhaberin Mutter Kauschen und beschlagnahmte alle noch vorhandenen Flugblätter.

Im Treppenflur brennen auf jeder Etage kleine Petroleumlampen, das Haus hat noch keine Gasbeleuchtung. Die Vorsaaltür steht offen, in der Küche sitzen einige Arbeiter. Der Kater streicht an ihren Beinen vorüber. Die Polizei ist schon wieder fort.

»Ihr hättet auch vorsichtiger sein können, das könnt ihr euch doch denken, daß die aufpassen!«

»Ach Quatsch! Wir haben bei ganz anderen Dingen ohne Schmiere gearbeitet, das kam überraschend, und niemand war darauf vorbereitet. Hinterher könnt ihr immer die große Schnauze haben!«

Hambruch und Dossen kommen herein, auf dem Boden liegen noch einige Flugzettel. Der große Abziehapparat steht offen da.

Hambruch sieht sich um. »Da sitzt ihr nun, macht euch gegenseitig madig und wißt nicht, was ihr sollt. Flugblätter brauchen jetzt keine mehr raus, denn die Leute gehen alle nach Hause, aber die Betriebszeitung muß heute noch fertig werden, neu geschrieben, neu hektographiert.«

»Und wenn die Polente wiederkommt?« muckt einer auf.

»Scheißkerl! Wir werden natürlich nicht wieder hier oben anfangen! Los, packt den Apparat ein! Aber wo schaffen wir ihn hin?«

Schließlich einigt man sich, ihn zu Edwin Fischer zu schaffen, den Zellenleiter im Walzwerk.

Hambruch bleibt in der Wohnung, die anderen schleichen vorsichtig die Treppe hinunter, vorn und hinten durch Aufpasser gedeckt. Alle sind bepackt. Zwei tragen den Apparat, ein anderer Tusche und Schreibutensilien, Fiete Dossen die Schreibmaschine, noch andere Durchschlagpapier und so weiter. Und während der leitende Polizeioffizier seinem Chef Meldung erstattet über die glückliche Aushebung dieses gefährlichen Nestes, häufen sich in der Wohnung Edwin Fischers neue Berge beschriebenen Papiers.

Die Tür steht noch offen. Paul kommt herein. Sein erster Weg vom Bahnhof führte ihn hierher.

»Dich habe ich nicht gerade erwartet«, meint Hambruch ehrlich erstaunt.

Er packt Paul im Nacken. »Nimm nur den Kopf hoch, ist nischt dran zu ändern. Wie war's denn in Berlin?«

»Schon gut, Heinrich! Um mich brauchst du keine Sorge haben, ich versacke nicht! Jetzt muß ich aber erst einmal Peter raushelfen!«

»Was? Den Schuft?«

»Was wollt ihr denn: Er hat doch gar nichts Schlimmes gemacht.«

»Bist du verrückt? Was soll denn das heißen? Mach bloß keine Dummheiten.«

Paul antwortet darauf nicht, leider, er hätte etwas Interessantes zu hören bekommen.

»Ist er noch im Stadtgefängnis?«

»Ja, ich habe gehört, er soll morgen abtransportiert werden.«

Paul duckt sich, sein Gesicht zieht sich zusammen. »Wo ist Beate?«

»Sie wird bald herkommen. Ich dachte, die Polente hätte sie geschnappt. Hier oben haben die Burschen nämlich alles auf den Kopf gestellt. Verstehste?«

»So, so. Also Beate ist zu euch gekommen. Na, das ist ja gut. Ich gehe jetzt nach Hause, wenn jemand nach mir fragen sollte, dann weißt du, wo ich bin, nich!«

Ehe Hambruch noch etwas sagen kann, ist er schon zur Tür hinaus und springt die Treppe hinunter, so schnell, daß er beinahe hingekugelt wäre.

Auf der Straße wird sein Schritt langsam, das Herz pocht zu sehr, er überlegt. Die Sache darf er natürlich nicht so duslig anfangen wie die Abrechnung in Berlin. Solange Peter noch in dem kleinen wackligen Verlies an der langen Mauer sitzt, in einer jämmerlichen Bude, die beim nächsten Sturm einkracht, kann ihm geholfen werden. Aber wenn er erst einmal abtransportiert worden ist, und vielleicht passiert das schon morgen, dann ist er nicht mehr zu retten. Also muß ich noch heute etwas unternehmen, denkt er weiter.

Auf einmal fällt ihm wieder ein, warum denn Peter eigentlich sitzt. Warum ist er wohl bei Angermunds erwischt worden? Er nimmt sich vor, sobald als möglich Beate zu fragen. Was er damals in der Minute auf dem Bahnhof aufgenommen hat, beeindruckt von Halms Nachricht und den Erzählungen des Kleinbürgers, das hat er schon längst ausgestrichen, das hält er für undiskutabel. So was tut Peter nicht, spricht er laut vor sich hin.

Peters Komplizen werden natürlich besser Bescheid wissen. Vielleicht haben sie schon herumgeschnüffelt, ob irgend etwas zu machen ist. Wenn der Kerl nur nicht immer so geheim getan hätte! Aber so ... Ja, Peter hat einige Male Briefe bekommen, die legte er immer sorgfältig in seine Kiste, vielleicht finde ich da eine Adresse oder auch nur einen bekannten Namen.

Zu Hause ist noch alles dunkel. Mutter und Mieke sind noch nicht zurückgekommen. Schneidende Kälte zieht durch alle Zimmer, er trampelt mit den Füßen und hält sich ein Streichholz unter die tropfende Nase. Nirgendwo findet er Essen, auf dem Tisch steht nichts, im Schrank Leere, auf dem Ofen blanke Töpfe, der Spind ist verschlossen. In der Tischlade liegt eine alte zähe Semmel. Stumpf beginnt er zu kauen, nur um etwas im Munde zu haben.

Peters Kiste ist natürlich verschlossen und nirgends ein Schlüssel zu finden. Mit einer Zange löst er leicht den Haken, in dem das Schloß hängt. Die Kiste ist offen. Dreckige Kragen liegen obendrauf, einige Bücher, billiges Zeug, Groschenhefte, Kriminalschwarten, Werkzeug, da der Brief von einem Mädel. Er blättert mehrere durch. Nichts! Wieder Wäsche. Auf dem Boden liegen einige Zeitungsausschnitte. Diebstähle, Einbrüche, rot angestrichen. Wie dumm! So etwas Hirnverbranntes hätte ich ihm nicht zugetraut!

Ah, da klemmt noch eine Brieftasche: Ausweise, ein Paß, die Stempelkarte, ein Brief, endlich einer mit einem Absender. Da, noch einer, scheint aber nicht zu verwenden zu sein, denn der Poststempel ist von Berlin. Er faltet den Brief auseinander. Wie? Das ist ...

Jetzt schwirren wieder sanft die Geräusche der Nacht in das stille Zimmer. Ein Zug holpert hustend über den Bahndamm, roter Lichtschein zuckt über das Fenster. Ein Schritt klappt ab und zu auf der Straße auf, hart, einsam, verschwindet wieder. Der Wind reißt an den Dachsparren herum. Pfiffe, langgezogene, ängstliche. »... die zweite Hälfte der Belohnung erhalten Sie nach der eidlichen Aussage vor Gericht. Ich versichere Ihnen noch einmal, daß Ihre Teilnahme unter die Amnestie fällt. Mit dem Ausdruck vorzüglichster Hochachtung Ihr ergebener Bruno Salzmann.«

Ein Kohlenauto rattert durch die Kolonie, die dünnen Wände und die Nippesfiguren auf den Kommoden wackeln. Die Stille hinterher kommt doppelt beängstigend. Paul legt alle Sachen wieder sorgfältig in die Kiste, auch die Brieftasche mit dem Brief, dann die Liebesbriefe, die Zeitungsausschnitte, Wäsche, Werkzeuge, Nic-Carter-Geschichten und obendrauf die dreckigen Kragen.

Er holt sich Seife aus dem Schrank, dreht die Leitung weit auf und wäscht sich lange und gründlich die Hände. Erst als draußen jemand an der Klingel zerrt, fortwährend, wie ein Verrückter, dreht er die Leitung zu.

Arthur Halm steht draußen.

»Menschenskind, bist du schon wieder da? Mutter Moll ist wohl noch nicht nach Hause gekommen?«

»Nee.«

»Auch gut; komm, wir gehen in die Stube.«

Sie setzen sich auf die beiden einzigen Stühle dieses Zimmers. Halm beginnt zu sprechen. »Tscha, ich soll euch was mitteilen. Peter ist tot.«

»Hm.«

Halm rückt auf die äußerste Kante seines Stuhles und spielt mit seiner Mütze. Ich muß mir mal eine neue kaufen, denkt er, sogar ein Flügel am geflügelten Rad, sein Berufswahrzeichen, fehlt. Abgebrochen und verloren. »Muß jetzt gehen. Gebauer muß abgelöst werden. Es ist sowieso alles durcheinandergekommen.«

An der Tür dreht er sich noch einmal um. »Ich hab den ›Seewolf‹ ausgelesen. Ich bringe ihn dir morgen herein.«

Paul steht auf, er schwankt ein bißchen und weist mit der Hand zu seinem Genossen. »Ach, hör mal, wie war das eigentlich mit Peter?«

»Er muß sich doch geschämt haben, er hat seinen Hosenträger dazu genommen. Der Doktor sagte, wie sie ihn gefunden hätten, wäre es schon zu spät gewesen.«

»So, so. Danke schön, s' ist gut.«

Die Tür klappt zu.


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