Retif de la Bretonne
Zeitgenössinnen
Retif de la Bretonne

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Liebe mit Gewalt

Wie oft hat sich seit Kassandra das Geschick dieser Tochter Priams nicht wiederholt? Man nehme einem Wesen seine Selbstachtung, und es wird allmählich bis zum letzten Grad von Niedrigkeit und Gemeinheit herabsinken. Schon Homer sagt: Wenn Jupiter einen Mann zum Sklaven machen will, dann beraubt er ihn der Hälfte seiner Tugend. Dann ist er erniedrigt, hat keine Widerstandskraft mehr, die menschlichen Züge bleiben, aber die Seele, der Stolz, Liebe zum Ruhm, die Achtung des eignen Ichs sind entschwunden: er ist auf die Stufe des Tieres herabgesunken.

Ein Mann in niedriger Stellung hatte eine Tochter von vierzehn Jahren und außergewöhnlicher Schönheit. Eine schlanke Taille, lebhafte Züge, schöne Augen, eine tadellose Hautfarbe, ein edles Gesicht, eine wohlklingende Stimme waren die Vorzüge der jungen Sagesse – das war ihr Name.

Man muß zugeben, daß ihre etwas kecken Züge – was man in Paris so gern sieht – den Gedanken erweckten, sie wäre leicht zugänglich. Richtig ist jedenfalls, daß ein Verführer solchen Charakteren gegenüber sich nicht geniert und mit den gefährlichsten Vorschlagen nicht haushält, denn die angeborene Unbeständigkeit und der geringe Wert, den jene auf ihre Haltung legen, scheint dazu förmlich herauszufordern.

Es war ein Herzog, der sein Auge auf Sagesse geworfen hatte, ein Widerstand erschien ihm fast unmöglich. Aber leichtsinnige Charaktere, wenn sie noch nicht der Verführung unterlegen sind, sind wenig empfindlich für Fragen des materiellen Interesses, und aus diesem Grunde war es nicht so leicht, Sagesse zu überrumpeln. Der Herzog unternahm mehrere Angriffe, die erfolglos waren. Obwohl natürlich in ihrer Eitelkeit geschmeichelt, merkte die Kecke kaum die Absicht des Herzogs heraus, da sie sich darüber weiter keiner Überlegung hingab. Sie war zu oberflächlich, und alles glitt an ihrem Charakter ab, der sich rasch über alles hinwegsetzte. Der Herzog wurde ungeduldig, nicht da vorwärtszukommen, wo er auf schnellen Erfolg gerechnet hatte, und er beschloß, der Sache ein Ende zu machen, indem er, wie Alexander, den Knoten durchschnitt, anstatt ihn zu lösen. Er ließ Sagesse entführen und brachte sie in ein wahrhaftes Feenschloß, in eine Villa in der Nähe von Paris, deren Zimmer mit Spiegeln ausgestattet waren, die die wollüstigsten Malereien wiederspiegelten. Als Zofen hatte er junge Mädchen engagiert, die den Befehl hatten, Sagesse wie einer Herrscherin aufzuwarten, kurz, er hatte als Modell eine der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht genommen und wollte damit zeigen, daß diese auch zu etwas anderem dienen könnten, als nur zum Vorwurf italienischer Stücke.

Sagesse war von ihrer Entführung wie betäubt. Man hatte sie eines Sonntags morgens ergriffen, als sie den Boulevard überschritt, um von der Rue de Richelieu nach der Rue Poissonnière zu gehen. Zwei kräftige Männer hatten sie wie eine Feder in die Höhe gehoben und sie in einen Wagen zu einem Dritten gesetzt, der ihr ein Tuch über den Kopf warf. Sie wehrte sich wie ein kleiner Teufel, aber vergebens, und wurde erst davon befreit, als sie an dem Bestimmungsort angelangt waren. Sie verlangte, daß man sie gehen lasse, aber Sklavinnen warfen sich ihr zu Füßen und baten sie, zu bleiben. Die Kleine lachte über ihre unterwürfigen Gebärden und darüber, sich Herrin nennen zu hören. Die ihr erwiesene Ehrerbietung machte Eindruck auf sie, aber sie begriff nicht, was das alles zu bedeuten habe. So trat sie denn ein und ließ sich in einem reizenden Boudoir auf einem prächtigen Sessel nieder. Zum ersten Male in ihrem Leben überlegte sie und fragte sich schließlich, ob sie nicht am Ende eine Prinzessin wäre? Nachdem sie einige Zeit darüber nachgedacht hatte, ohne klüger geworden zu sein, sprang sie plötzlich wie aus der Pistole geschossen auf und schrie:

»Ich bin keine Herrin, ich bin Madelon Sagesse oder Sagesse Madeleine, wie man will, die Tochter Bartholomäus Turnalos, des Sattlermeisters.«

»Das ist nur Ihr vermeintlicher Vater, gnädigste Herrin.«

»Vermeintlich, ihr seid selber vermeintlich, mein Vater war nie vermeintlich! ... Vetteln seid ihr, die so tun, als ob sie mir Achtung erwiesen und dabei schlechtes von meinem Vater sagen!«

»Wir wollen nur sagen, er sei Ihr Nährvater gewesen, Madame.«

»Mein rechter Vater ist er, daß ihr es wißt!«

»Sie hielten ihn bis jetzt dafür. Aber der hohe Herr, dem dieser Palast gehört, weiß mehr darüber, als irgendjemand. Er hat Sie einem Hause entzogen, das Ihrer nicht würdig ist, um Ihnen den Rang und die Reichtümer zu verleihen, die Ihnen gebühren. Diesen Abend wird er Sie heiraten.«

»Diesen Abend und mich heiraten? Hahaha! Wo steckt er, mein schöner Zukünftiger?«

»Er wird sich erst beim Scheine der Kerzen zeigen. Hochwichtige Angelegenheiten nehmen seine Zeit jetzt noch in Anspruch. Erteilen Sie inzwischen Ihre Befehle!

Alle Freuden und Vergnügungen werden Ihnen gewährt werden.«

»Fort will ich von hier.«

»Sie sind weit, weit von Ihrem Nährvater entfernt, gnädigste Herrin. Durch einen Zauber sind Sie in die Türkei versetzt, und man hat Ihnen das Gesicht nur deshalb verhüllt, damit Sie von der Schnelligkeit des Fluges keinen Schwindel bekämen.«

»Sie reden da lauter Quatsch, meine Beste, und halten mich wohl für ein Kind, dem man alles vormachen kann, aber ich bin nicht von gestern.«

»Ich weiß es. Es sind bald 15 Jahre her, daß die Fürstin, Ihre Mutter, ihr Leben verlor, indem sie es Ihnen gab.«

»Wie sie schön sprechen kann! Man sollte meinen, es sei alles wahr!«

»Sehr wahr! Oh! Herrin!«

»Nun schön. Da ich einmal Prinzessin und in der Türkei bin, so wollen wir ein wenig spazieren gehen und mal sehen, wie dieses Land beschaffen ist. Gibt's hier auch Kneipen?«

»Ah! Pfui! Madame! Was sagen Sie da? Kneipen! Das ist kein Aufenthalt für Sie.«

»Doch, doch, da kann man sich wenigstens amüsieren und lachen, und das liebe ich.«

»In der Türkei, Madame, gehen die Frauen nicht aus. Wir sind hier in einem Serail.«

»Ein Serail! Oh! mein Gott, ein Serail ... Ihr behandelt mich als Prinzessin, und ich bin in einem Serail?«

»Das Wort erschreckt Sie?«

»Ich glaub's! Ich weiß, was man so nennt, in der Rue Saint-Honoré und anderswo gibt's deren genug.«

»Eh! Das ist ganz was anderes! Ein Serail oder Harem ist ein Ort, wo die Fürsten und Großen dieses Landes ihre Frauen und Kinder wohnen haben.«

»So bin ich also hier, wie ein Hering, und kann nicht fort? Das ist komisch!«

»Nur in Begleitung des Prinzen, wenn er auf die Jagd geht, aber dann sitzen Sie in einem Korb, damit kein anderer Mann Sie sehen kann.«

»In einem Korb? Wie Kapaune und Hühner, die in der Halle verkauft werden?«

»Nein, Herrin, so kleinliche Gedanken müssen Sie sich nicht machen ... Wenn dann irgendein Unverschämter sich Ihnen zu nahen wagen würde, dann wird er sofort von Ihren Eunuchen erstochen.«

»Von meinen Heiducken? Werde ich schöne große haben?«

»Eunuchen.«

»Was ist das?«

»Ich werde sie Ihnen zeigen.«

Die würdige Dame, die der Herzog als Haushälterin für sein junges Opfer engagiert hatte, ließ zwei Neger rufen, die scheußlichsten Verschnittenen die Afrika je erzeugt hatte.

»Da sind sie, Herrin.«

»Ah! die häßlichen Ungeheuer! Solche Eunuchen will ich nicht! Schicken Sie sie fort und lassen Sie schönere kommen.«

»Sie sind Ihre Hüter, Herrin.«

»Meine Schutzengel? Das sind ja Teufel!«

»Je häßlicher sie sind, desto teurer sind sie. Von diesen hat jeder dem Fürsten von Transsylvanien, dem Sie angehören, tausend Goldzechinen gekostet.«

»Was kümmert mich der Preis? Verkaufen Sie sie wieder, ich will sie nicht.«

Nach dieser Unterredung wurde sie in die Gärten geführt, wo man ihr ein herrliches Mahl bereitet hatte. Darauf sangen und tanzten die Sklavinnen, und Sagesse nahm an ihren Spielen teil. So verging der Tag.

Nach dem Souper geleitete man das junge Mädchen in ein köstliches Schlafzimmer und brachte sie zu Bett. Eine der Sklavinnen legte sich zu ihr, um bei der Hand zu sein, wenn sie sich nachts ängstigen sollte. Das junge Mädchen wurde bald von Schlaf befallen.

Mitten in der Nacht wachte sie auf und fühlte sich von kräftigen Armen umschlungen. So triumphierte der Herzog, der den Platz der vermeintlichen Sklavin eingenommen hatte, über die Unschuld Sagessens. Am anderen Morgen war sie ganz träumerisch.

Der darauffolgende Tag verging unter denselben Belustigungen, wie der erste. Am Abend wollte die Sklavin wiederum das Bett ihrer Herrin teilen, aber Sagesse, die mit ihrer Aufführung sehr unzufrieden war, wollte nichts von ihr wissen, sondern wählte sich eine der jüngsten Sklavinnen dazu aus. Inmitten ihres ersten Schlafes wurde sie in gleicher Weise aufgeweckt, wie nachts zuvor. Sie gab sich darüber sonderbaren Erwägungen hin und schlief erst am frühen Morgen wieder ein, gerade, als der Tag graute und ihre Zweifel hätte aufklären können.

Beim Aufstehen besah sie sich ihre Gefährtin näher, es war eine zarte, sanfte Kleine. Abends wählte sie wiederum eine andere Schlafgenossin aus. Diesmal war sie fest entschlossen, wach zu bleiben, um einmal den Anfang der Episode zu erleben, und tat nur so, als ob sie schlief. Da fühlte sie, wie ihre Gefährtin ihr fast unmerklich langsam näher kam und – wieder das gleiche geschah. Als es vorbei war, läutete sie. Man lief mit einem Dutzend Kerzen herbei, und Sagesse sah ihre Gefährtin an ihrer Seite in tiefem Schlafe liegen. »Nun begreife ich nichts mehr,« sagte sie darauf und schickte alle wieder fort. Nur eine Kerze ließ sie vorsichtshalber brennen.

Am nächsten Tage hatte die Haushälterin einer Sklavin den Auftrag gegeben, Sagesse die Geschichte vom Falschen Mohammed aus Tausendundeiner Nacht vorzulesen, der nachts die schöne Schirine mit einem fliegenden Koffer besucht. Sagesse amüsierte sich köstlich darüber. Am Abend befahl Sagesse, daß die ganze Nacht in ihrem Schlafzimmer das Licht brennen bliebe. Doch an solchen Befehl hatte der Herzog schon vorher gedacht und für diesen Fall seine Anordnungen getroffen. Er hatte an der Decke des Schlafzimmers, die mit den wollüstigsten Malereien geschmückt war, ein bewegliches Stück anbringen lassen, das eine Sylphe darstellte, die in den Armen einer Nymphe ruhte. Durch einen Mechanismus konnte die Sylphe den Armen der Nymphe entfliehen, während diese dann ihre Arme sehnsüchtig gegen die Fliehende ausbreitete und sie zurückzuhalten schien. Vorher hatte Sagesse die Malereien nie betrachtet, an diesem Abend aber, wo sie nicht einschlafen wollte, und das Licht brannte, fielen ihre Augen unwillkürlich darauf. Als man bemerkte, daß sie sie aufmerksam betrachtete, ließ man den Mechanismus spielen ... Sagesse wagte kaum zu atmen, sie starrte unverwandt auf das Wunder.

»Ach! wie schön!«, flüsterten ihre Lippen, und in diesem Augenblick verlöschten die Kerzen, und ein lebendes Wesen befand sich in ihren Armen, sie stieß einen leisen Schrei aus. Da hörte sie eine sanfte Stimme ihr zuflüstern:

»Für dich verlasse ich sie jede Nacht. Du bist tausendmal schöner, als die Nymphe, reizende Prinzessin! Gewähre mir deine Liebe!«

Unter dem Eindruck der beweglichen Malerei und ihres grenzenlosen Staunens darüber leistete Sagesse keinen Widerstand.

Auf diese Weise gewöhnte sie der Herzog, ohne sich zu zeigen, allmählich daran, seine Leidenschaft zu befriedigen. Als er davon überzeugt war, daß die Kleine seinen Genuß teilte, hielt er es nicht mehr für notwendig, so viel Vorsicht zu gebrauchen und besuchte sie am Tage. Sagesse erkannte ihn sofort und eilte mit den Worten auf ihn zu:

»Ah! Sie sind also auch in der Türkei? Sind Sie einer meiner Sklaven oder einer meiner Eunuchen?«

»Ich bin Ihr treuster Sklave, obwohl zugleich Herr dieses Hauses.«

»Ah! Sie besitzen also ein Schloß in der Türkei? Wie reich müssen Sie doch sein!«

Der Herzog lachte über so viel Naivität und wollte sie küssen.

»Nehmen Sie sich in acht!« wehrte Sagesse ab, »wenn der Genius das sehen würde, wären wir verloren!«

»Wie? Welcher Genius?«

»Kommen Sie, ich will es Ihnen zeigen ...«

Und sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn in ihr Schlafzimmer.

»Da oben an der Decke die Sylphe kann sich loslösen«, erklärte sie ihm, »und alle Nacht kommt sie zu mir ins Bett.«

Der Herzog schüttelte sich vor Lachen und klärte sie endlich über seinen Betrug auf. Um sie zu überzeugen, forderte er sofort den Genius heraus, indem er seinen Blicken etwas darbot, was ihn wirklich hätte in Wert bringen müssen. Sagesse stellte nun weitere Fragen und erfuhr, daß sie nur eine Stunde von Paris entfernt und die Geliebte des Herzogs von *** sei.

Wer sollte meinen, daß dieses naive kleine Mädchen heute eine der geistreichsten Personen der Hauptstadt ist? Aber ich habe es stets verfochten, daß Naivität Geist durchaus nicht ausschließt, sie deutet nur auf die Gradheit des Herzens und auf eine liebenswürdige Arglosigkeit.

Nachdem Sagesse nun einmal ihre Lage kannte, war sie neugierig darauf, die Hauptstadt wiederzusehen, Anfangs wollte ihr Geliebter nichts davon wissen, später aber, als seine Liebe, des Reizes des Mysteriums und des Feenreiches nunmehr bar, ein wenig nachgelassen hatte, und er nach anderen Zerstreuungen sich zu sehnen begann, da führte er sie nach Paris und ließ sie und sich von seinen Freunden bewundern. Einige von ihnen beneideten den Herzog um ein Glück, das er schon kaum noch würdigte, und suchten ihm das Herz seiner Maitresse abspenstig zu machen. Er bemerkte es und widersetzte sich keineswegs ihren Absichten. Aber Sagesse hatte sich gerade, weil er sich gewaltsam in den Besitz ihrer Person gesetzt hatte, an ihn desto fester angeschlossen. Und das war auch ganz natürlich und beweist nur, daß Sagesse das Herz auf dem rechten Flecke hatte. Man sehe in der Geschichte der alten Helden nach: alle Halbgötter entführten die, die sie liebten, entrissen ihnen gewaltsam die letzten Gunstbezeugungen und heirateten sie dann. Alle diese Frauen, die Penelopes, Helenen, Dejaniren usw. liebten dann zärtlich und treu ihre Gatten, die so wenig ihres Schamgefühls geschont hatten. Man kann noch weiter gehen und dreist behaupten, es liege in der Natur der Sache, das eine Frau den Mann lieben müsse, der ihr die Schande der Einwilligung erspart habe, und der Grund, warum unsere Frauen von heutzutage so wenig skrupulös gegen ihre Männer sind, liege in der Tatsache, daß ihre Bescheidenheit ihnen meist nichts verdanke. Doch kommen wir auf Sagesse zurück.

Sie wies anfangs alle Anträge zurück. Als indessen die Gleichgültigkeit des Herzogs mehr und mehr zunahm und in ihr Ärger gegen ihn hervorrief, da kam es endlich dazu, daß sie einen anderen mit gleichen Augen ansah, wie sie sie bisher nur für ihn gehabt hatte. Auch wurde ihre Tugend von zu geschickten Männern attackiert, als daß sie sich solchen Angriffen hätte auf die Dauer widersetzen können. Sie unterlag also, bewahrte aber trotzdem im Grunde ihres Herzens ihrem ersten Verführer stets eine innige Zuneigung und Freundschaft, von welcher sie ihm in der Folge deutliche Beweise gab.

Nachdem sie einmal kriegsgewohnt war, gab es kein Aufhalten mehr für sie, das Eis war gebrochen. Sie machte so viele Glückliche, als sie Liebhaber hatte, und deren hatte sie viele! Ihr Geist bildete sich im Umgange mit der Welt aus, und ihre Reize entwickelten sich. Sie wurde ein begehrenswertes Objekt. Man bemerkte an ihr Talente, und diejenigen, die sie zuerst gehabt hatten, rieten ihr, als sie an ihr nichts mehr von ihrer früheren reizvollen köstlichen Naivität entdecken konnten, zur Oper zu gehen und durch Erfolge mit ihrer schönen Stimme die verloren gegangenen liebenswürdigen Eigenschaften ihrer ersten Jugend zu ersetzen. Sie stellte sich daher den Direktoren vor. Schon ihr Gesicht und ihr ganzes Äußere sprachen für sie, der harmonische Wohlklang ihrer Stimme verführte jene vollends, und sie wurde für die ersten Rollen bestimmt.

In dieser neuen Laufbahn wurde nun Sagesse in Wirklichkeit, was ihr erster Verführer ihr hatte einreden wollen, eine Fürstin, eine Königin der Bühne. Ihre Erfolge rechtfertigten die hohe Meinung, die man von ihrem Können gehegt hatte. Sie verdunkelte alle ihre Mitspieler, und ihre Kolleginnen selbst mußten ihrer Überlegenheit huldigen. Zahllose Liebhaber stellten sich jetzt ein, und sie kamen nicht vergebens. Angebetet, vergöttert schritt Sagesse über die Tugend triumphierend hinweg und machte das Laster selbst liebenswürdig. Sie sah sich von hohen und höchsten Herren gefeiert und zu ihren intimen Festen hinzugezogen, deren Würze und Seele sie war, Freude und Lust hatte sie an ihren Wagen gespannt, ohne sie herrschte Langeweile, sobald sie erschien, begann neues Leben.

Und doch meine man nicht, daß diese liebenswürdige Laïs jeder Tugend bar war!

Den ersten Beweis vom Gegenteil gab sie, als der Herzog vom Hof verbannt wurde. Da fühlte Sagesse alles Interesse, das sie ihrem früheren Freunde entgegengebracht hatte, wieder in sich wach werden, obwohl er ihr gegenüber viel Unrecht gutzumachen hatte. Sie eilte zu seiner Hilfe herbei und setzte alle ihre einflußreichen Bekanntschaften, die Talente und Reize sie hatten machen lassen, zu seinen Gunsten in Bewegung. Doch damit nicht genug, trieben ihre edlen Gefühle sie dazu, alle ihre Brillanten und Schmucksachen zu verkaufen, um die Schulden des Verbannten zu bezahlen. Dieser Mann, den alle seine Freunde in seinem Unglück im Stich gelassen hatten, fand in dem Mädchen, das er getäuscht hatte, alles das in Taten wieder, was die falschen Freunde ihm nur in leeren Worten versichert hatten. Eine solche Haltung konnte Sagesse nur zur Ehre gereichen, und man bewunderte die Größe und den Edelmut ihres Herzens.

Und doch hätte man im Grunde von ihrer Handlungsweise nicht überrascht sein brauchen: Sagesse besaß Geist, Klugheit und Schönheit, also eine schöne Seele. Verderbtheit hatte allerdings ihren Geist auf Irrwege geführt, ihr Herz aber nicht nach sich gezogen, sie hatte also alle ihre guten Eigenschaften behalten. Das bewies sie auch an ihren Kindern, denen sie eine ausgezeichnete Mutter war, und die sie für die Vorteile, derer sie ihre Herkunft beraubte, schadlos hielt. Und hätte sie ihnen nur die Schönheit und ihre Herzensgüte übertragen, so wäre das immer noch ein größerer Gewinn gewesen, sie als Mutter gehabt zu haben, als wenn sie Kinder einer Frau gewesen wären, wie es deren so viele gibt, die dezent, aber häßlich und boshaft, ein schlechtes Herz und einen noch schlechteren Charakter besitzen. Kann man auf der Welt seinen Kindern etwas Schöneres hinterlassen, als Sagesse den ihrigen?... Aber damit nicht genug, läßt sie ihnen alle Sorgfalt einer liebenden, ehrbaren Mutter zuteil werden. Bei ihnen ist sie nicht mehr die Laïs, sondern eine Lukretia, eine Volomnia, Racilia oder die tugendhafte D. C. Nichts verläßt das Gehege ihrer Zähne, als Tugendhaftes, Dezentes und Lehrreiches. Sie macht sie die Tugend lieben und pflanzt diese in ihre jungen Herzen. Sie hat der Welt ein Phänomen vorgeführt: eine Frau ohne Tugend, oder besser gesagt, ohne Züchtigkeit, die ihren Kindern die Tugend einflößt und liebenswert macht.

Besonders der Erziehung ihrer ältesten Tochter Flavienne wandte sie alle ihre Sorgfalt zu und tat alles, um sie in ihrer Unschuld rein zu erhalten. Vielleicht hat sie ihr sogar eine zu brillante Erziehung gegeben, aber darin ist sie entschuldbar, denn seit ihrer sogenannten Verzauberung hatte sie nur die Großen des Landes kennen gelernt und war daher niemals in der Lage, sich klare Ideen von den wirklichen Pflichten und der wahren Bestimmung der Frau machen zu können. So wollen auch wir in dieser Erziehung ihrer Flavienne, einer zweifellos unvorsichtigen Methode, nur die Mutterliebe erkennen, dieses edle, schöne Motiv, das alle sonstigen Schädlichkeiten derselben vergessen läßt.

Nach ihren großen Erfolgen auf der Bühne schien es, als ob die Bewunderung des Publikums der Seele Sagessens die Sprungkraft wieder verliehen hätte, die die Verführung ihr genommen hatte. Sie fühlte endlich von selber und trotz der verführerischen Sprache der Männer, die ihre Umgebung bildeten, daß es ihr möglich sein würde, die Achtung des Publikums vor ihren Talenten in Achtung auch vor ihren Sitten umzuwandeln, sie hob sich selbst auf ein anderes Niveau, indem sie ihre Lebensweise änderte und dadurch ihren Kindern als Vorbild dienen konnte. Diesem edlen Drange opferte sie mit Energie alles andere.

Zu dieser Zeit ihrer Einkehr machte sie die sonderbare Bekanntschaft einer Dame, die wie sie Schreckliches erlebt, aber einen ganz anderen Weg eingeschlagen hatte.

Als Tochter eines Senators aus Venedig war sie von einem Pariser Leichtfuß verführt worden und aus dem Kloster entflohen, um sich in seine Arme zu werfen. Er hatte versprochen, sie zu heiraten, nachdem er seine Signora Enrichetta *** aber besessen hatte, hütete er sich, sein Versprechen zu erfüllen. Er schlug ihr vor, sie möge ihn, da er gezwungen sei, abzureisen, begleiten, er würde dann später ihr Gatte werden können. Da ihr weiter nichts anderes übrig blieb, so war sie darauf eingegangen, hatte sich verkleidet und war mit dem Treulosen nach Paris geflohen. Einmal in Frankreich erklärte er ihr, daß dort ihre Eheschließung nicht gültig sein werde, und vertröstete sie auf später. In Paris warf er die Maske ganz ab und sagte ihr klar und deutlich, daß sie auf eine Heirat nicht rechnen dürfe.

Die Entführung der Signora Enrichetta hatte in Venedig viel Lärm gemacht, da die Mädchen dort sehr zurückgezogen leben. Ihre Familie ließ Nachforschungen nach ihr anstellen, die aber erfolglos waren, da Enrichetta auf ihrer Flucht eine Offiziersuniform angelegt hatte. Es dauerte nicht lange, und ihr Geliebter fand heraus, daß eine Frau sich in ihrem Vaterlande viel besser mache, und daß eine Fremde, so interessant sie auch sein möge, wenn sie in ein anderes Land versetzt wird, dessen Sitten und Sprache andere sind, stets im Vergleich zu den einheimischen Schönheiten verliert. Vielleicht hat die Natur durch diese Tatsache andeuten wollen, daß die Frauen seßhaft zu bleiben hätten, und daß es nur den Männern ungestraft erlaubt sei, das Klima zu wechseln, genug, ihr Geliebter ließ sie sitzen. Der französische Offizier, Enrichettas überdrüssig, suchte sie einem seiner Freunde aufzuhalsen. Einen Augenblick dachte er sogar daran, ihrer Familie ihren Aufenthaltsort bekannt zu geben. Die mißtrauische Italienerin kam aber bald hinter seine Pläne, und eines Tages fand man auf der Straße ihrer Wohnung gegenüber den Leichnam eines Mannes, der erstochen und dessen Gesicht offenbar nach seinem Tode so verstümmelt worden war, daß es unmöglich war, ihn zu rekognoszieren. Nach dieser Tat verließ die Signora mittellos und von Gewissensbissen gepeinigt das möblierte Zimmer, das sie seit ihrer Ankunft bewohnt hatte, und faßte einen unglaublichen Entschluß: sie stellte sich in einem der verruchten Häuser vor.

Sie fand Aufnahme. Am selben Abend passierte die Rue Pélican der Sekretär eines Prinzen, der vordem Gesandter in Venedig gewesen war. Er vernahm in der Parterrewohnung des betreffenden Hauses Zank und Streit und konnte unter den fünf bis sechs Frauenstimmen deutlich den Akzent einer Italienerin unterscheiden. Er wurde neugierig, warf einen Blick durch das halbgeöffnete Fenster und bemerkte eine schlanke, schöne Frau, die in ihrer majestätischen Haltung den anderen Frauen imponieren zu wollen schien, welche sie durch allerhand Gemeinheiten in ihren neuen Stand einweihen wollten. Er glaubte, ihre Züge zu erkennen, und da er sich vergewissern wollte, so trat er ein. Bei seinem Anblick war die Ruhe sofort wieder hergestellt. Jede der Nymphen nahm eine lächelnde Miene an und suchte den zornigen Ausdruck zu bannen. Nur Enrichetta tat nichts dergleichen, sondern warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Doch der Sekretär, der seiner Sache nun beinahe sicher war, ließ sich dadurch nicht abhalten und bezeichnete sie. Sie weigerte sich. Die Haushälterin fragte sie darauf, wozu sie denn in ihr Haus gekommen wäre? Als einzige Antwort brach Enrichetta in Tränen aus.

»Mit Tränen können wir nichts anfangen!« schrie die Haushälterin sie an und fuhr dann etwas sanftmütiger fort: »Es ist Ihr erster Verdienst, Henriette, also seien Sie vernünftig, Ihre Weigerung würde uns und Ihnen Unglück bringen.«

Da die Signora begriff, daß sie sich fügen oder das Haus verlassen müsse, so wählte sie ersteres. Ihre zitternden Hände ergriffen einen Leuchter, und sie ging schnell voran auf das ihr bestimmte Zimmer. Der Sekretär folgte ihr und schloß das Zimmer ab. Dann sagte er zu ihr:

»Liebes Fräulein, Sie haben mit einem Ehrenmann zu tun. Ich habe Sie von der Straße aus bemerkt und bin Ihretwegen hier eingetreten. Seit wann sind Sie in diesem Hause?«

»Seit diesem Morgen, mein Herr.«

»Man sagte, ich wäre der erste, der ...«

»Ja, das ist richtig.«

»Wenn Ihnen das Elend hier, das Sie noch nicht kennen, Abscheu einflößt, so biete ich Ihnen meine Hilfe an, sich einen neuen Lebensunterhalt zu erwerben.«

»Ah! mein Herr, Sie sendet der liebe Gott zu mir!«

»Da sie italienisch sprechen, wollen wir uns in dieser Sprache unterhalten, damit man uns nicht versteht. Sind Sie nicht Venetianerin? ...«

»Si Signor.«

Ich glaube, Sie in Venedig gesehen zu haben, aber ich kann mich nicht erinnern, wo? und wie?«

»Ich darf nicht sprechen, und ich bitte Sie, mein Geheimnis für mich bewahren zu dürfen.«

»Gern Signora, ich wünsche weiter nichts, als Ihnen dienlich zu sein ... Ich möchte Sie von hier fortbringen.«

»Darein willige ich von ganzem Herzen. Da ich der Frau noch nichts schuldig bin, können wir uns unbemerkt entfernen.«

»Warum war vorhin der Streit ausgebrochen?«

»Eines Gazeschleiers wegen, mit welchem ich im SaIon mein Gesicht zu verhüllen wünschte, und den mir eines der Mädchen weggenommen hatte. Ich habe ihr eine Ohrfeige gegeben, und da stürzte sie sich auf mich und schlug den anderen vor, mich zu ... (ein häßlicher Ausdruck). Alle waren damit einverstanden und im Begriff, mich diese Prozedur erleiden zu lassen, als die Haushälterin dazu kam, und Sie in diesem Augenblick erschienen.«

Nach dieser Erklärung ging der Sekretär mit ihr hinunter. Als er an der Salontür war, machte er eine Bewegung, als ob er eintreten wollte, damit Enrichetta hinter ihm vorbeiflüchten und unbemerkt das Haus verlassen konnte. Sie erwartete ihren Befreier an der Ecke der Rue de Grenelle.

Der Sekretär führte sie in seine Wohnung im Hause des Prinzen, die für sie beide geräumig genug war, und behielt sie bei sich unter dem Namen einer Verwandten, die in Italien erzogen worden Sei. Bald darauf hörte er von Nachforschungen, die nach einer Signora Enrichetta *** angestellt wurden, und war jetzt sicher, daß seine Schutzbefohlene mit dieser identisch sei. Er beschloß sich dann zu vergewissern und sagte eines Tages zu ihr:

»Ich liebe Sie und verlange Ihr Vertrauen. Man fahndet in Paris auf zwei Italienerinnen, nach einer, die einen französischen Offizier, dessen Geliebte sie war, ermordet haben soll, und nach einer anderen, die einem der ersten Häuser Venedigs angehört und sich hat entführen lassen. Wissen Sie etwas davon?«

»Ich will Ihnen nichts verbergen,« war die Antwort, »ich fühle, daß Sie nur meiner Sicherheit wegen diese Frage stellen: ich bin die erste der beiden Gesuchten.«

»In diesem Falle sind Sie auch die zweite, denn es handelt sich um ein und dieselbe Person.«

Enrichetta errötete vor Scham und Zorn, sich erkannt zu sehen, und gestand, daß dem so sei.

»Ich hatte sie schon früher erkannt,« fuhr der Sekretär fort, »und ich erinnere mich jetzt, Sie bei der Krönung Ihres Dogen gesehen zu haben. Sie waren mit Ihrer Mutter und Ihren beiden Brüdern auf einem Balkon. Wie glücklich werden Sie mich machen, und welch eine Chance für mich, ein Mädchen Ihres Ranges und Ihrer Schönheit mein zu nennen!«

Enrichetta rümpfte die Nase, diese Sprache verletzte sie empfindlich, sie glaubte darin den Triumph eines untergeordneten Mannes über ein Mädchen zu sehen, das weit über ihm stand. Da sie nun doch einmal erkannt war, so beschloß sie, sich von ihm zu trennen. So stark war der Hochmut dieses Mädchens, daß sie sich zwar unerkannt dem ersten besten hatte hingeben wollen, aber einmal erkannt selbst nicht von Ihresgleichen eine solche Erniedrigung hingenommen haben würde. Sie nahm sich daher vor, noch am selben Abend zu entfliehen. Indem sie darüber nachdachte, was zu tun sei, fiel ihr Sagesse ein, mit der zusammen sie vierzehn Tage vorher einem Souper beigewohnt hatte. Diese hochherzige Frau hatte sich angelegentlich mit ihr beschäftigt und schien nicht von ihrer Lage befriedigt gewesen zu sein. An diese wollte sie sich wenden, sich in ihre Arme werfen und ihr alles eingestehen. Da der Sekretär gerade beim Prinzen beschäftigt war, so konnte sie ihr Vorhaben leicht ausführen. Sie nahm ihr Geld zu sich, machte ein Paket aus ihren Sachen, nahm einen Fiaker und fuhr zu Sagesse, die leider nicht zu Hause war, denn es war die Stunde der Oper. Dorthin eilte sie darauf und wartete geduldig, bis Sagesse Zeit für sie hatte. Sagesse erkannte sie sogleich wieder, umarmte sie und bat sie, sich in Gegenwart einer Freundin, die zu bekannt ist, als daß ich ihren Namen nennen dürfte, näher zu erklären. Die unglückliche Italienerin erzählte in diesem Augenblicke nur ihr letztes Erlebnis und verschwieg den Namen ihrer Familie.

»Ich bin ganz Ihrer Sache gewonnen,« erwiderte Sagesse, »da aber mein Haus in einem zu besuchten Viertel liegt und zu vielen Leuten offen steht, so will ich meine Freundin bitten, Sie mit sich zu nehmen. Ich denke, sie wird mir gern diesen Freundschaftsdienst leisten.«

»Mit Vergnügen,« erwiderte diese, »und ohne, daß ich es mir zum Verdienst anrechne, denn Signora ist eine von denjenigen Persönlichkeiten, denen man gern um ihrer selbst willen dienlich ist.«

Enrichetta ging also nach der Oper mit Fräulein G** nach Hause und blieb daselbst verborgen, umgeben von Aufmerksamkeiten aller Art. Sagesse besuchte sie jeden Tag und nahm sie auch oft mit sich nach Hause, wenn es ihnen vergönnt war, zu dritt mit ihrer lieben G** zu speisen.

Bei einer solchen Gelegenheit schüttete Enrichetta endlich, gerührt durch die freundliche Haltung der beiden ihr gegenüber, ihr Herz aus.

»Großer Gott,« rief die Freundin Sagessens, »Sie konnten nicht zu gelegenerer Zeit sprechen. Es sind gerade zwei vornehme Venetianer hier, die Ihren Namen tragen, zwei sehr liebenswürdige junge Männer. Sie waren schon mehrmals bei mir, und es hätte wenig gefehlt, so wären Sie mit ihnen zusammengetroffen!«

Es wurde beschlossen, Enrichetta mehr denn je den Blicken Fremder zu entziehen, bis ihre Brüder – das waren sie offenbar – wieder abgereist wären, und man ließ sie sofort nach Hause fahren aus Furcht, es könnte sie jemand bei Sagesse antreffen.

Als die beiden Freundinnen allein waren, äußerte Sagesse zu Fräulein G**:

»Dahin also, liebe Freundin, führt uns unsere eigne Erfahrung, denn, wenn wir beide nicht verführt worden wären, wären wir vielleicht nie so tugendhafte Frauen geworden? ... Wir müssen uns daher auch dieser armen Italienerin annehmen! Vor allem müssen wir Sie, wenn irgend möglich, mit ihrer Familie aussöhnen. Da ihre Eltern nicht wissen, was sie Böses angerichtet hat, so existiert ihr Verbrechen nicht für sie. Wenn sie in Kenntnis von allem wären, würden sie ihr nicht verzeihen können.«

»Diesen Gedanken müssen Sie aufgeben,« erwiderte Fräulein G**, ein Italiener verzeiht nicht, selbst dann nicht, wenn es sich um den ersten Fehltritt handelt. Ihnen dieses Mädchen ausliefern, wäre ihr Todesurteil.«

»Wenn dem so ist, dann müssen wir sie verstecken. Doch da kommt mir ein anderer Gedanke: das Kloster scheint mir wie geschaffen für solche Mädchen, wie die Signora, die, weil sie einer hohen Familie entstammten, nur Fehler begehen können, die in den Augen der Welt nicht wieder gut zu machen sind. Ich werde mit Vergnügen die Mitgift zahlen, die man ihr auferlegen wird.«

»Die eine Hälfte bezahle ich. Ich glaube auch, daß das die einzige Rettung für Enrichetta ist.«

Enrichetta war mit dem Plan einverstanden, sie meinte sogar, ihre Familie würde sich darüber freuen, da sie sie dann, anstatt verloren, auf dem guten Wege sehen würde. Demgemäß machte sich Sagesse am anderen Morgen auf, um die Oberin eines Klosters aufzusuchen, wo sie vorteilhaft bekannt war, da sie die Pension für drei junge Mädchen und drei ältere Frauen bezahlte, die unverschuldetes Unglück getroffen hatte. Ihr Besuch war Anlaß zu einer komischen Verwechslung, da die Oberin zuerst verstand, es handle sich um Sagessens Bekehrung selbst, und schon ein Te Deum anstimmen lassen wollte. Doch klärte Sagesse sie über den Irrtum auf und fügte hinzu:

»Ich verstehe meine Pflicht anders. Ich habe Kinder und muß mich diesen unschuldigen Wesen widmen. so werde ich meine Fehler wieder gut machen, aber nicht, indem ich das Verbrechen begehe, sie zu verlassen ... Nein, Schwester, ich komme nicht für mich, sondern wegen eines Mädchens aus vornehmem Hause, das Fehltritte begangen hat. Es zu bekehren, wird für Sie ein verdienstvolles Werk sein. Wäre sie Mutter, so würde ich sie veranlassen, bei ihren Kindern zu bleiben, damit diese aus ihren Verirrungen heilsame Lehren empfangen könnten.«

Sagesse vereinbarte mit der Oberin, daß das junge Mädchen am übernächsten Tage Aufnahme im Kloster finden sollte, und sprach dann bei Fräulein G** vor, wo Enrichetta ungeduldig auf Nachrichten von ihr wartete.

Während die drei Damen in eifriger Unterhaltung begriffen waren, wurde Signor ***, der Bruder Enrichettas, gemeldet. Man hatte gerade noch Zeit, letztere in einem Nebenzimmer verschwinden zu lassen. Nach den ersten Begrüßungen wurde der Italiener nachdenklich und erwiderte den beiden Künstlerinnen, die ihn damit neckten, daß ihm allerdings etwas durch den Kopf ginge, und daß er gekommen sei, um seine schwarzen Gedanken in der Unterhaltung mit ihnen zu bannen. Man suchte ihn zum Reden zu bringen, aber er ging auf einen andern Gegenstand über. Indessen blieb er so lange da, daß Sagesse sich gezwungen sah, ihre Freundin vor ihm zu verlassen. In einem gewissen Vorgefühl nahm sie Enrichetta mit und verließ das Haus mit ihr durch eine hintere Gartentür, ohne von jemandem bemerkt zu werden. Sie hatte wohl daran getan, denn der Bruder der Signora hatte endlich den Zufluchtsort seiner Schwester entdeckt und alle Vorkehrungen getroffen, um sie abzufangen. Seine Leute waren in der Umgegend versteckt, und ein Wagen harrte seiner in einiger Entfernung. An die Gartentür, die auf das Feld hinausging, hatte niemand gedacht.

Nachdem Sagesse gegangen war, sagte Signore ***zu Fräulein G* *, er wisse, eine junge Italienerin sei bei ihr, und bäte sie, sie ihm zu zeigen. Erregt antwortete sie, sie wisse nicht, was er sagen wolle. Der Italiener rief darauf seinen Bruder herbei und zeigte dann ein Dokument, laut welchem er die Erlaubnis hatte, das Haus des Fräulein G** durchsuchen zu lassen. Diese hielt Enrichetta für verloren. Man öffnete die Tür zum Nebenzimmer und fand dort zum großen Erstaunen von Fräulein G** selber niemanden vor. Das gab ihr die Fassung zurück, und von nun an sah sie der Durchsuchung des Hauses ruhig zu. Zum Schluß entschuldigten sich die beiden Italiener, ihr diese unangenehme Störung verursacht zu haben, und baten sie, ihnen zu glauben, daß sie wahrhaft triftige Gründe gehabt hätten, um einen solchen Schritt zu unternehmen. Dann sprachen sie unter sich einige Worte toskanisch, ohne zu ahnen, daß Fräulein G** diese Sprache verstand. Sie hörte den Älteren der Brüder sagen:

»Ihr Leben ist um einen Tag verlängert.«

»Aber wo kann sie sein ?« fragte der andere.

»Vielleicht bei Fräulein Sagesse?«

»Aber sie war doch hier, man hat sie ins Haus treten sehen. Wir müssen die Elende auffinden und unseren Schimpf mit ihrem Blute abwaschen.«

Fräulein G** zitterte bei dieser wilden Drohung und brannte vor Ungeduld, allein zu sein, um Sagesse dringend bitten zu lassen, sie möge Enrichetta sofort ins Kloster bringen. Endlich gingen die Brüder unter fortwährenden Entschuldigungen wieder fort. Sie bemerkten, daß sie ihr nicht zürnen könnten, wenn sie ihre Freundin verberge, daß sie ihrerseits aber alle Anstrengungen machen würden, um sie zu finden, ohne es aber den Damen gegenüber an der schuldigen Achtung fehlen zu lassen, die die Flüchtige mit ihrer Freundschaft beehrten.

Fräulein G** eilte sofort selbst zu ihrer Freundin. Aber die beiden Italiener waren bereits mit ihrer ganzen Kohorte vor ihr dort eingetroffen und sagten zu ihr:

»Wir mißbilligen es nicht, daß Sie hierher geeilt sind, um ihre Freundin zu benachrichtigen, aber es ist zu spät.«

»Sie werden begreifen, Signori,« erwiderte ihnen Fräulein G**, »daß nach dem, was vorgegangen ist, eine Frau, die eine andere Frau liebt, diese schnellstens aufsucht, um ihr alles mitzuteilen, denn für uns Frauen ist die Kenntnis eines Geheimnisses eine Last, die wir gern rasch abschütteln.«

Die Signori lächelten über ihre Worte und gingen an die Hausdurchsuchung. Aber diese war ebensowenig erfolgreich, und sie fanden nichts. Sie hatten es mit einer sehr klugen und sehr ergebenen Person zu tun, die, wenn sie es einmal übernommen hatte, jemandem dienlich zu sein, nicht das geringste verabsäumte, um zum Ziele zu gelangen. Nachdem sie Enrichetta geschickt aus dem Hause ihrer Freundin gebracht hatte, kam ihr der Gedanke, als sie an dem Garten des Herzogs von R*** vorbeiging, bei diesem vorzusprechen. Sie wurde zu ihm geführt und sagte zu ihm:

»Herr Herzog, hier bringe ich Ihnen eine schöne Fremde, nach der gefahndet wird, weil sie mit ihrem Geliebten die Flucht ergriffen hat. Es hat allen Anschein, daß ihre Brüder sie ermorden oder zum mindestens der Freiheit berauben wollen. Jeder französische Edelmann ist der geborene Ritter und Beschützer der verlassenen Schönen. Ich übergebe daher diese Ihrem Schutze, dem Schutze des loyalsten und ritterlichsten aller Kavaliere. Sie ist von vornehmster Herkunft, und Sie werden alle Ihre Macht aufbieten müssen, um sie vor ihren Feinden zu bewahren. Ich konnte mich an keinen Besseren wenden, als an Sie.«

Der Herzog hatte viele gütige Worte für Sagesse, die er hochschätzte, und versprach, über das ihm anvertraute Gut getreulich wachen zu wollen. So hatte Sagesse bereits gehandelt, als sich die Brüder des Mädchens bei ihr einstellten, um es dort zu suchen.

Sie zogen sich sehr überrascht und enttäuscht wieder zurück, umstellten aber die Häuser der beiden Freundinnen mit Spionen, um von jedem ihrer Schritte unterrichtet zu sein.

Am nächsten Tage schrieb Sagesse an den Herzog und bat ihn, die Signora heimlich, aber unter guter Eskorte ins Kloster **** zu schaffen, wo sie erwartet würde. Nachdem sie daselbst glücklich angelangt war, besuchte Sagesse sie, da sie nunmehr seitens der Signori nichts mehr zu befürchten hatte. Sie gab Enrichetta den Rat, an ihre Brüder einen Brief voll religiöser Gefühle und mit Ausdrücken der Achtung und Liebe für sie zu richten und einen anderen ähnlichen Inhalts an ihre Eltern vorzubereiten. Den Brief an die Brüder übergab sie diesen persönlich. Da sie aber sofort merkte, daß das Schreiben nicht im geringsten Eindruck auf diese seit langem wunden Seelen gemacht hatte, und da die Signori so unvorsichtig gewesen waren, sich in ihrer Gegenwart in toskanischem Dialekt über ihre weiteren Pläne zu unterhalten, begab sie sich schleunigst zum Herzog von R*** um ihn zu bitten, er möge den Schritten der Brüder beim Minister zuvorkommen und den Erlaß eines Befehls des Königs unmöglich machen, der die Brüder autorisieren würde, sich ihrer unglücklichen Schwester zu bemächtigen, denn sie habe infolge der aufgefangenen Worte der Unterredung der beiden Brüder allen Anlaß zu dieser Befürchtung. Ihr Schritt beim Herzog hatte vollen Erfolg.

Der Brief Enrichettas an ihre Eitern rührte das Herz des Senators, ihres Vaters, und er befahl sofort seinen Söhnen, sie fortan in Ruhe zu lassen, da sie den Schleier nehmen wolle.

Die Brüder gaben Sagesse Kenntnis von dem Inhalt dieses Briefes ihres Vaters. Sie schienen über das Schicksal ihrer Schwester beruhigt zu sein, verlangten aber, sie zu sehen, um ihren Eltern versichern zu können, daß sie tatsächlich Novize in einem Kloster sei. Sagesse zögerte, ihnen diesen Wunsch zu erfüllen, aber Frau»lein G** wußte sie umzustimmen und ihre Befürchtungen als grundlos darzustellen. So begaben sie sich denn alle vier ins Kloster. Sagesse verlangte, Schwester Henriette zu sprechen. Diese erschien und fiel in Ohnmacht, als sie ihre Brüder sah. Man half ihr, sie kam wieder zu sich und konnte sich dann ruhig und freundlich mit den Brüdern unterhalten. Als diese sich erhoben hatten, um Abschied von ihr zu nehmen, näherte sich der ältere der beiden dem Gitter und bat seine Schwester, ihm die Hand zu reichen. Sie tat es am ganzen Leibe zitternd. Inzwischen war auch der jüngere Bruder näher getreten. Während die Hand Enrichettas noch in der ihres Bruders ruhte, zog er plötzlich einen langen Dolch aus der Tasche, stieß ihn durch das Gitter und verwundete damit seine Schwester, die zu Boden stürzte. Sagesse hatte alles beobachtet, stieß ihn zur Seite und rief um Hilfe. Kalt wandten sich darauf die Brüder zu ihr um, und der ältere äußerte:

»Bei uns, meine Verehrteste, muß Blut den Schimpf abwaschen.« Zugleich zeigten sie ihr einen schriftlichen Befehl ihrer Mutter, so zu handeln, wie sie getan hatten. Sagesse eilte nun an das Schmerzenslager Enrichettas und sah, daß sie ihr durch ihr Eingreifen wahrscheinlich das Leben gerettet hatte. Sie vereinbarte mit der Oberin, Enrichetta für tot auszugeben, um die ganze Geschichte mit einemmal aus der Welt zu schaffen! Sie kehrte demgemäß zu den Brüdern zurück, benachrichtigte sie von dem Tode ihrer Schwester und beschwor sie, sich sofort nach Italien in Sicherheit zu bringen. Sie reisten sofort ab. Dieses Abenteuer läßt so ganz das Edle im Charakter Sagessens hervortreten.

Einige Zeit darauf lernte sie den Obersten eines vornehmen Regimentes kennen und lieben. Ihrer beider Herzen waren für einander geschaffen, und die beiden Liebenden genossen eine kurze Zeit reinen, wahren Glückes. Da brach der Krieg aus, und die Stunde der Trennung schlug. Der Soldat hatte zu viel Ehre im Leibe, als daß er die Pflicht seiner Glückseligkeit hintenangesetzt hätte, und Sagesse liebte ihn zu innig und wahr, um ihn derselben abspenstig zu machen und seine Ehre mit Füßen zu treten. Er wurde das Opfer seiner Tapferkeit und seines Wunsches, sich auszuzeichnen. Kurz bevor er den letzten Atemzug tat, schrieb er noch an Sagesse einige rührende Worte des Abschiedes. Als sie den Brief erhielt und die ersten Worte las, fiel sie in Ohnmacht. Ihre Freundin G** suchte sie zu trösten, aber Sagesse antwortete ihr:

»Es ist aus, er ist dahingegangen. Nun habe ich nichts mehr auf der Welt, was mich noch interessiert, außer deiner Freundschaft. Ich will auf alle Freuden des Lebens verzichten und nur noch meinem Schmerze leben.«

Sie hielt Wort. Am nächsten Tage kündigte sie der Oper zum großen Bedauern ihrer vielen Bewunderer, die besonders hoch an ihr schätzten, daß sie ihre Rollen mit wahrem Gefühl wiedergab, als getreue Nachahmerin der Natur. Nie hatte sie auf Kosten der Vernunft zu glänzen gesucht. Im Ausdruck des Schmerzes und der Verzweiflung war sie stets die liebenswürdige Frau und keine Besessene. Ihr Spiel dient noch heute als mustergültiges Vorbild, und alle Talente ihrer Rivalinnen haben sie bei uns nicht in Vergessenheit bringen können.


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