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Mit Recht sagte mir einstens ein Freund: »man erkennt doch die Gesinnung und die Art eines Menschen unserer Zeit und unseres Landes nicht leichter, als wenn man Achtung gibt, wie er von Goethe, von seinen Werken und seinem Leben zu denken und zu empfinden pflegt.« – Gewiß! Wer aufmerksam um sich blicken will, wird vielfältigst hiervon Belege sammeln können.– Jener Obenerwähnte, der über Goethe sagen konnte: »da war doch Reinhardt ein ganz anderer Mann«, mochte in seinem Sinne es ganz recht meinen, aber unwillkürlich hatte er in diesen Worten auch die schärfste Kritik oder Charakteristik von seinem eignen Innern gegeben; und hätten wohl Leute wie Nicolai oder Kotzebue oder Pustkuchen sich entschiedener in ihrer Blöße zeigen können, als in der Art, wie sie über Goethe sprachen? – Geht man nun solchen Erscheinungen auf den Grund, so findet man bald, daß nur durch das Verhältnis von Individualität zu Individualität zuhöchst darüber entschieden wird, ob die Werke eines Geistes uns anmuten sollen oder nicht. – Unbewußt und geheim und unwillkürlich zieht an oder stößt ab die eine Individualität die andere, und je nachdem dieses Grundverhältnis sich gestaltet, wirken die Taten und die Werke des einen Geistes auf den andern, werden verstanden und beglücken oder bleiben unbegriffen und erregen Mißfallen und entschiedenen Widerwillen. Hierbei ist jedoch zu bemerken, daß jenes Verhältnis von Individualität zu Individualität durchaus nicht als ein unbedingt festes, als ein unabänderliches betrachtet werden darf; zuweilen beruht es auch hier nur auf zur Zeit noch nicht kongruenten Entwicklungsstufen, wenn das Verhältnis als ein unharmonisches erscheint, und schreitet in der einen Individualität die Entwicklung weiter und setzt sich in das rechte Verhältnis zur andern höhern, so stellt die Harmonie sich unmittelbar her. So wird man häufigst gewahr, daß auch reicher begabte Personen in jungem Jahren von den Produktionen des Schillerschen Geistes sich unbedingt angezogen und von Goethe sich abgestoßen finden, weil das ungeduldig Treibende, Drängende ihres innern Wesens der strebenden Individualität Schillers sich verwandter fühlen muß als der klaren und befriedigten Goethes, während doch späterhin, wenn ihre Individualität selbst eine höhere Reife erlangt hat, in gleichem Maße der Reiz und die Schönheit der Goetheschen Produktionen sich mehr und mehr ihnen vernehmbar und geltend machen wird. – So bleibt also zuletzt allerdings das Näherstehen und Verstehen der Individualität eines Verfassers der wahre und eigentliche Schlüssel zu seinen Werken, und man bemüht sich vergebens, jemand die Produktionen eines Geistes zu empfehlen und zu preisen, steht er nicht schon durch sein Wesen in einem gewissen Rapport zu diesem Geiste, oder ist es nicht möglich, ihn selbst der Individualität desselben allmählich näherzuführen.
So auch sollen denn diese Betrachtungen hoffentlich in manchem, indem sie ihm die Individualität Goethes deutlicher machen, das Verständnis seiner Werke und die Freude an denselben fördern; ja ich will es nicht verhehlen, daß, seit ich mich mit größerer Ausführlichkeit damit beschäftigt habe, das besondere Sein dieses merkwürdigen Geistes mir selbst deutlicher zu machen, auch vieles in seinen Werken mir vernehmlicher und schöner erschienen ist. Manche Gedanken, die mir in solcher Beziehung gekommen sind, noch in etwas nähere Besprechung zu nehmen, wird den Gegenstand des Folgenden darstellen! – Ist es doch jedenfalls etwas sehr Wichtiges und Bedeutendes, zuzunehmen in der Freude an der Schönheit und Größe einer jeden Äußerung, welche wahrhaft und notwendig aus einem echten göttlichen Urquell dringt! – Der begeisterten Liebe fähig zu sein, der hingebenden Bewunderung für alles, was, sei es in freier Natur oder in ihrer geheimsten Werkstatt, sei es in harmonischem großem Gedankenzuge des Denkers oder in der Fülle poetisch reiner Empfindungen des Dichters und Künstlers, ein Höheres und Ewiges im zeitlichen Leben verkündet, bleibt unfehlbar eine der beglückendsten Gaben, die uns in diesem Dasein zuteil werden können! – Ein Jammer ist es, um sich zu sehen und gewahr zu werden, welche Masse menschlicher Naturen mitten in reicher Gelegenheit zu solcher Begeisterung und Freudigkeit und oft mit bedeutender Anlage dazu im trivialsten Treiben des Tages eingeklemmt und festgehalten, schmachtet und sich sehnt und von der Nichtigkeit ihres Mühens und Sorgens, und oft mehr von der Schalheit ihrer Freuden als von der Heftigkeit ihrer Leiden gepeinigt wird! – Ihnen fehlt meistens entweder die Möglichkeit einer selbstkräftigen Erfassung oder die Gelegenheit des Hingeleitetwerdens zu dem Erkennen des wahrhaft Großen und Mächtigen! – Wer fähig ist, in die Betrachtung der Natur oder in die eines einzelnen mächtigen Genius sich so zu versenken, daß er das wahrhaft erfahren kann, was wir oben »das Außersichsein« nannten und eben als die eigentümliche Seelenentwicklung der Liebe bezeichneten, wie kann dem das triviale Getriebe des täglichen Lebens, wie können ihn vereitelte Hoffnungen, entwichene Neigung, Widerwärtigkeit der Verhältnisse an seinem bessern Selbst schaden, wie können sie ihm die Freude am Leben verleiden! – Das Glück der Begeisterung, das Außersichsein legt sich wie eine schirmende Aegis der Minerva über ihn und gibt ihm eine Weihe, ein inneres Genügen und eine irdische Seligkeit, die ihm oft genug beneidet werden würde, wenn die in das Treiben des Tages versunkenen Menschen fähig wären, sie zu verstehen.
Eben darum also ist es nichts Geringes, einem wahrhaft großen Geiste näherzutreten, sich sein Wesen deutlich zu machen und daran zu arbeiten, ihn von allen Seiten immer vollkommener zu erfassen! – Es ist so schön, was Schiller zum Dichter vom Jupiter sagen läßt, wenn er sich beklagt, alle Güter der Erde seien vergeben und ihm sei nichts dort zu fordern übrig geblieben:
»Willst du in meinem Himmel mit mir leben –
So oft du kommst – er soll dir offen sein!«
Aber dasselbe sagt wieder der Dichter, dasselbe sagt eigentlich jede große in sich tüchtig vollendete menschliche Individualität, dasselbe sagt die freie schöne Natur zu jedem Menschen, dessen Gemüt ihn eben fähig macht, einem solchen Rufe zu folgen, und so steht denn auch in den Werken Goethes ein solches Tor geöffnet für die, welche als würdige Gäste eintreten wollen, und vielleicht kann manches der hier niedergelegten Worte als eine ganz gute Einladung zu diesem Eintreten dienen; ja wenn es uns gelingt, noch etwas deutlicher zu zeigen, wie die merkwürdigsten seiner Werke in so eigentümlichem, innerem und notwendigem Verhältnisse mit der eigensten Individualität seines Geistes stehen, so wird hierzu wohl immer noch mehr der Weg gebahnt.
Vielleicht werden übrigens hierbei die Schriften, welche er uns in Prosa hinterlassen hat, noch mehr in Betrachtung zu nehmen sein als die Gedichte! – Sagte er doch selbst einmal ein gar gutes Wort über den Wert der Prosa! – Man sehe die Stelle in Eckermanns Gesprächen, wo es heißt: »Hieran knüpften sich manche Betrachtungen über die Produktionen unserer neuesten jungen Dichter, und es ward bemerkt, daß fast keiner von ihnen mit einer guten Prosa aufgetreten. – Die Sache ist einfach, sagte Goethe. Um Prosa zu schreiben, muß man etwas zu sagen haben; wer aber nichts zu sagen hat, der kann doch Verse und Reime machen, wo dann ein Wort das andere gibt und zuletzt etwas herauskommt, das zwar nichts ist, aber doch aussieht, als wäre es was.«
Freilich wissen wir, daß auf die Gedichte Goethes dieses Wort gewiß am wenigsten paßt – (wir müßten etwa einige Karlsbader Gedichte an Potentaten und dergleichen ausnehmen) sie sind aber auch Gedichte im höchsten Sinne und sie würden ebendarum von der poetischen Form entkleidet und in Prosa übertragen, ebenfalls Gedichte bleiben – denn er hatte etwas zu sagen! – Doch ist es merkwürdig, daß er auch an andern Stellen offenbar deshalb, weil er mehr und mehr fühlen lernte, daß eigentlich nur die Individualität des Geistes, das heißt die größere Entwicklung dessen, was ich den spirituellen Organismus der Seele nenne, und die Betätigung davon in minder oder mehr mächtigen Gedanken das wahrhafte Maß der Persönlichkeit sein könne, auf das Hervortreiben einzelner poetischer Blüten nicht mehr den außerordentlichen Wert legte, den man gerade von dem Dichter angenommen erwarten sollte. Auch dieses letztere erschien ihm späterhin mehr in seiner gewissen organischen Notwendigkeit, wie etwa der Durchgangspunkt der Jugendfrische, den jedes nicht gerade verkümmerte Individuum doch einmal durchläuft und der doch eigentlich an und für sich mit aller Rundung und Feinheit seiner Form noch nicht die wahre Schönheit des Individuums bestimmt. – So sagt er daher einmal zu Eckermann:
»Ich sehe immer mehr, daß die Poesie ein Gemeingut der Menschheit ist, und daß sie überall und zu allen Zeiten in Hunderten und aber Hunderten von Menschen hervortritt. Einer macht es ein wenig besser als der andere, das ist alles. Der Herr von Matthisson muß nicht denken, er wäre es, und ich muß nicht denken, ich wäre es, sondern jeder muß sich eben sagen, daß es mit der poetischen Gabe eben keine so seltene Sache sei, und daß niemand eben besondere Ursache habe, sich viel darauf einzubilden, wenn er ein gutes Gedicht macht. Aber freilich, wenn wir Deutschen nicht aus dem engen Kreise unsrer eignen Umgebung hinausblicken, so kommen wir gar zu leicht in diesen pedantischen Dünkel. Ich sehe mich daher gerne bei fremden Nationen um und rate jedem, es auch seinerseits zu tun. – National-Literatur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen. Aber auch bei solcher Schätzung des Ausländischen dürfen wir nicht bei etwas Besonderem haften bleiben und dieses für musterhaft ansehen wollen. Wir müssen nicht denken, das Chinesische wäre es, oder das Serbische, oder Calderon, oder die Nibelungen; sondern im Bedürfnis von etwas Musterhaftem müssen wir immer zu den alten Griechen zurückgehen, in deren Werken stets der schöne Mensch dargestellt ist. Alles übrige müssen wir nur historisch betrachten und das Gute, soweit es gehen will, uns daraus aneignen.«
Diese Stelle gibt überhaupt viel zu denken und kann in mancher Beziehung als eine Parallele zu jenem Fragment eines Briefes an Wilhelm von Humboldt betrachtet werden, so eigentümlich objektiv, so ganz historisch erscheint hier der Sprechende. Gegenwärtig haben wir sie jedoch zunächst nur deshalb aufgeführt, um noch eine Bestätigung mehr dafür zu geben, daß die prosaischen Produktionen von uns besonders ins Auge gefaßt zu werden verdienen, wenn wir das Verhältnis Goethes zu seinen Werken noch einer besonderen Betrachtung zu unterwerfen beabsichtigen.
Vielleicht werden denn auch diese weitern Gedanken am besten eingeleitet, wenn ich hier eine merkwürdige Stelle aushebe aus einem Briefe des trefflichen, zu früh verstorbenen Zoëga Zoëgas Leben von Welker. 1. Bd. S. 217 ; er schreibt: »Der Mensch hat nur eine edle, hohe, wahre Bestimmung, die Fülle des Genusses in der Wirksamkeit, wenn der Geist vom Himmel auf uns fällt, die Feuerseele, heilig und allgewaltig, Funke zur ewigen Flamme, daß der Trieb selbst Zweck ist, der Kampf selbst Siegeskrone. All das übrige ist Sklavenarbeit, ohne die Freude der Ernte, Mühe ohne Dank, Hingeben sich selbst und seine Kraft um das, was nichts ist. – Ein Wesen, das nicht alles ist, was es sein kann, nicht in der geraden unwankenden Richtung es zu werden, ist nichts, stets im Gefühl des Überdrusses und der Zernichtung.« –
In diesen seltsam großartigen Aussprüchen des im Hauche klassischen Altertums herangebildeten Zoëga scheint mir das erste Geheimnis berührt, welches im Verhältnis Goethes zu seinen Werken sich verbirgt; es heißt: die organische Notwendigkeit ihrer Hervorbringung – frei von allen Rücksichten auf Äußerliches, Weltliches, Zeitliches. –
Um zuerst ein paar Worte vom Gegenteil zu sagen von dem, was Zoëga »Sklavenarbeit« nennt – so erstreckt sich das weiter und vergiftet namentlich die moderne Literatur mehr, als man auf den ersten Blick glaubt. Wahrhaftig! sollte man heraussuchen aus der ganzen Flut literarischer Produktionen eines Dezenniums, was frei und rein bloß um seiner selbst willen und abgesehen von allem äußern Vorteil und Gewinn ans Licht tritt, die Zahlen würden ausnehmend zusammenschmelzen! – Kaum ist es zu sagen, auf wie viele es wirkt, daß es gegenwärtig leicht mit irdischen Vorteilen verbunden sein kann, eine wissenschaftliche oder dichterische Produktion ans Licht zu stellen! – Ich kann namentlich nicht einen der modernen Unterhaltungs-Schriftsteller von England aufschlagen (ich tue es allerdings höchst selten und mag und kann es auch nicht öfter) ohne zu empfinden, daß die zu reichlichen Honorare Londons in der verwünschten Breite und Wässerigkeit, mit welcher dergleichen Lieblingsautoren ihre geringfügigsten Schilderungen überschwemmen, auf das Lästigste sich geltend machen dergestalt, daß oft ein mäßig guter Gedanke, wie Gummi elastikum durch ein angehängtes Gewicht, in eine allen Saft und alle Kraft verlierende Länge und Dünne ausgezogen werden muß. Indes auch Deutschlands Schriftsteller sind von dergleichen nicht frei, und es begegnet zuweilen auf das Unangenehmste an Stellen, wo man es am wenigsten erwartet hätte, der Gedanke, daß ein Buch um die Hälfte kürzer sein könnte, wäre der Verfasser nicht zu Streckversuchen durch einen irdischen Vorteil verlockt worden. – Am meisten reinigt sich jedenfalls die echt wissenschaftliche Literatur bei uns von dergleichen, denn hier sind wir in Wahrheit dahin gekommen (freilich wieder für das Interesse des Volkes kein günstiges Omen!), daß die bedeutendsten Produktionen gewöhnlich auch nur mit bedeutenden Opfern der Verfasser ans Licht zu gelangen imstande sind.
Nun also von Sklavenarbeit dieser Art ist in Goethe glücklicherweise auch nicht die leiseste Spur, im Gegenteil sind die Schicksale seiner frühern literarischen Angelegenheiten die wunderlichsten. Sachen, die, wie der Götz, der Werther, die ersten Gedichte, die Metamorphose der Pflanzen, späterhin das Erstaunen der gebildeten Welt erregten, kamen nur schwer und nie zu irgend erheblichem Vorteil des Verfassers ans Licht, ja, das sechzehnte Buch von Wahrheit und Dichtung erzählt mit gutem Humor, wie ein Berliner Buchhändler einst hinter seinem Rücken eine Ausgabe seiner frühern Werke veranstaltete und sich dann erbot, ihm etwas Berliner Porzellan dafür senden zu wollen. – Es ist gar hübsch, wie er hieran folgende Betrachtungen anknüpft, welche, wenn irgend so unrechtmäßiges Verfahren eine Bitterkeit hätte erzeugen können, allein hinreichend waren, dieselbe für immer zu verscheuchen. – Er sagt nämlich: »Sehr angenehm war mir, zu denken, daß ich für wirkliche Dienste von den Menschen auch reellen Lohn fordern, jene liebliche Naturgabe (nämlich der poetischen Produktion) dagegen als ein Heiliges uneigennützig auszuspenden fortfahren dürfte.« – Zu alledem gehört nun auch die schöne wohlhabige Existenz, welche dem Dichter vom Schicksale zuteil geworden war, aber bei alledem ist die Freude daran, eine so liebliche Naturgabe als ein Heiliges uneigennützig ausspenden zu können, ein sehr schöner Zug in dem Verhältnis des Autors zu seinen Werken. – Gleich Tasso mochte Goethe sagen:
»Ich halte diesen Drang vergeblich auf,
Der Tag und Nacht in meinem Busen wechselt;
Wenn ich nicht sinnen oder dichten soll,
So ist das Leben mir kein Leben mehr.
Verbiete du dem Seidenwurm zu spinnen,
Wenn er sich schon dem Tode näher spinnt.
Das köstliche Geweb' entwickelt er
Aus seinem Innersten und läßt nicht ab,
Bis er in seinen Sarg sich eingeschlossen.«
Und das ist es, was wir die organische Notwendigkeit der Hervorbringung dieser Werke nannten.
Das zweite Geheimnis im Verhältnis Goethes zu seinen Werken verbirgt sich in der merkwürdigen und so sehr zum Vollständigen anstrebenden Widerspiegelung seines gesamten Wesens in denselben. – Bei der Schilderung von seiner Individualität und der Gesundheit derselben hatte ich bemerkt, daß eine solche sich durchaus bedingt finde in seiner Abstammung von so gesunden, in ihrer eigentümlichen Art tüchtigen Eltern – ich sagte, ihn könne man in Wahrheit das nennen, was von so vielen andern nur zum Scheine gesagt wird – einen Wohlgebornen. Dasselbe gilt denn auch von seinen Werken im Verhältnis zu ihrem Erzeuger; – sie sind einesteils nur so tiefsinnig, eigenschön und vielbedeutsam, weil sie abstammen von einer so nachhaltigen und großen Natur, als die Goethes war, andernteils aber, wo sie schwächer und unzureichend erscheinen, geben sie auch den Ausdruck schwächerer, für diese Individualität ursprünglich nicht bestimmten Seiten. – Dies sind Verhältnisse, die sich keineswegs immer so rein darstellen. Es begegnet oft genug, daß sehr markvolle Naturen durch wunderliche Verhältnisse verlockt und nicht durch reinere Lebenskunst geleitet, Produktionen zutage fördern, welche offenbar weit geringer und dürftiger sind, als man sie von diesem Stamme hätte erwarten können, und so umgekehrt bringen wieder schwächere Naturen, wenn sie mit großer Umsicht und Beharrlichkeit immerfort nach einem Ziele streben, zuweilen Arbeiten hervor, die, wenn auch weniger durch Genialität, dagegen aber durch höhere innere Zweckmäßigkeit, Nützlichkeit und Reichhaltigkeit irgendeinem Bedürfnisse der Menschheit wirklich abhelfen und so von bleibendem Werte genannt zu werden verdienen. – Wo dagegen beides wahrhaft im Einklange sich befindet, wo das Erzeugte allerdings den Erzeuger vollständig abspiegeln soll, da ist dann auch eigentlich eine Unendlichkeit von Produktionen notwendig gefordert. Bedenken wir nämlich, daß jedwede menschliche Individualität erst gesetzt wird durch die besondere Idee eines Göttlichen, daß sie eben dadurch partizipiert an dem Wesen des Ewigen, und daß ihr Sich-Darleben im Endlichen deshalb eigentlich nur als eine unendliche Reihe von Erscheinungen angemessen ausgedrückt werden kann, so ergibt sich auch daraus die Nötigung, daß die Produktionen, welche eine solche Individualität in der Zeit abspiegeln sollen, durchaus eine unendliche Reihe bilden müssen. – Je reicher daher der Geist, desto vielfältiger notwendig seine Produktionen, und so vielfältig und reich daher Goethes literarische Produktionen waren, so geht doch schon aus dem Obigen hervor, daß sie durchaus immer noch nicht das Wesen dieser Individualität vollständig abspiegeln konnten. – Je länger er deshalb hätte leben und wirken können, desto mehr und desto verschiedenartiger hätten seine Produktionen werden müssen, und in Wahrheit scheint es uns immer noch, als wenn sie fortwährend an Menge und Verschiedenartigkeit zunähmen, da immer noch von Zeit zu Zeit aus der Menge seiner brieflichen Mitteilungen oder aus den für die erste Zeit nach seinem Tode sekretierten Papieren Sachen zutage kommen, welche das Erstaunen des befreundeten Lesers vermehren und erhöhen müssen. – Ist es doch sonderbar, daß selbst von den längstgedruckten Werken eigentlich bisher nur weniges in die Masse deutscher Nation eingegangen ist! – Man sehe sich doch um, man frage im Kreise seiner Bekannten! – und wie viele werden denn sein, welche außer den großen langbekannten klassischen Werken noch etwas von den hundertfältigen einzelnen oft so gewichtigen und charakteristischen Mitteilungen kennen? – Wie viele kennen das, was er »Urworte, orphisch« nannte, wie viele den Aufsatz »Natur, aphoristisch«, wie viele die »Maximen und Reflexionen«, wie viele die verschiedenen, oft sehr merkwürdigen Rezensionen, wie viele den Inhalt der morphologischen und naturwissenschaftlichen Hefte? usw. – und plötzlich taucht dann im Zeitenstrome eine Mitteilung auf, die noch gar nicht in den gedruckten Werken bekannt war, wie wir denn zum Beispiel den merkwürdigen, erst ganz neuerlich in der Jenaischen Literaturzeitung mitgeteilten Brief Goethes an W. v. Humboldt und die von Herrn Eckermann im Hansa-Album niedergelegten Aussprüche Goethes über geistige Produktivität zu den außerordentlichsten Früchten rechnen müssen, welche uns irgend von diesem Baume zugekommen sind.
Und wie schön ist es, dabei nun die bestimmte Überzeugung zu haben: in allem diesem hatte er sich immer noch lange nicht ausgesprochen! – Jetzt wird man erst verstehen, was der Sinn ist jener merkwürdigen Zeile, die im Divan stellt:
»Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß!«
So aber geht es auch dem liebevollen Betrachtenden! – Wie der Naturforscher, der sich nur ein Naturgebiet, seien es die Moose oder die Tange, oder die Palmen oder die Basalte, oder die Petrefakten zum Vorwurfe und zur Lebensaufgabe gemacht hat, nie fertig werden kann, wie immer und immer Neues ihm sich darbietet, weil eben jedes jener Gebiete ein Unendliches ist, so ist es auch mit dem, der eine, man darf auch sagen, physiologische Betrachtung irgendeiner ausgezeichneten menschlichen Individualität sich als ein würdiges Ziel vorgesetzt hat; er kann auch nicht enden, er findet immer und immer neues noch Unerforschtes, noch nicht hinlänglich Entwickeltes, und in diesem Falle sehe ich jetzt mich selbst. – Meine Bestrebung, Goethe in solchem Maße physiologisch zu erfassen und zu schildern, möchte leichtlich mich ganz ins Ungemessene führen, wenn ich nicht selbst gewisse Schranken mir zu setzen Bedacht nehmen müßte. Indem ich daher von den mannigfaltigsten Gegenständen und Richtungen auf diesem Felde für jetzt freiwillig absehe – Gegenstände, unter denen namentlich der früher schon durch einige Briefe von mir erläuterte Faust mich lebhaftest anzieht, ohne daß ich ihm doch hier ein weiteres Recht einräumen darf – will ich mir nur erlauben, noch zwei Reihen von Gedanken als Schluß dieser sämtlichen Betrachtungen folgen zu lassen: Die eine soll etwas spezieller darüber sich verbreiten, wie die innere Gesinnung Goethes über Natur und Naturforschung, von welcher wir weiter oben im ganzen gehandelt haben, im einzelnen in seinen Werken sich abzuspiegeln pflegte; die andere darüber, wie und wo das, was ich die höhere Lebenskunst nannte und welche man in einem Manne, der im hohen Alter mit solcher Klarheit und Schönheit zu leben vermochte, wohl zu studieren Ursache hat, in seinen Schriften sich am deutlichsten offenbart.
Reden wir daher zuerst von seiner Art und Weise über Natur – über das Schauen des unendlichen, ewigen Werdenden sich mitzuteilen, so führt uns dies gleich zu den merkwürdigsten, ja für all unsre Verhältnisse in Wissenschaft und lebendigem Dasein wichtigsten Gegenständen. – Der Mensch, der – selbst zum Teil Naturerscheinung – inmitten tausendfältiger Naturerscheinungen lebt, sich entwickelt, tut und leidet, ihm kann es keineswegs für sein Leben und sein Tun gleichgültig sein, wie er die Natur anschaut. Wer ihr nachgeht wie das Kind dem Regenbogen, um das alles, was er für ein Festes, Beharrendes, in sich Stetiges nimmt, sich als solches anzueignen und festzuhalten, der wird durch das ewige Entweichen, ewige Verwandeln, ewige Vernichten und Entstehen in einer tantalischen Qual fort und fort gehalten werden. – So selbst so viele Forscher der Natur! – Oft waren sie bemüht, nur überall Schranken zu ziehen, Abteilungen aufzurichten, das Bewegliche als ein Unbewegliches, Starres zu aufmerksamer Betrachtung sich gegenüberzustellen, und doch! ehe sie es sich versahen, hatte es sich wieder verwandelt, war wieder ein anderes geworden, und wenn sie das Gewordene nun wirklich einige Zeit mindestens scheinbar unverändert sich zu erhalten vermeinten, so mußten sie sich wieder sagen, daß immer das eigentliche Werden aus diesem Gewordenen doch nicht begriffen werden konnte. Das führte dann vielerlei Mißmut herbei und man begab sich dann endlich überhaupt der Meinung, daß etwas wirklich gewußt werden könne, und nicht ohne eine gewisse Bitterkeit zitierte man dann den alten, wohlbekannten Spruch:
»Ins Innere der Natur
Dringt kein erschaffner Geist.«
Ganz anders ist es dem, der den Mut hat, die Natur wirklich nur in ihrem Wandel – nur als das, was eigentlich das Wort Natur selbst bedeutet – als das Werdende zu erfassen; ihm geht darin mehr und mehr die Freude des Schauens auf – nicht das Gewordene, das ewige Werden ist ihm Ziel der Betrachtung und unversiegbarer Quell immer neuer Erkenntnis und immer neuer Bewunderung. – Nicht wie das Kind den Regenbogen will er das Werdende festhalten und als ein Bleibendes sich aneignen, sondern wie der Mann an der schönen Erscheinung der Iris in ihrem Wandel sich schauend erfreut, so fühlt er sich im Werdenden selbst immer mit werden und fühlt um so mehr nun eines als ein Bleibendes, ja als ein Ewiges, nämlich in sich den göttlichen Funken, den Geist. – Von Goethe ist in diesem Sinne daher zu sagen, er sei mehr ein die Natur Schauender als ein die Natur Erforschender; und wirklich ist hiermit sowohl die Stärke als die Schwäche seiner naturwissenschaftlichen Schriften angedeutet. –
Diese stete Richtung auf das Schauen des Werdenden ist es übrigens, die sich bei Goethe nicht bloß in seinen eigentlichen naturwissenschaftlichen Schriften, sondern auch sonst an vielen Orten auf das Deutlichste und auf das Merkwürdigste ausspricht. – Wüßten die Menschen nur dieses recht herauszufinden, sich recht eigen zu machen, wieviel Trauer um das Entfliehende, ja Zerstörende in der Natur, um das Unstetige und Flüchtige im menschlichen Dasein würde sich ihnen mildern und wieviel reiner würde ihre Freude am Leben sein! – Ich kann nicht umhin, hier eine Stelle aus den morphologischen Heften einzuschalten, welche das, was wir gegenwärtig im Sinne haben, auf das Deutlichste vor Augen legt; er sagt:
»Der Deutsche hat für den Komplex des Daseins eines wirklichen Wesens das Wort Gestalt. Er abstrahiert bei diesem Ausdrucke von dem Beweglichen, er nimmt an, daß ein Zusammengehöriges festgestellt, abgeschlossen und in seinem Charakter fixiert sei.
Betrachten wir aber alle Gestalten, besonders die organischen, so finden wir, daß nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern daß vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke. Daher unsre Sprache das Wort Bildung sowohl von dem Hervorgebrachten als von dem Hervorgebrachtwerdenden gehörig genug zu brauchen pflegt.
Wollen wir also eine Morphologie einleiten, so dürfen wir nicht von Gestalt sprechen; sondern wenn wir das Wort brauchen, uns allenfalls dabei nur die Idee, den Begriff oder ein in der Erfahrung nur für den Augenblick Festgehaltenes denken.
Das Gebildete wird sogleich wieder umgebildet, und wir haben uns, wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschauen der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiele, mit dem sie uns vorgeht.«
Man muß freilich, um recht den Tiefsinn und das Folgenreiche dieser Worte anzuerkennen, eigentlich näher bekannt sein mit vielen in der Wissenschaft seit alter Zeit festgewurzelten Begriffen, man muß sich damit abgequält haben, wie unerfreulich und erfolglos es bleibt, wenn das Lebendige aufgefaßt werden soll als die Verbindung eines Starren, Toten, in sich nur gleichsam Verschiebbaren, keineswegs sich fort und fort Erneuernden, und einer hinzugedachten sogenannten Lebenskraft, einem Deux ex machina, welcher auf eine ganz unbekannte Weise jenes Tote bewegen sollte, wie etwa die Spiralfeder in der Uhr die vorher stillstehenden Räder.
Nun hat der Mensch aber eine solche Neigung, stabil zu werden, er findet es großenteils so bequem, sich dem ewig Beweglichen zu entziehen und an ein, seiner Meinung nach doch wohl wenigstens eine gewisse Zeit Beharrendes sich festzuhalten, daß eine besondere innere und äußere Begünstigung und Befähigung dazu gehört, von dieser Neigung sich frei zu machen und durchaus an das Werden und nicht an das Gewordene sich zu halten. Leider findet daher auch in den meisten Schriften unsrer Naturforscher mehr die stabile als die fortschreitende Ansicht ihre Verteidiger; und nur die neueste Zeit, welche überall auf ein genetisches Verfahren, überall auf Studium der Entwicklungsgeschichte hindrängt, hat sich hier in vieler Beziehung lebendiger und geistiger gezeigt.
Ich sagte nun, daß bei Goethe hingegen nicht nur dieses fortgesetzte und bewundernde Schauen des Werdenden seine doch verhältnismäßig wenigen naturwissenschaftlichen Arbeiten durchdringe und belebe, sondern daß es auch sonst sich vielfältig fruchtbar erwiesen habe. – Es sei mir erlaubt, hier nur als einen Beweis jenes treffliche Gedicht »Dauer im Wechsel« anzuführen, welches zu reichen Kommentaren in dieser Beziehung die vollkommenste Gelegenheit darbietet; dort heißt es:
»Du nun selbst! Was felsenfeste
Sich vor dir hervorgetan,
Mauern siehst du und Paläste
Stets mit andern Augen an.
Weggeschwunden ist die Lippe,
Die im Kusse sonst genaß,
Jener Fuß, der an der Klippe
Sich mit Gemsenfreche maß.
Jene Hand, die gern und milde
Sich bewegte wohlzutun,
Das gegliederte Gebilde,
Alles ist ein andres nun.
Und was sich an jener Stelle
Nun mit deinem Namen nennt,
Kam herbei, wie eine Welle,
Und so eilt's zum Element.
Laß den Anfang mit dem Ende
Sich in Eins zusammenziehn!
Schneller als die Gegenstände
Selber dich vorüberfliehn.
Denke, daß die Gunst der Musen
Unvergängliches verheißt,
Den Gehalt in deinem Busen
Und die Form in deinem Geist.«
Ist nun hier in Poesie, oben in Prosa eine schöne und höchst folgenreiche Entwicklung der Goetheschen Naturanschauung als das Schauen eines unendlich fort Werdenden, Mannigfaltigen, sich immerfort Bildenden deutlichst ausgesprochen, so führt mich dieses alsbald wieder zu andern merkwürdigen Äußerungen Goethescher Gesinnungen, wie sie über Naturbetrachtung in seinen Schriften sich dargelegt finden; ich meine die Verhütung und das stete Protestieren gegen Einseitigkeit in jeder, auch der sonst wahrhaftigsten Richtung. – Es lag nämlich in ihm eine so durchdringende Ehrfurcht gegen die unendliche Vielseitigkeit der Natur, daß er nie verkannte, daß auch die stringenteste und scharfsinnigste Anschauungsweise derselben, sobald sie zur ganz ausschließenden und alleinigen sich erheben wollte, über die rechte Mitte hinausschlagen und ins Abstruse sich verlieren müsse. – Auch hieraus erwuchs ihm dann eine eigentümliche und abermals für alle Lebensverhältnisse höchst bedeutungsvolle Weisheit im Anschauen der Welt. – Gibt es doch ein gewisses höheres Bedürfnis von Gleichgewicht in der Seele des reifern Menschen, welches ihn am besten dagegen schützt, nach einer Seite hin in irgendein Extrem zu verfallen, welches ihn dazu drängt, immer dem Streben nach einer Richtung, wenn es übermächtig und alles beherrschend zu werden droht, das Streben nach einer andern Richtung beschwichtigend entgegenzustellen, und welches, indem es zwischen Metaphysischem und Physischem, zwischen Himmlischem und Irdischem, zwischen Leiblichem und Geistigem, wie zwischen verschiedenen szientifischen oder ethischen Tendenzen auf eine gewisse höhere Mitte dringt, wesentlich zur Gesundheit unsres Daseins beiträgt. – Hiervon finden sich nun sogar in bezug auf jene vorherrschende metamorphologische Richtung Goethes merkwürdige Belege. So heißt es in seinen naturwissenschaftlichen Heften einmal:
»Die Idee der Metamorphose ist eine höchst ehrwürdige, aber zugleich höchst gefährliche Gabe von oben. Sie führt ins Formlose; zerstört das Wissen, löst es auf. Sie ist gleich der vis centrifuga und würde sich ins Unendliche verlieren, wäre ihr nicht ein Gegengewicht zugegeben: ich meine den Spezifikationstrieb, das zähe Beharrlichkeitsvermögen dessen, was einmal zur Wirklichkeit gekommen. Eine vis centripeta, welcher in ihrem tiefsten Grunde keine Äußerlichkeit etwas anhaben kann.
Da nun beide Kräfte zugleich wirken, so müßten wir sie auch bei didaktischer Überlieferung zugleich darstellen, welches unmöglich scheint. Vielleicht retten wir uns nicht aus dieser Verlegenheit, als abermals durch ein künstliches Verfahren: Vergleichung mit den natürlich immer fortschreitenden Tönen und der in die Oktaven eingeengten gleichschwebenden Temperatur; wodurch eine entschieden durchgreifende höhere Musik, zum Trutz der Natur, eigentlich erst möglich wird.«
Dasselbe Gefühl des Hingedrängtwerdens nach einer Art von gleichschwebender Temperatur zwischen verschiedenartig fortschreitenden Momenten brachte ihn bei einer andern Gelegenheit, wo er den entschiedenen Gegensatz seiner Ansicht gegen eine andere fühlte, zum Niederschreiben folgender Stelle:
»Hierbei mußte bei mir eine milde, gewissermaßen versatile Stimmung entstehen, welche das angenehme Gefühl gibt, uns zwischen zwei entgegengesetzten Meinungen hin und her zu wiegen und vielleicht bei keiner zu verharren. Wir verdoppeln dadurch gleichsam unsere Persönlichkeit.«
Kurzum auch in dieser Beziehung weht in den Schriften Goethes ein gewisses Ebenmaß, eine Biegsamkeit und innere Lebendigkeit, welche ihn fähig macht, bei dem entschiedensten Beruf für die eine Richtung, doch auch für die Eigentümlichkeiten und wie irgend bedingten Wahrheiten einer andern nicht verschlossen zu sein, eine Eigenschaft, die so vielen Menschen und insbesondere auch so vielen forschenden Gelehrten wohl zu wünschen wäre. – Und so bleiben dem aufmerksamen Leser in seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten noch so manche Seiten übrig, welche ihm besonderes Nachdenken abnötigen. Möge das alles jedoch für jetzt auf sich beruhen, und nur ein in diese Reihenfolge gehöriges Werk will ich noch, und zwar wegen seiner höchst merkwürdigen, ganz eigentümlichen, sibyllinischen Natur, zu einer besondern Erwähnung auswählen; es ist der Aufsatz aus dem Jahre 1780, welcher überschrieben ist: »Natur«. – Er gehört zu denen, welche auch noch im ganzen wenig gekannt sind, und ich muß daher zuvor daraus einige der prägnantesten Stellen ausheben, um sogleich einen lebendigen Begriff dieser merkwürdigen Rhapsodien möglich zu machen. – Er beginnt:
»Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend, aus ihr herauszutreten und unvermögend, tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arm entfallen.
Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie, was war, kommt nicht weder – alles ist neu und doch immer das Alte.
Wir leben mitten in ihr und sind ihr fremd. Sie spricht unaufhörlich mit uns und verrät uns ihr Geheimnis nicht. Wir wirken beständig auf sie und haben doch keine Gewalt über sie.
Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts aus den Individuen. Sie baut immer und zerstört immer, und ihre Werkstätte ist unzugänglich.
– Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr, und doch rückt sie nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig und ist kein Moment Stillestehen in ihr. Fürs Bleiben hat sie keinen Begriff, und ihren Fluch hat sie ans Stillestehen gehängt. Sie ist fest. Ihr Tritt ist gemessen, ihre Ausnahmen selten, ihre Gesetze unwandelbar.
Gedacht hat sie und sinnt beständig; aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur. Sie hat sich einen eignen allumfassenden Sinn vorbehalten, den ihr niemand abmerken kann.
– Sie hat keine Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und Herzen, durch die sie fühlt und spricht.
Ihre Krone ist die Liebe. Nur durch sie kommt man ihr nahe. Sie macht Klüfte zwischen allen Wesen, und alles will sie verschlingen. Sie hat alles isoliert, um alles zusammenzuziehen. Durch ein paar Züge aus dem Becher der Liebe hält sie für ein Leben voll Mühe schadlos.
– Sie ist ganz und doch immer unvollendet. So wie sie's treibt, kann sie's immer treiben.
Jedem erscheint sie in einer eignen Gestalt. Sie verbirgt sich in tausend Namen und Termen und ist immer dieselbe.«
Dieser merkwürdige Aufsatz, von dem ich hier nur den kleinern Teil mitteile, ist erst spät abgedruckt worden, und der erste, mit dem ich mich über das Tiefbedeutende desselben aussprach, war Alexander v. Humboldt. Ebenso wie mir war ihm, dem Manne großartiger Naturbetrachtung, dieses Dokument als eins der wichtigsten auf diesem Felde erschienen; – und gewiß! man lese das ganze! Man folge sinnend den merkwürdigen sibyllinischen Blättern und man wird ohngefähr die Empfindung haben, als stände da ein mächtiger Geist am endlos dahinflutenden Nebelmeere eines ewigen Werdenden und faßte es mächtig und bildete daraus die große Gestalt einer Physis oder Hekate. – Pythiaartig und wunderbar, selbst bis auf das Einzelne der Wortstellungen, erscheint der Ausdruck in diesen Sätzen, und merkwürdig bleibt es, daß Goethe selbst in hohen Jahren, das heißt 50 Jahre nach der Entstehung jener Rhapsodie, nicht mehr ganz in das geheimnisvolle und ursprüngliche Tiefe derselben eingehen konnte, sondern es nur, wie er sagt, als einen Komparativ gegen den Superlativ einer späterhin gewonnenen Naturanschauung gelten lassen wollte. – Seltsam sogar, daß er jenes Frühere als ein Pantheistisches darstellt, da es sich doch eigentlich im ganzen nur um die konkrete und menschliche Auffassung eines Abstrakten und Übermenschlichen hier handelt. –
An solchen Dingen kann man recht gewahr werden, daß selbst der schön und großartig die Natur Schauende doch in diesem Schauen selbst rastlos ein andrer wird, im Grunde freilich wesentlich derselbe bleibend; daß er aber unvermerkt selbst wieder mit andern Augen sieht, mit andern Ohren hört, ja mit andern Hirnfibern denkt und daß auch in ihm »kein Moment Stillstehen« ist. – Wohl ihm! wenn in allen diesen Verwandlungen das eine wesentlich Bleibende in ihm doch in eigentümlicher Energie sich fortwährend erhebt und dem ewigen Urquell aller Ideen mehr und mehr sich annähert. – Die Aufgabe dessen, was wir Lebenskunst nannten, war es ja, eben dieser Annäherung zum Höchsten durch eine besonnene Leitung des Lebens, soweit diese von dem eignen Daimon und nicht von der Tyche und Anangke abhängt, Beförderung und Folge zu geben, und so führt uns dies zu der zweiten hier gestellten Aufgabe, nämlich am Schluß noch gerade in dieser Beziehung einen Blick auf die Schriften eines Mannes zu werfen, deren Verfasser wir oben selbst als einen Meister in der Lebenskunst bezeichnen durften. Hat er doch das Meisterstück geliefert, wodurch sich der reine Abschluß der Lehrjahre erprobt – nämlich das Kunstwerk eines großen erfahrungsreichen Lebens rein hinaufgebildet bis in die schneeige Region des hohen Mannesalters, und zwar mit Klarheit des Bewußtseins, mit Wärme der Empfindung und mit Milde der Gesinnung und Tat.
Was kann aber in dieser Beziehung merkwürdiger sein, als daß er sich getrieben fand, schon in erster Jugend des Mannes (etwa 30 Jahre alt) den Gedanken zu fassen und schriftlich abzubilden von der Geschichte der Lehrjahre eines männlichen Lebens! – Es liegt für mich in dieser Nötigung eines so bedeutenden Geistes, das Bild einer andern menschlichen Entwicklung mit dieser Deutlichkeit für sich aufzuzeichnen und auszuführen etwas psychologisch äußerst wichtiges! – zumal da nun wieder das gezeichnete Bild ein so ganz anderes ist als das des Verfassers! – es kann ja kaum einen größern Abstand geben als den Charakter eines Wilhelm Meister und den eines Goethe! – Alles so anders und doch nun wieder in beiden dieses Fortführen von Stufe zu Stufe! – Wo hier fast alles von außen hineingebildet und zu mehr leidendem Leben entwickelt wird, da ist dort alles von innen heraus strebend und zu einem durchaus produktiven Leben sich entfaltend! – die vielfältgisten Parallelen und die vielfältigsten Widersprüche lassen sich hier nachweisen! – Gewiß! es gibt zu vielen eigentümlichen Gedanken Veranlassung, wenn man den Wilhelm Meister –das an sich so interessante Werk, in welchem die prosaische Schreibart Goethes zuerst vollkommen ausgebildet hervortrat, einmal bloß in Beziehung auf Goethe selbst durchgehen will, ja wie wichtig dann die Fortsetzung desselben, das Buch der Wanderjahre wird, zumal wenn wir bedenken, daß gerade dieses nun insbesondere auf das früher besprochene Prinzip der Entsagung sich gründet, bedarf alsdann kaum der Bemerkung. – Was uns betrifft, so glauben wir den Schlüssel zu dem geheimen Grunde, welcher Goethe nötigte, auf diese Weise sich schriftlich auszusprechen, darin zu finden, daß ein solches bewußtloses Objektivieren, gleichwie es ihn zwang, alle die wunderlichen Verhältnisse eines sich durchbildenden und entwickelnden männlichen Lebens überhaupt zur hellsten Gegenständlichkeit zu bringen, so auch allein ihn selbst zu größerer Klarheit führen und in der eigentlichen Lebenskunst wahrhaft fördern konnte, in der Kunst, welche insbesondere völlig unbewußt und einzig geleitet vom Daimon geübt zu haben, von Goethe ganz besonders ausgesagt werden muß. – Ist doch der Name dieser Kunst, wie überhaupt noch wenig, so von ihm noch gar nicht genannt worden! –
Da ich aber hier des Daimon gedenke, so führt mich dies auf ein anderes – dem Umfange nach zwar viel kleineres, aber dem Gehalte nach durchaus nicht geringeres Werk für Lebenskunst, dessen denn sogleich noch mit wenigen Worten zu erwähnen sein wird. Es wurde dasselbe zuerst, insoweit es Gedicht ist, in den Heften zur Naturwissenschaft mitgeteilt unter dem Namen »Urworte – orphisch«, späterhin durch interponierte Prosa erläutert, und Goethe sagt mit Recht von ihm: »Diese wenigen Strophen enthalten viel Bedeutendes in einer Folge, die, wenn man sie erst kennt, dem Geiste die wichtigsten Betrachtungen erleichtert.« – Der Gedankengang ist der, daß die fünf Momente, welche den Gang und die Leitung des Lebens wesentlich bestimmen, jedes auf eigentümliche Weise, in schöner poetischer Form zusammengestellt werden, woraus sich dann eine Übersicht ergibt, wie das, was uns so ganz nur eins scheint, doch durch so gar Verschiedenartiges influenziert wird. –
Zuerst wird hier aufgeführt das eigentlich Individuellste am Menschen – die Grundidee seines Daseins – als der Daimon:
»Nach dem Gesetz, wonach du angetreten,
So mußt du sein – dir kannst du nicht entfliehn.«
Hierauf folgt die Tyche – das Zufällige –, zeigend, wie der Mensch mitten im Getriebe einer höchst komplizierten Welt, auf das Mannigfaltigste von außen berührt, affiziert und in seinem Wesen bald hie, bald da bedeutend modifiziert wird; denn:
»Nicht einsam bleibst du, bildest dich gesellig.«
Weiter aber tritt heran als drittes Moment, um das unter der scheinbar zufälligen Einwirkung einer mannigfaltigen Welt sich entwickelnde Individuum nun heftiger aufzuregen: der Eros – die Liebe in ihren mannigfaltigsten Formen von leisester Neigung bis zur heftigsten Leidenschaft. – Hier erscheint sogleich der Kampf des individuellen Daimon gegen ein Fremdes, der Neigung sich Entgegenstellendes, oft in der merkwürdigsten Weise, und wie hier die Lebenskunst zwischen Entsagung und Hingebung in die schwierigsten Wahlen geführt werden kann, davon ist oben genugsam die Rede gewesen. – Die Strophe schließt:
»Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen,
Doch widmet sich das Edelste dem Einen.«
Indes nicht bloß solche innere Nötigung bewegt den Menschen und erregt Streit mit dem Daimon, auch von außen, ja von daher ganz besonders kommt ihm Bestimmung und Zwang, und hiermit erscheint das vierte Moment für Leben und Lebenskunst – die Anangke, die Nötigung:
»Da ist's denn wieder, wie die Sterne wollten,
Bedingung und Gesetz und aller Wille
Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten
Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille;
Das Liebste wird vom Herzen weggescholten.«
Goethe sagt mit Recht: »Niemand ist, dem nicht Erfahrung genügsame Noten zu einem solchen Text darreichte, und gar mancher, der verzweifeln möchte, wenn ihn die Gegenwart also gefangen hält.«
So würde es denn zuletzt wirklich dem Leben an einem gewissen Gleichgewichte und Troste fehlen, wenn nicht das fünfte Lebenselement – Elpis –, die Hoffnung erschiene:
»Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt;
Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer
Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt;
Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt nach allen Zonen.
Ein Flügelschlag und hinter uns Äonen.«
Mit dieser Aussicht in ein Unendliches schließt sich also die Reihe dieser fünf inneren Momente des Lebens, und die Lebenskunst hat somit eine deutlichere Aufgabe; indem das Individuum, wenn es darüber klar geworden, was dem Zufälligen, was der inneren Neigung und was dem Zwange von außen angehört, sobald ihm eben überhaupt ein höchstes Ziel wirklich vorschwebt, jetzt bei weitem richtiger ermessen wird, wo zu leiden und wo zu handeln gut und notwendig erscheint.
Es führt aber allerdings zu den weitgreifendsten Betrachtungen, wenn man auf diesem Wege bei Goethe weiter geht und gewahr wird, daß allerdings überall hervorleuchtet, wie die rechte Ausbildung seines Lebens – die Lebenskunst – ihn eigentlich viel tiefer beschäftigte als alles andere – ja, wie dieses andere vielmehr durchaus Blüten waren, welche frei und leicht von selbst hervortrieben, während jenes ernste Werk unaufhaltsam, mit Mühe und Auf Opferung und rein absichtlich fortgeführt wurde. – Folgende Stelle, obwohl zunächst in anderer Beziehung mitgeteilt, werden wir ganz hierher ziehen dürfen; sie heißt: »In meiner besten Zeit sagten mir öfters Freunde, die mich freilich kennen mußten: was ich lebte sei besser als was ich spreche, dieses besser als was ich schreibe, und das Geschriebene besser als das Gedruckte.« Er rechnet diese Äußerung zu den Bemerkungen gelassen beobachtender Freunde, welche, weil sie das innerste mystische Leben berühren, oftmals gefährlich werden könnten, indem sie mitunter zu wirken pflegen wie der Namensruf auf den über Höhen hinsteigenden Nachtwandler. Gewiß abermals ein merkwürdiges und beziehungsreiches Wort! – ein Wort, welches wieder dadurch eine eigentümliche Seite des Lebens und der Lebenskunst anspricht, daß wir in ihm ein wichtiges rein menschliches Verhältnis angedeutet finden, welches wir vielleicht am kürzesten als »Gesetz des Geheimnisses« bezeichnen dürfen, und welches für Goethe, wie für jede tiefere Natur, stets ein sehr wichtiges gewesen ist. – Wie nämlich auch in der physiologischen Geschichte der Organismen erkannt werden kann, daß die wichtigsten Lebensverhältnisse derselben, das heißt die wunderbaren Vorgänge, durch welche sie entstehen, sich fortbilden und vermehren, dergestalt ins Verborgene gebracht sind, daß nur mit dem ausdauerndsten Fleiße, mit Anwendung größten Scharfsinns und mit Hilfe mannigfaltiger künstlicher Apparate es dem Forscher gelingen konnte, nach und nach einiges davon zu enthüllen, während das Ganze derselben zu jenem Verborgenen gehört, welches schon im Altertume als die nie zu entschleiernde Isis verehrt wurde, so liegt auch im spirituellen Organismus – in der Seele des Menschen, eine Region des Mysteriums, welche einen eigenen geheimen Tempeldienst, eine stille innere Weihe fordert, wenn von ihr aus so das äußere weltliche Leben durchdrungen und erwärmt werden soll, wie von der verborgenen inneren Glut des Planeten das Leben an seiner Außenfläche. – Wehe dem! der diese Mysterien verkennt – wer sie entweder vergißt und völlig ins Unbewußtsein versinken läßt, oder wer sie mit frevelnder Hand berührt und in das gewöhnliche Treiben des Tages dahingibt. – Um das, was die höchste Aufgabe des Sich-Darlebens der Idee unseres Daseins ist, um das Wachstum der Energie dieser Idee, wird er sich unbedingt gebracht haben!
Folgt man der Lebensentwicklung von Goethe, so findet man überall die deutlichsten Spuren einer gewissen Ehrfurcht gegen das innere Mysterium und auch darin ein Dokument seiner Lebenskunst. – Schon als Knabe, wenn er dem unbekannten Gott den Altar erbaut, entsteht in ihm eine stille Freudigkeit dadurch, daß jeder andere in diesem Altar nur eine wohlgeordnete Mineraliensammlung erblickt; und auch späterhin sagt er manches schöne, bald ernste, bald humoristische Wort darüber. Man könnte zu den letzteren die Stelle rechnen, wo es heißt: »Die Geheimnisse der Lebenspfade darf und kann man nicht offenbaren, es gibt Steine des Anstoßes, über die ein jeder Wanderer stolpern muß. Der Poet aber deutet auf die Stelle hin.« – Eine gewisse Ehrfurcht gegen das
»Was von Menschen nicht gewußt
Oder nicht bedacht
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht«
durchdringt Goethe überall so mächtig, daß ich mich oft gewundert habe, warum er in den Wanderjahren, da, wo von Erziehung die Rede ist, und wo er so schön sagt, es sei das Wichtigste, daß im Menschen drei Ehrfurchten entwickelt würden, die Ehrfurcht gegen das, was über uns ist, gegen das, was neben uns ist und gegen das, was unter uns ist, – warum, sage ich, er da nicht noch die vierte hinzugefügt hat, welche, wie mir scheint, eigentlich die Bedingung aller andern werden muß: nämlich die Ehrfurcht gegen das Mysterium, das in uns ist.
Das Außerordentliche jedoch, was über die Kunst, das Leben zu erkennen und zu leiten, in Goethes Schriften gefunden wird, enthalten jedenfalls die »Maximen und Reflexionen« – kurze Sätze in sechs Abteilungen gebracht – und über die mannigfaltigsten Zustände sich verbreitend.
Daß ein so mächtiger poetischer Geist – ein Geist, aus welchem der Tasso und der Faust, der Götz und die Iphigenia hervorgehen konnten, sich schon in jungen Jahren – mehr aber im höhern Alter – während noch Dichtungen wie der Divan reiften – gedrungen fühlte, die Resultate der Betrachtungen des Lebens, völlig als ein Weiser der alten Zeit, in Hunderten von vielfach durchdachten Sprüchen niederzulegen, ist auch eine Erscheinung, die in ihrer Merkwürdigkeit noch lange nicht hinreichend erwogen ist. – Sind doch diese Reflexionen selbst noch gar wenig in deutschen Landen bekannt; dem Auslande sind sie erst kürzlich durch eine französische Übersetzung einigermaßen zugänglich geworden. – Kommt man einmal dazu, den Reichtum hier niedergelegter Anschauungen ausführlicher zu erläutern und auszubeuten, so ist gar kein Ende abzusehen. – Auch hier muß ich mich gewaltsam zurückhalten, in diesen Betrachtungen nicht zu weit zu gehen – aber einiges anzudeuten kann ich nicht unterlassen, denn von vielen derselben gilt es, was Goethe selbst in den folgenden Worten von den letzten Gedanken des Lebens sagt: »Madame Roland, auf dem Blutgerüste, verlangte Schreibezeug, um die ganz besonderen Gedanken aufzuschreiben, die ihr auf dem letzten Wege vorgeschwebt. Schade, daß man ihr's versagte; denn am Ende des Lebens gehen dem gefaßten Geiste Gedanken auf, bisher undenkbare; sie sind wie selige Dämonen, die sich auf dem Gipfel der Vergangenheit glänzend niederlassen.«
Wenn es aber von Goethe überhaupt gilt, daß man ihn schwerlich jemals werde einen populären Schriftsteller nennen können, so mag es freilich besonders von diesen Maximen und Reflexionen gelten, daß sie immerdar nur wenigen vollkommen zugänglich bleiben werden.
Man muß zwischen den Zeilen lesen können, um sie zu verstehen – sagte ich einem Freunde; und so ist es!
Weite Lebensereignisse liegen dazwischen und haben sich hier oft in wenigen Worten zusammengezogen – ja selbst über diesen schwebt der Schreibende wieder in einer gewissen Lebenshöhe erhaben, fühlend, wie im höchsten Sinne unzulänglich alle Darstellung des Innerlichsten zuletzt bleibt und wie richtig das Wort sei:
»Spricht die Seele, so spricht, ach! schon die Seele nicht mehr.«
Man lese nur das Folgende: – »Nichts wird leicht ganz unparteiisch dargestellt. Man könnte sagen: hiervon mache der Spiegel eine Ausnahme, und doch sehen wir unser Angesicht niemals ganz richtig darin; ja, der Spiegel kehrt unsere Gestalt um und macht unsere linke Hand zur rechten. Dies mag ein Bild sein für alle Betrachtungen über uns selbst.« – Sei dem aber auch so! Nicht minder liegt ein reicher, ja ein unschätzbarer Stoff in diesen Blättern zerstreut, und wer nur irgend bedenkt, welche Lebenserfahrungen gemacht werden mußten, damit diese Kristalle anschließen konnten, der wird Goethe recht geben, wenn er in einer dieser Reflexionen sagt: »Es wäre nicht der Mühe wert, siebzig Jahre alt zu werden, wenn alle Weisheit der Welt Torheit wäre vor Gott.«
Geht man nun diese Sachen im einzelnen durch, so finde ich, daß man besonders Ursache hat, in dreifacher Hinsicht ihnen die höchste Anerkennung zu widmen; zuerst in Hinsicht auf die Höhe und Reinheit der Gesinnung, die sich darin ausspricht, sodann in Beziehung auf die scharfe Kenntnis menschlicher, Goethe selbst oft scheinbar fern genug liegender Verhältnisse, drittens in bezug auf die freie und mächtige Beherrschung der Sprache. – Man erlaube mir noch, von jedem ein oder einige Beispiele anzuführen: – So möge, um das erste sich zu verdeutlichen, man auf Sachen achten wie das Folgende: »Das erste und letzte, was vom Genie gefordert wird, ist Wahrheitsliebe.« – »Wer gegen sich selbst und andere wahr ist und bleibt, besitzt die schönste Eigenschaft der größten Talente.« – Und dann: »So wie der Weihrauch das Leben einer Kohle erfrischt, so erfrischt das Gebet die Hoffnung des Herzens.« – Will man hinsichtlich des zweiten beweisende Beispiele haben, so beachte man Sätze, wie die nachstehenden: »Vor der Revolution war alles Bestreben, nachher verwandelte sich alles in Forderung.« – Oder: »Was von Seiten der Monarchen in den Zeitungen gedruckt wird, nimmt sich nicht gut aus; denn die Macht soll handeln und nicht reden. Was die Liberalen vorbringen, läßt sich immer lesen; denn der Übermächtigte, weil er nicht handeln kann, mag sich wenigstens redend äußern.« – So faßt er oft in wenig Worten alles zusammen, was sich von dem Stande ganzer Wissenschaften urteilen läßt, so zum Beispiel was, in bezug auf Medizin, von Windischmanns »Über etwas, das der Heilkunde not tut«, nur irgend Zurechtweisendes sich sagen läßt: – Er zeigt zuerst, daß das Buch Windischmanns »ganz im ägyptischen Sinne geschrieben sei, daß man nämlich ein Priester sein müsse, um sich als ein tüchtiger Arzt zu bewähren.« – Diesem Satz stellt er dann ganz einfach eine Stelle aus Wachlers Geschichte der Literatur gegenüber, welche damit anfängt: »Die Medizin, lange ausschließlich Eigentum der Priester, namentlich der Asklepiaden in Thessalien, fing allmählich an, ihre Verbindung mit dem religiösen Aberglauben aufzugeben, als sie zum Teil von jonischen Philosophen in ihre Untersuchungen über die Natur der Dinge aufgenommen wurde – – erst aus der Schule in Kos ging dann der Schöpfer der wissenschaftlichen Medizin hervor, Hippokrates usw.«, und nun schließt Goethe mit den eigenen höchst bedeutsamen und so vielfache Anwendung erleidenden Worten: »Den einzelnen Verkehrtheiten des Tages sollte man immer nur große weltgeschichtliche Massen entgegenstellen.« – Und so finden sich über viele Verhältnisse der Geschichte und der Wissenschaft gar merkwürdige Andeutungen. – Was endlich die Macht der Sprache und die Erfindung neuer Wortformen betrifft, so liegt schon in den angeführten Sätzen manches der Art vor: – der »Übermächtigte« ist ein bisher nicht gehörter und sehr bezeichnender Ausdruck. Ein anderer in folgendem Satze: »Das Genie übt eine Art Ubiquität aus, ins Allgemeine vor –, ins Besondere nach der Erfahrung.« – Hier ist das »Ubiquität« gleichsam ein »Überallsein« und ein »Überallrechtsein«, eine Form, die neben »Universalität« einen ganz eigenen und neuen Begriff aufschließt. – So fernerhin auch der noch nie so gebrauchte Gegensatz von handrecht und kopfrecht in den hübschen Worten: »Alle praktischen Menschen suchen die Welt handrecht zu machen, alle Denker wollen sie kopfrecht haben. Wie weit es jedem gelingt, mögen sie zusehen.« – Doch es sei genug solcher ins einzelne gehender Betrachtungen! – Daß in allen diesen Reflexionen und Maximen das Bestreben sich ausspricht, zu einem reineren und mehr und mehr in sich abgeschlossenen Lebensziel durchzudringen und daß eben dadurch eine stetige und umsichtige Erwägung des Lebens und Fortbildung der eigenen Lebenskunst sich betätigt, wird einem jeden klar werden, der mit Geist und Ausdauer an ihre Erwägung sich begeben will.
Mögen denn überhaupt die hier dem Publikum überlieferten Blätter denen bei Goethe Einheimischen manches Verständnis vervollständigen, denen in Goethe Fremden eine Einladung sein, sich genauer und anhaltender mit einer solchen Individualität bekannt zu machen! – Bliebe für mich dabei noch ein Wunsch übrig, so wäre es der, daß jener mächtige Geist selbst, wandelte er noch unter uns, die Worte auch auf diese Bestrebungen anzuwenden sich versucht fühlte, welche er einst anwendete, als einige befreundete Gelehrte in der Jenaischen Literaturzeitung seine morphologischen Hefte ausführlich angezeigt hatten; – er sagte nämlich von ihnen folgendes:
»Und so hab ich denn der Parze großen Dank abzustatten, daß sie mich, nicht etwa nur wie den Protesilaus auf eine vergängliche Nacht, sondern auf Wochen und Tage beurlaubt hat, um das Angenehmste, was den Menschen begegnen kann, mit Heiterkeit zu genießen. Durch wohlwollende, einsichtige, vollkommen unterrichtete Männer seh' ich mich günstig geschildert, und zwar so recht durch und durch erkannt und aufgefaßt, mit Neigung das Gute, mit Schonung das Bedenkliche dargestellt: ein ehrwürdiges Beispiel, wie Scharf- und Tiefblick mit Wohlwollen verbunden, durch Beifall wie durch Bedingen, Warnen, Berichtigen, sogleich zur lebendigsten Fördernis behilflich sind.«
Carl Gustav Carus
der Künder Goethescher Lebenskunst
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