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Der Schlaflose, der mit angefeuchteter weicher Fingerspitze die stille Kerze neben seinem Bett verlöscht hat und in dem nun kühler gewordenen Raume auf die Kühle des Schlafes wartet, lebt mit jedem Herzschlag zum Tode hin, denn so sonderbar der Raum kühl sich um ihn geweitet hat, so atemlos heiß und eilend ist die Zeit in seinem Kopfe, so atemlos, daß Anfang und Ende, Ursprung und Tod, Gestern und Morgen zusammenfallen in dem einzigen und einsamen Jetzt, es ausfüllen bis zum Rande, ja fast es sprengen.
Esch hatte einen Augenblick lang überlegt, ob Lohberg ihn nicht doch zum Heimweg abholen würde. Aber mit einer ironischen Grimasse entschied er, daß man zu Bette gehen dürfe, und immer noch grinsend begann er sich zu entkleiden. Beim Schein der Kerze überlas er den Brief Mutter Hentjens; die vielen Mitteilungen über die Wirtschaft waren langweilig; hingegen gab es eine Stelle, die ihn freute: »Und vergesse nicht, lieber August, daß du meine einzige Liebe auf der Welt warst und sein wirst und daß ich es sonst nicht überleben kann, und dich, lieber August, mitnehmen muß in das kühle Grab.« Ja, das freute ihn, und nun war er auch Mutter Hentjens halber zufrieden, daß er Lohberg zu Erna geschickt hatte. Dann benetzte er seine Fingerspitze, löschte die Kerze und streckte sich lang aus.
Eine schlaflose Nacht beginnt mit banalen Gedanken, etwa wie ein Jongleur erst banale und leichte Kunststücke zeigt, ehe er zu schwierigeren und atemraubenderen vorschreitet. Noch im Dunkeln mußte Esch grinsen, weil Lohberg zu der, kichernden Erna unter die Decke schlüpfen wird, und er war froh, daß er auf den Tugendbold so gar nicht eifersüchtig zu sein brauchte. Freilich, die Lust auf Erna war einem jetzt gründlich vergangen, aber das war nur gut und in Ordnung. Und eigentlich denkt er an die Dinge dort drüben bloß um zu erproben, wie gleichgültig sie ihn lassen, gleichgültig, daß Erna mit ihren Händen den dürftigen Körper des Idioten entlangschmeichelt und daß sie so eine Mißgeburt bei sich duldet, und daß es überhaupt so vollkommen gleichgültig war, welche Eindrücke und welche Phallusbilder – er verwendete ein anderes Wort – sie in ihrem Geiste herumtrug. So leicht war es, sich dies alles vorzustellen, daß es wie ohne Gewicht schien, und überdies war man bei dem keuschen Josef nicht einmal sicher, ob die Dinge wirklich in dieser Weise vor sich gingen. Leicht wäre das Leben, wenn ihn dies alles bei Mutter Hentjen ebenso gleichgültig ließe, – allein schon die Berührung mit dem Gedanken war so schmerzlich, daß er aufzuckte, nicht viel anders als Mutter Hentjen in gewissen Momenten. Und gerne wäre er mit seinen Gedanken zu Erna zurückgeflüchtet, hätte nicht etwas den Weg verstellt, ein Unsichtbares, von dem er bloß weiß, daß es das Drohende, Unentrinnbare vom Nachmittag ist. Da will er noch lieber an Ilona denken, bei der es, damit Ordnung werde, lediglich darauf ankommt, die Erinnerung an die sausenden Messer aus ihrem Gedächtnis zu tilgen. Gleichsam als Vorübung zu schwierigeren Aufgaben will er daran denken, aber es gelingt nicht. Doch wie er endlich mit Zorn und Widerwillen sich vor Augen führt, daß sie jetzt lässig und weich den Korn, dieses tote Stück Vieh, erduldet, unachtsam ihrer selbst, so wie sie lächelnd zwischen den Messern gestanden hat, wartend, daß eines sie ins Herz träfe, – oh, da erblickt er plötzlich auch schon die Lösung der Aufgabe: Selbstmord ist es, den sie auf sonderlich komplizierte und weibliche Art begeht, Selbstmord, der sie hinabzieht in die Berührung des Irdischen. Davor also muß sie errettet werden! Lösung der Aufgabe, dennoch neue Aufgabe! Wahrlich, versperrte das Drohende nicht den Weg, man würde Ilona einfach beiseite lassen, würde zu Erna hinübergehen, den Lohberg beim Kragen nehmen und ihn kurzerhand an die Luft befördern. Daraufhin könnte man ruhig und traumlos schlafen.
Doch da er eben daran ist, sich auszumalen, wie friedlich die Welt dann wäre, und schlichtestes Begehren nach einem Weibe sich bereits wieder eingefunden hat, wird der Schlaflose von einem Gedanken ergriffen, der gleichzeitig ein wenig komisch und ein wenig furchtbar ist: er durfte ja nicht zu Erna zurückkehren, denn nun wäre ja nicht mehr zu entscheiden, wer der Vater des Kindes sein wird. Das also war die unerklärliche, tiefere irdische Bindung, das also war das Drohende, das ihn heute vor Erna hatte zurückschrecken lassen! Die Rechnung mochte schon stimmen; denn einer war gegangen, um Platz zu machen für den, nach dem die Zeit gezählt werden soll, und es wird schon auch stimmen, daß eines Erlösers Vater ein keuscher Josef sein muß. Der Schlaflose versucht wieder, seine ironische Grimasse zu ziehen, aber es gelingt ihm nicht mehr; seine Lider sind zu fest geschlossen und niemand vermag im Dunkeln zu lachen. Denn die Nacht ist die Zeit der Freiheit, und Lachen ist die Rache des Unfreien. Oh, es war gerecht, daß er hier schlaflos und überwach lag, in einer kalten und fremdartigen Erregung, die nicht Lust mehr war, ein Scheintoter in seiner Gruft, da jener traumlos und starr in der seinen ruhte. Jedoch wie konnte man annehmen, daß jener deshalb geopfert ward, damit aus dem kümmerlichen irdischen Gefäß, das Fräulein Erna hieß, das neue Leben sprieße. Der Schlaflose flucht, wie Schlaflose dies manchmal zu tun pflegen, aber indem er flucht, fällt ihm ein, daß es trotzdem nicht stimmte, soferne die magische Stunde des Todes die Stunde der Zeugung zu sein hatte. Man kann nicht zu gleicher Zeit in Badenweiler und in Mannheim sein; es war also ein voreilig gezogener Schluß, und es ist wohl alles komplizierter und würdiger.
Das Zimmer war kühl in seiner Dunkelheit. Esch, ein Mensch impetuoser Haltungen, lag regungslos in seinem Bette, sein Herz hämmerte die Zeit zu einem dünnen Nichts zusammen, und kein Grund war einzusehen, warum man den Tod in eine Zukunft verlegen sollte, die ohnehin schon Gegenwart ist. Dem Wachenden mag solches unlogisch erscheinen, aber er vergißt, daß er selber zumeist in einer Art Dämmerzustand sich befindet und daß bloß der Schlaflose in seiner Überwachheit wahrhaft logisch denkt. Der Schlaflose hält die Augen geschlossen, als wolle er die kühle Grabesfinsternis, in der er liegt, nicht sehen, dennoch fürchtend, daß die Schlaflosigkeit in ganz gewöhnliches Wachsein umschlagen könnte angesichts der Gardinen, die wie Weiberröcke vor dem Fenster hängen, und all der Gegenstände, die aus der Finsternis sich lösen würden, wenn er den Blick öffnete. Doch er will schlaflos sein und nicht wach, sonst könnte er nicht mit Mutter Hentjen hier abgeschieden von der Welt und geborgen im Grabe liegen, voll Begehren, das nicht Begierde mehr war: ja, beraubt des Begehrens war er, und auch das war gut. Im Tode vereint, denkt der Schlaflose, scheinbar Getötete, ja, im Tode vereint, und eigentlich wäre das beruhigend gewesen, hätte man nicht an Erna und Lohberg denken müssen, die jetzt auch irgendwie im Tode vereint waren. Aber wie! Nun, der Schlaflose hat keine Lust mehr zu zynischen Witzen, er will sozusagen den metaphysischen Gehalt der Ereignisse auf sich wirken lassen und will die außerordentlich große Entfernung richtig abschätzen, die sein Lager von den übrigen Räumen des Hauses trennt, will in aller Ernsthaftigkeit über die erreichbare Gemeinschaft nachdenken, über des Traumes Erfüllung, die zur Vollendung führen soll; und da er all dies nicht mehr versteht, wird er mürrisch und vergrämt, wird zornig, und er denkt nur mehr darüber nach, wie es möglich ist, daß aus Totem das Lebendige entstehen könne. Der Schlaflose streicht mit seiner Hand über das kurz geschorene Haar, ein kühles und prickelndes Gefühl bleibt im Handteller; es ist wie ein gefährliches Experiment, das er nicht wiederholen wird.
Und wie er solcherart zu schwierigeren und würdigeren Übungen vorgeschritten ist, wächst sein Zorn, und vielleicht ist es der Zorn machtlosen, lustlosen Begehrens. Ilona begeht auf eine sonderlich komplizierte und weibliche Art Selbstmord, erduldet Nacht für Nacht ein Stück Tod, so daß ihr Gesicht jetzt schon aufgedunsen ist, als hätte Verwesung sie berührt. Und jede Nacht, die die unzüchtigen Bilder neu in sie einprägt, muß solche Aufgedunsenheit vergrößern. Darum also hatte er heute den Anblick Ilonas gefürchtet! das Wissen des Schlaflosen wird zum hellsichtigen Vortraum des Todes, und er erkennt, daß Mutter Hentjen schon tot ist, daß sie, die Tote, kein Kind von ihm haben durfte, daß sie darum, statt nach Mannheim zu kommen, bloß einen Brief hatte schreiben dürfen, geschrieben unter dem Bilde dessen, von dem sie sich hatte töten lassen, genau so wie sich Ilona jetzt von dem Vieh, dem Korn, töten läßt. Auch Mutter Hentjens Wangen sind aufgedunsen, die Zeit und das Sterben liegen in ihrem Gesicht, und die Liebe ihrer Nächte ist tot, ist tot wie der Musikautomat, der mechanisch abschnurrt, es braucht bloß einer hineinzugreifen. Und Esch wird zornig.
Der Schlaflose weiß nicht, daß sein Bett an einer bestimmten Stelle steht, in einem Hause in bestimmter Straße, und er lehnt es ab, daran erinnert zu werden. Es ist bekannt, daß schlaflose Menschen zornigen Regungen leicht ausgesetzt sind; das Rollen einer einsamen Trambahn auf der nächtlichen Straße vermag sie zur Raserei zu bringen. Um wieviel stärker wird da wohl die Wut über einen Widerspruch sein, der so groß und furchtbar ist, daß er kaum mehr als Buchungsfehler bezeichnet werden darf. In größter Eile hetzt der Schlaflose seine Gedanken, um den Sinn der Frage zu finden, die von irgendwo, von fernher, vielleicht aus Amerika kommend, sich ihm aufgedrängt hat. Er spürt, daß es in seinem Kopfe eine Gegend gibt, die Amerika ist, eine Gegend, die nichts anderes ist, als der Platz der Zukunft in seinem Kopf, und die doch nicht existieren kann, solange die Vergangenheit so hemmungslos sich in die Zukunft stürzt, das Vernichtete in das Neue. In diesem Sturm des Hineinstürzens wird er selbst mitgerissen, doch nicht er allein, sondern sie alle um ihn herum werden mit ihm dahingeweht im Orkan des Eisigen, sie alle dem folgend, der sich als erster in den Sturm geworfen hat, weggefegt, auf daß die Zeit wieder Zeit werde. Nun war keine Zeit mehr, nur außerordentlich viel Raum: der Schlaflose, Überwache, hört ihrer aller Sterben, und wenn er die Lider auch noch so stark zusammenpreßt, um es nicht zu sehen, er weiß, daß der Tod immer Mord ist.
Nun war das Wort wieder da, doch nicht einhergehuscht wie ein Schmetterling, sondern rasselnd wie ein Trambahnwagen in der nächtlichen Straße war das Wort Mörder da und schrie. Der Tote gibt den Tod weiter. Keiner darf überleben. Als wäre der Tod ein Kind, hat Mutter Hentjen ihn von dem toten Schneidermeister empfangen, und Ilona bekommt ihn von Korn. Vielleicht ist Korn ebenfalls ein Toter; er ist feist wie Mutter Hentjen und von der Erlösung weiß er nichts. Oder, wenn er noch nicht tot ist, wird er sterben – kleine beglückende Hoffnung –, wird sterben wie der Schneidermeister, nachdem er den Mord vollbracht hat. Mord und Gegenmord, Zug um Zug, stürzen Vergangenheit und Zukunft ineinander, stürzen hinein in den Augenblick des Todes, der die Gegenwart ist. Sehr scharf und sehr ernst will es durchdacht werden, denn nur zu bald schleicht sich wieder so ein Buchungsfehler ein. Wo es schon über alle Maßen schwierig ist, Opfer und Mord voneinander zu unterscheiden! Muß alles vernichtet werden, ehe die Welt zum Stande der Unschuld erlöst wird? Mußte die Sintflut hereinbrechen, genügte es nicht, daß einer sich opferte, einer Platz machte? Noch lebt der Schlaflose, obwohl er wie jeder Schlaflose scheintot ist, noch lebt Ilona, obwohl sie der Tod schon berührt hat, und bloß einer trägt das Opfer für das neue Leben und für die Ordnung einer Welt, in der nicht mehr mit Messern geschmissen werden darf. Das Opfer war nicht mehr ungeschehen zu machen. Und da alle abstrakten und allgemeingültigen Erkenntnisse im Zustand schlafloser Überwachheit gefunden werden, kam Esch zu dem Ergebnis: die Toten sind die Mörder der Frauen. Er aber war nicht tot und ihm oblag es, Ilona zu retten.
Wieder taucht der Wunsch in ihm auf und die Ungeduld, den Tod von Mutter Hentjens Hand zu empfangen, der Zweifel, ob es nicht schon geschehen sei. Wenn er sich dem Tode unterwindet, der von den Toten kommt, versöhnt er die Toten und sie beruhigen sich bei dem einen Opfer. Das wäre nun wohl ein tröstlicher Gedanke! Und wie der Schlaflose heftiger vom Zorn übermannt werden kann als der Wachende in seinem Dämmerzustand, so empfindet er auch das Glück viel beseligter, man könnte fast sagen, in einer Art wilder Leichtigkeit. Ja, dieses leichte und erlöste Gefühl des Glückes kann so hell werden, daß die Dunkelheit unter seinen geschlossenen Lidern zu strahlen beginnt. Denn nun war kein Zweifel mehr, daß er, der Lebende, von dem die Frauen das Kind empfangen durften, daß er, sich hingebend an Mutter Hentjen und an ihren Tod, daß er durch diese außergewöhnliche Maßnahme nicht nur die Erlösung Ilonas vollendet, nicht nur auf ewig sie den Messern entrückt, nicht nur ihre Schönheit ihr wiedergewinnt und alles Sterben rückgängig macht, rückgängig bis zu neuer Jungfrauschaft, sondern daß er notwendig damit auch Mutter Hentjen vom Tode errettet, lebend wieder ihr Schoß, jenen zu gebären, der die Zeit aufrichten wird.
Da ist es ihm nun, als käme er mit seinem Bett aus weitester Ferne angefahren, und als stünde es nun wieder an einer bestimmten Stelle in einem bestimmten Alkoven, und der Schlaflose, wiedergeboren in neuerwachtem Verlangen, weiß, daß er am Ziele ist, zwar noch nicht an jenem letzten, in dem Sinnbild und Urbild wieder zur Einheit werden, aber doch an jenem vorläufigen Ziel, mit dem der Irdische sich begnügen muß, Ziel, das er Liebe nennt und das wie ein letzterreichbarer fester Punkt der Küste vor dem Unerreichbaren steht. Und gleichsam im Widerspiel zu Sinnbild und Urbild sind die Frauen seltsam vereint und dennoch getrennt; wohl sitzt Mutter Hentjen in Köln und harret seiner, das weiß er, wohl ist Ilona ins Unerreichbare und Unsichtbare entrückt, und er weiß, daß er sie nimmer wiedersehen wird, – aber dort draußen an jener Küste, wo Sichtbares mit dem Unsichtbaren sich vereint, das Erreichbare mit dem Unerreichbaren, dort wandeln die beiden und die beiden Silhouetten verschwimmen ineinander und werden eins, und selbst wenn sie sich voneinander lösen, sie bleiben vereint in nie erfüllter Hoffnung; Mutter Hentjen in vollkommener Liebe zu umfangen, ihr Leben als das seine tragend, sie, die Tote, in seiner Umarmung erlösend zu erwecken, wird er, wenn er die Alternde liebend umarmt, die Last des Alterns und der Erinnerung von dem Körper Ilonas nehmen, wird Ilonas neuer jungfräulicher Schönheit die erhöhte Stufe seiner Sehnsucht errichtet haben; ja, so sehr waren die beiden Frauen voneinander geschieden und doch eins geworden, Spiegelbild des Einen, jenes Unsichtbaren, nach dem man sich nicht umwenden darf und der doch die Heimat ist.
Der Schlaflose war am Ziel. Hatte er in seiner Überwachheit die Lösung auch schon vorausgewußt, so begreift er, daß er bloß einen logischen Faden um sie herum geführt hat und bloß darum schlaflos bleiben mußte, damit der Faden desto länger werde; nun aber erlaubt er sich, den letzten Knoten zu binden, und es ist wie eine verzwickte Buchungsaufgabe, die er endlich zur Lösung gebracht hat, und es ist sogar mehr als eine Buchungsaufgabe: die wahre Aufgabe der Liebe hatte er in ihrer vollkommenen Entscheidung auf sich genommen, da er sein irdisches Leben Mutter Hentjen unterwarf. Er hätte Ilona von diesem Ergebnis gern in Kenntnis gesetzt, aber wegen ihrer mangelhaften Beherrschung der deutschen Sprache mußte er es wohl unterlassen.
Der Schlaflose öffnet die Augen, erkennt sein Zimmer, und dann schläft er zufrieden ein.
Er hatte sich für Mutter Hentjen entschieden. Endgültig. Esch schaute nicht zum Coupéfenster hinaus. Und wie er seine Gedanken auf die vollkommene unbedingte Liebe richtet, ist's wie ein gewagtes Experiment: Freunde und Gäste würden in dem hellerleuchteten Lokale zechen; eintreten wollte er, und ungeachtet der vielen Augenzeugen würde Mutter Hentjen ihm entgegeneilen und an seine Brust sich werfen. Doch als er in Köln einlangte, da hatte sich das Bild sonderbar verschoben; denn das war nicht mehr eine Stadt, die er kannte, und der Weg durch die abendlichen Straßen dehnte sich meilenweit und fremd. Unbegreiflich, daß er bloß sechs Tage fortgewesen sein sollte. Es gab keine Zeit mehr, und unbestimmbar war das Haus, das sich ihm öffnete, unbestimmbar der Raum in undeutlicher Weite. Esch stand an der Tür, sah hinüber zu Mutter Hentjen. Sie thronte hinter der Theke. Über dem Spiegel brannte ein Licht in bunter Tulpe, Schweigen hing in der Luft, und kein Gast war in dem düstern Raum. Es geschah nichts. Warum war er hierher gekommen? Es geschah nichts; Mutter Hentjen blieb hinter der Theke und endlich sagte sie in gewohnt gleichmütiger Weise »Guten Tag«. Dabei sah sie sich scheu im Lokal um. Zorn stieg in ihm auf, und mit einem Male begriff er nicht, warum er sich für diese Frau entschieden hatte. Also sagte er ebenfalls nur »Guten Tag«, denn wenn er ihre stolze Kühle auch irgendwie bejahte, und auch wußte, daß es ihm nicht zukam, mit gleicher Münze zurückzuzahlen, so war er doch zornig: wer die Entscheidung zur unbedingten Liebe im Herzen trägt, der ist immerhin berechtigt, sich gleichzustellen, – er trumpfte auf: »Danke dir für deinen Brief.« Sie sah sich wütend indem leeren Lokal um: »Wenn Sie jemand hörte?« und Esch, völlig aufgebracht, sagte besonders vernehmlich: »Und wenn schon … laß doch diese dumme Geheimnistuerei endlich sein!« sagte es ohne Sinn und Zweck, denn das Lokal war leer und er selber wußte nicht, warum er hier saß. Mutter Hentjen schwieg entsetzt, machte sich an ihrer Frisur zu schaffen. Seitdem sie ihn an die Bahn begleitet hatte, war sie voller Reue, sich zu weit vorgewagt, zu sehr sich hingegeben zu haben, und gar seit jenem unbedachten Brief nach Mannheim war Mutter Hentjen in eine richtige Panik geraten; sie wäre Esch dankbar gewesen, wenn er den Brief nicht erwähnt hätte. Jetzt aber, wie er mit hölzern unerbittlichem Gesicht offenbar auf seinen Schein pochte, fühlte sie sich wieder mit eiserner Klammer gefaßt und wehrlos. Esch sagte: »Ich kann ja auch gehen«, und nun wäre sie wirklich hinter ihrem Tische hervorgekommen, wären nicht gerade die ersten Gäste eingetreten. So blieben sie beide stehen und schwiegen eine Weile; dann flüsterte Mutter Hentjen und deutete mit einem verächtlichen Tonfall an, daß es lediglich geschah, um der Szene ein Ende zu bereiten: »Du kommst heute nacht.« Esch antwortete nichts, setzte sich mit einem Glas Wein an einen Tisch. Er fühlte sich verwaist. Seine gestrige Rechnung, die so eindeutig gewesen war, war ihm undurchsichtig geworden: warum sollte er sich Ilonas wegen für diese Frau entscheiden? er sah sich in dem Lokale um und fand es noch immer fremd; es ging ihn nichts mehr an, er war zu weit von alledem entfernt. Was hatte er überhaupt noch in Köln zu schaffen? er sollte ja schon längst in Amerika sein. Doch da traf sein Blick auf das Konterfei des Herrn Hentjen, das dort droben über den Insignien der Freiheit hing, und es war, als kehrte nun jählings sein Gedächtnis zurück; er ließ sich Tinte und Papier geben und schrieb mit seiner schönsten Buchhalterschrift:
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Ich bringe einem löbl. Polizeipräsidium zur Kenntnis, daß Herr Eduard v. Bertrand in Badenweiler, Vorsitzender des Aufsichtsrates der Mittelrheinischen Reederei AG. zu Mannheim, leider mit Personen männlichen Geschlechtes in unzüchtigen Beziehungen steht, und bin bereit, meine Angaben als Zeuge zu beweisen.
Als er seine Unterschrift anbringen wollte, stockte er, denn er wollte zuerst schreiben: »Für die tief trauernden Hinterbliebenen«, und obgleich er darüber lachen wollte, erschrak er. Schließlich aber setzte er seinen Namen und seine Adresse auf das Papier, und sorglich zusammengefaltet verwahrte er es in der Brieftasche. Bis morgen, sagte er sich, Galgenfrist. In der Brieftasche steckte auch die Karte aus Badenweiler. Er überlegte, ob er sie heute nacht schon Mutter Hentjen geben dürfte. Fühlte sich verwaist. Doch da sah er den Alkoven, sah sie wieder in ihrer aufwühlend schmerzlichen Geschlechtsbereitschaft, und als er beim Büfett vorbeikam, war seine Stimme heiser: »Also nachher.« Sie saß steif auf ihrem Stuhle und schien nichts gehört zu haben, so daß er voll neuen Zornes, der doch ein anderer war als der frühere, zurückkam und rücksichtslos laut sagte: »Das Bild dort oben nimmst du freundlichst weg.« Sie rührte sich noch immer nicht, und er ließ die Türe krachend hinter sich zufallen.
Als er dann kam und aufschließen wollte, fand er die Haustüre von innen verriegelt. Ohne Rücksicht darauf, ob ihn die Magd hören könne, schellte er, und als nichts sich rührte, läutete er Sturm. Das nützte; er hörte Schritte; fast hoffte er, daß es die kleine Magd sein würde: der könnte er sagen, er habe etwas in der Gaststube vergessen, außerdem aber würde ihn die Kleine auch nicht verschmähen, und das wäre eine gute Lektion für Muttern. Doch es war nicht die kleine Magd, sondern Frau Hentjen in eigener Person; sie war noch völlig bekleidet und weinte. Beides erhöhte seine Wut. Sie stiegen schweigend hinauf und droben überfiel er sie kurzerhand. Als sie unterlag und ihre Küsse weich wurden, fragte er drohend: »Kommt das Bild weg?« Sie wußte zuerst nicht, wovon er sprach und als sie es verstand, begriff sie erst recht nicht: »Das Bild … ja das Bild, warum? gefällt es dir nicht?« Er antwortete, verzweifelt vor ihrem Unverständnis: »Nein, es gefällt mir nicht … es gefällt mir überhaupt vieles nicht.« Sie sagte willfährig und höflich: »Wenn es dir nicht gefällt, so kann ich es ja anderswohin hängen.« Sie war so unsäglich dumm, daß man wohl nur mit Schlägen etwas ausrichten konnte. Nun, Esch bezähmte sich: »Das Bild wird verbrannt.« – »Verbrannt?« – »Ja, verbrannt. Und wenn du dich noch weiter so dumm stellst, zünde ich die ganze Bude an.« Sie rückte erschrocken von ihm ab, und mit der Wirkung zufrieden, sagte er: »Könnte dir ja nur recht sein; du magst ja die Wirtschaft sowieso nicht.« Sie antwortete nicht, und wenn sie auch wahrscheinlich gar nichts dachte, sondern bloß die Flammen über ihrem Dach emporzüngeln sah, so war es doch, als wollte sie etwas verheimlichen. Er fuhr sie an: »Warum sagst du nichts?!« Der scharfe Ton machte sie vollends erstarren. War dieses Weib nicht zu bewegen, ihre Maske endlich fallen zu lassen? Esch hatte sich erhoben und stand nun drohend am Eingang des Alkovens, wie um zu verhindern, daß sie flüchte. Man mußte die Dinge beim rechten Namen nennen, sonst kam man mit diesem Stück Fleisch überhaupt nicht weiter. Aber bloß heiser und stockend vermochte er zu fragen: »Warum hast du ihn geheiratet?«, denn mit der Frage wühlte sich so viel Wildes und Hoffnungsloses in ihm auf, daß er mit seinen Gedanken zur Erna flüchtete. Die hatte er verlassen, trotzdem bei ihr nichts ihn quälte und es bei ihr völlig belanglos gewesen war, welche Phallusbilder sie in ihrer Erinnerung trug. Und egal war es ihm, ob Erna Kinder gehabt oder durch Kunststücke verhütet hatte. Er fürchtete die Antwort, wollte nichts hören, dennoch schrie er: »Na, wird's?« Frau Hentjen hingegen in neuerwachter Angst, sich zu sehr preiszugeben, vielleicht auch in der Angst, es könnte der Nimbus, um dessentwillen sie sich geliebt glaubte, verloren gehen, raffte sich zu einer Antwort auf: »Es ist so lange her … das kann dir doch gleichgültig sein.« Esch schob den Unterkiefer vor, entblößte das Pferdegebiß: »Gleichgültig soll es mir sein … mir soll es gleichgültig sein, …« er schrie, »ja, es ist mir schon gleichgültig … wurscht ist es mir!« So lohnte sie also seine absolute und restlose Hingabe und seine Qual. Sie war dumm und verstockt; ihm, der ihr Schicksal als das seine auf sich genommen hatte, ihm, der ihr Leben aufnehmen wollte, obwohl es vom Tode selber alt gemacht und besudelt worden war, ihm, August Esch, der bereit war, in vollkommener Entscheidung sich ihr hinzugeben, der seine ganze Fremdheit in ihr aufgehen lassen wollte, um damit auch all ihre Fremdheit und ihre Gedanken, und seien sie für ihn noch so schmerzhaft, sozusagen im Tauschwege zu erwerben: ihm also sollte es gleichgültig sein!! Oh, sie war dumm und verstockt und weil sie es war, mußte er sie schlagen; er war zum Bett hingetreten und holte aus und hatte ihre dicke unbewegte Wange getroffen, als könnte er auch die Unbeweglichkeit ihres Geistes damit treffen. Sie wehrte sich nicht und blieb starr liegen, und wenn er mit Messern nach ihr geworfen hätte, sie hätte sich auch nicht gerührt. Ihre Wange rötete sich und als eine Träne über die Rundung her absickerte, besänftigte sich sein Zorn. Er setzte sich aufs Bett und sie rückte zur Seite, ihm Platz zu machen. Dann befahl er: »Wir werden heiraten.« Sie sagte bloß »Ja«, und Esch war nahe daran, neuerdings in Wut zu verfallen, weil sie nicht sagte, daß sie glücklich sei, den verhaßten Namen endlich ablegen zu dürfen. Sie aber wußte nichts anderes mehr zu antworten, als daß sie ihre Arme um ihn legte und ihn an sich zog. Er war müde und ließ es geschehen; vielleicht war es gerecht so, vielleicht war es gleichgültig, denn angesichts des Reichs der Erlösung ist ohnehin alles unsicher, unsicher jede Zeit, unsicher jede Zahl und jede Addition. Zwar war er von neuem erbittert, was wußte sie vom Reich der Erlösung? was wollte sie überhaupt davon wissen? wahrscheinlich so wenig wie der Korn! es wird wohl eine Zeit brauchen, bis man's ihr einbläut. Aber vorderhand muß man sich damit abfinden, mußte warten, bis sie es begreifen wird, mußte sie ihr Wirtschaftsbuch führen lassen, wie sie es eben tat. Im Lande der Gerechtigkeit, in Amerika, wird es anders werden, dort wird das Vergangene abfallen wie Zunder. Und als sie gepreßt fragte, ob er sich in Ober-Wesel aufgehalten habe, ärgerte er sich nicht, sondern schüttelte ernsthaft den Kopf und brummte: »Ach, woher.« So feierten sie ihre Hochzeitsnacht, besprachen, die Wirtschaft zu verkaufen, und Mutter Hentjen war ihm dankbar, daß er nichts anzünden würde. In einem Monat könnten sie schon auf hoher See sein. Morgen werde er sich daran machen, das amerikanische Geschäft mit Teltscher wieder in Gang zu bringen.
Er blieb länger als sonst. Sie gingen auch nicht mehr auf Fußspitzen die Treppe hinab. Und als sie ihn hinausließ, gab es schon Leute auf der Straße. Das erfüllte ihn mit Stolz.
Am nächsten Morgen begab er sich in die Alhambra. Natürlich war noch niemand da. Er stöberte in den Briefschaften auf Gernerths Tisch. Fand einen uneröffneten Umschlag, der seine eigene Handschrift trug, und war darob so verblüfft, daß er ihn im ersten Augenblick nicht erkannte: es war Ernas Brief, den er selber in Mannheim geschrieben hatte. Hm, die wird wieder ein schönes Gezeter anheben, wenn sie so lange keine Antwort erhält. Eigentlich nicht mit Unrecht. Unordentliches Gesindel beim Theater.
Endlich kam Teltscher dahergeschlendert. Esch freute sich beinahe, ihn wiederzusehen. Teltscher war gnädig: »No, höchste Zeit, daß Sie wieder da sind, – jeder macht seine Privatgeschäfte und der Teltscher soll die lausige Arbeit allein besorgen.« Wo Gernerth sei? »No, in München bei der werten Familie … schwere Krankheitsfälle in der Familie, Schnupfen wer'n sie haben.« Er wird schon zurückkommen, meinte Esch. »Bald müßt' er kommen, der Herr Direktor, gestern waren keine fufzig Leut' im Saal. Man muß das mit dem Oppenheimer besprechen.« – »Schön«, sagte Esch, »gehen wir zu Oppenheimer.«
Mit Oppenheimer kamen sie überein, daß die Schlußrunden angesetzt werden sollten. »Hab' ich Sie gewarnt oder nicht«, sagte Oppenheimer, »Ringkämpfe gut, aber ewig Ringkämpfe! wen interessiert das?« Esch konnte es recht sein; er brauchte sich ja bloß seinen Nutzen bei Gernerths Rückkunft auszahlen zu lassen, und je eher Schluß gemacht würde, desto eher kämen sie nach Amerika.
Diesmal nahm er Teltscher freiwillig zum Mittagessen mit, denn jetzt galt es, das amerikanische Projekt in Angriff zu nehmen. Kaum auf der Straße, zog Esch die gewisse Liste aus der Tasche und zählte die Mädchen zusammen, die er für die Reise vorgemerkt hatte. »Ja, ich hab' auch schon welche«, sagte Teltscher, »aber vorher muß mir der Gernerth mein Geld zurückgeben.« Esch wunderte sich, denn Teltscher hätte doch aus Lohbergs und Ernas Einschüssen befriedigt werden sollen. Teltscher sagte ärgerlich: »Und mit welchem Geld, glauben Sie, haben wir die Ringkämpfe finanziert? Er war doch passiv, verstehen Sie das nicht? Den Fundus hat er mir verpfändet, aber was fang' ich mit dem Fundus in Amerika an?« Dies war zwar etwas erstaunlich, aber immerhin, wenn das Ringkampfgeschäft liquidiert war, würde Gernerth flüssig werden und Teltscher konnte reisen. »Die Ilona kommt mit«, entschied Teltscher. Da wirst du dich irren, mein Lieber, dachte Esch, Ilona hatte mit diesen Dingen nichts mehr zu tun; mochte sie auch jetzt noch bei Korn liegen, es wird nicht lange währen, in Bälde wird sie auf einem fernen, unerreichbaren Schloß wohnen, in dessen Park die Rehe äsen. Er sagte, daß er noch zum Polizeipräsidium müsse, und sie machten den kleinen Umweg. In einem Papierladen kaufte Esch Zeitungen und einen Briefumschlag; die Zeitungen steckte er ein, und den Briefumschlag versah er sogleich mit einer schlingenreichen Anschrift. Dann entnahm er der Brieftasche die sorglich gefaltete Anzeige, tat sie in den Umschlag und ging zum Präsidium hinüber. Als er aus dem Gebäude zurückkam, setzte er das Gespräch fort: es sei überflüssig, daß Ilona mitführe. »Keine Red'«, sagte Teltscher, »erstens die glänzenden Engagements, die wir drüben finden, und zweitens, falls aus der Reise nichts wird, muß man hier an die Arbeit. Genug hat sie gefaulenzt; ich hab' ihr auch schon geschrieben.« – »Unsinn«, sagte Esch grob, »wenn man Mädchenhändler ist, nimmt man keine Frau mit.« Teltscher lachte: »No, wenn Sie der Meinung sind, daß ich es lassen soll, dann kaufen Sie mir die Chancen drüben ab. Sie sind ja jetzt Großkapitalist … von einer Geschäftsreise bringt man meistens Geld heim?« Esch stutzte; es war, als zwinkerte Teltscher zum Polizeipräsidium hinüber, – was sollte das heißen? Was wußte der jüdische Taschenspieler? wußte er selber doch nichts von dieser Reise; er fuhr Teltscher an: »Scheren Sie sich zum Teufel, ich habe kein Geld mitgebracht.« – »Nix für ungut, Herr Esch, nehmen Sie mir's nicht übel, das war nur nebenbei.«
Sie traten bei Mutter Hentjen ein, und Esch war es wieder, als besäße Teltscher irgendeine Mitwisserschaft und könnte etwa »Mörder« zu ihm sagen. Er wagte nicht, sich im Lokale umzusehen. Endlich hob er die Augen und fand an der Stelle von Hentjens Bild einen weißen Fleck, an dessen Rand Spinnweben hingen. Er schaute zu Teltscher hinüber, und der sagte nichts, weil er offenbar nichts bemerkt hatte, nein, gar nichts hatte er bemerkt! Esch wurde fast übermütig; teils aus Übermut, teils um Teltscher von dem Bilde abzulenken, ging er zum Musikautomaten und ließ ihn sein lärmendes Stück spielen; auf den Lärm hin erschien Mutter Hentjen, und es gelüstete Esch, sie mit lauter und vertrauter Herzlichkeit zu begrüßen: er hätte sie gerne als Frau Esch vorgestellt, und wenn er solch liebevollen Scherz unterdrückte, so geschah es nicht nur, weil er ihr dankbar war und bereit, sie in ihrer Zurückhaltung zu schonen, sondern auch weil der Herr Teltscher-Teltini eines solchen Vertrauens durchaus unwürdig war. Hingegen fühlte sich Esch keineswegs bemüßigt, diese Diskretion allzu weit zu treiben, und als Teltscher sich nach Tisch zu gehen anschickte, begleitete er ihn nicht wie sonst, um dann auf Umwegen zurückzukommen, vielmehr sagte er offen, daß er noch bleiben und seine Zeitungen lesen wolle. Er nahm die Zeitungen aus der Tasche, aber er steckte sie wieder ein. Blieb sitzen. Friedlich ruhten seine Hände auf den Knien. Er mochte nicht lesen. Betrachtete den hellen Fleck an der Wand. Und wie es still geworden war, ging er hinauf. Er war Mutter Hentjen dankbar und sie hatten einen angenehmen Nachmittag. Sie sprachen wieder vom Verkauf der Wirtschaft und Esch meinte, daß vielleicht Oppenheimer einen Käufer finden würde. Und sprachen zärtlich von ihrer Heirat. An der Decke des Alkovens war ein Fleck, der wie ein dunkler Schmetterling aussah; aber es war bloß Schmutz.
Abends wollte er sich pflichtgemäß auf die Mädchensuche begeben. Indes er überlegte sich's, mußte erst mal schauen, was der Junge, der Harry trieb. Er suchte ihn vergebens und wollte das Saulokal schon verlassen; da kam Alfons. Der Dicke war in einem komischen Zustand; seine fettigen Haare klebten in Unordnung am Schädel, sein Seidenhemd stand offen, ließ die haarlose weiße Brust sehen und irgendwie war man an zerwühlte Polster gemahnt. Esch mußte lachen. Der Dicke ließ sich an einem Tisch beim Eingang nieder und ächzte. Esch stand vor ihm und lachte noch immer, doch es war, als wollte er damit etwas betäuben: »Hallo, Alfons, was gibt es?« Der Musiker sah ihn aus seinem Fett heraus glanzlos und feindselig an. »Laß dir was zu trinken geben und sag', was los ist.« Alfons trank einen Kognak und schwieg. Endlich: »Heiliger Gott … das ist unerhört … ist dran schuld und fragt, was los ist!« – »Red' keinen Unsinn, was ist los?« – »Heiliger Gott! er ist tot!« Alfons stützte das Gesicht in die Hände und stierte vor sich hin; Esch setzte sich an den Tisch. »Also, wer ist tot?« Alfons stammelte: »Er hat ihn zu sehr geliebt.« Nun war es wieder komisch: »Wer? wen?« Alfons' Stimme kippte um: »Stellen Sie sich doch nicht so; Harry ist tot …« So so, Harry war tot, Esch wollte es eigentlich nicht verstehen, schaute etwas verständnislos auf den Dicken; dem liefen die Tränen über die Backen: »Mit Ihren Reden haben Sie ihn damals ganz irrsinnig gemacht … er hat ihn zu sehr geliebt … wie er es in der Zeitung gelesen hat, hat er sich eingeschlossen … heute mittags … und jetzt haben wir ihn gefunden … Veronal.« So so, Harry war tot; das hatte irgendwo seine Richtigkeit, es hatte so kommen müssen. Esch wußte nur nicht, welche Richtigkeit es damit hatte. Er sagte »Armer Kerl«, und plötzlich wußte er es, war voll eines befreiten Glückes, weil er mittags den Brief beim Polizeipräsidium abgegeben hatte; hier hoben sich endlich einmal Mord und Gegenmord, Post und Gegenpost kontomäßig auf, hier war einmal ein korrekt glattgestelltes Konto gefunden! Komisch nur, daß er trotzdem an etwas schuld sein sollte; er sagte nochmals: »Armer Kerl … warum hat er es getan?« Alfons glotzte ihn entgeistert an: »Er hat es doch in der Zeitung gelesen …« – »Was?« »Da«, Alfons deutete auf den Pack Zeitungen, die aus der Rocktasche Eschs hervorlugten. Esch zuckte die Achseln, – die Zeitungen hatte er vergessen. Er zog sie heraus: da stand nun schwarzumrandet und groß und in vielen Wiederholungen auf der letzten Seite, denn keine seiner Unternehmungen, noch die Beamten, noch die Arbeiter hatten sich die Wehmut nehmen lassen, die Trauernachricht auszugeben, daß Herr Eduard v. Bertrand, Vorsitzender des Aufsichtsrates, Ritter hoher Orden usw., nach kurzem schwerem Leiden heimgegangen sei. Im Texte vorne aber war neben ehrenvollen Nachrufen zu lesen, daß der Verblichene mutmaßlich in plötzlicher geistiger Umnachtung durch einen Revolverschuß seinem Leben ein Ende bereitet habe. Dies alles las Esch und es interessierte ihn wenig. Er stellte bloß fest, wie richtig es gewesen war, daß man das Bild heute entfernt hatte. Komisch, daß ein so völlig Unbeteiligter wie dieser Musiker solches Aufhebens davon machen konnte. Mit einer kleinen ironischen Grimasse klopfte er dem Dicken wohlwollend und beruhigend auf den schwammigen Rücken, zahlte ihm den Schnaps und ging zu Frau Hentjen. Lang und bequem ausschreitend, denkt er an Martin und daß ihm der nun nicht mehr mit seinen harten Krücken nachlaufen und ihn bedrohen würde. Und auch das war gut.
Allein gelassen, legte der Musiker Alfons die Fäuste an die Schläfen und schaute ins Leere. Esch schien ihm ein böser Mann zu sein, wie alle Männer, die zu Frauen gingen, um sie zu besitzen. Er hatte die Erfahrung gemacht, daß alle diese Männer Unheil stiften. Sie schienen ihm wie Amokläufer, die durch die Welt rasen und bei deren Nahen man nichts anderes tun konnte, als sich ducken. Er verachtete diese Männer, die dumm und gehetzt dahergerannt kommen, gierig, nicht nach dem Leben, das sie offenbar überhaupt nicht sahen, sondern nach irgend etwas, das außerhalb davon lag und für das sie im Namen einer Art Liebe das Leben zerstörten. Der Musiker Alfons war zu traurig, um dies ausdrücklich durchzudenken; aber er wußte, daß diese Männer zwar mit großer Leidenschaft von der Liebe sprechen, jedoch nur Besitz meinen, oder was man sonst so darunter versteht. Auf ihn hatte man natürlich nichts zu geben, denn er war bestenfalls ein gedankenloser Mensch und ein verkommener Orchesterspieler; aber er wußte, daß man das Absolute noch lange nicht erreicht, indem man sich für eine Frau entscheidet. Und er entschuldigte auch die bösartige Wut der Männer, denn er wußte eben auch, daß sie aus der Angst und aus der Enttäuschung entspringt, wußte, daß jene leidenschaftlichen und bösartigen Männer hinter einem Stück Ewigkeit her sind, damit es sie vor der Angst beschütze, die in ihrem Rücken steht und ihnen den Tod verkündet. Ein dummer und gedankenloser Orchestergeiger war er, aber er konnte Sonaten auswendig spielen, und vielerlei wissend, durfte er trotz seiner Traurigkeit darüber lächeln, daß die Leute in ihrer angstvollen Sucht nach dem Absoluten sich ewig lieben wollen, vermeinend, ihr Leben werde dann kein Ende nehmen und ewig währen. Mochten sie ihn geringschätzen, weil er auch Potpourris und Polka-schnell spielen mußte, er hatte trotzdem erkannt, daß diese Gehetzten, die das Unvergängliche und Absolute im Irdischen suchen, immer nur Sinnbild und Ersatz finden für das, was sie suchen, ohne daß sie es benennen könnten: denn sie sehen den Tod des andern ohne Bedauern und ohne Traurigkeit, so sehr sind sie von dem eigenen besessen; sie jagen nach dem Besitz, um von ihm besessen zu werden, weil sie in ihm das Feste und Unwandelbare erhoffen, das sie besitzen und behüten soll, und sie hassen die Frau, für die sie sich in Blindheit entschieden haben, hassen sie, weil sie bloßes Sinnbild ist, das sie voll Wut zerschlagen, wenn sie sich wieder der Angst und dem Tode preisgegeben finden. Der Musiker Alfons empfand Mitleid mit den Frauen; denn wollen sie es auch nicht besser haben, so sind sie doch nicht dieser zerstörend stupiden Besitzleidenschaft verfallen und sie sind weniger von Angst gejagt, sind verzückter, wenn sie Musik vorgesetzt bekommen, stehen mit dem Tode in innigerer und vertrauterer Beziehung: darin gleichen die Frauen den Musikern, und mag man selber auch nur ein fetter homosexueller Orchestermusiker sein, man darf sich ihnen verwandt fühlen, darf ihnen ein Stück der Ahnung zugestehen, daß der Tod etwas Trauriges und Schönes sei, wissend, daß sie nicht deshalb weinen, weil man ihnen einen Besitz weggenommen hat, sondern etwas, was zu benützen und anzusehen, gut und sanft war. Oh, welche Wirrseligkeit ist das Leben, unverstanden von den Besitzsüchtigen, kaum verstanden von den anderen, und doch geahnt von der Musik, die klingendes Sinnbild alles Gedachten, die Zeit aufhebt, um sie in jedem Takte zu bewahren, den Tod aufhebt, um im Klange neu ihn erstehen zu lassen. Wer dies, gleich den Frauen und den Musikern, erahnt hat, der durfte es auf sich nehmen, gedankenlos und dumm zu sein, und der Musiker Alfons befühlte die Fettwülste seines Leibes, als wären sie eine gute weiche Decke, durch die hindurch man etwas Wertvolles und Liebenswertes tasten konnte: mochten die Leute ihn verachten und als weibisch beschimpfen, ja, er war bloß ein armer Hund, aber nichtsdestoweniger war er der Vielfalt der Ewigkeit seliger und lässiger und weicher hingegeben, als jene die ihn beschimpften und die dennoch nur einen kleinen irdischen Ausschnitt zum Sinnbild und Ziel ihres traurigen Strebens machen. Er war es, der die anderen verachten durfte. Auch Esch tat ihm leid, und er mußte an die heroischen Kampfesklänge denken, die die Ringer beim Betreten der Arena begleiten, damit der Kämpfer angestachelter Mut den Tod vergäße, der hinter ihnen steht. Er überlegte, ob er bei Harry Totenwache halten sollte, aber es graute ihm vor dem wachsenen Antlitz und er zog vor, sich zu betrinken und die Gäste und Kellner zu betrachten, die sich bewegten und doch den Stempel des Todes in ihren Gesichtern trugen.
Ilona aber erhob sich zur nämlichen Stunde dieser Nacht vom Lager und betrachtete beim Schein des kleinen roten Öllichtes unter dem Muttergottesbild den schlafenden Balthasar Korn. Er schnarchte, und wenn das Dröhnen aussetzte, war es wie das Verstummen der Musik im Theater vor ihrer Nummer; in das Pfeifen seines Atems klang dann das dünne Sausen geschleuderter Messer. Freilich daran dachte sie nicht, obwohl der Brief Teltschers sie zur Arbeit zurückrief. Sie betrachtete Korn und versuchte sich vorzustellen, wie er ohne den schwarzen Schnauzbart und als kleiner Junge ausgesehen haben mochte. Sie wußte nicht genau, warum sie dies tat, aber es schien ihr, als würde die Muttergottes an der Wand ihr die Sünde dann eher vergeben. Denn Sünde war es, daß vor der Jungfrau heiligen Augen sie ihn zu unheiliger Lust benützt hatte, und wäre sie nicht frühzeitig mit der Krankheit angesteckt worden, so hätte auch sie Kinder gehabt. Korn verlassen zu müssen, war ihr gleichgültig, sie wußte, daß ein anderer nachfolgen werde, und es war ihr gleichgültig zu Teltscher zurückzukehren; sie machte sich keine Gedanken darüber, daß der in Köln auf sie wartete und daß er ihr verfallen war, sondern sie wußte bloß, daß er sie brauchte, damit er seine Messer nach ihr werfen könne. Auch daß sie nach Amerika fahren sollte, war ihr gleichgültig. Sie war schon allzuviel herumgereist, und Amerika war eine Stadt wie jede andere. Sie lebte ohne Hoffnung und ohne Angst. Sie hatte gelernt, Menschen zu verlassen, aber für heute fühlte sie sich noch als Besitz Korns. Sie trug eine Narbe am Halse, und sie hatte dem Mann, dem sie damals untreu war, recht gegeben, als er sie töten wollte. Wäre Korn ihr untreu geworden, so hätte sie ihn nicht getötet, sondern mit Vitriol begossen. Ja, eine solche Verteilung dünkte ihr in der Eifersucht angemessen, denn wer besitzt, will vernichten, doch wer bloß benützt, kann sich begnügen, das Objekt unbrauchbar zu machen. So gilt es für alle Menschen und auch für die Königin von England. Denn die Menschen sind alle gleich und keiner vermag dem andern etwas Gutes zu tun. Stand sie auf der Bühne, so war es licht, und lag sie bei einem Manne, so war es dunkel. Leben bedeutete essen und Essen bedeutete leben. Einmal hatte sich einer ihrethalben umgebracht: es hatte sie nicht sehr berührt, aber sie dachte gerne daran. Alles übrige versank im Schatten und in dem Schatten bewegten sich die Menschen wie dunklere Schatten, die ineinander verflossen und wieder auseinander strebten. Alle taten nur Unheil, als ob sie sich strafen müßten, wenn sie Lust aneinander suchten. Sie war ein wenig stolz, weil auch sie Unheil brachte, und als jener sich getötet hatte, war es wie eine Sühne und eine Entschädigung, die ihr von Gott für ihre Unfruchtbarkeit zuerkannt worden war. Vieles war unbegreiflich, eigentlich alles. Man konnte über den Sinn der Geschehnisse nicht nachdenken; nur wenn Kinder zur Welt kamen, schien sich das Schattenhafte zu verdichten und körperlich zu werden und dann war es, als ob eine süße Musik die Welt der Schatten ewiglich erfülle. Deshalb trägt Maria wohl auch den Jesusknaben dort droben über dem roten Lichte. Erna wird heiraten und Kinder bekommen: warum nahm Lohberg nicht sie, statt der spitzigen gelblichen Kleinen. Sie betrachtete Korn und fand in seinem Gesicht nichts von dem, was sie suchte; seine behaarten Fäuste lagen auf der Decke und waren niemals zart und jung gewesen. Es graute ihr vor seinem rotbeleuchteten fleischigen Antlitz, in dem der Schnurrbart stand, und sie ging mit ihren nackten Füßen leise zu Erna hinüber, glitt weich und lässig neben sie, schmiegte sich zärtlich an ihren eckigen Körper, und in dieser Lage schlief sie ein.
Nun benahm sich Esch schon fast wie ein Bräutigam oder richtiger wie ein Beschützer, denn sie hatten von ihrer Verbindung zwar noch nichts verlauten lassen, Esch hingegen wußte, was sich einer schwachen Frau gegenüber ziemt, und sie gestattete, daß er ihre Interessen wahrte. Nicht nur mit dem Mann, der das Mineralwasser und das Eis brachte, durfte er unterhandeln, sondern auch mit Oppenheimer, der auf seine Anregung hin mit der Veräußerung der Wirtschaft betraut worden war. Der rührige Oppenheimer nämlich betrieb nebst seinem Theatergeschäft, wenn es darauf ankam, auch die Vermittlung von Realitäten und sonst noch allerhand Agenturen, und war selbstverständlich gerne bereit, diesem Geschäft alle Aufmerksamkeit zuzuwenden. Für den Augenblick allerdings hatte er andere Sorgen im Kopfe. Er war gekommen, um das Haus zu besichtigen, aber mitten auf der Stiege blieb er stehen und sagte: »Nicht zu erklären, die Sache mit dem Gernerth; es wird ihm doch Gott behüt' nichts zugestoßen sein … übrigens, was kümmert's mich, ist ja nicht mein Geschäft.« Und wenn er sich damit auch immer wieder selber zu beruhigen trachtete, er kam ebenso oft darauf zurück, daß Gernerth jetzt schon acht Tage ausgeblieben sei, jetzt eben, wo Ihr die Kämpfe abschließen wollt und das Geld doch brauchen werdet für die Honorar' und für die rückständige Pacht. Daß der Gernerth, so ein anständiger Mensch, mit Pacht rückständig werden könnte, hätte er sich auch nie gedacht. Und dabei ist das Geschäft bis zuletzt glänzend, geradezu glänzend gegangen. Jetzt natürlich reicht's nicht, die Spesen zu decken. Na, höchste Zeit, daß Schluß gemacht wird. »Und das Pferd, der Teltscher, läßt ihn wegfahren und hat keine Kassaschlüssel und kann über nichts verfügen. Er hat doch Geld bei der Darmstädter gehabt! … zu erhaben, der Herr Teltscher, um sich darum zu kümmern, der Herr Künstler.«
Esch hatte bisher unbeteiligt zugehört, um so mehr als es ihm ganz begreiflich erschien, daß Teltscher lieber an Amerika dachte als an die absterbende Ringkämpferei. Nun aber horchte er auf: Geld bei der Darmstädter? Er fuhr Oppenheimer an: »In dem Geld bei der Darmstädter steckt die Einlage meiner Freunde; das Geld muß her!« Oppenheimer wiegte den Kopf: »Eigentlich kümmert's mich blutwenig«, sagte er, »auf alle Fälle werd' ich dem Gernerth nach München telegraphieren. Er soll kommen, Ordnung machen. Recht haben Sie, was soll man die Sache herumziehen.« Esch billigte die Maßnahme, und das Telegramm wurde abgeschickt; sie erhielten keine Antwort. Beunruhigt sandten sie zwei Tage später eines mit Rückantwort an Frau Gernerth und mußten erfahren, daß Gernerth gar nicht daheim gewesen sei. Das war verdächtig. Und am Wochenende hatten die Zahlungen zu erfolgen! Man war genötigt, die Polizei zu verständigen; die Polizei eruierte bei der Darmstädter, daß schon vor etwa drei Wochen der ganze Rest des Kontos von Gernerth abgehoben worden sei, und nun gab es keinen Zweifel mehr: Gernerth war mit dem Gelde durchgebrannt! Teltscher, welcher bis zum letzten Augenblick Gernerth verteidigt hatte, und sich nun den dümmsten Juden auf Erden nannte, weil er wieder so einem schlechten Menschen aufgesessen war, Teltscher wurde verdächtigt, Gernerth in die Hände gearbeitet zu haben. Angesichts des verpfändeten Fundus hatte er alle Mühe, seine Unschuld zu beweisen; freilich, was nützte es, daß ihm dies gelang, – er behielt kaum so viel Geld in der Tasche, um die nächsten Tage sein Leben fristen zu können. Hilflos wie ein Kind, beschuldigte er sich und die Welt, sprach nur immer wieder davon, daß Ilona kommen solle, und tagtäglich lag er Oppenheimer mit dem Wunsche nach einem sofortigen Engagement in den Ohren. Oppenheimer hatte es leichter, den Kopf oben zu behalten, denn es ging nicht um sein Geld; er tröstete Teltscher: es sei doch nicht so arg, ein Teltscher-Teltini als Besitzer des Fundus werde einen prächtigen Theaterdirektor abgeben; wenn er nur etwas Betriebskapital aufbrächte, wäre alles in schönster Ordnung und er werde mit dem alten Oppenheimer noch manches Geschäft abschließen. Dies leuchtete Teltscher ein, er gewann seine Regsamkeit so sehr und so geschwind zurück, daß er alsbald einen neuen Plan ausgeheckt hatte, und spornstreichs lief er damit zu Esch.
Esch aber war durch die eingetretene Wendung mehr als gereizt. Obwohl er stets geahnt, ja sogar gewußt hatte, daß es zu der Reise niemals kommen würde, und obwohl er vielleicht auch deshalb die Anwerbung der Mädchen bloß in so beiläufiger und laxer Weise betrieben hatte, und obwohl er sogar eine gewisse Befriedigung empfand, weil sein inneres Wissen recht behalten hatte: sein Leben war dennoch auf das amerikanische Projekt gerichtet gewesen und er war nun aufs tiefste erschüttert, schien es ihm doch, als ob seiner Beziehung zu Mutter Hentjen der Boden abgegraben worden sei. Wohin sollte er mit ihr? und wie stand er vor der Frau da?! Als Herrn über diese ganze Künstlerbande hatte sie ihn sehen wollen, und so schmählich war er der Bande auf den Leim gekrochen! Er schämte sich vor Mutter Hentjen.
In diese Stimmung platzte Teltscher mit seinem Projekt: »Hören Sie, Esch, jetzt sind Sie ja Großkapitalist, Sie könnten mein Kompagnon werden.« Esch starrte ihn an wie einen Irrsinnigen: »Kompagnon? Sie sind wohl verrückt? Sie wissen ebensogut wie ich, daß es mit Amerika Essig ist.« – »Man kann auch in Europa verdienen«, sagte Teltscher, »und wenn Sie Ihr Geld fruchtbringend doch anlegen wollen …« – »Welches Geld?!« schrie Esch. No, no, deshalb brauche er nicht zu schreien; es sei angeblich vorgekommen, daß jemand etwas geerbt hätte, sagte Teltscher und machte Esch damit vollends wütend: »Sie sind komplett verrückt geworden«, brüllte er, »was soll das Gefasel? Nicht genug, daß ich Ihnen einmal 'reingefallen bin …« – »Wenn Gernerth, der Schuft, durchgeht, können Sie mich nicht verantwortlich machen …«, sagte Teltscher gekränkt, »ich bin mehr geschädigt als Sie, und weil es mir elendig geht, brauchen Sie mich nicht zu beleidigen, wo ich Ihnen ein loyales Geschäft bringe.« Esch brummte: »Es handelt sich nicht um meinen Schaden, sondern um den meiner Freunde …« – »Ich bringe Ihnen die Möglichkeit, das Geld wieder hereinzubekommen.« Das war natürlich eine Hoffnung, und Esch fragte, wie Teltscher sich die Sache vorstelle. Nun, mit dem Fundus kann man schon etwas anfangen, das sagt auch Oppenheimer, und Esch habe doch selber gesehen, daß sich etwas verdienen lasse, sobald man es mit einiger Geschicklichkeit anpacke. »Und wenn nicht?« Dann allerdings gäbe es keinen anderen Ausweg, als den Fundus zu versteigern und irgendein Engagement mit Ilona anzunehmen. Esch wurde nachdenklich: so? dann müßte Teltscher wieder mit Ilona in Engagement gehen … Messer werfen? … so, so..., er wollte es sich überlegen …
Am nächsten Tage erkundigte er sich bei Oppenheimer, denn Teltscher gegenüber war alle Vorsicht geboten. Oppenheimer bestätigte Teltschers Angaben. »So? … er müßte also dann wieder mit Ilona ein Engagement annehmen …« – »An mir soll's nicht fehlen, ich werd' ihm schon ein Engagement verschaffen«, sagte Oppenheimer, »was soll er denn sonst beginnen, der Teltscher?« Esch nickte: »Und wenn er selber eine Pachtung übernimmt, braucht er Geld …?« – »Sie haben also die paar Tausender nicht zur Verfügung?« fragte Oppenheimer. Nein, die hatte er nicht. Oppenheimer wiegte den Kopf hin und her: ohne Geld ging es nicht; vielleicht könnte man jemanden andern für das Geschäft interessieren … wie wäre es zum Beispiel mit Frau Hentjen, welche, so sagt man, ihre Wirtschaft verkaufen wolle und eine Menge Geld freibekäme. Darauf habe er keinen Einfluß, sagte Esch, aber er werde es Frau Hentjen vortragen.
Er tat es nicht gerne, es war eine neue Aufgabe, doch sie war nicht zu umgehen. Esch fühlte sich in hinterhältiger Weise angegriffen. Möglich, daß trotz allem der Oppenheimer mit Teltscher unter einer Decke steckte; die beiden Juden! Warum sollte so einem Kerl nichts anderes übrig bleiben wie Messerschmeißen? als ob es keine ehrliche und anständige Arbeit gäbe! Und was hatte der von Tod und Erbschaft zu faseln? In eine Sackgasse hatten sie ihn hineingetrieben, als wüßten sie, daß nichts mehr ungeschehen gemacht werden durfte, sollte Ilona vor den Messern und die Welt vor dem Unrecht bewahrt bleiben, sollte Bertrand nicht umsonst geopfert und das Bild Herrn Hentjens nicht umsonst entfernt worden sein! Nein, es konnte und durfte nichts mehr rückgängig gemacht werden, denn um die Gerechtigkeit und um die Freiheit ging es, um die Freiheit, die man den Demagogen und den Sozialisten und den feilen Zeitungsschmierern nicht länger überantworten durfte. Das war die Aufgabe. Und daß er das Geld für Lohberg und Erna zu retten hatte, das schien wie ein Teil und wie ein Sinnbild jener höheren Aufgabe. Und falls Teltscher seine Pachtung nicht bekam, war das Geld endgültig verloren! Es gab kein Entrinnen. Esch wog die Konti gegeneinander ab, rechnete nach, und aus der Rechnung ergab sich die eindeutige Lösung: er mußte Mutter Hentjen bewegen, sich gleich ihm in den Dienst der Aufgabe zu stellen.
Nachdem er klar gesehen hatte, wichen Unsicherheit und Zorn von ihm. Er setzte sich auf sein Rad, fuhr nach Hause und schrieb an Lohberg einen ausführlichen Bericht über das unglaubwürdige und empörende Verbrechen des Herrn Direktor Gernerth, hinzufügend, daß er für die Rettung der Einlage sofort zuverlässige Vorsorge getroffen habe, und er bitte das werte Fräulein Erna, beruhigt zu sein.
Mit Amerika war's also Essig. Endgültig. Jetzt hieß es in Köln bleiben. Die Käfigtür war zugefallen. Man war eingesperrt. Die Fackel der Freiheit war erloschen. Sonderbarerweise konnte er Gernerth nicht böse sein. Viel eher war die Schuld einem Größeren anzulasten, einem, der trotz Verlockung und Hoffnung vornehm es verschmäht hat, nach Amerika zu flüchten. Ja, so war wohl das Gesetz, wenn auch nicht die Gerechtigkeit: wer sich opfert, der muß eben zuerst seine Freiheit hergeben. Nichtsdestoweniger blieb es eine unwahrscheinliche Lage. Esch wiederholte: »Eingesperrt«, als müßte er sich's selber bestätigen. Und beinahe guten Glaubens und nur zu einem geringen Teil mit schlechtem Gewissen erzählte er Mutter Hentjen, daß sie die Amerikareise bis auf weiteres verschieben müßten, da Gernerth vorausgefahren sei, das Geschäft drüben in Angriff zu nehmen.
Mutter Hentjen freilich durfte man erzählen, was man wollte; sie hatte sich weder für die Ringkämpferei, noch für den Herrn Direktor Gernerth je interessiert, und von den äußeren Geschehnissen nahm sie überhaupt bloß das auf, was ihr in den Kram paßte. So hörte sie auch jetzt nichts anderes, als daß es zu der gefürchteten Fahrt ins Abenteurerland nicht kommen werde, und es war wie ein laues Bad der Beruhigung, in das ihre Seele unverhofft gesetzt worden war, und das sie erst schweigend genießen mußte, ehe sie sagte: »Morgen lasse ich den Maler holen, sonst wird's Winter und die Wände trocknen nicht ordentlich.« Esch war bestürzt: »Malen? Du willst die Wirtschaft ja verkaufen!« Mutter Hentjen stemmte die Arme in die Hüften: »Nee, bis wir reisen hat es gute Weile, – ich lasse malen, das Haus soll schön sein.« Esch gab nach, zuckte die Achseln: »Möglich, daß wir's im Kaufpreis wieder hereinbringen.« »Ja«, sagte Mutter Hentjen. Trotzdem konnte sie einen Rest Unsicherheit nicht abschütteln – wer wußte schon, ob das amerikanische Gespenst wirklich gebannt war –, und sie befand es für durchaus angemessen, sich ihre Bleibe und Sicherheit was kosten zu lassen. Daher waren Esch und Oppenheimer höchst angenehm überrascht, als es bloß wenigen Zuredens bedurfte, um Frau Hentjen zu der Einsicht zu bringen, daß das Theatergeschäft während Gernerths Abwesenheit finanziert werden müßte; und ebenso rasch war ihre Zustimmung zu einem Hypothekarisierungsantrag auf das Haus zu erlangen, den Oppenheimer vorsichtshalber gleich mitgebracht hatte. Das Geschäft wurde perfekt gemacht und Oppenheimer verdiente 1 % Provision.
Solcherart wurde Mutter Hentjen Teilhaberin an Teltschers neuem Theaterunternehmen; kraft Oppenheimers Vermittlung wurde es in dem betriebsamen Duisburg eingepachtet und berechtigte zu der Hoffnung, daß Mutter Hentjen an reichlichen Gewinnen partizipieren würde. Esch hatte drei Bedingungen gesetzt: erstens behielt er sich das buchhalterische Kontrollrecht vor, zweitens waren vor Auslösung des Fundus die Kapitalrückstände an Lohberg und Erna auszubezahlen (das war nur recht und billig, wenn auch Mutter Hentjen nichts davon zu wissen brauchte), und drittens legte er den verwunderten Herren Teltscher und Oppenheimer die vertragliche Verpflichtung auf, die Glanznummer des Messerwerfens aus den allfälligen Jongleurvorführungen zu streichen. »Meschugge«, sagten die beiden Herren; aber Esch kehrte sich nicht daran.
Soweit hatten sich die Dinge eigentlich in eine recht anständige Ordnung gefügt. Das von Mutter Hentjen gebrachte Opfer hatte ihn nur auf ewig ihr verpflichtet und seine Entscheidung unwiderruflich gemacht. Zwar war die verhaßte Wirtschaft noch nicht verkauft, doch war die Hypothek gleichsam ein erster Schritt zur Vernichtung der Vergangenheit. Und auch in Mutter Hentjens Verhalten gab es manches, was als Beginn eines neuen Lebens deutbar gewesen wäre. Sie widersprach nicht seinen Heiratsplänen, sowenig sie der Hypothek widersprochen hatte, und ihre Seele war von einer Weichheit erfüllt, die bisher niemand an ihr gekannt hatte. Der Herbst war frühzeitig und kühl gekommen, und sie trug wieder das graue Barchentzeug und war oft ohne Mieder. Sogar ihre starre Frisur schien sich zu lockern; kein Zweifel, sie wandte nicht mehr die alte, adrette Sorgsamkeit an ihre äußere Erscheinung, und auch darin schied sich Vergangenes von Gegenwärtigem.
Esch stapfte durch das Haus. War man schon beschäftigungslos und eingesperrt, so sollte es sich wenigstens verlohnen. Allerdings, ein neues Leben war dies nicht zu nennen. Er saß beim Frühstück in der Wirtsstube und zum Abendbrot saß er noch immer dort. Mutter Hentjen äußerte Verschiedenes über einen Tunichtgut und Müßiggänger, der sich hier breit machte, aber sie fütterte ihn gern. Esch ließ sich beides gefallen. Studierte seine Zeitung, und manchmal betrachtete er die Ansichtskarten im Spiegelrahmen; war froh, daß es keine mit seiner eigenen Handschrift darunter gab. Und schandenhalber beaufsichtigte er die Maler und Anstreicher. Mutter Hentjen hatte leicht reden. Was die sich schon um das neue Leben kümmerte! Frauen haben es überhaupt einfacher – Esch mußte lachen – die können das neue Leben überall tragen, speziell unterm Herzen. Deshalb wohl mögen sie nicht raus in die neue Welt, haben schon alles in ihren vier Wänden, meinen, daß sie bloß im Käfig zu sitzen brauchen, um unschuldig zu werden! Da putzen und scheuern sie und glauben, daß es mit dem bißchen Maschinen-Ordnung getan sei! Das neue Leben im Käfig? als ob das so einfach wäre!
Nein, mit kleinen Mittelchen, mit kleinen Veränderungen war das neue Leben, war der Stand der Unschuld im Kerker nicht zu errichten. Dem Unveränderlichen, dem Gewesenen, dem Irdischen ist nicht so leicht beizukommen. Unverändert stand das Haus, und von der lausigen Hypothek war ihm nichts anzumerken. Unverändert standen die Straßen, standen die Türme, um die der Herbstwind pfiff, und vom Hauch der Zukunft war nichts mehr zu spüren. Und eigentlich wäre es notwendig, Köln an allen vier Enden anzuzünden, es dem Erdboden gleichzumachen, damit kein Stein auf dem andern bliebe, die Vergangenheit und die Erinnerungen Mutter Hentjens wachzurufen. Denn was half's, daß Mutter Hentjen ihre Haare jetzt weniger adrett gebürstet trug: unverändert stolzierte sie durch die Straßen, und die Leute lüpften den Hut und jeder wußte, wessen Namen sie führte. Weiß Gott, so war es nicht gedacht gewesen, als man um des Opfers willen ihr Altern und das Verlöschen ihrer Reize auf sich genommen hatte. Ja, würden ihre Haare über Nacht erbleichen, würde sie mit einem Schlage zu einer ganz alten Frau werden, die sich an nichts erinnert, unkenntlich jedem, eine Fremde, der gewohnten Umgebung durch nichts mehr verknüpft, – ja, das wäre das neue Leben! Und Esch mußte daran denken, daß jedes Kind die Mutter altern macht, und daß kinderlose Frauen nicht altern: unverändert und tot sind sie, besitzen keine Zeit. Aber wenn sie das neue Leben erwarten, so sind sie voll Hoffnung, daß ihre Zeit wieder gezählt werde, und es ist Altern und neue Jungfrauschaft zugleich, ist Hoffnung auf den Stand der Unschuld alles Lebendigen, Vortraum des Todes, dennoch neues Leben, Reich der Erlösung in der alten Welt. Süße nie erfüllte Hoffnung.
Freilich, Mutter Hentjens Geschmack wäre das kaum gewesen. Anarchistische Ideen würde sie's nennen. Vielleicht sogar mit Recht. Man hat eben revolutionäre Gedanken, führt revolutionäre Reden, wenn man in einen Kerker gerät. Weiß selber nicht, daß man's tut. Esch stieg treppauf, treppab, fluchte auf das Haus, fluchte auf die Stufen, fluchte auf die Handwerker. Schön sah das neue Leben hier aus! Der helle Fleck an der Wand, wo des Schenkwirts Bild gehangen hatte, war jetzt übermalt, so daß man meinen konnte, das Bild sei lediglich der Ausmalung wegen entfernt worden. Aus keinem andern Grunde. Esch starrte zur Wand hinauf. Nein, es war überhaupt kein neues Leben, das da begonnen wurde, sondern im Gegenteil, die Zeit sollte zurückgedreht werden. Diese Frau hatte es ja förmlich darauf angelegt, alles rückgängig und ungeschehen zu machen. Und eines Tages kam sie von der Putzarbeit ins Lokal herunter, atemlos und schwitzend und dennoch befriedigt: »Uff, man sollte es nicht glauben, wie dringend das Haus diese Arbeit schon gebraucht hat.« Esch sagte zerstreut: »Wann ist's denn zuletzt hergerichtet worden?« doch plötzlich dämmerte es ihm, daß dies anläßlich ihrer Verheiratung mit Hentjen gewesen sein mußte; er schlug auf den Tisch, daß die Teller klirrten, schrie: »Der Käfig wird eben nur dann ausgemalt, sooft ein neuer Vogel hineingesetzt wird!« Nicht viel hätte gefehlt, daß er sie mitten im Lokal geprügelt hätte. Er hatte es satt, sich den Kopf in den Nacken drehen zu lassen, immer wieder in die Vergangenheit schauen zu müssen. Dabei verlangte sie noch, daß er um sie werbe; denn mit der Heirat schien's ihr durchaus nicht dringend. Allenthalben, unabweisbar drängte sich das Gewohnte wieder auf. Und sichtbarlich genug floß in all ihrer neuen Bequemlichkeit und Weichheit ein breiter Streifen Seßhaftigkeit, und alles sprach dafür, daß sie nicht nur ihr altes Leben wieder aufzunehmen und für alle Ewigkeit fortzusetzen gedachte, sondern es war auch, als wollte sie die Liebe mitsamt dem Liebhaber zum Range einer nebensächlichen Verzierung, zu einer Art Malerei im Hause ihres Lebens herabdrücken. Und sogar jene halboffizielle Vertrautheit, die sie ihm gewissermaßen als Unterpfand ihres Bundes gewährt hatte, trachtete sie wieder einzuschränken. Fuhr er nach Duisburg, Teltschers Abrechnungen zu überprüfen, so fand sie kein Wort der Anerkennung, und lud er sie ein, vielleicht mal mitzukommen, so nannte sie dies eine Zumutung und stellte es ihm anheim, gleich dort zu bleiben: dort nämlich passe er hin.
Mutter Hentjen hatte recht! Auch diesmal! Zeigte ihm mit Recht, daß er in ihrem Hause nichts weiter als ein eben noch geduldeter fremder Waisenknabe war, einer, mit dem es keinerlei Gemeinschaft geben durfte. Und trotzdem hatte sie nicht recht! Und das war vielleicht das ärgste. Denn hinter der scheinbar berechtigten Ablehnung, hinter der scheinbar gerechten Strafe blickte stets aufs neue die alte blöde Furcht hervor, auch er – er, August Esch! – könnte es mit der Heirat bloß auf ihr Geld abgesehen haben. Das wurde wieder einmal sehr deutlich, als die Hypothekardokumente eintrafen; da schnüffelte Mutter Hentjen eine Zeitlang beleidigt herum, und sagte schließlich vorwurfsvoll: »Schade um die hohen Zinsen … ich könnte das ganz gut aus meinem Sparkassageld zurückzahlen«, womit es denn sonnenklar zutage trat, daß sie stille Reserven besaß und sie lieber verheimlichte, ja lieber eine Hypothek aufnahm, als daß sie ihm Einblick gewährte. Von einer wirklichen buchhalterischen Kontrolle ganz zu schweigen. Ja, so war diese Frau. Sie hatte nichts zugelernt, wußte nichts vom Reich der Erlösung, wollte nichts davon wissen. Und das neue Leben war ihr ein taubes Wort. Oh, sie strebte wieder zu jener geschäftlichen und magistralen Form der Liebe, der er verfallen war und die er doch nicht mehr ertrug; es war ein Kreislauf, dem er nicht entrinnen konnte. Unentrinnbar, unabänderlich stand das Gewesene. Unangreifbar. Und würde man sogar die ganze Stadt vernichten, – übermächtig bleiben die Toten.
Nun tauchte auch noch Lohberg auf. Zeigte sich mißtrauisch, weil bloß das Kapital, nicht aber der in Aussicht gestellte Gewinstanteil ausbezahlt worden war. Solche Forderungen hatten Esch gerade noch gefehlt. Allerdings, als der Idiot ein wenig verlegen und doch mit einigem Stolz andeutete, daß ihnen jeder Groschen wichtig wäre, weil Erna nun bald so weit sei und daher mit der Heirat ernst gemacht werden müsse, da klang es für Esch wie eine Stimme aus dem Jenseits, und er wußte, daß das Opfer noch nicht vollendet war. Die kleine und schäbige Hoffnung, es könnte dieses Kind, von dem er sich schon freigesprochen hatte, dennoch das Kind Lohbergs sein, erstickte in der unirdischen Gewißheit einer Sühne, verhängt über die vollkommene Liebe, zu der er sich entschieden hatte, verhängt zur Sühnung eines Frevels, in dem drohend der Mord rasselte, den Fluch der Unfruchtbarkeit über sie verhängend, während das sündig und ohne Liebe gezeugte Kind unweigerlich geboren werden würde. Und obwohl er voll Zorn war gegen Mutter Hentjen, die von nichts wußte und bloß an die Malerei in ihrem Hause dachte, statt sein Entsetzen zu teilen, sehnte er sich nach solcher Sühne, und der Wunsch, Mutter Hentjen möge den Arm heben, ihn zu töten, wurde wieder sehr stark. Dessenungeachtet mußte er Lohberg beglückwünschen, und indem er ihm die Hände schüttelte, sagte er: »Die Gewinne sollen möglichst nachgezahlt werden … als Tauftaler.« Was blieb ihm sonst zu tun übrig? Er strich sich über das kurze steife Haar, und ein kühles prickelndes Gefühl haftete im Handteller. Von Lohberg erfuhr er auch, daß Ilona in Kürze nach Duisburg übersiedeln werde. Und er beschloß, daß ab nächstem Ersten allmonatlich Teltschers Bücher per Post nach Köln zur Kontrolle gesendet werden müßten.
Ja, was blieb sonst zu tun übrig? Es war ja alles in Ordnung. Erna wird ein eheliches Kind kriegen, und er wird Mutter Hentjen heiraten, und das Lokal wird frisch gemalt und mit braunem Linoleum bespannt. Und niemand ahnte, was sich hinter den schönen glatten Aspekten alles verbarg, keiner wußte, von wem das Kind gemacht worden war, das nun Lohbergs Namen tragen würde, und daß die vollkommene Liebe, in die er sich hatte retten wollen, nichts als Lug und Trug war, nackter Schwindel, um zu vertuschen, daß er hier als ein x-beliebiger Nachfolger des Schneidermeisters herumlief, in diesem Käfig herumlief als einer, der an Flucht und weite Freiheit dachte und doch nur an den Gitterstäben rütteln konnte. Immer dunkler wurde es, und niemals wird sich der Nebel jenseits der Ozeane lichten.
Oft mied er jetzt das Haus, es war eng und unvertraut geworden. Er trieb sich an den Ufern umher, besah die Reihe der Schuppen, schaute den Schiffen nach, die langsam den Strom hinabschwammen. Kam zu der Rheinbrücke, schlenderte weiter zum Polizeipräsidium, zum Opernhaus, gelangte in den Volksgarten. Auf einer Bank zu stehen – die Mädchen mit den Tamburins vor sich – und zu singen, ja, das war vielleicht das Richtige, von der gefangenen Seele zu singen, die durch die Kraft der erlösenden Liebe befreit wird. Sie mochten schon recht haben, die Heilsarmeeidioten, daß man vor allem den Weg zur wahren vollkommenen Liebe finden muß. Selbst die Fackel der Freiheit vermag wohl nicht zur Erlösung zu leuchten, war doch auch jener trotz aller möglichen Amerika- und Italienreisen nicht erlöst worden. Mit Schwindeleien läßt sich eben nichts ausrichten, man bleibt verwaist, bleibt frierend im Schnee stehen, wartend, daß die Gnade der Liebe weich sich herabsenke. Dann, ja dann, mag sich auch das Wunder herabsenken, das Wunder der vollkommenen Erfüllung. Heimkehr des Waisenkindes. Wunder einer Verdopplung der Welt und des Schicksals, – und das Kind, für das jener fortgegangen war, würde nicht das Kind Ernas sein, sondern das ihre, die trotz allem das wahre neue Leben tragen wird! Bald werden wir Schnee haben, weichen flaumigen Schnee. Und die gefangene Seele wird erlöst sein, hallelujah, wird auf der Bank stehen, höher als der, der sonst so viel höher stand. Und in seinem Geiste nannte er die, die durch ihn zur Mutter werden sollte, zum ersten Male bei ihrem Vornamen: Gertrud.
Kam er heim, so sah er in ihr Gesicht. Das Gesicht war freundlich und ihr Mund zählte getreulich auf, was sie am Vormittag gekocht hatte. Und wenn August Esch nicht eben großen Appetit verspürte, so wandte er sich ab. Es schauderte ihn, und unentrinnbar wußte er, daß ihr Schoß getötet war, oder schlimmer noch, eine Mißgeburt zu gewärtigen hatte. Allzu gewiß war er des Fluches, allzu gewiß des Mordes, der von dem Toten an der Frau verübt wurde, verübt wird. Wieder schmerzte die Frage so sehr, daß er sie nicht zu stellen wagte … waren ihnen Kinder versagt gewesen oder hatten sie bloß ihrer Lust gefrönt? Sein gieriger Zorn gegen Mutter Hentjen stieg, und wieder war er außerstande, sie mit dem Namen zu nennen, mit dem der Tote sie rief, ja, er verschwor sich, den Namen nicht eher in den Mund zu nehmen, ehe sie nicht begriffen hätte, um was es ging. Sie aber begriff nicht. Sie empfing ihn weich und sachlich und ließ ihn allein in seiner Einsamkeit. Er bemühte sich, dem Schicksal nachzugeben: es kam vielleicht nicht auf das Kind an, sondern das Wesentliche sollte ihre Bereitschaft sein, und er wartete auf diese Bereitschaft. Aber auch hier ließ sie ihn allein und wenn er, um sie zu ermuntern, in Andeutung sprach, daß sie nach ihrer Heirat Kinder haben wollten, sagte sie bloß trocken und sachlich »Ja«, aber was er erwartete, gab sie ihm nicht und in ihren Nächten schrie sie nicht, daß er ihr ein Kind machen solle. Er schlug sie, aber sie begriff nicht und blieb stumm. Bis er zu der Einsicht gelangte, daß auch dies nichts genützt hätte; wäre doch dann der Zweifel aufgestiegen, unabweisbar, ob sie nicht ebensowohl Herrn Hentjen um ein Kind angefleht hätte, und das Kind, dessen Vater zu sein er sich ersehnte, wäre in ihrem Schöße der gleiche Zufall gewesen wie eines aus Hentjens Samen. Keine Hilfe vermag die Frau dem Manne zu gewähren in der zweifelnden Pein des Unbeweisbaren. Und je mehr er sich peinigte, verständnislos mußte sie es geschehen lassen: nichtsdestoweniger war es nur mehr ganz schwach, war es sozusagen nur mehr Symbol und Andeutung, wenn er sie prügelte. Seine Auflehnung erlahmte.
Denn er erkannte, daß im Realen niemals Erfüllung sein könne, erkannte immer deutlicher, daß auch die weiteste Ferne im Realen lag, sinnlos jede Flucht, dort die Rettung vor dem Tod und die Erfüllung und die Freiheit zu suchen, – und sogar das Kind, kommt es auch lebendig aus dem Leib der Mutter, es bedeutet nicht mehr als der zufällige Schrei der Lust, in dem es empfangen wurde, verhallender und längst verwehter Schrei, der nichts für die Existenz des Liebenden beweist, dem er gegolten hat. Fremd das Kind, so fremd wie der vergangene Laut, fremd wie das Vergangene, fremd wie der Tote und der Tod, hölzern und ausgeleert. Denn unabänderlich ist das Irdische, mag es sich auch scheinbar verändern, und würde selbst die ganze Welt aufs neue geboren, sie würde trotz des Erlösers Tod den Stand der Unschuld im Irdischen nicht erlangen, nicht ehe das Ende der Zeit erreicht ist.
Zwar war solche Erkenntnis nicht sehr deutlich, allein sie genügte, um Esch zu veranlassen, daß er sich in seinem irdischen Kölner Leben einrichtete, eine anständige Stellung suchte und seinem Geschäfte nachging. Dank der guten Zeugnisse, die er besaß, fand er einen stolzeren und verantwortungsvolleren Posten als je vorher und erwarb nun wieder all den Stolz und die Bewunderung, die Mutter Hentjen für ihn bereitliegen hatte. Sie ließ die Gaststube mit braunem Linoleum bespannen, und jetzt, da die Gefahr der Auswanderung wohl endgültig gebannt war, begann sie selber von den amerikanischen Luftschlössern zu sprechen. Er ging darauf ein, teils weil er fühlte, daß sie ihm mit solchen Gesprächen eine Freude zu machen glaubte, teils aus Pflichtgefühl: denn wird er Amerika auch kaum mehr zu Gesicht bekommen, er wird den Weg dorthin nicht mehr verlassen, wird sich nicht umwenden, trotz des Unsichtbaren, der mit der Lanze folgt, bereit zuzustoßen, und ein Wissen, schwebend zwischen Wunsch und Ahnung, sagt ihm, daß der Weg nur mehr Symbol und Andeutung eines höheren Weges ist, den man in Wirklichkeit zu gehen hat und für den jener bloß das irdische Spiegelbild ist, schwankend und unsicher wie das Bild im dunklen Teich. Es war ihm dies alles nicht völlig klar, ja selbst das Wort vom Geistigen, in dem die Erfüllung und das Absolute zu suchen wäre, stand ihm nicht zu Gebote. Aber er erkannte, daß es bloßer Zufall war, wenn die Addition der Kolonnen stimmte, und so durfte er das Irdische immerhin wie von einer höheren Stufe aus betrachten, wie von einem lichteren Schloß, das über der Ebene sich erhebt, abgeschlossen gegen die Welt und doch spiegelnd ihr geöffnet, und oft war es, als ob das Getane und das Gesprochene und Geschehene nichts wäre als ein Vorgang auf mattbeleuchteter Bühne, eine Darbietung, die vergessen wird und nie vorhanden war, Gewesenes, an das niemand sich klammern kann, ohne das irdische Leid zu vergrößern. Denn immer versagt die Erfüllung im Realen, aber der Weg der Sehnsucht und der Freiheit ist unendlich und niemals ausschreitbar, ist schmal und abseitig wie der des Schlafwandlers, wenn es auch der Weg ist, der in die geöffneten Arme der Heimat führt und an ihre atmende Brust. So war Esch fremd in seiner Liebe und doch mit dem Irdischen vertrauter als früher, so daß es nichts verschlug und eigentlich im Unirdischen blieb, wenn um der Gerechtigkeit willen noch manches Irdische für Ilona zu erledigen war. Er sprach mit Mutter Hentjen von dem freien Amerika und von dem Verkauf der Wirtschaft und von der Heirat wie mit einem Kinde, dem man gern seinen Willen tut, und manchmal konnte er sie nun wieder Gertrud nennen, mochte sie auch in den Nächten, da er in sie versank, ihm namenlos sein. Sie gingen Hand in Hand, gleichwohl ein jeder auf seinem andern und unendlichen Weg. Als sie dann geheiratet hatten, und die Wirtschaft um einen viel zu billigen Preis verschleudert worden war, da waren es Stationen auf dem Wege des Sinnbilds, dennoch Stationen auf dem Wege der Annäherung an das Höhere und Ewige, das man, wäre Esch kein Freigeist gewesen, sogar das Göttliche hätte nennen können. Aber er wußte trotzdem, daß wir hier auf Erden alle auf Krücken unsern Pfad zu gehen haben.