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Im Anstieg

Die endlich eingetretene, nie geglaubte Wendung versöhnte die Mutter. Sie wurde schmiegsamer und nachgiebiger, hielt mit den starken, sehr oft kränkenden Worten zurück und suchte ein Verhältnis anzubahnen, bei dem sie auf ihre Kosten kam. Denn darin änderte sich Maria nicht. Ihr Vorteil kam zuerst; danach erst konnten Gefühle reden. Überfluß an Gefühl besaß Maria nicht. Ernst begriff sofort den Sinn der Werbung. Möglichst weit und immer zur gewohnten Stunde den Beutel öffnen: tat er das und er sah keinen Anlaß, es nicht zu tun, dann war er eigener Herr, tat, was ihm gefiel, unterließ, was ihm nicht paßte, und ging ein und aus, ohne zu fragen, wem es zuliebe oder zuleid geschah. Die Mutter störte ihn nicht. Neigung zu vielem Denken war nicht vorhanden, von Kunst und Künstlern wußte Maria nichts, weitere Fäden liefen nicht von ihr zum Sohn. Er zahlte und sie strich ein. So wollte es die natürliche Ordnung der Welt. Mutter war sie und er das Kind. Der grobe, sehr zungenfertige Bengel wurde sonst am besten sich selbst gelassen.

Zwei Dinge waren in Lot und Richtung. Seine Stellung daheim war ausgemacht und anerkannt, und er stand in einer Tätigkeit, die ihm gefiel und so viel trug, anständig zu leben. Das waren Fortschritte. Das große Aufräumen seines Lebens hatte günstig begonnen. Besser gekleidet ging Ernst auch, nicht aus Freude an guten Kleidern, nur, weil man doch nicht mit bloßem Hals im Theater sitzt. Die Nägel biß er noch immer. Soweit beherrschte er seine schlechten Gewohnheiten noch nicht, von denen Nägelbeißen nicht die schlimmste war. Ernst trank. Er hatte Trinken gelernt, hielt die Fähigkeit weiterer Pflege wert und kippte das Glas eifrig und mit einer Ausdauer, die in anderen Sachen oft zu vermissen war. Betrunken wurde er nicht.

»Ich würde an Ihrer Stelle doch das Bier meiden, Herr Löhner. Macht es Sie denn bei der Arbeit nicht müde?«

Der enthaltsame Redakteur Bergner war schon lange erpicht, den jungen Mitarbeiter für die Abstinenz zu gewinnen.

Er schnupperte mißbilligend, denn Ernst roch wirklich auf Armeslänge nach Alkohol.

»Warum soll ich kein Bier trinken? Es schadet mir gar nicht bei der Arbeit. Ich will nicht sagen, daß es anregt. Das hat es auch bei mir nicht nötig.«

»Zugegeben, daß durch längere Gewöhnung die Wirkungen auf Sie scheinbar ganz winzig sind. Aber es steht fest und ist statistisch nachgewiesen, daß die geistige Leistungsfähigkeit durch den Alkoholgenuß vermindert wird.«

Statistik war Ernst ein Greuel. Den liebenswürdigen Redakteur Bergner schätzte Ernst aufrichtig.

»Das kommt wohl auf die Leistungsfähigkeit an. Mich hat der Alkohol noch an keinem einzigen guten Gedanken gehindert, und mein Gedächtnis arbeitet so ausgezeichnet, daß ich recht zufrieden bin und gar kein besseres wünsche ... Wahrhaftig nicht! Man denkt und spintisiert doch den lieben langen Tag manchen Stiefel zusammen, der nicht mehr wert ist, als so schnell wie möglich vergessen zu sein ... Dazu hilft mir das Bier ... Will so ein blödsinniger Einfall nicht weichen, dann setze ich mich hinters Glas. Klappe ich den Deckel zu, dann ist der Span abgeschnitten ... So eine Gedankenguillotine ist ein heilsames Werkzeug. Haben Sie es noch nicht notwendig gefunden, Ihre Gedanken zu köpfen? Ich finde es manches liebe Mal notwendig.«

Bergner hörte kopfschüttelnd diese krause Erklärung. Er wußte noch nicht, daß Ernst meisterhaft verstand, seine üblen Gewohnheiten zu entschuldigen und vor sich selbst zu rechtfertigen.

»Das ist ja geradezu eine Bestätigung, daß die Enthaltsamkeit nötig ist. Kein Mensch hat in der Welt zuviel Gedanken. Für alle ist Raum da ... Hören Sie auf mich, Herr Löhner! Das Spiel mit geköpften Gedanken ist nicht so harmlos, wie es aussieht. Eines Tages steckt der ganze Kopf in der Guillotine und – schwapp! – ist er weg. Sie wissen ja, daß ich es nur gut meine und daß mir nichts ferner liegt, als den Sittenprediger zu spielen ... Aber Sie sind doch ein denkender Mensch, sind auch Sozialist und müßten schon aus folgerichtiger Gesinnung den Alkohol meiden. Es gibt keine Befreiung vom Kapitalismus, dem nicht die Befreiung vom Alkohol vorausgegangen ist.«

Der Hinweis auf die Gesinnung rührte in Ernst Gedanken auf. Er befragte sich selbst: Bist du eigentlich Sozialist, du mit deinem Selbstgefühl, mit deiner überheblichen Einschätzung der eigenen Person, mit dem verbissenen Eifer, immer nur dich selbst zu spiegeln? Sozialist sein, heißt doch das Gegenteil von allem, was du bist, heißt an die anderen denken, sie in sich zu fühlen, sie über alles stellen. Kannst du etwas in der Welt über dich stellen, dich an einen Gedanken hingeben, daß er dein Persönliches ganz aufzehrt? Und wenn du es kannst, willst es du auch?

Auf diese Fragen biß Ernst ernsthaft. Die Begeisterung, der Taumel, in jener Versammlung der Bauarbeiter geweckt, wollten einen Grund wissen. Ernst lotete, diesen Grund in einer Tiefe zu finden, um ihn heraufzuheben ins lichte Bewußtsein. Er konnte keinen Grund erforschen. Sie hatten wohl überhaupt keinen Grund und waren nur eingebildet, denn Ernst Löhner galt der Anstoß mehr als die Bewegung, Denken mehr als Tun, Wissen mehr als Leben.

Was vor Augen lag, übersah er, und was er sah, lag nicht vor Augen. Sein Gehirn arbeitete mit Pferdestärken. Im Kopf lag der Motor, der alles trieb und das Gefährt rasend im Kreise jagte, immer im Kreis. Die Welt ist eine Kugel, bester Beweis, dieses kugelförmige Denken, das zwangsläufig den ersten Punkt sucht.

Tropisch wucherte der Geist Ernst Löhners. Er sog alle Säfte an, schickte Luftwurzeln aus, die nirgends ansetzten, und verwandelte die Kraft jeder Wirklichkeit in duft- und farblose Denkblüten. Ernst schaute völlig am Leben vorbei. Im Geist suchend, was nur im Blut zu finden ist, legte er, statt zu leben, das Leben aus und wähnte zu genießen, wenn er nur wußte. Weil er viel zu wissen glaubte, nahm er sich für einen großen Genießer. Daß Wissen immer verzichten heißt, entging ihm. Gefühl vollkommener Leere verdrängte Freude und Genuß.

Das Leben rächte sich auf seine eigene Weise für die Nichtachtung. Gaukelnd schwebte es vor Ernst, lockte und reizte, und zerging in wesenlosen Rauch, wenn Ernst mit Denken zugriff. Das verdrängte Blut rebellierte und forderte laut seine Rechte. Jede weibliche Gestalt im Augenkreis Ernst Löhners erregte einen Aufruhr seines Blutes. Unwiderstehlich drehte es ihm das Gesicht rückwärts, wenn ein Weib vorübergegangen war. Er starrte jedem Rock nach, und seine aufgestörten Triebe umheulten wie eine Hundemeute jedes Weib. Schlug er dann blindwütig mit seiner Gedankenpeitsche unter das Rudel, so kuschten die Begierden wohl, aus den Hintergründen, Winkeln knurrten sie aber bös und tückisch vor. Weil Leben gelebt, nicht gedacht sein muß, stritten die zwei Wesen, die in seiner Brust untrennbar gekoppelt, tödlich verfeindet um die Gewalt rauften. Ein stoischer, gefühllos harter Gehirnmensch vergewaltigte einen rasch bewegten, leicht entflammten, mit allen Fasern nach Leben gierenden Triebmenschen. Mit Keulen knüppelte der Gehirnmensch auf den anderen ein, streckte ihn betäubt nieder, tötete den unsterblichen Triebmenschen aber nicht und mußte zulassen, daß er bei jedem Anhauch des Lebens zu Genuß und Erfüllung aufwachte. Jahre tobte dieser mörderische Bruderkampf. Der Geistermensch beherrschte den Blutmenschen lang, hielt ihn gefangen, und war taub für das schmerzlich wilde Aufstöhnen des Sklaven.

Leicht hätte Ernst seine verdursteten Sinne tränken mögen. Um ihn wuchs und blühte junges Leben, Mädchen kreuzten viele seinen Weg, und war er auch nicht der Mann, zu Taumel und verliebtem Wahn hinzureißen, in seinen Augen lag ein Ausdruck, der den Mädchen ans Herz ging. Mancher rasche Blick schnellte nach ihm, ein absichtsvolles Wort nur, und er hätte gehabt, wonach er verlangte. Allein, Ernst dachte ans Denken, nicht ans Leben. Seine Vorstellungen forderten mehr, als das Leben zu geben hatte. Viele Stunden ging Ernst voll aufgeregter Entschlossenheit durch Anlagen und Gärten, verschlang die Mädchen und wagte den Schritt doch nie. Er war oft im schönsten Anlauf, sah schon frohlockend das Ziel, dann knackte es plötzlich fein in den Ohren, die Welle verlief und er stand am leeren Strand.


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