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Schon im Anfange dieser Betrachtungen ist es einmal beiläufig zur Erwähnung gekommen, was das Wort »Person« eigentlich für einen Sinn habe und wie dadurch bezeichnet werden solle ein Wesen, das nicht bloß von dem Hauche des Göttlichen belebt – »inspiriert« – sei, sondern durch welches hindurch und aus welchem hervor nun auch wieder die eigentümliche innere Göttlichkeit seiner besondern Natur deutlich und vernehmbar, wenn auch nicht immer dem eigentlich Göttlichen angemessen, hervortönen (personare) und sich kenntlich machen könne. Daher gibt es zwar unendliche lebendige und unendliche belebte Wesen, aber von Personen kennen wir nur die mit selbstbewußten Seelen entwickelten Menschen.
Also nicht einmal der Mensch schlechthin ist eine Person; der Embryo – das neugeborene Kind – sie gehören unter den Begriff des Menschen, aber nicht unter den der Person. Das, was erst den Menschen zur Person macht, was an der Seele die Persönlichkeit entwickelt, ist nur das Erwachen des selbstbewußten, sich in seiner Besonderheit erfassenden Geistes. Es ist demnach gegenwärtig nicht sowohl wie im vorigen Abschnitt das Wachstum des Ansichseins der Idee überhaupt, sondern die Art und Weise, wie die Seele gerade als diese besondere sich entwickelt, in Betrachtung zu nehmen. Hierbei wären denn von Haus aus, wie schon weiter oben angedeutet wurde, zwei verschiedene Ansichten möglich: die eine, die davon ausginge, die Verschiedenheit der hervortretenden Persönlichkeit ganz allein abhängig erscheinen zu lassen von der zeitlichen Entwicklung des Menschen, wie sie nach der unendlichen Vielgestaltigkeit und dem rastlosen Wechsel der Welterscheinung nie gerade von denselben Verhältnissen bedingt sein kann und dadurch also jedesmal notwendig eine andere werden müßte, wenn sie auch, ihrem ersten Ansichsein der Idee nach ursprünglich wirklich überall dieselbe gewesen sein möchte; die andere, welche davon ausgeht, die Verschiedenheit der hervortretenden Persönlichkeiten grundwesentlich schon im ersten Ansichsein der Idee begründet zu denken und die zeitliche Entwicklung unter allemal anderen Verhältnissen nur als verstärkend und modifizierend einwirken zu lassen. Was die erste Ansicht betrifft, so ließ sie sich um so weniger rechtfertigen, je entschiedener es war, daß, obwohl die Erscheinung und die Offenbarung dessen, was wir Persönlichkeit, und noch mehr dessen, was wir Charakter nennen, ganz wesentlich in die Region des bewußten Seelenlebens fällt, doch die inneren Bedingungen desselben hauptsächlich auf demjenigen Teile ihres Wesens ruhen, den wir das absolut Unbewußte genannt haben. Es wird aber gerade die unbewußte Region, weil sie nicht in so ausgedehntem Verkehr mit der Außenwelt steht als die bewußte, auch weit weniger durch das Äußere influenziert, und sie wird deshalb in ihrem Walten hauptsächlich die eingeborene Eigentümlichkeit und Besonderheit ihrer Idee festhalten und nicht verfehlen, diese Besonderheit sodann auch auf die bewußte Region mit zu übertragen. Widerspräche es daher nicht überhaupt schon dem Begriffe von der notwendigen unendlichen Mannigfaltigkeit und dem sich nie unbedingt gleichmäßig Wiederholenden aller göttlichen Offenbarung, daß unendliche Ideen besonderer Individuen innerhalb der Idee der Menschheit alle einander an und für sich absolut gleich sein sollten, so würde es durch die unendliche Verschiedenheit des noch unbewußten Waltens dieser Ideen, wovon es ja doch abhängt, daß im einzelnen nie eine menschliche Bildung der andern vollkommen gleich erscheint, sattsam erwiesen, daß die Grundideen selbst hier ursprünglich verschieden gedacht werden müssen.
Halten wir also den Gedanken fest, daß innerhalb der einen Idee der Menschheit unendlich mannigfaltige individuelle Ideen begründet seien, daß aber erst das eigentliche Sichdarleben derselben ihre Individualität zu derjenigen Reife zu bringen vermöge, wo wir den Ausdruck der Persönlichkeit und des Charakters von ihr gebrauchen können, so muß es nun eine besondere Aufgabe werden, diesem Entwicklungsgange im einzelnen nachzugehen, die verschiedenen Phasen desselben näher anzugeben und die wesentliche Verschiedenheit der einzelnen Klassen gereifter Persönlichkeiten und Charaktere schärfer zu bezeichnen.
Zu einer merkwürdigen Betrachtung in dieser Hinsicht veranlaßt es aber zuvörderst, wenn wir bemerken müssen, daß hinsichtlich der allmählichen Hervorbildung der Person und des Charakters als geistiges Wesen durchaus dasselbe Gesetz waltet, das wir in der organischen leiblichen Hervorbildung der Gestalt anerkennen: nämlich das Fortschreiten vom Unbestimmten zum Bestimmten, vom Weichen zum Festen, ja zum Erstarrten einerseits, und andererseits das im Bilden und Wachsen immerfort stattfindende Umbilden, das stetige Zerstören und Untergehen und das stetige Neuerzeugen.
Diese beiden Gesetze führen zu den merkwürdigsten Anwendungen auf die Geschichte der Entwicklung einer Persönlichkeit, eines Charakters. Nämlich nicht nur im allgemeinen dringt es sich uns auf, daß der Geist des Kindes noch unbestimmter und eben deshalb soviel leichter bestimmbar bleibe als der des Mannes oder der leicht bis zum Eigensinn sich erhärtende Geist des Greises, sondern wir verstehen nun auch, warum eine gewisse Weichheit, eine gewisse Bestimmbarkeit der Seele eine unerläßliche Bedingung ist, wenn sie eines längeren Fortwachsens und einer tiefern Durchbildung fähig bleiben soll. Es ist dem Psychologen sehr wichtig, darauf zu achten, wie ausnehmend verschieden die Ausdehnung der geistigen Entwicklung ist, wie gewisse Geister schon sehr zeitig aufhören, sich fortzubilden, sehr zeitig zu einer gewissen Starrheit gelangen, wo weitere Entfaltung, neues Hervorbilden, lebendiges Assimilieren des Fremden nicht mehr möglich sind, wo nur das einmal Gewohnte und Erlangte gültig und wirksam bleibt und das Verlangen völlig aufhört, in neuen Regionen sich zu versuchen. Dagegen finden sich andere Individualitäten, deren Geist fortwährend eine gewisse Weichheit behält, nie mit sich abschließt, nie fertig wird, darum zwar nie gegen Irrtum und Schwankung ganz sichergestellt erscheint, aber dagegen auch rastlos vorwärtsgetrieben wird, immer neuen Metamorphosen entgegeneilt und so zulegt eine Weite und Größe erreichen kann, welcher wir, wenn sie mit innerer Wahrheit und Schönheit gepaart ist, stets die außerordentlichsten Leistungen für die gesamte Menschheit zu verdanken gehabt haben. Unter den Menschen ist von jeher zwischen diesen verschiedenen Naturen viel Unfrieden und Streit entstanden und um so mehr, je grundwesentlicher die Verschiedenheit ist, die hier obwaltet, und je weniger sie also von irgend zufällig einwirkenden äußeren Verhältnissen, sondern je mehr sie von erster innerer Anlage abhängt. Die mit sich zeitig Abschließenden, fest Gewordenen rühmen sich ihrer Konsequenz, Zufriedenheit und Sicherheit, während die Beweglichen und sich stetig Fortbildenden ihnen Härte, Einseitigkeit und Zurückbleiben im Fortschritt der Menschheit schuld geben. Umgekehrt erfreuen die letzteren sich ihrer Empfänglichkeit und ihrer Metamorphosen, gelangen aber eben wegen ihrer stetigen Umwandlung nie zu einem vollkommenen Genügen mit ihrem Schicksale, leben mehr zwischen der Qual des Aufgebens und der Lust des Aufnehmens und Werdens in einem stets bewegten Zustande, und die Festgewordenen werfen ihnen deshalb gewöhnlich ihre Weichheit, Unstetigkeit, Wankelmütigkeit, Unzufriedenheit und Untreue vor – Verhältnisse, zwischen denen dann natürlich eine vollständige Ausgleichung und Befreundung nie möglich ist. Das Geheimnis des Gegensatzes, den Goethe in seinem Tasso und Antonio so ergreifend dargestellt, beruht ganz auf dem Gewahrwerden dieser ursprünglichen Verschiedenheit der Geister im Kreise der Menschheit.
Ebenso bietet sich eine große Verschiedenheit dar, je nachdem die Bestimmtheit in der Unbestimmtheit des Geistes früher oder später hervortritt. Man möchte wohl voraussehen, daß je zeitiger die Persönlichkeit, die bestimmte Individualität des Geistes sich hervortue, desto früher müsse ihr Wachstum aufhören und jenes Festwerden, gleichsam Erstarren des Geistes eintreten, allein es muß hierbei in Betrachtung gezogen werden, daß auch wieder, je prägnanter überhaupt die Energie des Geistes ist, sie auch um so früher in ihrer Eigentümlichkeit sich andeuten wird, und hieraus geht denn gewöhnlich gerade das umgekehrte Verhältnis hervor, eben weil die bedeutende Individualität das Bedürfnis hat, weiter hinaus als die unbedeutende ihr Wachstum auszudehnen. Aus diesem Grunde zeigt sich bei Naturen, welche der Ausdruck einer energischen Idee sind, größtenteils schon in ganz jungen Jahren etwas Absonderliches, eine sehr bestimmte Anlage zu einer scharf ausgeprägten Persönlichkeit, und dessenungeachtet wachsen sie geistig mit Macht und Ausdauer bis in späte Lebensepochen fort. Ob dabei die wirklich scharf ausgeprägte Persönlichkeit, das, was wir Charakter nennen, zeitiger oder später hervortritt, hängt gewöhnlich von der besondern Lebensrichtung, d. h. davon ab, ob mehr in den Regionen des Erkennens oder mehr in denen des Gemüts oder mehr in denen des Willens und der Tat die geistige Entwicklung fortschreitet. Schon oben ist davon die Rede gewesen, wie selbst auf das Ansichsein der Idee das Erkennen, das Gefühl, die Willensregung verschieden wirke; hier muß es bemerkt werden, daß namentlich auch hinsichtlich der Zeitigung der Schärfe des Charakters die verschiedene Richtung wesentlich einwirkt. Das bedeutende Wort Goethes:
»Es bildet ein Talent sich in der Stille,
Sich ein Charakter im Geräusch der Welt«
findet hier vollkommene Anwendung. Es leidet nämlich keinen Zweifel, daß, wie etwa starke Übung der Muskulatur die Umrisse der Gestalt entschiedener herausbildet als Übung im Denken und im Sinnenleben, ebenso die Richtung auf das Tun – die Richtung gegen das, was wir oben die Weltinnigkeit genannt haben – den Umriß der geistigen Gestalt, den Charakter entschiedener entwickelt als die Richtung auf das Erkennen und das Gefühl. Es bleibt sogar in dem, was wir Charakter nennen, immerfort die Richtung auf die Welt, auf tätiges Leben vorherrschend, und wir benennen deshalb vorzüglich die verschiedenen Charaktere nach dieser Verschiedenheit. Wir unterscheiden einen strengen, einen sanften, einen heftigen, einen argwöhnischen und verschlossenen oder einen offenen und redlichen Charakter usw., und in allem diesen ist immer ganz besonders die Art und Weise, wie das Individuum sich tätig der Welt gegenüberstellt, hervorgehoben. So ist es denn auch merkwürdig, darauf zu achten, wie eine Persönlichkeit, deren Richtung im ganzen mehr auf Erkennen und Gefühlsleben gewendet ist, eine sehr hohe Entwicklung erlangen kann, ohne doch zu einem ganz entschiedenen Charakter sich durchzubilden; vieles in der Geschichte ausgezeichneter Dichter und Gelehrten erklärt sich erst aus diesem Gesichtspunkte vollkommen. Eins ist jedoch, was nicht unbemerkt gelassen werden darf, wenn von schärfer oder schwächer ausgeprägter Persönlichkeit die Rede ist, nämlich daß auch in einem und demselben Menschen die Persönlichkeit nicht immer in gleicher Festigkeit und Bestimmtheit hervortreten kann. Eigentlich muß hier an das erinnert werden, was oben über Seligkeit oder Glückseligkeit als den wahrhaft vollendeten Zustand der Seele, gesagt ist. Hält man sich dies deutlich vor dem geistigen Auge, so begreift man, daß, wenn überhaupt »Persönlichkeit« zu deuten war als die besondere Art, wie das eingeborene Göttliche durch die geistige Individualität hindurchtöne, dieses Hindurchtönen allemal reiner und vollständiger sein werde, wenn die Seele zu ihrem höchsten und reinsten Zielpunkt der Glückseligkeit entwickelt, als wenn sie in Unvollkommenheit und Unseligkeit zurückgehalten sei. Es kann sich daher zwar wohl auch in Unglück und Unseligkeit eine besondere Schärfe des Charakters äußern, aber das volle und reine Durchtönen des Göttlichen durch die Seele des Menschen wird immer nur durch den Zustand der Glückseligkeit möglich, so daß man sagen kann: nicht nur die Seele überhaupt, sondern auch die Seele als Person, als Charakter vollende sich da, wo sie durch innere Ausbildung zum Gefühle wahrer Glückseligkeit gelangt ist.
Wir wenden uns nun zur Betrachtung des zweiten Bildungsgesetzes für die Entwicklung des Geistes zur Persönlichkeit und zum Charakter, demzufolge ein stetiges Untergehen und Zerstören einerseits und ein stetiges Aufnehmen und Neubilden andererseits von diesem Wachstume des Geistes als unzertrennlich gefordert wurde. Auch hier bieten sich Reihen der merkwürdigsten Erscheinungen dar. Wer nur in seinem eigenen Leben aufmerksam zurückblicken will oder wer überhaupt gewohnt ist, dem Gange seines Lebens mit Selbstbewußtsein und stiller Selbstbeschauung zu folgen, wird sonderbare Wahrnehmungen in dieser Art machen. Wie ziehende Wolkengebilde im steten Wandel begriffen, so die inneren Zustände des Menschen! Neue Eindrücke drängen sich zu, neue Gefühle werden angeregt, andere und neue Tätigkeiten gefordert; dagegen kehren eine Menge von Vorstellungen nicht nur immerfort zeitweise ins Unbewußte zurück, sondern werden auch nach und nach seltener und endlich gar nicht mehr ins Bewußtsein zurückgerufen, werden vergessen, und alle geistige Gestaltung wird eine andere. Notwendig verlieren sich dabei auch ganze Reihen von Gefühlen, so manche Tätigkeiten werden wenig oder nicht mehr geübt, und so wird das geistige selbstbewußte Individuum ebenso durch stete Umwandlung, obwohl immer auf derselben Basis der Idee ruhend, allmählich ein anders Erscheinendes, gerade so wie auch das unbewußte bildende Leben alles, was wir leibliche Erhaltung und leibliches Wachstum nennen, nur durch ein stetes Zerstören und Neuschaffen erreicht.
Nicht genug also, daß dem Psychologen die unendliche Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit menschlicher Seelen und Charaktere nie aufhören kann zu beschäftigen, so tritt noch eine Steigerung dieser Mannigfaltigkeit hervor dadurch, daß in jeder einzelnen Seele, in jedem einzelnen Charakter noch so wesentlich verschiedene Stadien sich bemerklich machen. Auch in dieser Beziehung wird uns also der Mensch zum Mikrokosmus, da in ihm als Gattung die gesamte unendliche Mannigfaltigkeit im Charakter der verschiedensten Wesen der Welt sich wiederholt und immer wiederholen wird. Darum also diese so vielfach wiederkehrende Überraschung in der Geschichte der Menschheit, daß, wenn wir glauben, nun endlich möge doch wohl die Möglichkeit noch neuer, noch besonderer Charaktere und Geister erschöpft sein, doch immer wieder das Unerwartete, bisher Unerhörte hervortreten kann – ein Unerwartetes, wodurch plötzlich oft mittels einer einzigen Individualität der Geschichte eine ganz neue Wendung gegeben worden ist. Eben darum läßt sich auch, wenn versucht werden soll, einen Gesamtüberblick und eine Einteilung der Verschiedenheit der Charaktere zu geben, immer nur massenweise verfahren, und immer sind Verzahnungen offenzulassen, um neue unerwartete Begegnisse einzureihen. Auch hier stellt die Verschiedenheit insofern am leichtesten und entschiedensten sich dar, als sie auf dem Unbewußten ruht und als sie sonach durch die Bildung des Organismus selbst angedeutet wird. Die Verschiedenheit weiblichen und männlichen Charakters und die Verschiedenheit der Charaktere der wesentlich verschiedenen Altersstufen ist daher die am ersten und am deutlichsten sich darstellende. Daran würden sich anschließen die Verschiedenheit der Charaktere der Menschenstämme und diejenige Verschiedenheit, welche selbst einem und demselben Stamme es aufprägt, wenn er in sehr verschiedene Klimate sich verteilt. Andere Verschiedenheiten, welche mehr auf die bewußte Region wirken, stellen sich dann heraus, wenn wir dem Einfluß, den Lebensweise und äußere Verhältnisse üben, nachgehen; durch alle diese Einwirkungen hindurch jedoch dringt die Macht der innersten, in dem Ansichsein der Idee begründeten Eigentümlichkeit, und das, was von hier aus bestimmt wird, läßt sich denn auch immer weniger unter irgend besondere Abteilungen bringen, und zwar deshalb, weil gerade da die Verschiedenheit am meisten ins Unendliche geht. – Im folgenden soll es keineswegs die Aufgabe sein, allen diesen Verschiedenheiten im einzelnen nachzugehen, zumal da es keinem Zweifel unterworfen ist, daß der Wissenschaft von der Seele nicht sowohl das Vielerlei der Gegenstände von Wichtigkeit sein kann, sondern ihr um so reichere Resultate hervorgehen werden, je mächtiger die geistige Individualität ist, die sie zum Studium vornimmt. Man darf es aussprechen, daß die genauere Erwägung aller der verschiedenen Phasen, durch welche sich ein großer ausgezeichneter Mensch auf seine Höhe hinaufbildet, der Wissenschaft hundertfältig mehr Ausbeute gewährt als die Vergleichung und das psychologische Studium aller Negerstämme, aller wilden östlichen und westlichen Dämmerungsvölker oder noch so vieler roher geistesarmer Subjekte unseres eigenen Stammes. Auch hierin bewährt sich der große bedeutende Mensch, ich möchte sagen zweifach und dreifach als ein Mikrokosmus, daß er in einem – in sich – vereinigen kann, was sonst viele und oft nur unvollkommen darstellen. Bevor wir daher zu den Gesamtcharakteren, welche namentlich in Verschiedenheit des Geschlechts und Alters sich äußern, den Übergang machen, soll es uns beschäftigen, etwas ausführlicher jener selteneren, über das gewöhnliche Maß menschlicher Eigentümlichkeit sich erhebenden Charaktere zu gedenken, von denen man die einen Genien oder » Urgeister«, die andern einseitig große Talente oder » besondere Geister« nennen könnte. Beide richtig zu deuten, müssen wir die Gesamtidee der Menschheit uns faßlich und verständlich zu machen suchen. Erst wenn wir in dem geschichtlichen Sichdarleben der Idee der Menschheit die Entwicklung eines großen ideellen Organismus erblicken, kann es uns deutlich werden, daß gleichwie an einem jeden leiblichen Organismus einzelne Organe von höherer Bedeutung und größerer Selbständigkeit erscheinen, so auch in der Menschheit gewisse Individualitäten die besonderen Träger großer Wendepunkte ihrer Geschichte und ihres Lebens darstellen müssen. Mit einem Worte: die Idee der Menschheit überhaupt konzentriert sich in einzelnen Individualitäten mehr, in andern weniger (so hat im Organismus ein Organ mehr, das andere weniger die Bedeutung des Ganzen), und nur diejenigen, welche am meisten eine solche Bedeutung auf sich gehäuft tragen, sie waren es von jeher, welche man als Urgeister bezeichnete. Wir erkennen hieraus sofort, daß, wenn es irgendein besonderes Siegel gibt, wodurch diese eigentlichen Urgeister erkennbar waren, dieses kein anderes sein kann als das einer höhern Universalität. Der wahre Genius, der eigentliche Urgeist, ist nie ein bloß einseitiger: in ihm erweiset sich eine besondere göttliche Macht, welche ihn überall, wohin er sich wendet, als mächtig, als wahr, als schaffend, als belebend darstellt, und es hängt oft scheinbar nur von geringen Umständen ab, ob mehr die eine oder mehr die andere Seite seiner Wirksamkeit sich hervorheben soll.Ein ähnlicher Gedanke ist von Carlyle ausgesprochen worden: »Der Held kann nach der Gestalt der Welt, in der er sich geboren findet, Dichter, Prophet, König, Priester oder was ihr wollt, sein. Ich bekenne, keinen Begriff zu haben von einem großen Manne, der es nicht auf jede Weise sein könnte. Er steht im ersten Verkehr mit dem Universum, ob auch die andern alle damit spielten. Er besitzt zuerst und vor allen die Tugend der Wahrhaftigkeit. Er ist Offenbarer von dem, was wir zu tun, was wir zu lieben haben: denn beide Gebiete gehen ineinander über und können nicht getrennt werden.« – »Der große Grundcharakter ist immer, daß der Mann groß sei. Das große Herz, das klare tiefsehende Auge, da liegt's, wer immer er sei und wo er stehe.« On Heroes, Hero-Worship and the heroic in history by Carlyle. Ist es daher auch seine Tätigkeit, im Leben nur eine Richtung wesentlich zu verfolgen, so wird das Siegel der Universalität auch dieser einzelnen Richtung unfehlbar aufgeprägt sein; er wird auch, wo er ein Einzelnes erfaßt, immer verstehen, in ihm das Weltall sich spiegeln zu lassen. Gerade das Gegenteil hiervon sind die besonderen Geister oder die großen Talente. Hier ist es die höchste Einseitigkeit, in welcher es möglich wird, daß keineswegs zwar die gesamte Idee der Menschheit, dafür aber um so gewaltiger eine einzelne ganz spezielle Richtung derselben auf eine merkwürdige Weise zur Darbildung gelangt. Die Urgeister werden daher eine gewisse allgemeine, ihnen allen zukommende eigentümliche Weihe verraten und immer in gewisser Weise sich begegnen, während die besonderen Geister, in denen gewissermaßen alle besonderen Lebensäußerungen und Lebensinnerungen eigenlebendig sich verkörpern, in unzählig verschiedenen Strahlen auseinanderweichen. Diese seltsamen Erscheinungen, in denen oft wahre Verkümmerung aller andern Geistesgaben außer der einen, deren Träger sie sind, sich kundgibt, diese Seelen, die bald bloße Rechenmaschinen, bald nichts als Virtuosen, bald nichts als Gedächtnisbücher, bald nichts als Gymnastiker oder Mechaniker usw. sind, haben allemal auch eine gewisse Bedeutung für die Menschheit, aber eine entschieden geringere als die Urgeister. Durch die Verwechslung beider ist oft eine arge Begriffsverwirrung geschaffen worden. Wer die obengegebenen Merkmale beachtet, wird gegen dergleichen gesichert sein. Jene großen Talente dienen wesentlich nur, um die merkwürdige, oft fast unglaubliche Perfektibilität übrigens bekannter menschlicher Eigenschaften zu zeigen, und es geschieht durch sie manches, was außerdem überhaupt nicht ausgeführt werden könnte; während durch den Urgeist immer irgendeine ganz neue, früher noch nie erschaute Seite der Menschheit enthüllt wird.
Übergehend nun zu dem, was man Gesamtcharaktere nennen darf, indem es den allgemeinen Ausdruck gibt für die Möglichkeit einer unermeßlichen Reihe verschiedener einzelner Charaktere, heben wir insbesondere hervor den ersten und wichtigsten Gegensatz, nämlich den zwischen männlichen und weiblichen Charakteren. Um dieses die ganze Geschichte der Menschheit überall durchdringende und bewegende Verhältnis einigermaßen zu begreifen, muß man gleich damit anfangen, es als ein irrationales, nie ganz aufzulösendes gelten zu lassen; denn das, was in beiden Geschlechtern schon im Bereiche der absolut unbewußten Seele gleichartig und doch verschieden ist, erscheint in sich so außerordentlich verschlungen und mannigfaltig, daß gerade dadurch schon jedes Geschlecht dem andern als ein selten und zuhöchst nur in der vollkommensten Liebe verständlich werdendes Geheimnis erscheint, ja daß namentlich darin ein großer Teil der Macht wechselseitiger Einwirkung und Anziehung und gegenseitigen Angezogenwerdens gegen das andere Geschlecht gegeben wird.
Wie tief daher auch der Mann eindringen mag, um die eigentümliche Welt des weiblichen Seelenlebens sich deutlich zu machen, wie sehr er auch die Macht seines Erkennens geltend macht, um das geistige Prinzip zu finden, von welchem alles Fühlen, Denken und Wollen des Weibes bedingt ist, und wie manches ihm auch hierbei wirklich verständlich werden mag, zulegt bleibt doch ein Inkommensurables, nur durch ein anderes Inkommensurables, d.i. nur durch das Geheimnis der Liebe zu Lösendes übrig. Nicht anders wird es meistens dem Weibe gehen in dem Verständnis des Mannes, und nur, indem man annehmen darf, daß bei dem ersten im allgemeinen mehr das durch das Unbewußte bestimmte Gemüt vorwaltet und das eigentliche Erkennen nicht im gleichen Maße die Aufgabe des ganzen Lebens wird wie im Manne, tritt vielleicht ein gewisses mehr unmittelbares Vernehmen der Geheimnisse der männlichen Seele, ein gewisses magnetisches Abfühlen hervor, welches in manchen Beziehungen das Seelenleben des Mannes dem Weibe näherbringen wird, als es im umgekehrten Verhältnisse gewöhnlich der Fall ist.
Ist es doch aus eben diesem Grunde bisher Dichtern immer vollkommener gelungen, in Schilderung einzelner ganz aus ihrer eigenen Phantasie hervorgegangenen Charaktere den Gegensatz des Männlichen und Weiblichen in ausnehmender Klarheit darzustellen, als es Psychologen und Philosophen in wissenschaftlichen Deduktionen vermocht haben. Der Dichter nämlich verhält sich hier zum Wissenschafter auch wie ein Weibliches zum Männlichen, und eben weil er das Mysterium als solches, d. i. mehr unbewußt, erfaßt, kommt er ihm oft näher als der letztere, wenn dieser nämlich überall von dem Grundsatze ausgeht, alles und jedes ins klare Bewußtsein ziehen zu wollen. Freilich was uns betrifft, so sind wir der Meinung, daß diese letztere Ansicht überhaupt irrig sei und daß gerade die höhere Erkenntnis jedem sein Recht zu tun habe, das Bewußte als solches mit größter Klarheit darstellen, das Unbewußte in seinem Dunkeln und Geheimnisvollen anerkennen und aufnehmen müsse, so wie eine bildliche Darstellung etwa nicht bloß Licht im Lichte gelten lassen kann, sondern erst durch Verbindung und kunstgemäße Zusammenstellung von Licht und Dunkelheit wahrhafte Deutlichkeit erreicht. Daß man dies bisher weniger eingesehen und angewendet hat, lag offenbar daran, daß man den wichtigen Satz, den wir an die Spitze aller unserer Betrachtungen stellen und auf den wir immer zurückkommen müssen, sich nicht zur Überzeugung gebracht hatte, nämlich: »daß der Schlüssel zur Erkenntnis vom Wesen des bewußten Seelenlebens gelegen sei in der Region des Unbewußtseins«.
Gehen wir nun auf diesem Wege der Betrachtung weiter, so erschließt sich alsbald ein Mehreres über die Verschiedenheit des männlichen und weiblichen Charakters; es wird deutlich, daß das Weib eben vermöge eines gewissen Vorwaltens unbewußten Lebens auch fester und unmittelbarer an jenem Göttlichen haften bleibt, das wir, eben weil es durch das Erkennen nie ganz ermessen werden kann, als ein Mysterium und als den Urgrund und die höchste Bedingung alles Seienden verehren sollen; während der Mann bei seiner Aufgabe, zur vollkommenen Tat des selbstbewußten Geistes hindurchzudringen, leichtlich von dem Haften an diesem Mysterium sich allzuweit entfernen kann. Freilich wird auch der Mann einerseits, wenn er imstande ist, die Region des Unbewußten mit in seinen Kalkül immerfort aufzunehmen, einer in jeder Beziehung höhern Entfaltung der Seele und des Geistes fähig werden als die Frau; aber andererseits wird er unfehlbar, wenn er über das Bewußte das Unbewußte ganz aufgeben will und in einer einseitigen egoistischen oder bloß weltlichen Richtung sein geistiges Leben zu einer gewissen Starrheit kommen läßt, weit hinter der Lebendigkeit und Bildsamkeit des Weibes zurückbleiben. Unter den Frauen bleibt daher in der Mehrzahl, eben weil zuhöchst überall ein für uns Unbewußtes in der Tiefe der Erscheinungen ruht, ein gewisses dunkles Abfühlen der innersten geheimnisvollen Wesenheit der Natur und des Geistes vorhanden, und sie behalten dadurch einen eigentümlichen Fond von Lebendigkeit und Bildsamkeit, der bei der Mehrzahl von Männern leicht in einer gewissen trockenen Einseitigkeit aufgeht, welche sich eben da gern und gewöhnlich entwickelt, wo der Region des Unbewußten ihr Recht dauernd entzogen wird. Das, was wir daher Pedant und, wenn es sich ohne alle geistige Energie in einer dürftigen Beschränkung des Lebens äußert, Philister nennen, und was in der Gesellschaft der Männer in gar verschiedenen Formen häufigst sich wiederholt, ist deshalb in dieser Weise den Frauen gänzlich fremd. Dagegen hält sich freilich auch wieder ihr Charakter in der Regel mehr in einem engern und hergebrachten Gleise – es wird ihnen selten möglich, aus dem Gewöhnlichen herauszugehen, sich selbst ihren eigenen Lebensweg mit Entschiedenheit vorzuzeichnen; das eigentliche Konzentrieren des Lebens auf einzelne als besonders würdig erkannte Zwecke ist diesem Geschlechte mit wenigen Ausnahmen fast immer versagt, und nie ist eine große Erfindung, durch welche dem Genius der Menschheit neue Bahnen sich eröffnet hätten, aus ihrem Geiste hervorgegangen. Von dem männlichen Geiste hinwiederum kann man sagen, daß, wenn es dem Weibe nur selten gelingt, zum höhern Bewußtsein, zur Tat des freien selbstbewußten Geistes hindurchzudringen, so bezeichne es in ihm den Höhepunkt des Geschlechts, wenn er im freien klaren Selbstbewußtsein das Mysterium des Unbewußten vollkommen mitumfaßt. – Wie in der Wissenschaft des Rechnens diejenigen Arten die höchsten sind, die wie die Algebra und der Infinitesimalkalkul mit unbekannten Größen (mit x) gleichwie mit bekannten gebaren, so waltet derjenige männliche Geist am mächtigsten und trägt an sich den höchsten Charakter des Geschlechts, welcher bei einem im höchsten Sinne geklärten Bewußtsein und einem von bedeutender Individualität gehobenen Erkennen, Fühlen und Vollbringen von der Macht des Unbewußten gänzlich durchdrungen ist. Es ist hierdurch auch besonders, wodurch das sich, beurkundet, was wir den Genius nannten, denn auf merkwürdige Weise zeichnet sich eben ein solcher höher begabter Geist dadurch aus, daß bei aller Freiheit und Klarheit seines Sichdarlebens er von dem Unbewußten, dem mysteriösen Gott in ihm, überall gedrängt und bestimmt wird, daß Anschauungen sich ihm ergeben – er weiß nicht woher; daß zum Wirken und Schaffen es ihn drängt – er weiß nicht wohin; und daß ein Drang des Werdens und Entwickelns ihn beherrscht – er weiß noch nicht wozu.
Schon aus dem, was hier über den Gegensatz des Charakters der Geschlechter gesagt ist, erklärt es sich aber ferner, daß wieder innerhalb eines jeden einzelnen Geschlechts die Verschiedenheit der Charaktere sehr ungleich sein müsse. Es liegt in der größern Schärfe des bewußten Lebens im Männlichen, daß hier eine weit größere Mannigfaltigkeit in dieser Beziehung vorkommen wird als im Weiblichen. Wenn wir uns zurückerinnern an das verschiedene Wachstum des Ansichseins der Seele, teils in der Richtung der Gottinnigkeit, teils der Selbst- oder Weltinnigkeit, so fallen dem männlichen Geiste vorwaltend die beiden letzteren Richtungen anheim, während dem weiblichen vorwaltend die erstere eignet, und auch hierdurch wird die größere Mannigfaltigkeit der Charaktere und die schärfere Zeichnung der Persönlichkeit des Geistes in der männlichen Natur erklärt. Ist es doch die unmittelbare Folge höherer Gottinnigkeit, alles Selbstische immer mehr aufzugeben, immer mehr mit aller Besonderheit in einem Höhern unterzugehen; dahingegen sowohl die Entwicklung von Selbstinnigkeit als die der Weltinnigkeit das schärfere Heraustreten der Individualität fordert und insbesondere noch dadurch es vermittelt, daß sie zur tätigen Einwirkung auf die Welt entschieden veranlaßt wird, eine Art der Wirkung, welche, wie schon bemerkt wurde, das vorzüglich entwickelt, was wir Charakter nennen, und daher zugleich veranlaßt, daß die verschiedenen Bezeichnungen des Charakters (ein starker, ein schwacher, ein redlicher, ein falscher Charakter usw.) wesentlich von Verschiedenheiten der Tat hergenommen zu werden pflegen. Im allgemeinen könnte man daher wohl sagen: der Charakter des Mannes entwickle sich mehr durch Tun, der des Weibes mehr durch Leiden, und wirklich tritt die eigentümliche Kraft und Schönheit des weiblichen Charakters gewöhnlich mit einer besonderen Macht da hervor, wo die Tiefe des Gemütslebens durch vielfältige Leiden geprüft worden ist. Endlich kann man aber auch nicht unbemerkt lassen, daß es beiden Geschlechtern wegen dieser Verschiedenheiten nicht gleich leicht wird, die Eigentümlichkeit ihres Charakters bis an das Ende des Lebens in ihrer Höhe festzuhalten. Es ist nämlich früher gezeigt worden, wie wesentlich das Wachstum der Seele an die Zunahme der Erkenntnis geknüpft sei, und wenn wir nun wahrnehmen, wie eben der weiblichen Individualität diese Richtung weniger natürlich sei als der männlichen, so ergibt sich daraus in Verbindung mit der in der bisherigen Stellung der Frauen begründeten Abwendung derselben von Gelegenheit zur Förderung der Erkenntnis, warum so selten Individualitäten und Charaktere bei hochbejahrten Frauen gefunden werden, welche eine schöne ungehinderte Fortschreitung im psychischen Wachstum beurkunden, und warum soviel häufiger in dieser Hinsicht die Individualität des hochbejahrten Mannes befriedigend genannt werden kann.