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Es gibt Bücher, gleichgültig welcher Gattung und welchen Inhalts, die in solchem Maße versteckte Autobiographien sind, daß man sie nicht lesen sollte, ohne ihren Verfasser zu kennen. Nur aus dessen Persönlichkeit, dessen Leben kommen die Lichter und Schatten her, deren Gruppierung das versteckte Bild hinter dem Bild hervortreten läßt. Meist sind solche Bücher nicht die Schöpfungen des Genies, denen ja keine Anekdote, keine biographische Notiz etwas hinzufügen kann. Es sind die Hervorbringungen sehr menschlicher Geister, die in erhöhtem Maße die Zufälligkeiten ihrer Person und ihrer Zeit geben, dafür aber auch ohne die Objektivierung des Kunstverstandes, ohne Distanz, Haß und Liebe, Lust und Unlust, frisch, rauschend, so wie der Strom ihrer Brust entbraust. Sie schaffen keine Kunstwerke, sondern verhandeln, von unbezwinglicher Leidenschaft der Mitteilung getrieben, die eigenen, im Augenblick sie bewegenden Angelegenheiten in ihren Büchern, sie enthüllen ihr Wesen, sagt Retif de la Bretonne, aber damit zugleich das Wesen ihrer Leser.
Die hier gebotene Auswahl aus den im ganzen zweiundvierzig Bänden der »Contemporaines« Retifs, dieser Naturgeschichte der Französin in der Schicksalsstunde des ancien régime, scheint, reiht man sie nicht in Retifs Werk und Leben ein, eine Sammlung amüsanter, geschickt erzählter faits divers, an der die Vielgestaltigkeit der Fabel und die unbedingte Beherrschung des Stoffes überrascht. Im Zusammenhang aber mit dieser ewig produzierenden Persönlichkeit, die das Leben, kaum erhascht, immer wieder aufs Papier warf, der der Umweg über die Feder in späteren, kargen Jahren schon zu lang dünkte und die daher die Erlebnisse des letzten Tags am Setzerpult gleich in den Satz formulierte, dehnt sich um diese raschen, scharf gesehenen Geschichten das Paris vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts mit Avenuen und Gassen, mit Hof und Pöbel, mit Theatern und Bordellen und mit Frauen, Frauen, unendlich viel Frauen, über die Retif gearbeitet hat, wie nur je ein Naturforscher über sein Spezialfach. Alles ist nachkostende Tagebuch-Eintragung und alles Material zu dem großen, in zahllosen Büchern wieder und wieder behandelten, erweiterten und ergänzten Lebenswerk: Die Frau!
Retif war der Sohn eines kleinen Gutsbesitzers aus Burgund (den Beinamen holte er sich von einer Farm der Familie), kam nach frühen Liebeserfahrungen in seinem Dorf, nach einer großen Leidenschaft in Auxerre, um die sich, wie die Putten um die Madonna, tausend Eintagszärtlichkeiten schlossen, nach Paris, wo sich sein Schicksal erfüllte: jedes Auf und Ab eines langen Lebens nur durch Frauen zu erfahren. Erst Buchdruckergeselle, wird er durch die Liebe zum Schriftsteller, wird berühmt (mit dem Pied de Fanchette und dem Paysan perverti), verarmt durch die Assignatenwirtschaft, wird vergessen, alt, mit den Lastern des Alters, immer noch allen Frauen ergeben, immer noch jedes Erlebnis in die nie endenden Werke »Monsieur Nicolas« und »Contemporaines« einreihend, und stirbt endlich mit zweiundsiebzig Jahren, an den Strapazen und Krankheiten der Liebe, in einem Haus, das von oben bis unten mit den Ballen seiner Bücher, den Geschichten seines Lebens und seiner Frauen, angefüllt ist.
Aber die Frauen, die er genoß und liebte, gehörten nicht zu der Welt, wie sie Crébillon fils, Choderlos de Laclos und Louvet de Couvray beschrieben haben, und er liebte sie nicht, wie es die Herren jener Welt taten, nach einer unsentimentalen, gesellschaftlichen Tradition, die sie ebenso lernten, wie gutes Benehmen und reizvolle Konversation. Er kam aus der Tiefe und liebte die Frauen der Tiefe, von den Mädchen in den Pariser öffentlichen Häusern, wo er seine tiefste, bis zu den Frauen des Mittelstandes, wo er seine reinste Liebe fand. Und er hielt sich keine Geliebte, weil das hergebracht und nötig war, er suchte bei ihr keine Zerstreuung, keine Erholung, keine Tröstung, sondern die Frauen waren sein Leben, von dem er sich mit der Feder in der Hand oder an der Druckpresse ausruhte. Er lebt nur durch die Frau, er denkt oder empfindet fast nichts, das nicht durch eine Frau gegangen wäre oder mit einer Frau zusammenhinge. Die ganze Sentimentalität des Kleinbürgers, die sexuelle Leistungsfähigkeit des bäuerlichen Schlages, der Stoffhunger des Literaten, zusammen mit der geschäftsmäßigen Auffassung der Liebe in seinen Kreisen, denen Kuppelei und Prostitution unter günstigen und anständigen Bedingungen nichts Ehrenrühriges erschien: all das drängte ihn auf Schritt und Tritt zu den Frauen, drängte ihn in die Frauen, für deren Bezahlung er hungert und dürstet und die schließlich unmittelbar oder mittelbar seinen Hunger und seinen Durst stillen. Er hatte das Glück, die einheitlichste Form für sein Leben zu finden: auf dem Feld seiner Arbeit wuchs auch sein Genuß und wohin ihn Geilheit und Forscherdrang hetzten, dort fand er sein kümmerliches Auskommen und seinen Ruhm. Alles aber war und schenkte die Frau.
Er hat nur einen Vorgänger in Literatur und Sittengeschichte: Abbé Prevost, den Verfasser der Geschichte von Manon Lescaut und dem Chevalier Des Grieux. Dies unvergängliche Buch hat die Dirne in die Literatur eingeführt, die bis dahin nur Damen der Gesellschaft oder solche kannte, die der Liebe im Nebenberuf oblagen. Ein Menschenalter später hat Retif diesen Typus sozial und wirtschaftlich, industrialisiert wie er schon war, in tausend Spielarten festgehalten, während Prevost nur Verirrungen des Herzens in mitfühlender Neugier nachzeichnete. Man kann sagen: Prevost machte unwissentlich eine Entdeckung, deren System Retif bewußt zu schaffen sich bemühte. Aber bei Prevost war es noch ein Jüngling aus den herrschenden Ständen, der, wie bis zur Revolution immer mehr seiner Standesgenossen, dem dunklen Gift der Crapule zum Opfer fiel. Es geht nicht an, ihn als Zuhälter zu benennen, bis zum Schluß, über Hospital und Deportation, bleibt er der Bevorzugte, dem nur sein Stand die ersehnten Erniedrigungen an Manons Seite ermöglicht. Retif nun stellt das Mädchen aus dem Pöbel unter den Pöbel, in die Mansarde der Mutter Näherin, neben den kupplerischen Bruder, unter die neidischen Nachbarinnen, zwischen all ihre Konkurrentinnen, das ganze Gewimmel des dunklen Volkes, das den adligen Lichtstrahl, der auf eine seiner Töchter fällt, in Scheidemünze prägt und sich feilschend und unbedenklich darin teilt. Er hat, ein zweiter Kolumbus, dicht neben der ältesten Welt der Herrschenden die dunklen Kontinente der Namenlosen entdeckt und deren Bild auf Tausenden von Seiten der erstaunten Gesellschaft vorgehalten. Was bei den Früheren nur Mätresse, femme foutenue, Zögling der Frau Leblanc oder Zofe war, entpuppt sich mit einem Male als Tochter, Schwester, Gattin, zeigt, wie Wundmale, seine Schicksale auf dem Weg zu petite maison oder Bordell, wird aus einem Typus zu einem besonderen Menschen, ganz wie seine Herren und Herrinnen. Retif hat sich, sein Haus, seine Familie, seine Nachbarschaft, seine besonderen Mitmenschen in die Literatur geworfen, wie der Erdstoß der Revolution; all das in die Gesellschaft, in die Weltgeschichte warf.
Der Wurf – das ist die Gebärde des Schriftstellers Retif. Er kennt keine künstlerischen Mittel, keinen Aufbau, kein Ausmaß, keine Abtönung. Er kommt vom Stoff her, der Stoff nur treibt ihn, um seinetwillen greift er zur Feder oder zu den Lettern. Der Form achtet er kaum, kann er nicht achten, weil er den Stoff ja erst Tag für Tag erleben muß, also keine Übersicht hat, nicht wissen kann, was im Zusammenhang wichtig oder unwichtig sein wird. Nimmt er dann Episoden heraus, um sie zu selbständigen Gebilden auszubauen, wie seine Jugendgeschichte, seine große Liebe zu Frau Parangon und das Unglück seiner Schwester Marie-Geneviéve im »Paysan perverti«, dann gelingt, vielleicht nicht dem Schriftsteller, sondern dem starken Talent und Temperament eines Rundung, ebenso wie in den vielen, kurzen Novellen der »Contemporaines«. In den selbstbiographischen Werken muß eben der Wurf jeden Tag erneut werden, so daß auch Bruchstücke alle Reize der kleineren Erzählungen aufweisen. Aber Retif hatte, bei der größten Tugend des Schriftstellers, der Schamlosigkeit, das heißt dem unbedingten Zwang zu schrankenloser Mitteilung, zwei Kardinalfehler: er wollte mit seinen Publikationen etwas erreichen (was sich in den »Idées singulières« zur Groteske steigerte) und er hielt die dichterische Lüge für seiner unwürdig. Er schreibt im »Monsieur Nicolas«: »Ich sagte mir beim Schreiben: man darf nicht lügen, wer nur Lügen niederschreibt, erniedrigt sich selbst.« Seine Wirkungsabsichten treiben aber, mitten in der gegenständlichsten Schilderung, die trübsten didaktischen Blasen und seine Abneigung gegen das Lügen, das bewegende Element alles dichterischen Hervorbringens, kommt zwar dem Quellenwert seiner Werke zugut, zeitigt aber, diesem wirren Haufen wirklichen Lebens gegenüber, öfter als angenehm die Langeweile. Er war nicht Künstler und nicht Schriftsteller. Er war der Seismograph, der von den Ankündigungen nahender Erdbeben erzitterte und schrieb.
Als das Erdbeben da war und Robespierre herrschte, war Retif ein armer, gealterter Mann, aber immer noch der Arbeit und der Lust seines Lebens getreu, lief er hinter den kleinen Modistinnen her, ließ sich von den Freudenmädchen des Palais Royal die abenteuerlichsten Lebensläufe aufbinden und sparte sich den Liebeslohn für die Lupanare an Kleidung und Nahrung ab. Seine Presse stand nie still, die Bücherballen häuften sich. Aber die Pariser Nächte hatten eine blutige Färbung angenommen. Während er Schicksale der kleinen Mädchen suchte, stolperte er fast über ein Weltschicksal: er war in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni Zeuge der Flucht der königlichen Familie und sah auch die schmähliche Rückkehr von Varennes. Er erlebte, zitternd und in ewigem Wechsel seiner politischen Anschauungen, die Schreckenszeit, die sein Geschäft entwertete, seine Leser zerstreute und ihn zweimal wegen politisch mißfälliger Pamphlete, deren Urheberschaft er bestritt, zur Verantwortung zog. Dann kam Napoleon, und seine Regierung brachte dem gänzlich Verarmten eine kleine Stelle, die er bis zu seinem Tod bekleidete. Als dieser ihn ereilt hatte, schrieb das »Journal de Paris«: »Sein Leben selbst war nur ein trauriger Roman, dessen Moral die sein könnte, daß das Talent ohne maßvolles Betragen eine böse Himmelsgabe ist.«
Retif selbst hatte zu oft solch selbstgerechte, muffige Urteile für Leidenschaften gehabt, die gerade nicht die seinen waren, als daß man ihn gegen diesen Nachruf allzusehr verteidigen dürfte. Aber diese Stimme aus dem antirevolutionären, kaiserlichen Paris meinte im letzten Grunde mit dem »maßlosen Betragen« die Große Revolution und verdammte ihre reinigenden Ungeheuerlichkeiten noch einmal in dem Mann, der, aus all dem Schmutz des Pöbels aufragend, dem Pöbel Sitz und Stimme in der Weltliteratur verschafft und von all seinen Irrgängen immer wieder dasselbe Gut mit heimgebracht hatte: das enthüllte Menschenherz.
Ulrich Rauscher