Karl Capek
Der gestohlene Kaktus und andere Geschichten
Karl Capek

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Die Nadel

»Ich selbst habe zwar nie mit Gerichten zu schaffen gehabt«, begann Herr Kostelecky, »aber ich muß sagen, mir gefällt diese ungeheure Genauigkeit, auch dieses viele Reden, und vor allem, daß die Gerichte so viel Umstände machen, auch wenn es sich nur um einen Schmarren dreht. Da bekommt man erst das richtige Zutrauen zu der Gerechtigkeit. Wenn die Justiz in der einen Hand eine Waage hat, dann soll es schon eine Apothekerwaage sein, und wenn sie in der andern ein Schwert hält, dann muß dieses Schwert scharf sein wie ein Rasiermesser. Mir fällt dazu ein Fall ein, der in unserer Straße passiert ist.

Eine Hausmeisterin, eine gewisse Frau Maschek, kaufte einmal bei ihrem Krämer Semmeln, und wie sie gerade dabei ist, eine davon zu essen, spürt sie, wie etwas sie in den Gaumen sticht. Sie greift also ins Maul und zieht richtig eine Nadel heraus, die sich in ihren Gaumen eingebohrt hatte. Es dauerte eine Weile, ehe sie erschrocken darauf kam: Du lieber Himmel, ich hätte ja die Nadel verschlucken können, und dann hätte sie mir ein Loch in den Magen gemacht. Das hätte das Leben kosten können! Jetzt heißt es herausbekommen, wer der Lump ist, der die Nadel in die Semmel getan hat. – Sie machte sich also auf und trug die Nadel samt der angebissenen Semmel zur Polizei.

Die Polizei verhörte den Krämer, sie verhörte auch den Bäcker, der die Semmel gebacken hatte. Selbstverständlich wollte keiner etwas von der Nadel gewußt haben. Die Polizei übergab den Fall dem Gericht, denn es war ja offensichtlich ein Fall von ›leichter Körperverletzung‹. Der Untersuchungsrichter war ein gewissenhafter und gründlicher Amtsmensch, verhörte noch einmal genau den Krämer und selbstverständlich auch den Bäcker. Beide versicherten und beschworen, daß sie es nicht seien, bei denen die Nadel in die Semmel geraten war. Der Untersuchungsrichter durchforschte den Laden des Krämers und stellte fest, daß er keine Nadeln enthalte. Dann begab er sich zum Bäcker und beaufsichtigte das Werden der Semmeln. Eine ganze Nacht verbrachte er in der Backstube und sah zu, wie der Teig gemacht wurde, wie man ihn aufgehen ließ, wie der Backofen geheizt wurde, wie man die Semmeln flocht und sie in den Backofen schob, wie sie dort blieben, bis sie goldbraun wieder herauskamen. Er stellte solcherart einwandfrei fest, daß beim Semmelbacken tatsächlich keine Nadeln verwendet werden.

Sie können sich gar nicht vorstellen, was für eine hübsche Arbeit das Semmelbacken und besonders das Brotbacken ist. Ich kenne das, weil mein seliger Großvater eine Bäckerei hatte. Beim Brotbacken gibt es zwei, drei große, beinahe göttliche Geheimnisse. Das erste Mysterium tritt ein, wenn der Sauerteig angemacht wird. Man läßt ihn im Backtrog stehen, und nun vollzieht sich unter dem Deckel eine zauberhafte Verwandlung: man muß sie nur abwarten – aus dem Mehl und dem Wasser ist lebendiger Gärteig geworden. Dann wird dieser Teig mit dem andern vermengt und mit dem Knetscheit umgerührt. Auch das mutet wie etwas Religiöses an, wie ein kultischer Tanz oder dergleichen. Nun kommt eine Plache über das Ganze, und der Teig gärt. Das ist dann die zweite geheimnisvolle Verwandlung, wie der Teig majestätisch aufgeht, und dabei darf man das Tuch nicht aufheben und neugierig zugucken – ich sage Ihnen, das ist nicht weniger schön und nicht weniger sonderbar als eine Schwangerschaft. Ich habe mir oft gedacht, daß ›der Backtrog‹ eigentlich weiblichen Geschlechtes sein sollte. Das dritte Geheimnis ist das Backen selbst. Was wird da nur im Backofen aus dem weichen, blassen Teig! Du lieber Gott, ist es denn nicht wie bei einem Wunder, wenn die Leute so einen goldbräunlichen Laib herausziehen, der duftet, wie selbst ein kleines Kind nicht köstlicher duften kann? Ich glaube, man sollte bei den drei Verwandlungen in den Backstuben läuten, wie man bei der Wandlung in den Kirchen läutet.

Aber, um auf meine Geschichte zurückzukommen, der Untersuchungsrichter war nun mit seiner Weisheit am Ende. Die Sache ruhen zu lassen, fiel ihm indessen nicht ein. Er nahm also die Nadel und schickte sie an das Chemische Institut, damit man dort feststelle, ob die Nadel vor oder nach dem Backen in die Semmel geraten war. Dieser Richter hielt ganz besonders viel von wissenschaftlichen Gutachten. Am Chemischen Institut arbeitete damals ein gewisser Professor Uher, einer von diesen sehr gelehrten bärtigen Herren. Als ihm die Nadel zugestellt wurde, begann er lästerlich zu fluchen. Was diese Gerichte alles von ihm haben wollten! Vor kurzem erst hatte man ihm Eingeweide geschickt, die schon so verdorben waren, daß es nicht einmal der Prosektor mit ihnen aushalten konnte; und was sollte das Chemische Institut mit irgendeiner Nadel anfangen? Schließlich jedoch legte er sich die Sache irgendwie zurecht, und der Fall begann ihn zu interessieren, ihn als Wissenschaftler, verstehen Sie? Am Ende, sagte er sich, gehen mit so einer Nadel in der Tat Veränderungen vor sich, wenn sie in den Teig kommt oder mit ihm gebacken wird. Beim Gären bilden sich im Teig gewisse Säuren und weiß Gott was sonst noch, auch beim Backen, und man kann nicht wissen, ob die Nadel an ihrer Oberfläche nicht leichte Zersetzungs- oder Korrosionsspuren davonträgt. Unter dem Mikroskop müßte sich derartiges feststellen lassen. Er ging also die Sache an.

Er begann damit, daß er ein paar hundert Nadeln kaufte, und zwar sowohl vollkommen saubere, als auch mehr oder minder rostige, und dann fing er an, im Chemischen Institut Semmeln zu backen. Beim ersten Experiment gab er die Nadeln gleich in den Sauerteig, um festzustellen, wie der Gärprozeß auf sie wirke. Beim zweiten Versuch gab er sie in den frisch angemachten Brotteig. Beim dritten in den bereits gärenden Teig. Beim vierten in den ausgegorenen. Dann tat er sie knapp vor dem Backen hinein. Dann während des Backens. Dann steckte er sie in die noch warmen Semmeln. Und schließlich in die schon fertigen. Dann machte er, der Kontrolle wegen, die ganze Versuchsreihe noch einmal. Ich will Ihnen nicht viel erzählen – vierzehn Tage hindurch war das Chemische Institut ausschließlich damit beschäftigt, Semmeln mit Nadeln zu backen. Der Professor, der Dozent, vier Assistenten und der Diener mischten Tag für Tag Teig, buken und machten Semmeln, dann untersuchten sie die verwendeten Nadeln mikroskopisch und stellten Vergleiche an. Das gab wieder eine Woche Arbeit. Das Ergebnis aber war die genaue Feststellung, daß die betreffende Nadel in die bereits gebackene Semmel hineingesteckt worden war; ihr mikroskopisches Bild entsprach haargenau dem, das die in fertiges Gebäck eingestochenen Versuchsnadeln ergaben.

Auf Grund dieses ausführlichen Gutachtens war es für den Untersuchungsrichter nicht mehr zweifelhaft, daß die Nadel entweder beim Krämer oder auf dem Wege vom Bäcker zum Krämer in die Semmel geraten sein müsse. Der Bäcker, dem dies vorgehalten wurde, erinnerte sich nun plötzlich: ›Sakra, gerade an dem Tag habe ich den Lehrjungen hinausgeschmissen, der die Semmeln im Korb auszutragen hat!‹ Man lud den Buben vor und er gestand, daß er, um sich an dem Meister zu rächen, die Nadel in die Semmel gesteckt hatte. Seines jugendlichen Alters wegen kam der Junge mit einer Verwarnung davon; der Bäckermeister aber wurde zu fünfzig Kronen Geldstrafe, bedingt, verurteilt, da er für sein Personal haftet. Hier haben Sie also ein Beispiel dafür, wie gut es ist, daß die Gerechtigkeit so genau und so gründlich funktioniert.

Die Sache hatte übrigens noch andere Folgen. Wir Männer haben, ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, so einen eigenen Ehrgeiz in uns, eine gewisse Starrköpfigkeit oder so was Ähnliches. Kurz, im Chemischen Institut, wo man schon einmal angefangen hatte, Experimentiersemmeln zu backen, im Chemischen Institut setzten sich die Chemiker in den Kopf, sie müßten großartig backen können. Anfangs waren die Semmeln unregelmäßig, schlecht aufgegangen, unansehnlich. Aber je länger man buk, desto besser wurden sie. Später bestreute man sie mit Mohn, Salz oder Kümmel, und jetzt flochten sie sie auch schon so schön, daß es eine Freude war, sie anzusehen. Schließlich konnte man die Gelehrten überall prahlen hören, in ganz Prag würden keine so guten, knusprigen und schön braun gebackenen Semmeln gemacht wie im Chemischen Institut.«

 

»Sie haben es Starrköpfigkeit genannt, Herr Kostelecky«, meinte Herr Lelek, »ich würde es eher einen Sport nennen: so eine Vorliebe für eine hundertprozentige Leistung. Was ein richtiger Mann ist, unternimmt so etwas nicht wegen des Ergebnisses, das kann ganz gering sein, sondern er macht es, weil es in gewissem Sinne ein Spiel ist, eine selbsterzeugte Spannung. Ich möchte Ihnen das mit einem Beispiel erklären, freilich werden Sie sagen: Es ist eine Dummheit und gehört nicht hierher.

Als ich noch bei uns in der Buchhaltung tätig war und die Halbjahrsbilanzen zu machen hatte, kam es manchmal vor, daß die Ziffern nicht stimmten. Einmal zum Beispiel fehlten uns genau drei Heller in der Kasse. Ich hätte ja ohne weiteres die drei Heller in die Kasse legen können, aber das wäre kein sauberes Spiel gewesen, unsportlich würde man das nennen, vom buchhalterischen Standpunkt aus. Da heißt es schon herausfinden, in welchem von den etwa vierzehntausend Posten der Fehler steckt. Und ich muß Ihnen gestehen, daß ich vor dem Abschluß immer darauf gebrannt habe, daß irgendwo so ein Fehler steckt.

Wenn es so weit war, blieb ich auch die ganze Nacht hindurch in meiner Buchhaltung, schichtete den Riesenstoß von Geschäftsbüchern vor mir auf und ging die Sache an. Merkwürdig, die Zahlenkolonnen waren für mich keine Ziffern, sondern körperhafte Dinge. Zuweilen hatte ich die Vorstellung, daß ich an ihnen hinauf und hinunter kletterte wie an einem steilen Felsen oder aber ich stieg an ihnen hinab wie an einer Leiter in einen tiefen Schacht. Dann fühlte ich mich wieder als Jäger, der sich durch einen dichten Jungwald von Ziffern hindurcharbeitet, um ein seltenes und scheues Wild zu erjagen: dieses Wild waren die drei Heller. Oder ich hatte das Gefühl, ich sei ein Detektiv und lauerte verborgen in einer Ecke. Tausende Gestalten huschen an mir vorbei, ich aber warte gespannt, bis ich ihn habe, den Spitzbuben, den Täter, und ihn am Kragen fasse: den Rechenfehler. Dann wieder kam es mir vor, als säße ich am Flußufer und hätte die Angel nach Fischen ausgeworfen; plötzlich zuckt die Rute, ha, und jetzt habe ich dich, du Luder! Die häufigste Vorstellung aber war die, daß ich ein Jäger sei und durch betautes Heidelbeergestrüpp auf und ab watete. In mir war eine solche Freude an der Bewegung und an der eigenen Kraft, ein solches Hochgefühl von Freiheit und Spannung, als erlebte ich ein großes Abenteuer. Die ganze Nacht hielt ich mich wach, um den drei Hellern nachzujagen, und wenn ich sie erwischt hatte, fiel es mir nicht ein, mir zu sagen: es sind ja nur drei lumpige Heller. Sie waren die Trophäe, und ich ging schlafen, begeistert und im Bewußtsein meines Sieges – beinahe wäre ich in Schuhen ins Bett gekrochen. Das ist eigentlich alles.«


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