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Nach dreitägiger Reise in westlicher Richtung durch die Libysche Wüste machte Ralphs und Helens Karawane Rast und schlug ihr Lager auf.
Es war spät am Nachmittag, als die Zelte aufgerichtet wurden. Ralph, Helen und Schehanna hatten jeder eines, Abbas schlief mit im Zelt des Führers. Die Leute lagerten bei den Kamelen um das Küchenzelt.
Sobald sie zu Mittag gegessen und vor dem Zelt in dem stillen Abend Kaffee getrunken hatten, gingen Ralph und Helen zur Ruhe. Sie wollten sich früh wecken lassen, um die Sonne aufgehen zu sehen.
Ralph erwachte von selbst. Als der Führer seinen Kopf durch die Zelttür steckte, um ihn zu wecken, war er bereits halb angekleidet.
Eisigkalte Luft schlug ihm draußen entgegen. Einen Augenblick bereute er, Helen veranlaßt zu haben, so früh aufzustehen. Er ging zu ihrem Zelt und lauschte, und als er hörte, daß sie auf war, rief er:
»Es ist hundekalt. Ziehen Sie Ihre wärmsten Sachen an, oder kriechen Sie wieder ins Bett.«
Er hörte ihr klares Lachen, das ihm immer zu Herzen ging, und eilte zurück, um sein großes Kamelhaarplaid zu holen.
»Guten Morgen!« sagte sie und schüttelte sich vor Kälte.
Sie hatte ihren Reiseschleier um den Kopf gebunden und grub ihre Hände in die Taschen des Ulsters.
Es war noch so dunkel, daß nur die strahlenden Augen in ihrem Gesicht leuchteten. Er wickelte sie wie ein Kind in sein Plaid ein; es fiel ihr bis auf die Füße, sie lachte ihn mit ihren frischen Zähnen an. Jetzt, wo er ihr so nahe war, sah er, daß ihre Nase ganz blaugefroren war. Er faßte sie bei den Schultern und schwenkte sie ausgelassen wie einen Kreisel herum.
Vorm Küchenzelt knisterte ein Feuer, auf dem das Wasser zum Kaffee gekocht werden sollte. Es loderte hell im Wind und warf einen rosigen Schein auf Helens weißes Gesicht.
Ralph blieb hingerissen stehen und sah sie an; er hatte sie nie so schön gesehen.
Die Kamele reckten die Köpfe nach der schwachen Strahlenwärme; die langen, schwankenden Schatten hoben sich gespensterhaft von der Dunkelheit der Wüste ab.
Ralph und Helen gingen zum Feuer und wärmten ihre Hände daran, während sie den kräutrigen Duft der frischgerösteten Kaffeebohnen begehrlich einsogen.
Nachdem sie Kaffee getrunken hatten, verließen sie das Lager und gingen in die Wüste hinaus.
Sie gingen von Sandwoge zu Sandwoge. An einigen Stellen wich der Sand unter ihren Füßen, an anderen war er so fest und elastisch wie ein Strand. Bald waren alle kleinen Geräusche vom Lager verstummt, auch der Feuerschein verlöschte.
»Jetzt legen sie sich gewiß wieder zum Schlafen,« sagte Ralph.
Sie gingen noch ein Stück, bis sie eine Woge erreichten, die höher war als die anderen. Sie bestiegen sie und waren allein mit Himmel, Wüste und Nacht.
So weit ihr Auge reichte, die tote dunkle Fläche, über die sich die Milchstraße von Horizont zu Horizont wölbte. Das flimmernde Licht von Millionen Sternenleben, die entzündet wurden und wieder verlöschten, machte das erstarrte Meer nach starrer. Der Raum war wie zu einem ungeheuren Kristall geworden, auf dessen Grunde sie sich befanden – sie beide, zwei unreine Fasern, die mit dem Stoff zusammen erstarrt waren. Das Gefühl von der erdrückenden Umarmung dieses Leblosen war so stark, daß es ihre Bewegungen hinderte und ihnen das Atmen schwer machte.
Es war so still, als ob sie ganz allein auf der Welt seien. Ein seltsames Gefühl feierlicher Erwartung füllte ihre Seelen. Unwillkürlich fanden ihre Hände sich, sie erfaßten in diesem Augenblick, daß der Tod nur eine Schale ist, die vom Leben durchbrochen wird, und sie lauschten mit verhaltenem Atem auf das, was in dieser Stunde erstehen sollte.
Da glitt ein leises Zittern über das erstarrte Meer. Es war, als ob ein lange geschlossenes Auge sich blinzelnd öffnete und Strahlen der Seele aus dem Reich der Träume flimmerten. Die Dunkelheit am Horizont wich einem blendenden Lichtstreifen. Eine Hand schien von oben langsam den äußersten dunklen Vorhang wegzuziehen, so daß der Purpur des Himmels zum Vorschein kam. Die fernsten Steine erloschen, die nächsten und stärksten hoben sich matt von dem Widerschein der güldenroten Flut ab, die sich aus der noch unsichtbaren Quelle über den Horizont ergoß.
Die Dunkelheit entwich von Wogenkamm zu Wogenkamm und sammelte sich zu Schatten in den Senkungen. Es war, als ob das Sandmeer befreit aufatmete, als ob das Kristall des Raumes von den Flammenfäden, die sich von dem Gold im Osten loslösten, gesprengt würde.
Die Erde rang sich aus der Umarmung des Todes los. Das Leben hatte von neuem gesiegt.
Helen starrte zu dem siedenden Rand hinüber, wo das Gold zusammenfloß. Da hob die Sonne ihr loderndes Auge über die Kimmung. Sie hielt den Atem in seltsamer Erwartung an, als ob ein Wunder im Begriff stehe, sich vor ihren Augen zu vollbringen.
Offenbart er sich jetzt? klang es durch ihre Seele.
»Was sagten Sie?« fragte Ralph.
Das Licht in ihrem Inneren verlöschte, als sie wieder zum Bewußtsein ihres Selbst, seiner Gegenwart und des Augenblicks erwachte. Sie wußte gar nicht, daß sie etwas gesagt hatte, und antwortete nicht.
»Sehen Sie dort,« sagte Ralph und zeigte in die Ferne.
Sie waren nicht allein in dieser Schöpfungsstunde. Dort hinten, zwischen der Sonne und ihnen hoben einige ferne Gestalten ihre dunklen Silhouetten von dem dämmernden Tage ab. Es waren Kamele, die ihren Hals dem Licht entgegenstreckten, und ein Stück von ihnen entfernt kniete ein Haufe weißgekleideter Männer im Gebet.
Helen sah durchs Fernglas, wie sie die Handflächen bis an die Ohren hoben und sich vornüber in den Sand warfen.
»Sie wenden sich nicht der Sonne zu,« sagte Ralph, »sondern mehr nach Norden. Sie suchen Mekka.«
Helen hörte ihn nicht. Sie beobachtete einen der weißgekleideten, der etwas abseits kniete, dem glühenden Sonnenauge näher als die anderen.
Trotz der Entfernung fühlte sie die wunderbare Hoheit, die von dieser Gestalt ausging. Sie wünschte, daß sie sein Gesicht, seine Augen sehen könnte.
Vielleicht wird ihm in diesem Augenblick enthüllt, was ihr verborgen blieb, vielleicht ist seine Seele offen, während meine verschlossen ist, dachte sie, vielleicht ist sein Sinn wach, während ich noch träume.
Helen hielt die fernen Gestalten im Auge, bis das Gebet beendigt war und der einsam Knieende sich erhob. Er ging vor den anderen zu den Kamelen. Sie stiegen auf, spähten umher und bewegten sich langsam über die öde Ebene, wo die Schatten jetzt ganz dem blendenden Morgen gewichen waren.
Nach dem Mittagessen, als Ralph und Helen sich im Zeltschatten in ihren Liegestühlen gestreckt hatten, ermattet von der heißen Luft, die aus dem von der Sonne erhitzten Sand um sie herum aufstieg, erklang plötzlich ein Ruf vom Küchenzelt.
Ralph wollte sich gerade erheben, um zu sehen, was es gäbe, als der Führer um das Zelt herumgelaufen kam und mit ausgebreiteten Armen stehenblieb. Seine Brust wogte vor Erregung und die mandelförmigen Lider zitterten über den blauschwarzen Augen.
»Al-Mahdi!« sagte er und zeigte in die Wüste hinaus.
Ralph und Helen sprangen auf und liefen zum Gipfel der Sandwoge, auf deren Abhang das Lager errichtet war.
Im Osten sahen sie eine Schar weißer Kamelreiter, die nach ihnen ausspähten. Während Ralph zurückeilte, um das Fernglas zu holen, kamen die Leute aus dem Küchenlager herbei, beschatteten die Augen mit den Händen und wechselten hastige Worte, sich um den Führer scharend, der ihnen mit großen Armbewegungen eine Erklärung abgab, ohne die fernen Gestalten einen Moment aus den Augen zu lassen.
»Sehen Sie,« sagte Helen mit dem Glas vor den Augen, rot vor Aufregung – »sehen Sie nur, der vorderste mit dem hohen Turban, das ist derselbe, den wir heute morgen ein Stück von den anderen entfernt knien sahen.«
Auch Ralph erkannte ihn wieder.
Helen reichte dem Führer das Glas. Er nahm es aus Höflichkeit, guckte einen Augenblick hinein, gab es ihr aber ohne ein Wort zurück, als habe er Zauberei berührt.
Einige Minuten stand er unbeweglich und starrte über die Ebene, dann atmete er tief auf und rief mit lauter Stimme, indem er seine Hand flach auf die Brust legte:
»Wahrlich, das ist der Mahdi! – Mashallah, Mashallah!«
Die Leute, die sich in einem Haufen zusammengeschart hatten, riefen Mashallah wie er und legten die Hände flach auf die Brust, oder umfaßten die linke Hand, die am Gürtel lag, mit der rechten.
Ralph näherte sich dem Führer und fragte:
»Woher weißt du, daß es der Mahdi ist?«
»Mir träumte heute nacht, daß er an meinem Zelt vorbeiritte; ich erwachte, stand auf und sah hinaus, da aber war er verschwunden.«
»Hast du keine anderen Zeichen?«
»Sieh!« Er zeigte auf die Kamelreiter, und seine Augenlider zitterten, »siehst du die schwarze Fahne?«
Ralph hielt das Glas an die Augen. Die Schar hatte sich in Bewegung gesetzt; er zählte ein paar Dutzend, die auf das Lager zukamen, langsam und würdig, als wüßten sie, daß sie Segen und Frieden brächten. Jetzt sah er, daß alle, ausgenommen der mit dem hohen Turban, eine Stange mit einer schwarzen, dreieckigen Fahne trugen.
»Es steht geschrieben: wo ihr die schwarzen Fahnen seht, dort seht ihr das Zeichen!« sagte der Führer mit tiefem Ernst und legte wieder die Hand auf die Brust.
Schehanna kam aus ihrem Zelt, und auch Abbas kam, noch mit Schlaf in den Augen und Gliedern; er hatte ein kleines Mittagsschläfchen gehalten.
Während die Karawane sich näherte, ging der Führer zu seinen Leuten; er hatte das Bedürfnis, in dieser feierlichen Stunde zwischen Glaubensgenossen zu sein.
Ralph lächelte im stillen über seine Naivität. Wie konnte man sich von einem schwarzen Lappen narren lassen, den jeder Beliebige auf einer Stange vor sich auf dem Kamel tragen konnte.
»Ich werde mich auch für einen Mahdi ausgeben!« sagte er scherzend zu Helen; aber er bekam keine Antwort.
Sie dachte an den einsam Knieenden in der Morgenröte, an die feierliche Erwartung, die von seinem Kopf ausstrahlte.
Die Reiter waren inzwischen so nah gekommen, daß Ralph den Kopfputz der Tiere unterscheiden konnte. Der Mann mit dem hohen Turban war noch immer voran. Einige der anderen, die hinter ihm ritten, steckten die Köpfe zusammen und schienen zu beratschlagen. Die Tiere hoben die Mäuler, durch den leichten Luftzug den Rauch des Küchenfeuers witternd.
Die Sonne stand schon niedrig und warf die langen Schatten der Kamele über die Ebene, sie bedeckte die Talsenkung wie mit einem dunkelvioletten Teppich, der langsam über den güldenbleichen Sand vorwärtsglitt.
Kaum machte die Karawane halt, als der Führer auf sie zulief, von seinen Leuten gefolgt.
Einige Schritte vor der Karawane warfen sie sich im Sand auf die Knie und riefen:
»Lá illáha ill'Allâhu – »es gibt keinen Gott außer Gott!«
Der Mann mit dem hohen Turban hob seine Hand und antwortete, während die Knieenden sich mit Händen und Stirn vorüber in den Sand warfen:
»Wa muhammadun rasúla 'lláhi –« »und Mohammed ist sein Prophet.«
Der Führer erhob sich und seine Leute mit ihm. Sie standen einen Augenblick und starrten den Mahdi unverwandt an, der hochaufgerichtet auf seinem Kamel saß, das größer war als das der anderen, von rötlichgelber Farbe, wie der Sand in der Abendsonne.
Auf seinen Wink zogen der Führer und seine Leute sich zurück, und der Mahdi ritt im Schritt näher, von seinen Männern gefolgt, bis er so nah war, daß Ralph und Helen seine Züge unterscheiden konnten.
Der Haik, das weiße Wolltuch, war mehrfach um seinen Kopf zu einem hohen Turban geschlungen, der von fünf braunen Kamelhaarringen zusammengehalten wurde. Der Haik bedeckte Nacken und Ohren in breiten Falten, die bis auf den weißen Burnus fielen, dessen linkes Ende über die rechte Schulter hing und im Rücken bis auf die Lenden des Kamels reichte.
Er saß hochaufgerichtet und unbeweglich, wie festgewachsen auf dem Buckel, die Füße vorn unterm Burnus auf dem Hals des Kamels gekreuzt. Das schmale Gesicht im Rahmen des weißen Haiks war ganz jung. Die Farbe war braun, die Wangen aber hatten denselben rötlichgelben Ton wie der des Kamels, die Farbe des Wüstensandes. Auf der klaren Kinderstirn waren die Brauen scharf und rein wie mit einem Pinsel gezogen. Die weitgeöffneten, engsitzenden, sprechenden Augen unter den schwarzen Augenwimpern ruhten mit verwunderter Frage auf Ralphs Gesicht. Von ihm glitten sie zu Helen, über ihr weißes Kostüm und den Tropenschleier. Die kurze Oberlippe mit dem bläulichen Schatten eines sprossenden Bartes zog sich von den weißen Zähnen zurück, ein Lächeln aber wurde nicht daraus.
Ralph legte seine Hand zum Gruß an den Tropenhut und fragte auf englisch:
»Sind Sie der Mahdi?«
Der junge Mann betrachtete ihn erstaunt und hob wie abwehrend die Hand; sie war klein und zart, kaum größer als eine Kinderhand.
Zwei ältere Muselmänner, die den Haik auf Wüstenart über Mund und Nase gezogen hatten, zum Schutze gegen Sand und Wind, wendeten sich an den Mahdi und sprachen hastig auf ihn ein.
Er blickte vom einen zum anderen und dann wieder zu Ralph, ohne den Mund zu öffnen. Der eine der Aelteren richtete einige Worte an den Führer, der mit ehrerbietig geneigtem Kopf antwortete. Ralph meinte, daß er Abdul-Hassans Namen nannte. Währenddessen waren all die dunklen Augen auf Ralph und seine Gesellschaft gerichtet, die vor den Zelten dicht beisammen standen.
Helen meinte, daß diese Augen drohten, und Ralph hielt seine Hand am Revolver in seiner Tasche, während er scharf auf die blanken Büchsenläufe achtgab, deren Stahlbeschläge in der Sonne funkelten. Alle hatten Kabylgewehre, ausgenommen der Mahdi, dessen einzig sichtbare Waffe, ein Dolch mit goldenem, juwelenbesetztem Schaft, unterm Burnus im Gürtel blitzte.
Als der Führer gesprochen hatte, schlug die Stimmung um. Die beiden Alten verzogen den Mund zum Lächeln, und der Mahdi ließ seine jungen sprechenden Augen vom einen zum anderen gleiten.
Bei Schehannas zarter Erscheinung machte sein Blick verwundert halt. Er begriff, daß sie nicht zu Ralphs Stamm gehörte. Auch Abbas, der zwischen Furcht und Neugierde schwankte, wurde ein Blick aus den blanken Augen zuteil. Plötzlich blitzte ein Schimmer von kindlicher Heiterkeit darin auf, die Oberlippe zog sich von den weißen Zähnen zurück; der Mahdi lächelte.
Da bemerkte Ralph, daß einer aus dem Gefolge des Mahdis sich hinter den anderen zu verbergen suchte. Ralph trat einige Schritte zur Seite, um sein Gesicht zu sehen, und er erkannte in den dunklen, lauernden Augen den erschrockenen Tierblick wieder, der ihm neulich entgegengestarrt hatte, als er den Hühnerdieb an der Hecke ertappte.
Ralph tat ganz unbefangen; dieses Zusammentreffen aber warf einen Schatten auf den feierlichen Glanz des Mahdibesuchs. War so die friedliche Art, in der sie mit den Fellahs handelten, wie Abdul-Hassan gesagt hatte?
Ralph blickte verstohlen zu dem bartlosen Gesicht des Mahdis hoch oben unter dem mächtigen Turban auf, kniff die Augen zu und erwiderte die plötzliche Munterkeit im Gesicht des Mahdis mit seinem herausfordernden Knabenlächeln, als wolle er sagen, daß er ihn verstehe und den Scherz wohlgelungen fände.
Da glitt ein dunkler Schatten über die Wangen des Mahdis, während die Brauen sich zusammenzogen und die schmalen Lippen erbleichten. Das kindliche Gesicht bekam einen harten und gespannten Ausdruck und schien plötzlich zehn Jahre älter zu werden.
Die beiden Alten sahen die Verwandlung und sandten Ralph einen drohenden Blick aus ihren kleinen stechenden Augen. Darauf ritten sie seitwärts, damit das Kamel des Mahdis wenden konnte.
Der Führer und seine Leute warfen sich zur Erde und riefen: »Lá illáha ill'Alláhu!«
Diesmal aber bekamen sie keine Antwort.
Die Kamele trugen den Mahdi und sein Gefolge in gestrecktem Lauf zur Wüste zurück. Der Sand wirbelte in einer niedrigen Wolke hinter ihnen auf, und die weißen Burnusse wurden von dem Luftdruck aufgebläht, so daß sie wie Fahnen in der bewegten Luft wogten.
Der Führer und seine Leute blickten der Staubwolke verblüfft nach. Erst als sie die Karawane nicht mehr sehen konnten, kehrten sie zu ihrem Lager vorm Küchenzelt zurück.
Ralph hörte sie noch lange nach Sonnenuntergang von dem Ereignis sprechen.
Sowohl auf Helen wie auf Schehanna hatte der Besuch des Mahdis einen starken Eindruck gemacht.
Während Ralph noch hinter den Reitern herblickte, überrascht über die unerwartete Wirkung seines Lächelns, sagte Schehanna zu Helen:
»Wie war sein Antlitz rein!«
Sie sah träumend vor sich hin, mit schmerzlich verzogenen Lippen; etwas im Gesicht des Mahdis hatte sie an Darab erinnert.
»Woran denkst du?« fragte Helen und schlang den Arm um ihre Taille.
»Als ich klein war, glaubte ich, daß alle, die nicht den rechten Glauben hatten, die Diener der Dunkelheit seien. Jetzt aber weiß ich« – und ihre Augen umfaßten Ralph und Helen mit einem Blick – »jetzt weiß ich, daß Ahura-Mazda seine Kämpfer fürs Licht auch unter denen wählt, die seinen Namen nicht kennen. Dasturan Dastur sagte,« fügte sie träumend hinzu, »daß das Ende der Zeiten nah sei – und das Gesicht des Mahdis war rein und gut und ohne Furcht; der richtige große Saoshyant aber, der von einer Jungfrau geboren werden soll, kann er nicht sein; denn wie könnte Zarathustras Sohn zwischen Ungläubigen geboren werden?«
Die großen Augäpfel bewegten sich unter den halbgeschlossenen, durchsichtigen Lidern. Sie schlug sie auf und ihr Blick begegnete dem Helens, voll und warm und unverschleiert; sie legte den Kopf auf ihre Schulter und flüsterte:
»Ich bete täglich zu Ahura-Mazda, daß er Ihr Herz der richtigen Lehre zuwenden möge, weil Sie so rein und gut sind.«
Als Helen, überrascht und gerührt, keine Antwort fand, faßte Schehanna die Hand, die um ihre Taille lag, und drückte sie zärtlich:
»Wer den einzig richtigen Pfad wandert, dem wird es im Namen des Guten am besten ergehen.«
Helen zog sie heftig an ihre Brust und küßte sie. Darauf wandte sie sich hastig ab, um ihre Bewegung zu verbergen und ging gebeugten Hauptes in ihr Zelt.
Ralph hatte sie im bewegten Gespräch zusammen stehen sehen, konnte die Worte aber nicht verstehen.
Als Helen Schehanna küßte, wandte er sich ab und ging zu seinem Zelt, wo er sich vor der Tür in den Feldstuhl streckte und gedankenvoll vor sich hinstarrte.
Er sah Schehannas weißes Kleid hinter der Zelttür verschwinden und erwartete, daß Helen kommen und ihm gute Nacht sagen würde. Aber aus ihrem Zelt war kein Laut zu hören.
Es wurde Nacht, vorm Küchenzelt erlosch das Feuer, die Kamele hatten sich niedergelegt, die Leute schwiegen. Alles war still.
Wie er allein in der Nacht saß, wurde sein Gemüt von einer seltsamen Feierlichkeit erfüllt. Ihm war, als ob er von etwas umschwebt würde, das ihn bewachte und seine Seele erwartungsvoll höbe.
Er legte den Kopf in den Nacken, blickte zu dem funkelnden Sternenhimmel hinauf und versuchte zu durchdringen, was er empfand und was es zu bedeuten hätte.
Die alte Redensart fiel ihm ein, daß alles in den Sternen geschrieben stehe. Die Strahlen, die seinen Augen aus fernen Welten begegneten, waren nicht nur selbstleuchtend, sondern zugleich ein Widerschein des Lichts, das ihnen von der Welt entgegenstrahlte – ein Widerschein dessen, was die Erde Nacht für Nacht seit aller Ewigkeit in ihnen gespiegelt hatte. Ja, ebenso wie die Geschichte der Welt sich in den Strahlen der Sterne spiegelte, so stand auch jede Falte seiner eigenen Seele in ihnen geschrieben. Sie formten sein zukünftiges Leben, wie sie es von seiner Geburt an getan hatten, formten es durch sein Geschlecht, durch die unverbrüchlich zusammenhängende Kette der ganzen Menschheit, formten die Geschichte des Weltkrieges und des Menschengeistes. Er erinnerte sich der warte Abdul-Hassans: »Der Weise liest die Zeichen in den Sternen,« und er sah das Gesicht des Mahdis vor sich – die klare unbeschriebene Stirn und das fragende Augenpaar, das so wach auf das Leben gerichtet gewesen war.
Vielleicht kam in dieser feierlichen Nacht kraft dieser jungen Seele und der Auswahl unerforschlicher Ursachen das Neue in der Welt zum Durchbruch. Vielleicht standen wirklich Zeichen am Himmel, die die Kinder der Wüste, die sich auf die Sprache der Sterne verstanden, zu deuten vermochten. Vielleicht verkündeten die Zeichen, die die Senussijen gesehen hatten, daß die Botschaft, die ihren Vorfahren vor zweitausend Jahren auf dem Felde verkündet wurde, ihre Zeit gehabt hätte und das Ende der Zeiten und eine neue Erlösung nahe sei.
Es dauerte lange, bevor Schehanna einschlafen konnte. Sie dachte an Darab, sie dachte an ihr totes Kind, an ihren Vater und an ihre Mutter, an alle, die sie in ihrem herzen trug; sie zog sie in der Stille der Nacht zu sich heran, die Lebenden wie die Toten, bis sie schließlich ihren Ferved neben ihrem Lager fühlte. Sie sprach mit ihnen, lauschte ihrem Schmerz und ihrer Freude, fühlte ihre Hand in der ihren und sah ihr Lächeln wie bleiche Blumen auf ihrem Kopfkissen. Auch die sprechenden Augen des Mahdis tauchten aus der Dunkelheit auf und sahen sie an, als ob sie auf ihre Zweifel antworten wollten, die richtigen Worte aber nicht finden konnten. Und Ralphs blonder Kopf beugte sich zu ihr herab und horchte auf das, was in ihrem Herzen klopfte, langsam glitt sie in den Schlaf hinüber.
Ihr träumte, daß sie Hand in Hand mit Darab an dem Ufer eines schilfbekränzten Sees wandelte.
Sie blieben stehen und spiegelten sich in dem blanken Wasser, wie damals, als sie Hand in Hand am Flusse ihrer Kindheit gingen.
Da sahen sie Dasturan Dastur in seinem weißen Gewand auf dem anderen Ufer. Er winkte ihnen und sagte:
»Seht, dieses ist der See Kasava, und das Ende der Zeiten ist nah. Wo ist die Jungfrau, die in dem heiligen Wasser, das Zarathustras Körper umspült hat, baden soll, um den Erlöser zu empfangen, den großen Saoshyant, Astvatereta?«
Darab wandte sich zu ihr und sagte:
»Hörst du nicht?«
Sie beugte den Kopf. Der Schmerz zwang sie in die Knie, und sie sagte:
»Ich bin keine Jungfrau mehr; ich habe einen Sohn geboren zur Erlösung der Seele meines Vaters.«
Darab sah sie mit seinen schwarzen Augen vorwurfsvoll an.
»Können wir nicht mehr auf Elburs Berg zusammentreffen,« sagte er, »und die weiße Haoma pflücken, wie wir uns gelobt haben?«
Sie sank zwischen dem Schilf nieder und verbarg ihren Kopf weinend in den Händen.
Während sie so lag, hörte sie Dasturan Dasturs Stimme zum zweitenmal:
»Wo ist die Jungfrau?« rief er klagend über den See, und es war ihr, als ob dessen Spiegel im selben Augenblick von Tränentau verdunkelt würde.
Da faßte Darab sie bei der Schulter und sagte:
»Richte deinen Kopf auf und sieh!«
Und sie sah, daß der Tau über dem Wasser kein Tränentau war, sondern der Schatten des bösen Geistes Aeshma-daeva, der mit dem Teufelsweib Jahi in den Wolken schwebte. Das Herz stockte ihr vor Angst. Sie sah sie zur Erde niederwallen, und Darab flüsterte:
»Sieh, der Fürst der Dunkelheit weiß, was geschehen soll, darum kommt er, um die Empfängnis des Mädchens zu verhindern.«
Sie beugte das Schilf zur Seite und starrte über die Ebene. Da kam ein junger Mann mit großen sprechenden Augen auf sie zugeschwebt. In ihrer Freude griff sie nach Darabs Hand und flüsterte:
»Siehst du denn nicht, daß es der Mahdi ist, – er ist auch ein Kämpfer fürs Licht.«
Darab aber schob sie zornig von sich und sagte:
»Weh dir, Schehanna, du bist von Jahi besessen, du kannst nicht mehr Licht von Dunkelheit unterscheiden.«
Sie beugte sich tief beschämt und betete, daß Ahura-Mazda sie töten möge, wenn Jahi ihr Herz verunreinigt habe.
Da erklang Dasturan Dasturs Stimme zum drittenmal:
Im selben Augenblick fiel ein starkes Licht vom Himmel herab. Der See lächelte mit blankem Spiegel, und Darab rief:
»Sieh nur – sieh!«
Sie bog das Schilf beiseite und sah:
Drüben auf dem anderen Ufer kam eine Jungfrau in schimmernd weißen Gewändern über die Wiese auf Dasturan Dastur zu. Die Blumen drehten sich nach ihr um und öffneten ihre Kelche. Der See trat über das Ufer und küßte ihren weißen Fuß. Und Dasturan Dastur beugte sich ganz bis zur Erde und rief:
»Sei gegrüßt!«
Als sie den See erreichte, sah Schehanna ihr Gesicht. Im selben Augenblick rief Dasturan Dastur:
»Sei gegrüßt, Schehanna, du Gesegnete, die du die Schlange Azi durch die Frucht deines Leibes töten sollst! Ich wußte, daß du kommen würdest.«
Schehanna wollte rufen: siehst du denn nicht, daß es Helen ist? Denn es war Helens Ferved, der dort drüben strahlend schwebte.
Sie hörte es im Schilf flüstern, sie sah, wie der Schatten sich düster über den See legte, und sie hörte Darabs Stimme aus der Ferne:
»Errette sie, du heiliger Geist! – Sieh, Aeshma will die Jungfrau rauben, damit sie nicht im See baden und den großen Saoshyant empfangen kann.«
Schehanna versuchte sich zu verbergen, mitten in ihrer furchtbaren Angst aber dachte sie: »Ahura-Mazda hat Dasturan Dastur mit Blindheit geschlagen, so daß er Helen und mich verwechselt. Es ist der Wille des Lichts, daß Aeshma mich tötet, weil ich nicht mehr Jungfrau bin, damit sie, die Rechte, erlöst werden und den Mächtigen empfangen kann.«
Da schwebte die Dunkelheit von Aeshmas Mantel so dicht auf die Erde herab, daß die Blumen auf dem Felde unter seinem giftigen Atem welkten und das Schilf sich duckte und das heilige Wasser um Schutz bat.
Und der See erhob sich zwischen ihr und der Dunkelheit. Der blanke Spiegel richtete sich auf, das Wasser nahm Gestalt an, und im Licht des Himmels sah sie, daß Ralphs Gesicht sich den Geistern der Dunkelheit zuwandte, mit zornblitzenden Augen.
»Ahura-Mazda hat ihn gesandt,« dachte Schehanna, »um Helen und mich und uns alle zu retten.«
Sie streckte die Arme nach ihm aus und rief seinen Namen.
Aeshma stieß einen Zornesruf aus, der in der Dunkelheit Widerhall fand. Ralph breitete seine Arme aus; die bösen Geister wichen zurück und hielten den Mantel hoch, um sich gegen das Licht seines Angesichts zu schützen.
»Er treibt sie zum Abgrund zurück,« dachte sie.
Da sah sie, daß Ralph kämpfte, um sich von etwas freizumachen, das ihn nach unten zog.
Im selben Augenblick sahen es auch die Geister der Dunkelheit; sie erhoben ein Jubelgeschrei und näherten sich von neuem.
Atemlos vor Angst, beugte Schehanna sich vor, um zu sehen, was ihn zurückhielt. Da sah sie, daß es Helen war, die die Arme um seinen Leib geschlungen hatte und ihn nicht loslassen wollte. Es war nur ihr Körper, denn ihr Ferved, die strahlende Jungfrau in dem blendenden, weißen Gewand stand hilflos am Ufer und sah mit Verzweiflung im Blick zu.
»Laß ihn!« flehte Schehanna in ihrer Herzensangst, »damit er sich zum Licht emporheben kann!«
Das Teufelsweib Jahi hatte sich aus der Luft herabgeschlichen und flüsterte Helen mit süß verlockenden Worten in Herz und Ohren, daß sie die Beute ihrer Liebe festhalten solle. Und Schehanna sah noch mehr; sie sah, wie auch Ralphs Körper selig bestrickt war, und wie sein Ferved, der sich loszukämpfen versuchte, dieselbe Verzweiflung im Blick trug wie die strahlende Jungfrau.
Während Ralph und Helen sich noch umschlungen hielten, kam Aeshma immer näher, so daß Schehanna seinen Atem auf ihrer Stirn fühlte; um sie her wurde es ganz schwarz von der Dunkelheit seines Mantels, er streckte die Arme nach ihr aus, seine Krallen griffen nach ihrem Kopf und –
Schehanna erwachte mit einem Schrei, der in ihrer Kehle von einem Knebel erstickt wurde. In der schwarzen Dunkelheit fühlte sie sich von unsichtbaren Armen ergriffen und hochgehoben. Sie schlug verzweifelt um sich, fühlte, wie ihre Füße den Boden berührten und griff in die Falten eines Mantels. All ihr Kämpfen aber war vergeblich, der Unsichtbare war stärker als sie. Es gelang ihm, sie in ihre Bettdecke zu hüllen und aus dem Zelt in die Nacht hinauszutragen, die ihr eisigkalt entgegenschlug. Sie wollte schreien, aber ihr Mund war verschlossen, sie rang nach Luft und verlor die Besinnung.
Ralph erwachte.
Er fuhr in seinem Stuhl in die Höhe und lauschte in die Nacht hinaus, vor Kälte zitternd. Hatte er geträumt – oder war es wirklich ein Schrei gewesen?
Er hörte ein Geräusch, als ob ein Segel im Winde schlug. Er zog seinen Revolver aus der Tasche, spannte den Hahn und schlich näher. Als er Schehannas Zelt erreichte, sah er, daß der Vorhang zurückgeschlagen war und die Segeltuchwände sich wie im Sturm bewegten. Etwas Weißes, das in heftiger Bewegung war, tauchte in der Zelttür auf. Im selben Augenblick wurde es Ralph klar, daß ein Mann im Begriff war, Schehanna zu rauben.
Er blickte sich um und entdeckte beim Schein der Sterne, etliche Schritte entfernt, einen Mann zu Pferde, der ein zweites Pferd am Halfter hielt.
Der Mann versuchte durch leises Flöten seinen Gefährten zu warnen.
Der Räuber machte halt, wußte aber nicht, nach welcher Richtung er sich wenden sollte. Ralph zielte nach seinen Leinen, um Schehanna nicht zu treffen.
Der Schuß fiel. Der Mann war verwundet, ließ seine Beute aber nicht fahren. Ralph sprang näher und schoß noch einmal. Da leuchtete und knallte ein Schuß aus der Büchse des wartenden Reiters. Ralph merkte, wie das Projektil dicht an seinem Ohr vorbeizischte.
Aus dem Zelt des Führers erklang ein Ruf. Die Leute vom Küchenzelt erwachten und sprangen auf.
Der Mann ließ seine Bürde fallen, um sich aufs Pferd zu schwingen.
Ralph schoß nach dem Pferd und traf den wartenden Reiter, der einen Schrei ausstieß, seinem Pferde die Sporen gab und durch die Dunkelheit davonjagte, in der Annahme, daß sein Gefährte ihm folgte. Der Räuber aber verfehlte sein Pferd, das beim Schuß zur Seite gesprungen war und hinter dem Reiter herraste.
Ralph lief herbei, um den Räuber zu greifen. Bevor er ihn aber erreicht hatte, war er aufgesprungen und lief in die Wüste hinaus, sich hinter jedem Sandhügel duckend.
Ralph verfolgte ihn, er war ihm so nah, daß er ihn stöhnen hören konnte.
Der Führer eilte herbei und rief Ralph etwas zu, was er indessen nicht verstand. Darauf rief er die Leute, die bereits bei den Kamelen standen, die sich träge streckten und in der Dunkelheit nicht aufstehen wollten. Schließlich ließen sie die Tiere liegen, holten ihre Büchsen und liefen den Hügelkamm hinauf. Schüsse fielen; sie sahen den Feuerschein und folgten seiner Richtung.
* * *