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Fieber

Der Zug fuhr jetzt schon eine gute Weile bergan. Friedrich Hardy langte nach der Uhr, die er seitlich auf den Klapptisch gelegt hatte. Es ging auf fünf. »Noch zwei Stunden,« dachte er. Er war jetzt plötzlich doch sehr beklommen. Er legte sich in die Kissen zurück und horchte auf den einförmigen Rhythmus des Zuges. Dann sah er auf einmal Ceciles Gesicht, so wie er es zum letztenmal erblickt hatte. Sie lag ganz starr auf dem Diwan ausgestreckt, den Blick hatte sie entsetzt nach der Decke gerichtet, als ob sie ihn nicht mehr anzusehen wagte. Über ihr Gesicht aber floß es wie eine große Welle Blutes, ihre Wangen brannten wie im Fieber, und sie gab keine Antwort mehr.

In diesem Augenblick wußte Hardy, daß sie ihn fürchtete und zugleich, daß sie ihn verraten hatte. Es war auch Wahnsinn gewesen, sich ihr anzuvertrauen. Solch ein Ereignis war für das Gehirn einer Frau zu groß. Aber hatte er denn nicht gemußt, da doch alles um ihretwillen geschehen war?

Eine Stunde vorher war er aus der Klinik zurückgekommen. Er hatte eben eine der schwersten Operationen vollbracht. Es handelte sich um einen ganz verzweifelten Fall von Tuberkulose. Ein Amerikaner, der von Davos gekommen war, hatte sich ihm vorgestellt mit einem völlig phthisischen rechten Lungenflügel. Hardy sah keine andere Hilfe als seine Methode der Thorakoplastik. Er hatte die ganze rechte Brusthälfte bloßzulegen, alle Rippen abzuschneiden und die Riesenwunde wieder zu schließen. Der infizierte rechte Lungenflügel mußte unter der Einwirkung des äußern Druckes zusammenschrumpfen, vernarben, während der linke so die Möglichkeit der Genesung hatte. Hardy machte diese Operation mit verblüffender Geschwindigkeit in dreißig Minuten, wobei das Arbeiten noch erschwert war durch das Stöhnen des Patienten, der infolge der Unmöglichkeit der Narkose nur durch lokale Anästhesie geschützt werden konnte.

Hardy war dann etwas müde und erregt nach Hause gekommen, hatte nach der Szene mit seiner Frau den gelben Handkoffer gepackt und ohne ein Wort zu sagen, das Haus verlassen. Er erinnerte sich auch nicht, auf der Fahrt zur Bahn irgendeinem Bekannten begegnet zu sein. Was allerdings nicht ausschloß, daß er dennoch gesehen worden war.

Das war am Abend, genau vierundzwanzig Stunden nach Richards Tod gewesen, der in Hardys Privatklinik an einer Apoplexie gestorben war. So hatte Hardy auch in den Totenschein geschrieben. In jenem Augenblick rechnete er allerdings noch nicht damit, daß nach Richards Testament sein Kollege Maur die Autopsie vorzunehmen hatte. Vielleicht hatte auch dieser Umstand Hardy zu seinem Geständnis gegenüber seiner Frau veranlaßt.

Hardy war jetzt fast über fünfzig Jahre alt, aber sein Ruhm als Chirurg datierte schon seit etwa fünfzehn Jahren. Er war von der Magerkeit gutrassiger Menschen, hatte ein schmales, nervöses Gesicht, sehr dunkle Augen und einen grauen Spitzbart. Sein großes Talent aber lag in seinen Händen. Sie waren von einem unendlichen, fast mysteriösen Gefühl für die innere Form des menschlichen Körpers begabt, dabei von einer stupenden Geschicklichkeit. Darin lag sein Riesentalent.

Mit fünfundvierzig hatte er sich erst verheiratet. Cecile war in der Stadt als eine große Schönheit bekannt gewesen und hatte sich merkwürdigerweise nicht vor ihrem siebenundzwanzigsten Jahre vermählt.

Hardy horchte wieder auf das monotone Stampfen des Zuges, dann ließ er vom Bett aus das Rouleau am Fenster in die Höhe. Ein grüner Wiesenrain glitt draußen vorbei, darauf kam Gehölz, dann öffnete sich der Wald, unten tat sich eine schwarze Schlucht auf. Der Zug fuhr über eine Brücke, eine Ruine ragte seitwärts aus den Bäumen, ein Bahnwärterhaus tauchte auf, eine große, verschlafene Frau stand da und hielt einen Stock in der Hand, aus einem Giebelfenster hing ein Bettuch. Hardy streckte sich wieder aus.

Er starrte gegen die Couchette, die über ihm hing und leer war. Er hatte vor der Abfahrt ein Trinkgeld gegeben und war so allein geblieben. Er hätte auch die Gegenwart eines anderen Menschen nicht ertragen. Er überlegte jetzt, was geschehen konnte, wenn er in der Stadt, die er als Refugium gewählt hatte, aus dem Bahnhof trat. Vielleicht stand schon ein Geheimpolizist da und legte ihm ganz sacht die Hand auf den Arm. Vielleicht stand in den Morgenzeitungen auch schon ein Telegramm, das von dem mysteriösen Todesfall sowie von seiner Verfolgung sprach. Alles war möglich.

Maur hatte die Autopsie in den Vormittagsstunden des gestrigen Tages in Hardys Klinik unternommen. Sie mußte gegen zehn Uhr schon beendet gewesen sein, denn als Hardy gegen halb elf von der Wohnung antelephoniert hatte, war er schon wieder weg gewesen. Was Hardy verdächtig erschien, war, daß Maur nachher nichts hatte von sich hören lassen. Nach Tisch hatte Hardy mit Cecile gesprochen. Als er um sieben Uhr aus dem Spital zurückkam, war sie schon völlig verstört gewesen. Jedenfalls aber in höherem Grade erregt als am Mittag. Vielleicht hatte Maur inzwischen angerufen, vielleicht war er dagewesen. Vielleicht hatte man sich auch von der Staatsanwaltschaft aus schon nach ihm erkundigt. Wenn Maur nach dem Befund sofort Anzeige gemacht hatte, war es sehr leicht möglich gewesen. Vielleicht wäre er sogar im Spital schon verhaftet worden, wenn es nicht noch an einer Formalität oder Unterschrift gefehlt hätte. Daß der Verhaftungsbefehl nicht komplett geworden war, lag vielleicht an einem Zufall.

Hardy sah jetzt wieder Richard, seinen besten Freund. Er sah sein totes Gesicht in den Kissen liegen, etwas bläulich und gedunsen, wie alle, die am Erstickungstod gestorben sind. Aber am ganzen Körper war keine Spur. Hardy hatte schon viele Menschen sterben sehen. Diese röchelnden, gurgelnden Laute, die die letzten Atemzüge begleiten, waren seinem Ohr nichts Schreckhaftes. Dazu hatte jener nicht stark gelitten. Er hatte ganz ruhig dagelegen und war vor allem fast ahnungslos gewesen, während ihm die Lähmung im Körper aufstieg.

Hardy drehte sein Gesicht nach der Wand. Der Zug ging über Weichen, wurde gerüttelt, fuhr jetzt mit hohlem Geräusch in eine Bahnhofshalle ein. Aber auf dem Perron schien alles ruhig zu bleiben. Niemand stieg aus oder ein. Im Couloir hörte er den Kondukteur des Schlafwagens mit einem andern reden. Der Kondukteur sprach Bayerisch, die andere Stimme Schweizerdeutsch. Hardy verstand kein Wort davon.

Der Zug fuhr wieder an.

Wenn zwar Hardy überzeugt war, daß dies alles so hatte geschehen müssen, so empfand er doch über die Tatsache jetzt einen seltsamen Kummer. Es war ihm fast unwahrscheinlich, daß Richard tot war. Mit einer dumpfen Wehmut dachte er daran, daß ihm das Schicksal dies auferlegt hatte. Wie unheimlich dies alles doch war. Man hatte zehn, fünfzehn Jahre fast täglich zusammengelebt, dann hatte er geheiratet, und im selben Moment hatten sie sich beide verwandelt, sie, die sich vorher die kleinsten Regungen anvertraut hatten. Ob ihn Richard von jenem Augenblick an gehaßt hatte? Daß jener Cecile liebte, wußte er schon längst, daß er ihn töten müßte, erst seit ein paar Tagen.

Hardy sah sich plötzlich zwischen zwei Schutzleuten auf der Anklagebank sitzen. Ein Anwalt im schwarzen Talar stand vor ihm und redete. Redete immerfort. Und Hardy wußte selbst genau, daß es keinen Sinn hatte, ihn zu verteidigen, daß er verurteilt werden mußte. Wegen Mord verurteilt. Denn er hatte den andern mit Vorbedacht getötet. Mit einem Vorbedacht, der zwar auch wie eine Notwehr hätte interpretiert werden können. Wie aber hätte diese Notwehr bewiesen werden müssen? Wo doch alles, was Hardy dazu genötigt hatte, ganz im Mysteriösen lag.

Friedrich Hardy hatte sein Leben lang ein fast krankhaftes Gedächtnis für Situationen gehabt. Er konnte sich nach einem, nach zwei Jahren noch fast genau wieder vorstellen, wie zwei Personen in diesem oder jenem Augenblick nebeneinander gestanden hatten, was sie für Gesten gemacht, wie der Ausdruck ihres Mundes, ihrer Augen gewesen war. Das alles sah er mit unheimlicher Deutlichkeit. Er liebte es, solche Situationen in Zusammenhang zu bringen, zu kombinieren, wodurch er zu ganz merkwürdigen Entdeckungen kam.

Auch das mit Cecile und Richard hatte er so entdeckt. Es hatte begonnen, als sie alle drei zusammen vor zwei Jahren im Sommer auf dem Lande waren. Hardy hatte gerade in jener Zeit ein paar schwere Fälle in der Klinik gehabt, und fuhr oft nachmittags, manchmal schon in der Morgenfrühe, in die Stadt. Eines Tages kam er am Spätnachmittag zurück. Er erinnerte sich heute noch genau, daß es an einem Freitag gewesen war. Richard und Cecile seien nach dem Wald geritten, sagte ihm der Diener. Ohne einen besondern Gedanken, sondern einzig aus dem Wunsch, sich Bewegung zu machen, ging er ihnen nach. Langsam schritt er auf den grasüberwachsenen Feldstraßen. Es war ein warmer Augustabend, nicht heiß, denn es hatte zwei Tage lang geregnet. Aber eine wohltuende Wärme dampfte aus der Erde. Hardy war wohl eine Stunde weit gegangen. Er schritt auf einem von tiefen Furchen durchwühlten Waldweg. Die beiden zu finden, dachte er nicht. Aber plötzlich hörte er ein Pferd wiehern. In einer Lichtung waren die beiden Tiere an einen Baum gebunden und rieben behaglich die Köpfe aneinander. Von Richard und Cecile war keine Spur. Hardy machte sich daran, die beiden zu suchen. Er fand sie plaudernd im Moos sitzend. Jedes an einen Baum gelehnt. Es war kaum etwas Verdächtiges dabei.

Am folgenden Tag begann er mit Cecile eine zweiwöchige Reise nach Dalmatien. Er dachte dabei an nichts anderes, als daß, wenn es möglich wäre, ein Malheur verhütet werden sollte. Daß ihn die beiden betrogen hatten, glaubte er nicht. Cecile zeigte auch in ihrem Wesen eine so vollkommene Ruhe, daß er den Gedanken nach ein paar Tagen aufgab.

Im Winter sah man sich wieder in der Stadt. Richard verkehrte im Hause wie zuvor. Es lag ja schließlich auch keine Nötigung vor, ihm unbedingt zu mißtrauen.

Dann aber kam im vorletzten Winter ein zweites Indizium. Sie waren alle drei bei Freunden eingeladen gewesen. Man brach sehr spät auf. Und Hardy selbst hatte, wie er heute noch genau wußte, an jenem Abend etwas viel schweren Wein getrunken. Richard und Cecile stiegen vor ihm die Treppe hinunter. Hardy selbst stand noch mit dem Hausherrn in der dritten Etage. Er schaute aber unwillkürlich den beiden nach. Sie taten sich wirklich keinen Zwang an. Richard hatte seinen rechten Arm um ihre Hüfte gelegt, und sie stiegen zutraulich aneinander geschmiegt die Treppe nieder; als er selbst aber unten ankam, waren sie beide wieder so unbefangen, daß Hardy selbst an jener Wahrnehmung zu zweifeln begann. Vielleicht hatte Richard sie einfach gestützt, auf diese allerdings etwas außergewöhnliche Art gestützt. Aber es blieb Hardy im Gedächtnis. Er sah die beiden die Treppe hinuntersteigen. Er sah seinen Arm um ihre Hüfte.

Richard ging dann bald nachher auf eine Orientreise. Er hatte nie einen bestimmten Beruf gehabt, sondern seine ganze Tätigkeit war seinen Sammlungen gewidmet. Er hatte auch ein paar kleine Monographien geschrieben, aber sein Talent bestand weit mehr in seinem besonderen Geschmack als Kollektioneur. Das hatte vielleicht Cecile entzückt, seine Gewandtheit gegenüber Bildern, Stoffen, Bijouterien. Dazu war Richard ein schlanker, nicht schöner, aber interessanter Mensch, mit einem sportgestählten Körper. Sein Gesicht war glatt rasiert, und er wurde trotz seiner zweiundvierzig Jahre auf fünfunddreißig und weniger geschätzt. Sein einziges Gebrechen waren zeitweilig auftretende Neuralgien, die oftmals sogar einen sehr heftigen Charakter annahmen.

Hardy hielt diese seine Erfahrungen mit Richard und Cecile gleich kinematographischen Bildern im Auge. Mit einem Ruck vermochte er sie einzuschalten und so lange auf sich wirken zu lassen, bis seine Eifersucht daran müde und satt geworden war.

Was aber sein Mißtrauen besonders im letzten Winter gestärkt hatte, war der Umstand, daß Richard ein Verhältnis zu einer verheirateten, noch jüngeren Frau, welche Beziehung fast zehn Jahre gedauert hatte, plötzlich aufgab. Hardy sah darin etwas, das seinem Pessimismus gegenüber seiner Frau plötzlich eine logische Berechtigung zu geben schien.

Aber nun kam das Entscheidende. Hardy hatte im letzten Winter kurz nach Neujahr wegen einer Operation für zwei Tage verreisen müssen. Er hatte Cecile erst nahegelegt, ihn zu begleiten. Sie hatte abgelehnt. Sie hatte beschlossen gehabt, für diesen Abend ins Theater zu gehen. Als Hardy zurückkam, erzählte sie, daß sie am gestrigen Abend in der »Tosca« gewesen sei. Durch einen Zufall sprach er wenige Tage nachher über diese Aufführung mit Freunden, die gleichfalls im Theater gewesen waren. Es stellte sich dabei heraus, daß Cecile jenen Abend jedenfalls nicht im Theater verbracht hatte. Hätte ihn nicht sein Mißtrauen gleich einer fressenden Krankheit gequält, so hätte er vielleicht ihrer Lüge keine große Bedeutung beigemessen. So aber kam er an jenem Tage mit der Gewißheit ihrer Untreue nach Hause.

Sie saß im Salon und las. Als er sie aber anschaute, ihrem stillen, klaren Blick begegnete, brachte er kein Wort von einer Anklage heraus. Nur eine unheimliche, marternde Qual empfand er in seinen Nerven. Er ging in sein Zimmer und setzte sich völlig betäubt in den Schreibtischstuhl. Er war ganz verwirrt. Er war sich gar nicht darüber klar, ob nicht doch alles einfach ein Gebilde seiner Vorstellung sei.

Die Gewißheit kam ihm erst einen oder zwei Tage darauf. Richard war eines Mittags zum Schwarzen Kaffee gekommen. Seiner Gewohnheit gemäß blieb er dann noch sitzen, während Hardy gegen drei Uhr in die Poliklinik ging. Es war ein paar Minuten vor seinem Aufbruch. Cecile lag etwas träg in ihrem Fauteuil zurückgelehnt und rauchte eine Zigarette. Richard saß ihr gegenüber auf dem Sofa. Man redete von ganz gleichgültigen Dingen. Die beiden, die von Hardy etwas beobachtet wurden, waren ruhig wie gewohnt. Hardy war schon in den Korridor gegangen, um den Hut und die Handschuhe zu holen. Als er wieder unter die Tür trat, fragte er aber plötzlich ganz ohne besonderen Nachdruck: »Richard, willst du nicht mit mir kommen?«

Richard drehte nur langsam den Kopf: »Aber selbstverständlich,« sagte er. Cecile hatte mit einem großen Blick zu ihm hinübergesehen. Hardy aber wußte jetzt, daß er den beiden in diesem Augenblick irgendeinen Plan zerstört hatte, daß sie ihn betrogen.

Während er nachher mit Richard wegging, sah er aus seiner Erinnerung ein Bild nach dem andern. Wie eine klare, schmerzhafte Erleuchtung durchzog es sein Gehirn. Er war nur erstaunt, daß er diese selbe Gewißheit nicht schon an jenem warmen Augustabend empfunden hatte.

Als er am Abend zurückkam, hatte Cecile schon gegessen. Er fand sie nachher am Klavier sitzen. Sie spielte gut, aber ohne besonderes Talent. Er trat zu ihr an den Flügel und schaute ihr, während sie ein Impromptu von Schubert spielte, ins Gesicht. Ceciles Gesicht war ein ebenmäßiges, blasses Oval. Sie hatte schwarze Haare, schwarze Augen und sehr weiße Zähne. Sie war groß und schlank, der Ausdruck ihrer Züge verhalten und klug. Es war seltsam, daß ihre Stimme nicht zu ihrem Gesicht paßte. Sie war weder zu hoch noch zu tief, aber man war erstaunt, wenn man sie zum erstenmal hörte. Cecile redete auch nicht viel. Sie widersprach vor allem nur selten. Sie schwieg. Sie sah dabei aus wie jemand, der kaum Wert darauf legt, eine Meinung zu äußern.

Selbst Hardy, der sie mit brennender Leidenschaft liebte, empfand diese Haltung oft nicht anders als eine Pose, die sie vor Explikationen zu retten hatte. Er war jetzt auf irgendeine solche Überraschung gefaßt. Vielleicht gab sie ihm keine Antwort, war um keinen Preis aus der Fassung zu bringen.

Aber er fühlte jetzt, daß es sie ärgerte, wenn er ihr so an den Flügel gelehnt ins Gesicht sah. Einmal, wie über einen Atemzug, schaute sie auf. Sie mußte etwas wie einen Triumph in seinen Augen gelesen haben, denn ihre Augenbrauen schoben sich leicht, ein ganz klein wenig nach oben. Cecile hatte diese Bewegung oft bei einer verblüffenden Konstatierung. Hardy empfand sie wie ein neues Indizium.

Sie hatte zu spielen aufgehört: »Du kommst spät,« sagte sie.

»Na ja ...« äußerte er. Halb spöttisch, halb verzweifelt. Er war selbst über den Ton seiner Stimme verwundert.

»Was ist mit dir?« fragte sie und sah auf. Sie schauten sich eine Weile fest in die Augen. Es war wie ein entsetzlicher, verzweifelter Kampf zwischen ihnen. Als ob da schon der Entscheid fallen sollte, starrten sie sich an. Aber keines wich. Und doch wußten beide, was dieser Blick für eine Bedeutung hatte.

Da sagte er leise und doch so bestimmt, als ob er keine Antwort erwartete: »Ich weiß, daß du mich betrügst ...«

Ihr Gesicht zuckte mit keinem Nerv. Sie fragte nur: »Woher weißt du das?«

Er sagte: »Willst du leugnen?« Da senkte sie den Blick. Sie gab keine Antwort mehr. Es war ihm jetzt doch, als ob man ihm ins Gesicht geschlagen hätte. Er zog sich in eine dunkle Ecke des Salons zurück und blieb lange stumm. Auch Cecile sprach kein Wort. Sie hatte ihre Hände im Schoß liegen und starrte nachdenklich vor sich hin.

Da hob sie auf einmal den Kopf: »Was willst du nun tun?«

Er sagte: »Ich weiß es noch nicht ...« Eine beklemmende atemraubende Wut stieg in ihm auf: »Du hast natürlich diese Szene schon lange vorausgesehen?« fragte er höhnisch. Sie zuckte nur mit den Achseln. Er fühlte deutlich, daß er ihr gleichgültig war, daß sie sich auch vor den Folgen gar nicht fürchtete. Er saß da, atmete mühsam: »Und du liebst ihn wirklich?« kam es endlich aus seinem Munde. Sie zuckte wieder mit den Achseln.

Diese grenzenlose äußere Kühle, während er schier vor Verzweiflung brannte, machte ihn ganz irr. Und da geschah das Unerwartete. Cecile erhob sich plötzlich, kam lächelnd auf ihn zu, nahm sein Gesicht in beide Hände und sagte: »Du Narr, es ist ja gar nicht wahr!« Dann küßte sie ihn auf den Mund. So groß vorher seine Qual gewesen war, so stark wurde jetzt plötzlich seine Leidenschaft. Sie hatte ihn völlig entwaffnet. Mit diesem einzigen, einfachen Wort hatte sie mehr erreicht, als irgendein Beweis zu erwirken vermocht hätte. Er zog sie zu sich nieder. Er taumelte, während er sie zum Diwan führte. Nie glaubte er, sie so geliebt zu haben. Er war wie in einem sinnverwirrenden, schmerzhaften Rausch, während er sie in seinen Armen hielt und sie ihm seine atemlosen Küsse zurückgab.

Er war nachher wie gebrochen. Seine Nerven ertrugen diese Überreizung kaum. Sie sprachen nun lange und ruhig zusammen. Sie sagte etwa: »Wie konntest du es glauben.« Sie lächelte dazu ruhig und unschuldig. Er hielt sich die Schläfen. Sein Gehirn war noch wie im Fieber. Er war im Innersten unsäglich glücklich, daß alles so zum Guten gewendet war. Seine Nerven verlangten auch, daß es so sei. Er fühlte es deutlich.

Vor Erregung lag er noch die halbe Nacht wach. Er war dem Schicksal unsäglich dankbar, daß er diese junge schöne Frau besitzen durfte, daß sie ihm gehörte. Er dachte an seine grauen Haare, an sein müdes, abgearbeitetes Gesicht. Das Telephon klingelte. Er wurde in die Klinik gerufen. Mit leisen Füßen ging er an Ceciles Zimmer vorbei, um sie nicht zu wecken. Rasch, wie ein junger Mann, schritt er die Treppen hinunter. Nie hatten ihn die Assistenten und Krankenschwestern so lächelnd, so gefühlvoll gesehen, wenn er mitten in der Nacht geweckt worden war.

Friedrich Hardy war ein paar Tage lang sehr glücklich. Auch Richard empfand die Veränderung in seiner Haltung. Während Hardy ein Gefühl hatte, als ob er dem Freunde gegenüber sein Mißtrauen durch Herzlichkeit wieder gut machen müßte, wurde Richard mißtrauisch. Das machte Hardy wiederum stutzig.

Eines Abends war er mit Cecile wieder allein. Richard sagte jetzt öfters Einladungen ab. Hardy rauchte Zigaretten und las in einer Fachzeitschrift. Cecile trank noch spät einen milden Tee. Hardy hatte, wenn er las, ein Glas nötig, das er aber sofort abnahm, wenn er das Wort an irgendwen richtete. Er wußte, daß ihm das Glas nicht gut stand. Er war trotz seiner fünfzig Jahre noch etwas eitel.

Da begann Cecile ohne Nachdruck, als ob sie von etwas sehr Nebensächlichem redete: »Wie bist du neulich eigentlich auf diese Geschichte gekommen?« Er schaute auf, legte das Heft in den Schoß: »Ich weiß es auch nicht, es war ganz instinktiv ...« Er sann.

Sie schien aber neugierig zu sein, denn sie hob wieder an: »Aber du mußtest doch schließlich einen Grund gehabt haben. Irgendein Motiv, das einen solchen Verdacht aufkommen ließ ...«

Da erzählte er ihr von seinen Wahrnehmungen. Sie hörte aufmerksam zu. »Es ist furchtbar, wie man auf so falsche Schlüsse hin einer Frau unrecht tun kann, glaubst du nicht?«

»Ja, schon ...« antwortete er. Er verweilte gern bei diesem Gespräch. Es war ja eigentlich doch noch viel Unklares da, das aufgehellt werden konnte: »Aber im ersten Moment hattest du doch alles zugegeben,« behauptete er.

»Ich war so verblüfft, daß ich es aus Trotz tat, einfach aus Trotz ...« erklärte sie. Das erschien ihm begreiflich. »Bist du eigentlich von Natur eifersüchtig?« fragte sie darauf.

»Ich glaube kaum. Vielleicht war das für mich auch immer ein Gefühl, das ich zu kultivieren nie Zeit hatte ...« Er lächelte. Es amüsierte ihn jetzt, so ganz ruhig seine Seelenzustände zu sezieren.

»Aber ich glaube doch, daß du eifersüchtig bist ... von Natur,« begann sie wieder.

»Warum sagst du von Natur?«

»Weil die Eifersucht eine Eigenschaft ist, die man hat oder nicht hat. Wer eifersüchtig ist, wird es immer sein und gegenüber jeder Frau, die er liebt. Er wird nie Vertrauen haben, ob nun diese Frau die beste oder die schlechteste aller Frauen ist ...«

Hardy hatte aufmerksam zugehört. Es schien ihm durchaus logisch zu sein, was Cecile sagte. »Und nun glaubst du, daß ich zur Kategorie dieser Eifersüchtigen gehöre?« fragte er.

Sie schien aber einem ganz anderen Gedanken gefolgt zu sein, denn sie äußerte plötzlich: »Was hättest du nun aber getan, wenn es wahr, wirklich wahr gewesen wäre?«

Er blickte sie etwas verblüfft an. Die Wendung des Gesprächs schien ihm doch unheimlich zu sein. »Ich hätte vielleicht gar nichts getan,« antwortete er, »oder vielleicht etwas ganz Unmögliches, wer weiß, im übrigen liegt jetzt auch kein Grund zu solchen Erwägungen vor, oder?«

»Gewiß nicht,« gab sie zu. Sie blieben eine Weile stumm. Sie hatte ganz klar den Eindruck, daß sie sein Mißtrauen wieder geweckt hatte. Er grübelte über ihre Worte nach. Sie waren ihm wirklich schlecht bekommen. Warum hatte sie diese Frage gestellt? Warum hatte sie diese Möglichkeit überhaupt angenommen?

Nach der Art nervöser Menschen sah Hardy jetzt plötzlich alles ins Gegenteil verkehrt. Wie unheimliche, aufreizende Phantome stoben die Bilder seiner Erinnerung durch sein Gehirn. Es war ihm plötzlich unmöglich, unerträglich Cecile gegenüber zu sitzen.

Er ging hinaus. Nahm Hut und Stock und ging die Treppe hinunter. Cecile hatte ihn ohne ein Wort zu sagen, weggehen lassen. Das schien ihm auch verdächtig. Er sah noch ihre großen, etwas erstaunten Blicke, die ihm nachfolgten, während er sich unter der Türe noch einmal umdrehte. Er hatte jetzt, während er in die Nacht hinausschritt, den Eindruck, als ob sie im Grunde ganz kühl und kalt gewesen sei. Als ob sie ihn listig und schlau beobachtet hätte, nur um ihn auszuhorchen.

Die Straßen waren still, er überquerte einen Platz, wo eine Haltestelle für Mietautomobile war. Er stand still, besann sich, ob er nicht mit einem solchen Wagen irgendwohin, ganz wohin der Zufall es möchte, fahren sollte. Dann schritt er weiter, ging an einer Anlage vorbei. Unwillkürlich kam er in den Stadtteil, wo Richard wohnte. Ohne es zu wollen, lenkte er seine Schritte in seine Straße ein. Richards Wohnung war in einem älteren Hause in der dritten Etage gelegen. Es war Licht in seinen Zimmern. Auch das machte Hardy stutzig. Richard hatte gestern geäußert, daß er für drei Tage nach Berlin führe. Warum war er dann nicht gefahren? Konnten nicht Richards Reisen überhaupt Täuschungen sein? Das war ja sehr wohl möglich.

Hardy war vor der Haustür stehen geblieben. Über der Tür sah er durch eine Glasscheibe, daß der Korridor noch erleuchtet war. Es mußte also eben jemand hinaufgegangen sein. Zugleich hörte er Tritte hinter sich. Es war eine jüngere Dame, die ein Seidentuch um den Kopf gewunden hatte und, wie es Hardy schien, aus einem Konzert kam. Sie drückte auf einen elektrischen Knopf, stellte sich dann neben ihn und wartete.

Die Tür ging auf. Hardy konnte nicht anders, als mit ihr in das Haus zu treten. Er stieg auch die Treppe hinan, ohne daß er es eigentlich wollte. Das junge Mädchen blieb in der ersten Etage stehen, während er gemächlich an ihr vorbei und hinauf ging. Er hörte, wie die Korridortür der ersten Etage aufgeschlossen wurde und wieder zuklappte.

»Er wird gewiß erstaunt sein, wenn ich plötzlich bei ihm ankomme,« dachte er. Aber zurück hätte er jetzt doch nicht mehr können, da die Haustüre unten sich automatisch wieder geschlossen hatte.

Er hatte jetzt Herzklopfen, während er an der Korridortür läutete. Der Diener kam sofort und öffnete. Zugleich trat Richard in den Korridor.

Er lachte: »Woher kommst du, um diese Zeit? Ich wollte eben schlafen gehen ...«

»Jetzt, um zehn?« fragte Hardy, »ich ging zufällig hier unten vorbei und sah oben Licht. Zufällig trat auch eine junge Dame ins Haus ...«

Sie waren beide in sein Arbeitszimmer getreten. Die Türe zum Schlafzimmer stand offen, da lag ein Frackhemd über einem Stuhl, ein Chapeau claque stand auf einem Tisch, ein Schrank daneben war sperrweit offen.

»Du wolltest also eben ausgehen?« fragte Hardy und lachte.

»Ja, das wollte ich ... aber wirklich nur aus Langeweile ... da du mir Gesellschaft leisten willst, kann ich ebensogut auch dableiben.« Richard schien ganz nach seiner Überzeugung zu sprechen. Er bot seinem Freunde eine Zigarre an, der Diener brachte ihnen Whisky und entfernte sich dann.

»Wie kommt es, daß du um diese Zeit noch allein spazieren gehst?« fragte Richard nach einer Weile.

»Ich habe mich mit meiner Frau gezankt,« erwiderte Hardy, »oder eigentlich habe ich mich nicht mit ihr gezankt ...«

»Was war denn?«

»Sie war mir auf einmal unausstehlich, und da hatte ich das Bedürfnis, wegzugehen. Kannst du das begreifen?« Hardy sah seinen Freund bei dieser Frage fast provozierend an.

»Mir scheint, daß ihr beide etwas nervös seid ...« antwortete Richard.

»Glaubst du, daß diese Nervosität einen Grund haben könnte?« fragte Hardy wieder in einem fast bedrängenden Ton.

»Das kann ich nicht wissen ... mißtraust du ihr vielleicht?« Hardy empfand diese Frage wie eine Verwegenheit. Cecile und Richard schienen beide dasselbe Prinzip zu haben, ihn auszuhorchen, um über seine Haltung im klaren zu sein.

»Mir ist, als ob ich Recht dazu hätte,« entgegnete er. Richard wich seinem Blick aus und schenkte seinem Freunde ein Trinkglas halb voll Whisky ein. »Ach Gott,« meinte er, »bei den Weibern täuscht man sich leicht. Leute, die allen Grund dazu hätten, sind oft nicht im geringsten eifersüchtig, während ein anderer die beste Seele von Weib bis aufs Blut peinigt ...«

»Da magst du recht haben,« antwortete Hardy nachdenklich.

»Hast du morgen oder übermorgen für mich Zeit?« fragte Richard plötzlich und unvermittelt. »Ich glaube, ich muß wieder eine Kur machen. Ich habe Nervenschmerzen ...«

»Du kannst für die Injektionen, wenn du willst, nachmittags in die Klinik kommen,« erklärte Hardy ruhig. Und doch war in ihm in diesem Moment ein seltsamer, fast beängstigender Gedanke aufgestiegen. Der andere hatte offenbar keine Ahnung, wie er sich in diesen Dingen in seine Gewalt begab. Er konnte ihm ja ebensogut statt eines Präparates gegen Spirochäten irgendeine ganz seltsame Flüssigkeit injizieren. Die Idee stieg Hardy wie eine leise Begeisterung in den Kopf. Er merkte erst daran, wie groß eigentlich der Haß war, der in ihm gegen Richard wühlte.

Richard hatte sich zurückgelehnt und qualmte ruhig eine Zigarette.

»Hast du in Ceciles Betragen nie etwas bemerkt, das dir auffiel?« begann Hardy wieder in einem ganz unheimlichen Eigensinn.

»In welchem Sinne meinst du?« Richards Blick war offen, aber doch sehr unruhig.

»Ich meine, daß sie einen Geliebten haben könnte ...« sagte Hardy leichthin, fast ohne Nachdruck.

»Wie kann ich das wissen, lieber Freund?« lachte Richard, »ich würde es nicht einmal wagen, über deine Frau in diesem Sinne auch nur eine Meinung haben zu wollen ...«

»Würdest du die Umstände zu riskant finden?« Hardys Stimme tönte etwas schmerzlich ironisch.

»Nein, das durchaus nicht ... ich habe nur den Standpunkt, daß man die Frauen seiner Freunde gegen derartige Beschuldigungen in Schutz nimmt. Findest du das nicht richtig?«

»Gewiß, wenn ich nun aber selbst auf jemand eifersüchtig bin ... Du würdest vielleicht lachen, wenn ich dir den Herrn nennen würde ...« Hardy hatte sich mit einem Ausdruck vorgebeugt, daß es Richard nun doch bange wurde. Er lag mit gekreuzten Beinen im Stuhl und lächelte etwas hilflos und schief. »Um wen handelt es sich, wenn ich dich fragen darf?«

»Um dich, guter Freund,« antwortete Hardy leise und etwas monoton.

»Du spaßest ...« gab der andere zurück.

»Macht man solche Späße?« fragte Hardy verwundert.

»Vielleicht doch,« lachte jetzt Richard auf, »es werden vielleicht noch unmöglichere Dinge behauptet.«

»Das kann schon sein,« gab Hardy zu, »aber ...« er stockte. »Du würdest dich vielleicht doch wundern, mit welcher Ruhe und Objektivität ich diese Dinge betrachte ...«

»Wie meinst du das?« fragte Richard beklommen.

»Eine Frage ...« hob Hardy wieder an ... »Würdest du Cecile heiraten, wenn ich sie dir frei gäbe – einfach dir abträte und mich scheiden ließe? ...«

Richard starrte dem andern verblüfft ins Gesicht. Hardy dachte: Jetzt wird er in die Falle gehen ... jetzt wird er ein Wort sagen, das ihn verraten muß. Er zitterte fast vor Beklemmung, vor Aufregung.

Aber Richard hatte sich schon gefaßt. »Ich habe, wie du dir leicht denken kannst, diese Möglichkeit nie erwogen.« Seine Stimme klang in einem leisen Spott. Sein Auge blickte offen und heiter.

»Du bist ein großer Komödiant,« sagte Hardy. Er fühlte, wie ihm der andere, der für eine Sekunde lang schwach geworden, wieder entglitten war.

Richard ging auf sein letztes Wort gar nicht ein, sondern äußerte teilnahmsvoll: »Du bist überarbeitet, du solltest dich ausruhen ...

»Warum?«

»Was du da eben äußertest, ist doch ein direktes Zeichen von Hypochondrie.« Richard sprach jetzt sehr überlegen. Er schien den Vorteil, der augenblicklich für ihn in der Situation lag, nach Möglichkeit ausnützen zu wollen.

Hardy schüttelte nur den Kopf: »Nein, es ist keine Hypochondrie ...«

»Es sieht doch kein Mensch ohne Grund so schwarz, wenn er nicht nervös überreizt ist,« behauptete Richard dagegen.

»Du unterschätzest den Ernst der Situation,« sagte Hardy etwas reserviert, »aber es hat vielleicht keinen Sinn, wenn wir darüber reden. Es hat überhaupt nie einen Sinn, wenn man über solche Dinge spricht ...«

Er war aufgestanden.

»Willst du schon gehen?« fragte Richard.

»Ich muß noch in die Klinik,« antwortete Hardy. Er war jetzt plötzlich wieder ganz ruhig, normal geworden. Herzlich gab er Richard die Hand, »also, du meldest dich dann vielleicht vorher für die Injektionen an. Um zwölf Uhr kannst du mir jeden Tag telephonieren. Gute Nacht!«

Als Hardy unten war, schämte er sich. Ein unerträgliches Gefühl der Unsicherheit quälte ihn. Die beiden spielten einfach mit ihm. Sie waren ihm in ihrer Ruhe durchaus überlegen. Sie machten sich vielleicht über ihn lustig, wie man sich über einen Hahnrei lustig macht. Es war ja natürlich auch unsinnig gewesen, das von der Scheidung zu sagen. Langsam und wie ein Träumender schritt er in die Nacht hinein.

Entsetzlich und schwer lag es auf ihm. Statt in die Klinik entschloß er sich, nach Hause zu gehen. Als er die Korridortüre öffnete, hörte er, wie die Telephonklingel tönte. Cecile trat eben in den Salon zurück. Er hatte spontan die Idee, daß Richard telephoniert hätte.

Cecile saß wieder am selben Platz, als er eintrat. »Du bist noch auf?« fragte er. »Ja ...« antwortete sie etwas gereizt. »Findest du das ungehörig?«

»Im Gegenteil,« er ließ sich in der Ecke in den Stuhl nieder. Er hatte ein unbestimmtes Gefühl, als ob es jetzt zu einer großen Auseinandersetzung kommen müßte. Er wartete, sprach eine Weile lang kein Wort.

»Wer hat eben telephoniert?« fragte er darauf. Sie zuckte nur mit den Achseln.

»Er – natürlich,« dachte er und lachte hämisch. Das schien sie in furchtbare Wut zu versetzen. Sie wurde merkbar unruhig. Ihre Schultern gingen wie bei heftigem Atem auf und nieder. Hardy tat es plötzlich unsäglich wohl, sie zu kränken. »Gestehe es nur ein,« spöttelte er, »er hat dich schon über meinen Besuch informiert ... nicht wahr? Du bist also über alles unterrichtet ...«

Sie stand auf, holte aus einem Etui eine Zigarette und fing an zu rauchen. Hardy empfand, wie sie ihm so ihre Verachtung ausdrücken wollte. Er fühlte, wie der Zorn in ihm kochte, aber nicht ein Zorn, der nach außen hin nach Entladung drängte, eher eine Erregung, die wie ein bohrender Schmerz im Körper wühlte.

»Ich habe ihm gesagt, daß er dich haben kann, wenn er will,« sagte Hardy und machte dazu eine fast galante Handbewegung, »ich trete dich ihm ab ...« fügte er hinzu und nickte mit einem leisen, hämischen Spott.

»Da würdest du allerdings die Situation nur wenig ändern ...« versetzte Cecile und war kreidebleich. »Du gestehst also alles ein?« fragte er aufmerksam und lauernd.

»Ja, diesmal alles,« wiederholte sie. Er sah, wie ihre Hände, ihr ganzer Oberkörper zitterte, wie sie vor Wut fast ohnmächtig wurde.

»Das hab' ich ja nur wissen wollen ...« antwortete er etwas nachdenklich und müde, »glaube ja nicht, daß ich auf Richard den geringsten Zorn habe. Durchaus nicht. Ich werde ihn nicht fordern, werde mich nicht mit ihm schießen, sondern dir nur anheimstellen, vielleicht nächstens auf eine größere Reise zu gehen. Du kannst ja vorausfahren, oder wenn du es für praktischer hältst, kann er in Paris oder Genua oder wo du Lust hast, auf dich warten. Wenn ihr dann zurückkommt, wird es sich von selbst ergeben, daß du dein Domizil in der Kaulbachstraße nimmst. So geht alles ruhig vonstatten, ohne Drama, was gewiß auch in deinem Wunsche liegt ...«

Hardy brach ab. Er hatte zuletzt schier den Atem verloren. »Bist du einverstanden?« fragte er, als sie stumm blieb.

»Ich bedaure nur ...« sagte sie mühsam, »daß du das Komische nicht empfindest, das für dich in dieser Sache liegt ...«

»Nein,« antwortete er höflich, »es kränkt dich, daß ich dich nicht einmal eines Kampfes wert erachte ... aber ich kann mich beim besten Willen nicht dazu entschließen ...«

»Im Grunde genommen finde ich deinen plötzlichen Zorn doch sehr seltsam,« hob Cecile wieder an, und sah auf ihre schlanken, weißen Hände nieder, die nun in ihrem Schoß lagen.

»Wie meinst du das?«

»Ich dachte, daß du über alles schon längst orientiert seiest, daß du aber dein Schicksal akzeptiert hattest ...«

»Was für ein Schicksal?«

»Betrogen zu werden. Es soll Männer geben, denen ein solcher Zustand keine besondern Schmerzen macht ...« erklärte sie und ihre Augen hatten dabei einen wunderlich stechenden Glanz.

»Dafür war ich doch wohl nicht alt genug,« wandte er ein, ohne aber seine Ruhe zu verlieren.

»Ich bin ein Jahr vor unserer Verheiratung Richards Geliebte geworden ...« sagte sie mit aufreizendem und doch etwas hilflosem Lächeln.

»Warum hast du denn nicht ihn geheiratet?« fragte er heiser und ein leises Frösteln rieselte ihm über die Haut.

»Es gibt Männer, deren Geliebte man ist, und andere, die man heiratet. Mir schien, daß du eher zur zweiten Art gehörtest ...«

»Zu denen, die betrogen werden ...«

»Vielleicht ... ärgerst du dich über Richard jetzt immer noch nicht?«

Hardy hielt den Atem an über dem Haßgefühl, das in ihrer Frage lag: »Nein, Richard bleibt mir nach wie vor ein lieber Freund ...« antwortete er gelassen, »während sich dein Bild – ich muß dir gestehen – in den letzten Minuten etwas verändert hat ... Ich hätte deinem Charakter entschieden diese Komplikationen nicht zugetraut.«

»Du wirst noch dazu kommen, mir zu gratulieren?« fragte sie, wie sie mit verzweifelter Anstrengung auf seinen Ton einzugehen suchte.

»Das wäre etwas übertrieben,« wandte er ein, »wenn man auch das Grandiose deiner Verschlagenheit anerkennen muß ...«

»Nicht wahr?« fragte sie, und plötzlich standen ihr die Tränen in den Augen. Sie brach ganz zusammen und schluchzte mit entsetzlichem, erwürgendem Aufstöhnen.

Er trat auf sie zu, stützte sie leise, führte sie zum Diwan, bettete sie in die Kissen und stellte sich dann ans Fenster. Eine Weile lang war er ganz betäubt. Er wußte genau, daß sie jetzt nur aus Wut weinte, nur aus dem Zorn, weil sie ihn nicht in Rage hatte bringen können. Es war ihm ganz natürlich, daß sie ihn haßte, daß sie ihn verabscheute um seines Spottes willen, aber ein Gedanke lag ihm wie Feuer in den Nerven: »Richard ... Richard!«

»Ein Jahr vor meiner Verheiratung ...« dachte er. Sein Gehirn konstatierte es, wie ein lähmendes Fieber kroch es ihm in die Glieder ... »ein Jahr vor meiner Verheiratung ...« klang es ihm wieder ins Ohr. Er erfaßte es immer noch nicht. Wie eine furchtbare, unerhörte Grausamkeit erschien es ihm. Cecile hatte damit fast nichts zu schaffen. Aber er ... er ... Richard hatte ihm seine Geliebte aufgehalst.

Cecile hatte jetzt die Augen geschlossen. Sie schien zu schlafen. Auch er war plötzlich so todmüde, daß ihm die Lider zufielen. Leise ging er hinaus und schloß sorgsam die Türe und legte sich zu Bett.

Nach einer Stunde erwachte er und drehte die Stehlampe auf. Er fühlte sofort, daß er zu dem Ereignis noch keine größere Distanz gewonnen hatte. Dann kam es ihm plötzlich wie etwas Selbstverständliches, Natürliches vor, daß ihn die beiden während fünf Jahren betrogen hatten. Seine Haltung war ja auch wirklich zu lächerlich gewesen.

Er sah die beiden wieder an jenem Augustabend im Wald sitzen. Jedes an einen Baum gelehnt. Dann alles, was nachher kam.

Darin hatte sie gewiß recht. Er war mit seinem Vertrauen zum Hahnrei geboren gewesen. Daß die beiden ihn aber so düpiert hatten, erschien ihm jetzt doch wie eine furchtbare, unerhörte Grausamkeit. Er konnte nicht anders, als auf Rache zu sinnen. Dann kam plötzlich wieder Hoffnung über ihn. Ceciles ganze Haltung kam ihm ganz irrsinnig vor und alles, was sie gesprochen, nur eine Ausgeburt ihrer Phantasie und ihres ohnmächtigen Zornes.

Sie hatte ihn kränken, im wundesten Teil seines Wesens treffen wollen. Lange sann er. Es war seltsam still im Zimmer. Aus der Ferne hörte er zwei Schläge einer Kirchenuhr. Aber was er auch zur Erklärung ihres Zustandes aussinnen mochte, zuletzt wußte er, daß sie die Wahrheit gesprochen hatte.

Eine namenlose Qual begann in ihm zu wühlen, es kam ihm vor, als ob sie schon getrennt seien, aber er konnte sich trotz allem diese Trennung nicht vorstellen. Ja, er hatte sie, wie er im Recht war, vor die Türe gestellt. Wenn sie nun aber ging? Was dann?

War er stark genug, sie zu entbehren ...? Wie eine atemlose Angst rann es ihm über den Körper ... Wenn er, trotzdem sie ihn betrogen, verspottet, aufs Blut gequält, wenn er doch nicht die Kraft hätte, sie zu vermissen. Was mußte da für ein Höllenleben beginnen? Er war ihr völlig ausgeliefert. Sie würde natürlich ihre Situation ausnützen. Sie würde ihn demütigen, daß er zum Himmel schreien mußte ...

Aber wenn das alles gar nicht käme und sie wirklich fortwollte ...? Ob sie fortging oder dablieb, das Leben wurde ein Elend ... etwas ganz Undenkbares. Und wenn er jetzt ganz aufrichtig sein wollte, ganz aufrichtig ... dann fraß trotz allem noch eine Leidenschaft zu ihr an seinem Fleische wie eine lähmende Krankheit.

Das Telephon klingelte. Er nahm das Hörrohr vom Nachttisch. Man rief ihn wieder in die Klinik.

Fast war er dem Schicksal dankbar für diese Wendung.

Er hatte am ganzen kommenden Morgen zu tun. Als er mittags nach Hause kam, erwartete ihn Cecile zum Essen wie früher. Sie sprachen zusammen, als ob kaum etwas vorgefallen wäre. Richard telephonierte gleich darauf, ob er in die Klinik kommen sollte. Hardy beschied ihn in aller Freundschaft auf den folgenden Tag. Er hatte heute zu operieren.

Cecile schien über seine Haltung doch verblüfft zu sein. Er empfand deutlich, wie ihr selbst die Szene vom vorigen Abend als unwahrscheinlich vorkam. Aber die Spannung zwischen ihnen lag dennoch in der Luft. Er überlegte sich fortwährend, was sie nun tun würde. Cecile aber verhielt sich ruhig. Sie saß ihm gegenüber, war etwas blaß, ihre sensiblen Nasenflügel vibrierten hie und da leise wie über einer gewissen nicht zu bändigenden Nervosität.

Sie redeten fortwährend von unbedeutenden Dingen, als ob sie Angst hätten, zu einem Entscheid zu kommen.

Hardy verbrachte den Nachmittag im Spital, und kam erst nach Hause, als Cecile sich bereits in den Salon zurückgezogen hatte. Während des Essens hörte er sie eine Etüde von Chopin spielen. Er wähnte sie in der besten Stimmung ...

Wie er aber hinüberkam, sagte sie ihm leichthin, ohne besondere Erregung: »Du hast mir gestern nahegelegt, dein Haus zu verlassen, ich nehme deinen Vorschlag an ...«

Er stand wie erstarrt still und rührte sich nicht. Nach einer Weile sagte er, und jedes Wort war für ihn eine Marter der Demütigung: »Du willst es also wirklich tun?«

»Aber gewiß,« sagte sie etwas erstaunt, daß er an ihrem Worte zweifeln könnte.

Da drehte er sich um und ging hinaus. Er schritt in sein Arbeitszimmer hinüber und ging ganz gedankenlos immer zwischen der Türe und dem Schreibtisch hin und her. Er machte diese Distanz wohl hundertmal, ohne daß er zu irgendeinem Gedanken kam.

Die beiden wollten jetzt zusammenkommen, das war ihm klar. Der ganze Vorgang, der ihm gestern noch als ein unerhörter Betrug vorgekommen war, erschien ihm nun in seinem Verlauf viel natürlicher. Richard hatte Cecile vor ihm gekannt, sie war seine Geliebte geworden. Vielleicht hatten sie aber nicht die mindeste Lust gehabt, sich zu heiraten. Das war ja möglich. Vielleicht hatten sich gerade in jener Zeit, da er aufgetaucht war und mit großem Ungestüm um sie geworben hatte, die Beziehungen zwischen den beiden etwas gelockert gehabt. So etwas kam ja vor. Vielleicht waren sie nachher auch ganz völlig getrennt gewesen, bis sie später die Liaison wieder aufnahmen. Richard mußte bei seiner Verheiratung durchaus nicht den Willen gehabt haben, ihm seine Geliebte zuzuschieben.

Hardy stand plötzlich still. Er fragte sich allen Ernstes, ob er Cecile, selbst wenn er gewußt, daß Richard vorher ihr Geliebter gewesen war, nicht doch geheiratet hätte. Was ging ihn schließlich ihr Vorleben an. Sie war ihm jedenfalls keine Rechenschaft schuldig ...

Aber trotzdem dies alles logisch ganz richtig und klar war, tat es doch entsetzlich weh, grub es sich ihm wie ein unerträglicher, stechender Schmerz in die Brust, und plötzlich lohte wieder eine ganz grenzenlose, wahnwitzige Wut in ihm auf. Aber er konnte nicht schreien vor Zorn, wie er es gewünscht und wie es ihm vielleicht wohlgetan hätte. Er ging nur wie von einem gefährlichen und drohenden Fieber besessen immer hin und her.

Er kam vielleicht doch noch dazu, alles zu verhindern. Er lächelte etwas müde und schlief und fast irr, als er spät zu Bett ging.

Richard kam am folgenden Nachmittag in die Klinik, das hielt er fest. Da mußte sich irgend etwas, das er noch gar nicht genau kannte, entscheiden. Es war ihm wie eine Beruhigung, und er schlief ein.

Den kommenden Morgen verbrachte er zu Hause. Er wurde für ihn zu einer Marter, weil Cecile mit aller Ruhe die Anstalten zu ihrer Reise traf. Hardy hörte sie Befehle erteilen, Koffer wurden nach ihrem Schlafzimmer geschleppt. Hardy hielt sich in dumpfem, verzweifeltem Nachsinnen in seinem Arbeitszimmer auf. Er kam allmählich in einen ganz absonderlichen Zustand. Je mehr die Minuten vorrückten, um so weniger sah er die Möglichkeit ein, sich von ihr zu trennen. Es war ihm jetzt plötzlich, als ob alles darauf ankäme, dies zu verhindern.

Richard hatte um halb vier in die Klinik zu kommen. Er hatte ihm eine Injektion zu machen. Richard hatte nachher ein paar Stunden ruhig zu liegen. Wieder tauchte der Gedanke auf, der am Abend, während er vor Richard in seiner Wohnung stand, durch sein Gehirn gegangen war. Wieder konstatierte er trotz der Fieberhaftigkeit seines Zustandes, daß jener sich im Augenblick dieser Injektion ganz in seiner Gewalt befand.

War dieser Augenblick nicht auszunützen? Vielleicht auf eine ganz unheimliche und gräßliche, aber durchaus nötige Weise auszunützen?

Es war kaum zwölf, als er aus einem Schranke, in dem er verschiedene pharmakologische Produkte aufbewahrt hatte, ein kleines Tongefäß nahm, das eine trockene, schwarzbraune spröde Masse enthielt. Er nahm davon eine Messerspitze voll und brachte sie in ein Probierglas, gefüllt mit gekochtem und destilliertem Wasser.

Die schwarzbraune Masse löste sich auf. Hardy füllte die Flüssigkeit in ein Flakon ab. Es war jetzt eine merkwürdige Sicherheit über ihn gekommen. Er sagte, daß er nicht zu Hause frühstücken werde und ging auf die Straße. Es war ein warmer, etwas trüber Maitag. Hardy erinnerte sich plötzlich, daß in einer Nebenstraße am Bahnhof ein Hundezüchter eine Art von Auslage hatte, wo kleine Schoßhunde und Dackel, jedenfalls Hunde von einigem Rassewert, zum Kauf ausgeboten wurden.

Hardy nahm einen Wagen, fuhr hin und kaufte sich einen kleinen kurzhaarigen Dackel, den er in seine Wohnung schicken ließ. Dann ging er in ein sehr gutes aber wenig besuchtes Restaurant zum Frühstück. Er konnte sich jetzt wirklich in aller Muße mit seinem Plan beschäftigen.

Langsam ging er nachher nach Hause.

Als er in den Korridor trat, hörte er den Hund in der Küche bellen. Die Köchin hielt ihn auf dem Schoß und ließ ihn aus einer Untertasse Milch lappen. Das Tier schien sich dabei sehr gut zu befinden.

Wie Cecile in diesem Augenblick den Korridor durchquerte, dachte er plötzlich, daß sie die Anwesenheit des kleinen Tieres vielleicht als eine Provokation empfinden könnte. Denn Cecile hatte Hunde nie geliebt. Er wollte sich bei ihr entschuldigen. Ihr irgendeine Erklärung geben. Aber schließlich gab er es doch auf.

Er trug das kleine Biest in sein Arbeitszimmer und setzte es auf den Boden. Er sah auf die Uhr. Es ging auf halb drei. Er zündete sich eine Zigarre an, setzte sich in einen Stuhl und beobachtete das kleine Tier, während es im Zimmer herumlief, an den Möbeln schnupperte und sich dann an die Türe setzte. In der Küche hatte es ihm offenbar besser gefallen. Hardy schaute zu dem Kleinen hinüber, der den Kopf drehte, ihn mit glänzenden Augen ansah, und ihn ermuntern wollte, die Türe zu öffnen.

Hardy hatte jetzt doch etwas Mitleid mit dem Hunde. Aber es war keine Zeit zu verlieren. Er nahm den Kleinen auf und setzte ihn in die Mitte des Zimmers auf den Teppich. Dann holte er eine Morphiumspritze, sog sie voll mit der Flüssigkeit, die er in das Flakon abgefüllt hatte und spritzte sie dem Hunde unter die Haut.

Der Dackel war ein paar Augenblicke lang ganz betäubt, zitterte nervös, legte sich dann auf den Bauch und streckte die Beine von sich. So lag er eine Weile keuchend, versuchte wieder aufzustehen, sich zu drehen. Es gelang nicht mehr.

Hardy kniete vor ihm nieder und beobachtete die Atmung. Sie wurde schon unregelmäßig, das Herz klopfte hastig, aber nicht intensiv. Der Blutdruck war schon gesunken. Wie er das Vorderbein berührte, war es schlapp und schon völlig gelähmt. Jetzt begannen die Bewegungen des Zwerchfells auszusetzen.

Nur die Augen des Hundes blieben klar, starrten in fieberhaftem grellem Glanze. Eine furchtbare, hilflose Angst leuchtete aus ihnen.

Wie eine seltsame Rührung kam es plötzlich über Hardy. Er streichelt dem Tier den Rücken, so zärtlich und weich, wie er kaum in seinem Leben je ein Wesen berührt hatte. Unter seinen Händen fühlte er, wie die Rückenmuskeln schon alle schlaff waren. Auf einmal konnte er es nicht mehr mit ansehen. Ein unheimlicher Jammer packte ihn. Er trat ans Fenster.

Als er sich nach einer Weile umdrehte, war der Hund tot.

Hardy steckte das Flakon und die Spritze ein, ließ das tote Tier auf dem Teppich liegen und schloß dann die Tür ab. Im Korridor blieb er einen Moment stehen. »Wo ist die gnädige Frau?« fragte er. »Sie ruht sich eben aus,« antwortete die Zofe. Er war enttäuscht, ohne zu wissen warum. Es schien ihm, als ob er ihr noch irgend etwas hätte sagen müssen, oder, als ob ein Wort von ihr ihm jetzt sehr nötig gewesen wäre.

Langsam stieg er die Treppe hinunter. Seine Klinik lag im Westen der Stadt, in der Nähe eines kleinen Parkes. Auf der Hinfahrt empfand er immer mehr, wie unsicher, unentschlossen er war, und doch wußte er deutlich, daß etwas Unheimliches bevorstand. Hardy war in einer merkwürdigen Art von Willensverfassung. Bei sehr wichtigen Entscheidungen ließ er sich zu aller Letzt nicht mehr direkt von Überlegungen leiten, sondern von der Tatsache, ob er den Vorgang klar und deutlich sah, bis ins minutiöseste Detail. Von diesem Moment an wurde er auch für ihn möglich. So sah er jetzt Richard ganz deutlich tot im Bett liegen. Er hatte den Kopf etwas zur Seite geneigt und den Mund halb offen. Auf den Lippen trug er einen bläulichen Schimmer. Das sah er jetzt wie etwas Beklemmendes und Quälendes. Aber er sah es.

Wie er zu dieser Vision kam, darüber konnte er sich weniger Rechenschaft geben. Ob er um jeden Preis verhüten mußte, daß die beiden zusammen kamen? Ob er ihren Körper ihm nicht lassen konnte ... Hardy atmete mühsam, jetzt wurde es ihm deutlicher. Er mußte verhindern, daß es noch einmal zwischen ihnen geschah ... denn, wenn er das nicht verhindern könnte – er stierte ganz entgeistert zum Coupéfenster hinaus – dann wäre ihm das Leben von jenem Augenblick an derart zum Erbrechen kläglich, daß er sich zur selben Stunde hängen müßte.

Er konnte sich Richard nicht mehr in der Umarmung mit Cecile vorstellen – aber er konnte sich vorstellen, daß er tot im Bett lag.

Soweit war er, als das Automobil vor der Klinik anhielt. Im Bureau traf er den ersten Assistenten. Richard war noch nicht da. Hardy ließ sich vom Assistenten die Lösungen für die Injektion bereiten.

Er legte Wert darauf, daß der Assistent die Präparate selbst in das Zimmer Nummer einundzwanzig im Gartenflügel brachte. Es war eine Art von Privatbureau Hardys, das aber sonst durchaus als Krankenzimmer eingerichtet war.

Hardy schritt neben dem Assistenten her, der ihm durch die Gänge vorausging. Der andere breitete die Flakons und Schalen und Instrumente auf dem kleinen Operationstisch neben dem Bett aus. Dann war er allein. Er wartete nicht ohne Herzklopfen. Es war ja auch möglich, daß Richard gar nicht kam oder in diesem Augenblick ein Rendezvous mit Cecile hatte.

Er trat ans Fenster und starrte in den Garten. Da lag eine Dame auf einer Chaiselongue in der Sonne. Ihre Kammerzofe saß neben ihr und las ihr aus einer Zeitung vor. Er hatte diese Frau in der letzten Woche operiert. Es war ein ganz interessanter Fall von einseitiger Ovariotomie gewesen.

Jetzt kamen Tritte auf dem Korridor. Eine Krankenschwester öffnete die Tür. Richard trat ein. Hardy drehte sich nach ihm um. Er kam ihm mager und blaß vor: »Wie geht's?« fragte er. »Nicht glänzend,« antwortete Richard und lachte. »Ich habe verfluchte Rückenschmerzen ...«

»Na ja,« sagte Hardy und zuckte mit den Achseln. Er dachte: »Er hätte ja sowieso nur noch zehn Jahre hin bis zum Paralyse.« »Ist alles bereit?« fragte Richard. Er stellte seine kleine Handtasche auf einen Stuhl und nahm ein braunseidenes Kimono heraus. Dann begann er sich auszuziehen.

Hardy hatte sich in einen Stuhl gesetzt und sah ihm zu. Zugleich schaute er auf das Tablett, wo jetzt neben dem Morphiumflakon das Fläschchen mit dem gelösten Gifte stand.

Während er sich entkleidete, sagte Richard: »Glaubst du, daß ich mich bis übermorgen soweit erholt habe, daß ich eine kleine Reise machen kann?« »Er fährt ihr also nach,« überlegte Hardy. Er sagte: »Ich glaube schon.«

In seinem Sessel zurückgelehnt, starrte er vor sich hin. Es war ihm, als ob ein hypnotisches Licht über seinem Gehirn strahlte, das ihm immer mehr die eine und einzige Idee gab. Er dachte wieder: »Es kann ein Freund seinem Freunde, während sie sich umarmen und während beide lächeln, einen nadelfeinen Dolch ins Herz stoßen, und er kann gute Gründe dafür haben ...« Das war schließlich alles unendlich traurig, aber es war kaum zu ändern.

Und dennoch lag doch alles noch ganz im Ungewissen. Wenn Richard nach der ersten Injektion, die direkt in die Vene zu machen war, nicht wieder diese würgenden Schmerzen verspürte, dann war kein Grund vorhanden, diesen Schmerz durch Morphium abzudämpfen. Dann war überhaupt keine Veranlassung zu einem weiteren Eingriff da. Hardy kam es vor, als ob jener unter diesen Umständen durchaus gerettet wäre. »Aber diese ganze Folgerung ist doch nur ein Sophismus« – dachte er sich ganz klar; denn Richard empfand nun einmal diese Schmerzen. Das war vielleicht individuell, aber es war so.

Richard hatte sich ins Bett gelegt, und Hardy stand am Waschtisch, um sich die Hände zu desinfizieren. Darauf legte Richard das linke Bein bloß. Hardy machte wie gewohnt in eine Wadenvene einen leichten Schnitt und entzog dem Körper etwas Blut. Dafür injizierte er das gelöste Präparat.

Es war alles in zwei Minuten geschehen.

Richard schaute wie gewohnt dieser kleinen Operation mit Aufmerksamkeit zu. Er war in medizinischen Dingen durchaus nicht unbewandert. Jetzt legte er sich zurück. Hardy beobachtete ihn aufmerksam. Richard wurde unruhig. Er bekam ein krampfhaftes Würgen im Bein. Ein stechender Schmerz trat hinzu. Richard war von Natur außergewöhnlich sensibel. Er war überhaupt wenig disponiert, Schmerzen zu ertragen. Jetzt kam, was Hardy erwartet hatte. Er bat um eine Morphiuminjektion.

»Ich halte das nicht für nötig,« erklärte Hardy, der wieder am Fenster stand. Er sprach ruhig, trotz seiner Erregung. »Aber wenn ich dich darum bitte,« sagte der andere.

»Du weißt nicht, wie gefährlich Morphium in dieser Kombination werden kann,« entgegnete Hardy, ohne sich umzudrehen. Er wußte genau, daß er etwas ganz Haltloses gesprochen hatte. »Ich würde das nur mit deiner vollständigen Verantwortung tun,« fuhr er fort. »Aber du hast doch dieselbe Injektion auch schon gemacht,« äußerte der Freund.

Da schaute ihn Hardy an: »Ich glaube einfach, daß es für dich jetzt sehr gefährlich wäre ...« Er dachte, der andere müßte jetzt etwas merken. Es reizte ihn, Richard auf das Drohende vorzubereiten. Und zugleich war es ihm eine Wohltat, einen leisen Widerstand zu leisten. Er schien so die Verantwortung etwas von sich abzuwälzen. Zugleich dachte er, wie töricht das war. Konnte er denn die Verantwortung dessen, was er jetzt vorhatte, auf den anderen schieben? Konnte man die Verantwortung für einen Mord dem Opfer zuwenden?

Aber Richard beharrte darauf, wälzte sich im Bett, schien zu leiden. Hardy wußte zwar ganz genau, daß dieser Schmerz eher nervös als wirklich war.

»Du willst also wirklich?« fragte er. Es war ihm, als ob er gefragt hätte: »Du willst also wirklich sterben?«

»Ja,« sagte der andere ungeduldig. Da sog Hardy aus dem Flakon die silberne Spritze voll. Er war selbst erstaunt, wie leicht ihm jetzt zumute war. Während er die Spritze gegen das Licht hielt, war es ihm auch wirklich, als ob sie eher Morphium enthielte. Er dachte: »Es gibt Handlungen, die einen das Leben kosten können, und man tut sie sehr leicht ... Warum?« Er hatte es schließlich auch nicht nötig, sich selbst darüber eine Aufklärung zu geben.

Dann stand er überhaupt zum Tod in einer vertrauteren Beziehung als viele andere Menschen. Schon mancher war ihm während einer Operation unter dem Messer gestorben, vielleicht auch unter Umständen, die ganz in einer Zufälligkeit seiner Hand gelegen hatten. Wenn er jetzt durch diese Handlung seinem persönlichen Schicksal eine besondere Wendung gab, tat er es jedenfalls, weil er es für notwendig hielt.

Er näherte sich Richard. Und jetzt flimmerte es ihm ganz seltsam und traumhaft vor den Augen. Er sah plötzlich Cecile in ihrem Salon sitzen und Richard stand hinter ihr. Sie drehte den Kopf nach ihm um, und er küßte sie auf den Mund, den sie ihm entgegenhielt.

In diesem Augenblick stach er ihm die Nadel ganz leicht ins Fleisch. Es schien ihm fast wissenschaftlich interessant. Er hatte noch nie Gelegenheit gehabt, einem Menschen ein halbes Gramm des Rindensaftes von Strychnos toxifera unter die Haut zu spritzen. Darin war es gewiß ein seltener Fall.

Er atmete auf, schaute Richard in die Augen. Es war ihm, als ob er es, wenn er ihm vorher in die Augen gesehen, kaum getan hätte. So lag alles fast an einem Zufall. Seltsam, daß er jetzt gegen Richard keinen Haß empfand. Es war wirklich kein Rachegefühl gewesen, sondern einfach das Bewußtsein, daß alles so sein und so kommen mußte.

Wenn er jetzt genau nachdachte, war er wirklich fast geneigt, die Verantwortung durchaus abzulehnen. Einem ganz dumpfen Drange zuzuschieben, der in seinen Nerven lag, und der ihm dies alles einfach als nötig dargetan hatte.

Richard ruhte jetzt still und hielt die Lider geschlossen. Hardy dachte ganz wissenschaftlich: »Jetzt muß die Lähmung im linken Bein beginnen.« Er stellte sich wieder ans Fenster. Die Dame unter den Bäumen ließ sich eben vom Wärter in ihrem Liegestuhl in die Halle fahren.

»Du ...« sagte Richard plötzlich. »Was ist?« fragte Hardy. Aber der andere gab keine Antwort. Hardy hatte den Eindruck, als ob jener ganz klar die Sensationen in seinem Körper kontrollierte. Er betrachtete ihn aufmerksam. Richard lag mit nackten Armen da und hatte sich ganz in das braunseidene Kimono gerollt.

»Du ...« sagte er jetzt wieder, »mir ist, als ob mein linkes Bein einschliefe ...«

»Das ist nur eine Betäubung der Nerven,« erklärte Hardy, »es wird rasch vorübergehen.«

»Hoffentlich,« fügte Richard hinzu. Aber seine Stimme klang etwas ängstlich. Er tastete sich mit der linken Hand das Bein ab. Es schien ihn sehr zu beunruhigen. »Von welcher Konzentration ist dein Morphium?« fragte er ängstlich.

»Hab' keine Sorge, normale Lösung,« antwortete Hardy. Es zog ihm jetzt doch eine schwere, drückende Bangigkeit durch die Brust. Es schien ihm, als ob er es ganz ahnungslos vollbracht hätte. Wenn es nun möglich wäre, würde er es gern ungeschehen machen. Das war gewiß. Aber Rettung war jetzt nicht mehr möglich. Kein Gegengift dieser Erde war fähig, die Lähmung aufzuhalten.

»Mir ist, als spürte ich ... du ...« Richard hatte die Augen angstvoll aufgerissen. »Du ...« stammelte er, »ich kann mein Bein nicht mehr bewegen.«

Hardy kam näher: »Das mußte eine apoplektische Erscheinung sein, was ja ganz ausgeschlossen ist ...« Seine Worte tönten bestimmt, streng, sachlich. Es war, als ob Richard daraus Mut schöpfte. Hardy massierte sorgsam das schon gelähmte Bein. In einer Minute vielleicht griff es auf das andere über. Von da stieg die Wirkung im Körper auf. Hardy schüttelte den Kopf: »Seltsam ...« sagte er. Es wurde ihm etwas schwindlig. Er bemühte sich, den Fall als ein ganz medizinisches Phänomen anzusehen, er wollte aus seinem Gehirn ausschalten, daß da etwas Entsetzliches geschah, an dem er die Schuld trug.

»Hab' Geduld,« stammelte er leise, »es ist nur eine augenblickliche funktionelle Störung, es kann ja nicht sein ...« Richard empfand, wie der andere litt. Das mehrte seine Angst, aber das Mitgefühl tat ihm wohl: »Jetzt ist es auch im anderen Bein,« konstatierte er entsetzt. »Kannst du nichts dagegen tun ... Um Himmels willen, gibt es denn nichts dagegen?«

Hardy war es jetzt, als ob er hinausgehen müßte, als ob er das Furchtbare, das sich da wie eine entsetzliche, erwürgende Schlange aufbäumte, als ob er es nicht mehr mit ansehen könnte.

Die Lähmung ging nun schon in den Unterleib über. Plötzlich sank Richard zurück: »Mir ist, als ob ich sterben müßte ...« kam es von seinen Lippen. Er hatte seinen Blick, der groß und erstarrt war, nach Hardy gerichtet. Dieser hielt wie in einem Zustand der Betäubung den Kopf gesenkt: »Nein, nein ...« stöhnte er. Aber das beruhigte Richard nicht. Hardy sah aus wie einer, der keinen Ausweg mehr weiß.

»Willst du nicht den ersten Assistenten rufen,« flehte Richard. »Aber Lieber,« stöhnte Hardy, »wie soll er dir besser helfen können als ich ... glaubst du nicht, daß ich dir mit allen menschenmöglichen Mitteln helfen will. Zweifelst du daran?« schrie er auf. »Nein, ich zweifle nicht ...« jammerte der andere, »aber ...«

Hardy war fieberhaft um ihn bemüht, aber er konnte immer nur tasten, fühlen, wie die Muskeln unter seinen Händen weich und schlaff wurden: »Es muß vom Rückenmark kommen, die Nervenbahnen müssen einer vorübergehenden Lähmung verfallen sein ...«

»Aber Lieber,« protestierte Richard, »wenn es von den Nerven aus käme, fühlte ich doch meine Glieder nicht mehr. Aber ich empfinde deine Hände ganz normal ... es kann nur eine Muskellähmung sein, das ist ja wahnsinnig ...«

Hardy schloß die Augen und setzte sich erschöpft ans Bett. »Er ist von einer grausamen Intelligenz« ging es durch sein Gehirn. Mit beiden Händen hielt er die Stuhllehne. Seine Hände zitterten.

»Ich habe auch furchtbares Herzklopfen ...« sagte Richard. »Mein Kopf ist ganz leer und hohl ...«

»Der Blutdruck ist etwas gesunken,« sagte Hardy mechanisch. Es konnte jetzt, sobald die Wirkung auf den ganzen Körper bis in die Herzgegend aufgestiegen war, nur noch Minuten dauern. Vielleicht schlief er auch schon vorher ein, wenn das Gift auf die Großhirnrinde wirkte.

»Und dies alles von dieser Injektion?« stammelte Richard. »Gott im Himmel, ich sterbe ... ich sehe das kommen so klar ... aber warum sterbe ich ...«

Hardy saß gebeugt neben ihm am Bett. Er hatte nicht den Mut, eine Antwort zu geben. Es war ihm, als hätte er eine grauenhafte Kraft nötig ... aber er hatte sie nicht ... Jetzt begann der andere mühsam zu keuchen. Die Paralyse trat allmählich auf das Zwerchfell über.

»Ich leide entsetzlich,« jammerte er, »gib mir Gift, schieß mir eine Kugel ins Gehirn, es ist unerträglich ... unerträglich ...« Er lag jetzt ganz zusammengesunken, da schrie er plötzlich: »Was hast du mir injiziert ...?«

Hardy zuckte wie unter einem Peitschenhieb. Richard mußte den Ruck empfunden haben. Er starrte ihn entgeistert an. Hardy fühlte ganz genau, wie seine fiebrigen, glänzenden Pupillen starr auf ihn gerichtet waren. Er hätte jetzt den Rest seines eigenen Lebens dafür gegeben, wenn er seine Lider heben und diesen furchtbaren Blick hätte aushalten können. Aber er vermochte es nicht! Er vermochte es nicht!

Da sagte der andere ganz deutlich und klar: »Wenn du mich getötet hättest?« er brach ab. Hardy krampfte sich die Brust zusammen. Er nahm, ohne ihn anzusehen, die Hand des andern. Sie war feucht und heiß. Er drückte sie, als könnte er damit ein großes, ein unendliches Gefühl geben. Eine Weile hörte er nur das Keuchen und Röcheln des Sterbenden.

Da hob Richard wieder an: »Ja, ich habe dich betrogen, aber es dauerte doch schon Jahre ... es hatte doch für dich keine Bedeutung mehr.«

Da beugte sich Hardy über den andern und küßte ihn auf sein Gesicht. Er fühlte einen Herzkrampf, als ob er umsinken müßte. Wenn er dieses Wort vorher gesprochen hätte ... er starb unschuldig ... trotz allem unschuldig.

Richard hatte nun die Augen geschlossen ... da war es plötzlich, als ob der Atem aufhörte ... das Zwerchfell stand still. Hardy griff nach dem Puls ... er lebte noch ... aber die Halsmuskeln traten jetzt, als ob sie Atmung vollführen müßten, in dicken Wülsten heraus. Dann hörte auch das auf.

Hardy legte ihm die Hand aufs Herz. Das Herz klopfte weiter. Hardy rann der Angstschweiß über die Stirn. Er zog die Hand zurück. Er stand auf, stand wohl eine Minute lang wie erstarrt. Er griff wieder nach dem Herzen. Es klopfte immer noch ... da ging er langsam, schwankend in die andere Ecke des Zimmers. Griff mit beiden Händen nach der Wand, lehnte sich daran wie ein Ohnmächtiger. Es war, als ob das ganze Zimmer vom Schlage dieses Herzens dröhnte. So stand er lange. Er getraute sich nicht zurück. Wie eine entsetzliche Kälte lag ihm die Angst im Körper.

Dann brach er in einen Stuhl zusammen. Er mochte wohl eine Stunde lang so gelegen haben. Da klopfte es an die Tür. Der erste Assistent trat ein. Hardy hatte nur die Kraft, auf das Bett zu deuten.

Der Assistent riß die Augen auf: »Tot?« Hardy nickte. Er fühlte, wie ihm jetzt unaufhaltsam die Tränen über das Gesicht rannen.

Der Assistent fragte: »Plötzliche Apoplexie?« Hardy nickte. »Es war ja auch ein alter, luetischer Fall,« sagte der Assistent.

Der Assistent war hinausgegangen. Hardy öffnete das Fenster. Er war jetzt auch fest überzeugt, daß es ein apoplektischer Anfall gewesen sei. Er fühlte, wie ihm wieder schwindlig wurde. Er nahm das Flakon mit dem Gift und die Tasche.

Der Assistent kam wieder. Er zeigte keine besondere Ergriffenheit. Er war gewohnt, Menschen sterben zu sehen. Man kam zumeist in Hardys Klinik bei unmöglichen, verzweifelten Fällen. »Soll ich die Scheine ausfüllen?« fragte er.

»Ja,« antwortete Hardy, »es muß sofort Anzeige gemacht werden. Unterzeichnen Sie alles.«

Der Assistent ging wieder weg.

Hardy stand vor dem Bett. Richard sah im Tode seltsam jung aus. Sein Gesicht erschien viel schmaler, nur die paar Falten um die Augen zeigten das Alter. Unter seinem kleinen, kurzgeschnittenen Schnurrbart wölbte sich sein Mund, diese schmalen Lippen, die jetzt schmerzlich verzerrt waren, und die sonst so scharmante Dinge hatten sagen können. Hardy hatte seine Hände übereinandergelegt und starrte ihn an. Er empfand keine Furcht, aber im Herzen die dumpfe trübe Qual trostloser Verlassenheit.

Auf der Heimfahrt erst trat ihm das Grauenhafte und Groteske der Handlung wieder ins Bewußtsein. Er mußte es jetzt Cecile sagen. Er wußte im voraus, daß der Augenblick furchtbar sein würde.

Die Uhr ging auf sieben. Cecile war ausgefahren. Er setzte sich in den Salon auf den Diwan. Er war todmüde. Es tat ihm jetzt unendlich wohl, sich zurückzulehnen und mit geschlossenen Augen zu dämmern. Seltsamerweise sah er gar keine Gesichter, keine einzige Vision des Nachmittags. Seine Nerven waren zu müde.

Er mußte dann eingeschlafen sein. Plötzlich fuhr er auf. Cecile stand vor ihm mitten im Zimmer. Sie trug ein blaues Sommerkleid und einen kleinen Hut.

Hardy starrte sie entgeistert an. Sie mußte irgend etwas Fremdes in seinem Gesicht gelesen haben, denn sie fragte abrupt: »Was ist?«

Da sagte er und zog dabei den Kopf etwas in die Schultern: »Richard ist tot ...«

»Wie?« sagte sie scharf und kurz.

»Er ist vor einer Stunde in der Klinik gestorben,« sagte Hardy. Sie schaute ihn nur eine Sekunde lang mit einem forschenden Blick an, zuckte dann mit den Achseln, als ob sie von allem gar nichts verstünde, als ob sie die Worte wohl gehört, aber gar nicht begriffen hätte. Dann wollte sie etwas reden, öffnete den Mund, schloß ihn wieder, ging rückwärts nach einem Stuhl, setzte sich hinein. Plötzlich aber fiel ihr der Kopf hintenüber. Ihr ganzer Körper knickte ein.

Hardy stand auf, rief der Zofe. Sie brachten die Ohnmächtige zu Bett. Hardy blieb bei ihr sitzen und machte ihr Kompressen. Nach einer Viertelstunde wachte sie wieder auf. Sie sprach aber kein Wort, sah an Hardy vorbei und war dabei ganz leichenblaß.

Er empfand, daß er sie störte und ging in sein Arbeitszimmer hinüber. Wie er auf die Klinke drückte, merkte er, daß die Türe verschlossen war. Er erschrak. Dann erinnerte er sich sofort, daß er selbst geschlossen hatte. Im Zimmer war noch das helle Licht des Vorsommerabends. Mitten auf dem Teppich lag der tote Hund. Hardy war erst ratlos, was er mit dem Tiere anfangen sollte. Dann beschloß er, es liegen zu lassen und es in der Nacht einfach hinunter in den Garten zu werfen.

Er legte sich auf den Diwan. Wie eine Erstarrung lag es ihm in den Gliedern. Er ahnte jetzt auch, daß er Cecile nicht mehr liebte. Daß alles umsonst gewesen war. Vielleicht hatte auch das Gefühl seiner Freundschaft zu Richard im tiefsten Grunde seiner Seele viel stärker gelebt als die Leidenschaft für seine Frau. Diese furchtbaren Stunden, die er durchlitten, waren ihm wie zu einer Prüfung geworden.

Er dachte sich jetzt, daß Cecile drüben im Zimmer im Bett lag und litt. Aber er hatte keine Lust und keinen Drang, zu ihr hinüberzugehen. Er hatte kein Bedürfnis, sie zu trösten. Sie war etwas ganz Nebensächliches geworden neben dem Gefühl für Richard.

Hardy wurde jetzt immer mehr von der reinen Empfindung des Schmerzes ergriffen. Die Idee des Verbrechens und seine Verfolgung beschäftigten ihn nicht.

Daß ihm Richard gestorben war, das war das Furchtbare. Daß er selbst ihn getötet hatte, erschien ihm fast wie ein Zufall des Schicksals.

Die ganze letzte Zeit stand vor ihm in einer grotesken spukhaften Verzerrung. Er hatte das Gefühl der Eifersucht für Leidenschaft gehalten. Darin lag die ganz gräßliche Täuschung. Jetzt, da der Mensch, um dessentwillen er gelitten hatte, nicht mehr da war, war auch das andere erloschen. Er glaubte, für Cecile nichts, gar nichts mehr zu empfinden.

Wieviele Menschen machten solche Stadien durch, überlegte er sich. Aber die hatten dann nicht diese verteufelte Leichtigkeit, zu handeln. Wenn er nicht diese Möglichkeit gehabt hätte, diese fast spielerische, halb unbewußte Leichtigkeit, eine silberne Spritze vor den Augen des andern statt in ein Flakon in ein anderes zu tauchen, hätte er es dann vollbracht? Trug Richard nicht selbst daran schuld, weil er gerade seine Kur in dieser Krisis machen wollte? Aber das waren ja schließlich alles keine Entschuldigungen. Nur das eine war erschreckend: wie aus ganz kleinen Zufällen furchtbare Dinge entstehen konnten.

Und wie entsetzlich es war, daß er es im letzten Augenblick noch geahnt hatte. Wie eine furchtbare Helligkeit war es plötzlich in sein Gehirn gekommen. Und was hatte er da noch gesagt? Daß das wirklich für ihn – Hardy – keine Bedeutung gehabt hätte, es hätte ja schon so lange gedauert ... Hardy dachte jetzt selbst an eine Beziehung, die er in jüngeren Jahren zu einer verheirateten Frau gehabt hatte, deren Mann er oft gesehen und gesprochen, und der sogar im Laufe der Zeit sein Freund geworden war. Er hatte den Mann sogar außerordentlich geschätzt. Die Frau, die er zuerst leidenschaftlich geliebt, war ihm allmählich gleichgültig geworden. Aber das Verhältnis hatte dann so weitergedauert, nur aus Gewohnheit, und weil er vielleicht bei seiner großen Arbeitslast nicht Zeit gehabt hatte sich eine andere Geliebte zu suchen. Jahrelang hatte er so diesen Menschen betrogen, ohne ihm etwas Böses zufügen zu wollen, ohne sich dabei etwas Besonderes oder Abseitiges zu denken.

Das hatte Richard vielleicht sagen wollen. Hardy erschien es als ganz irrsinnig, daß er es sich nicht selbst, aus seiner eigenen Erfahrung hatte denken können. Wie entsetzlich das doch alles war. Er richtete sich plötzlich auf. Er hatte beim Liegen das Flakon in der Tasche empfunden. Er stellte es in den kleinen Schrank zurück, aus dem er den kleinen Topf am Nachmittag genommen hatte. Es war ihm peinlich, daß er jetzt immer um den toten Hund herumgehen mußte, aber es war noch zu hell. Er mußte noch warten. Der Gärtner des Nachbarhauses würde ihn finden. Schließlich war nichts Besonderes daran, daß an einem Morgen ein verendeter Hund in einem Garten lag.

Er ging hinüber, wo das Essen für ihn bereit stand. Als er die Kammerzofe nach Cecile fragte, sagte sie ihm, daß die gnädige Frau schlafe. Die Kleine hatte offenbar die Weisung bekommen, so zu antworten.

Er aß allein, aber ohne den mindesten Geschmack. Es war, als ob er über der Überanstrengung seiner Nerven alle Sensibilität verloren hätte. Dann begab er sich in sein Schlafzimmer. Er streckte sich auf den Diwan aus. Er hatte ein unendliches stupides Bedürfnis, zu schlafen.

Gegen zehn Uhr rief man ihn ans Telephon. Er dachte, es käme aus der Klinik. Es war aber sein Kollege Maur. Da Richard keine Verwandten am Ort hatte, war seine Wohnung sofort behördlich geschlossen worden. Aus der Suche nach einem Schriftstück, in dem vielleicht ein besonderer Wunsch hinsichtlich seines Ablebens enthalten wäre, war man auf ein Dokument gekommen, das, zehn Jahre zurückdatiert, das Verlangen äußerte, daß Professor Maur im Falle seines Todes die Autopsie vornehmen möchte. Richard hatte dieses Schreiben verfaßt zu einer Zeit, als er sich von Maur, als einem Spezialisten für diese Krankheit, die ja auch jetzt der mittelbare Anlaß seines Endes war, behandeln ließ.

Maur war nun von den Behörden sofort in Kenntnis gesetzt worden und ließ sich von Hardy am Telephon die nähern Umstände des Falles auseinandersetzen, worauf er sich anerbot, die Sektion am folgenden Morgen vorzunehmen. Hardy erklärte sich damit einverstanden.

Von diesem Augenblick an überkam ihn die Angst.

Maur mußte sofort einsehen, daß weder eine Gehirn- noch eine Rückenmarkblutung eingetreten war. Wenn er sich die Mühe nahm, den Körper daraufhin genau zu sezieren, mußte er erstaunt, ja ratlos sein über das Fehlen jeglicher Symptome, die den Tod herbeigeführt haben konnten.

Das Gift selbst war nicht mehr nachzuweisen, da es die Eigenschaft hatte, sich im Körper sofort aufzulösen, da es im weitern überhaupt kein Reagenzmittel auf dieses besondere Gift gab. Maur mußte natürlich darauf kommen, daß das Ende durch Atemlähmung eingetreten war. Was aber diese Lähmung verursacht hatte, mußte ihm durchaus mysteriös bleiben.

Sollte er Hardy mißtrauen, so konnte er natürlich, da eben diese Symptome nur auf diese einzige Art von Gift zutrafen, den Schluß auf eine beabsichtigte Tötung durch Curare ziehen, falls er nicht der Annahme zuneigte, daß sich Richard in einem Augenblick neurasthenischer Depression die Injektion selbst gemacht hätte, wozu ihm vielleicht Hardy durch ein Versehen oder eine gewisse Sorglosigkeit die Mittel geboten hatte.

Jedenfalls war die Situation von diesem Moment an außerordentlich gefährlich. Hardy ging in sein Arbeitszimmer hinüber und öffnete das Fenster. Der Garten unten war ganz still. Auch die Fenster der untern Etage zeigten kein Licht. Er nahm das kleine tote Tier und schleuderte es in einem Bogen hinaus. Es fiel aber dennoch fast senkrecht, und Hardy hörte, wie der Kadaver ins Gesträuch fiel. Aber das war ja ganz gut so.

Dann nahm er ein Pulver und legte sich schlafen. Als er aufwachte, ging es gegen acht. Er stand auf und schickte sich zu einem Spaziergang an. Die im Hause sollten glauben, daß er wie gewöhnlich in die Klinik ginge. Aber er hatte schon jetzt den Eindruck, daß er sie nie mehr betreten würde. Es wäre ihm auch sehr unangenehm gewesen, Maur dort zu begegnen. Er fühlte sich unsicher, bedrückt. Zu Hause konnte er auch nicht bleiben. Dazu war er zu erregt. Ganz instinktiv schob er sich aber einen kleinen vernickelten, ziselierten Revolver in die Tasche.

Er rief nach einem Automobil und ließ sich eine Viertelstunde weit hinaus aufs Land fahren. Dort wollte er den Wagen warten lassen, indes er sich im Walde erging. Aber als er ins freie Feld kam, wurde die Nervosität in ihm noch größer. Er fuhr sofort zurück. Es war zehn Uhr vorbei, als er fast atemlos zu Hause ankam.

Maur hatte noch nichts von sich hören lassen. Nach einer halben Stunde ging er ans Telephon. Die Krankenschwester, die zufällig am Apparat war, teilte ihm mit, daß Maur schon seit einer Stunde weggegangen sei.

Das beunruhigte Hardy außerordentlich. Er dachte sich zwar auch, daß Maur vielleicht nur einen ganz äußerlichen Leichenbefund konstatiert hatte und daraufhin nach Hause gegangen war. Diese Überlegung erschien ihm aber doch nur als eine sehr vage Hoffnung.

Er ließ sich jetzt durch die Zofe bei Cecile anmelden. Sie ließ ihm sagen, daß sie sich unwohl fühle. So aß er nachher allein. Wie er aber nachher im Arbeitszimmer eine Zigarre rauchte, trat sie bei ihm ein.

Sie trug ein dunkles Kleid und blieb bei der Türe stehen, als ob sie verlegen sei. Er bot ihr einen Stuhl an. Sie ergriff aber nur die Lehne, wie um sich zu stützen. Sie sprach immer noch nicht.

Da sagte er: »Du willst wohl eine Aufklärung von mir haben?« Sie nickte: »Ja ...«

»Was denkst du dir?« fragte er und sah sie an. Er war selbst erstaunt, wie groß und klar er sie anzusehen vermochte.

»Daß du ihn getötet hast ...« antwortete sie tonlos.

»Ja, ich habe ihn getötet ... um deinetwillen getötet.« Hardy tat es merkwürdig wohl, daß er das sagen konnte.

Sie zuckte mit keiner Wimper: »Ich wußte es.« Sie drehte sich um und ging hinaus. Er dachte: »Vielleicht geht sie jetzt hin, um eine Anzeige zu machen.« Aber diese Anzeige wäre ihm fast gleichgültig gewesen.

Am Nachmittag hatte er eine Operation im Universitätsspital. Als er gegen Abend nach Hause kam, wußte er, daß es höchste Zeit war. Cecile lag in einer hochgradigen Hysterie auf dem Sofa des Salons. Sie gab auf keine Frage mehr Antwort. Die Dienstboten schienen sich scheu herumzudrücken.

Er hatte spontan den Eindruck, daß inzwischen schon die Untersuchung eingeleitet worden sei.

In einer halben Stunde hatte er gepackt. Nur einen gelben Handkoffer nahm er mit. Das kleine Tongefäß mit der schwarzbraunen, spröden Masse und das Flakon, das er vorher entleert hatte, sowie die Morphiumspritze steckte er ein. Vielleicht, damit man dies alles bei einer Hausuntersuchung nicht finden sollte. Vielleicht auch aus andern Gründen. Da er den Anzug nicht gewechselt hatte, trug er den kleinen Revolver mit dem Elfenbeingriff immer noch in der Tasche.

Am Bahnhof hatte er das Glück, noch einen Schlafwagenplatz zu bekommen. Er setzte sich bis zum Abgang des Zuges in ein Café, aß Ham and eggs zum Nachtmahl und war in einer wirren, erregten Stimmung. Erst als er im Coupé war und die Türe hinter sich geschlossen hatte, atmete er auf.

Dann aber kam eine neue bange Frage, was er jetzt beginnen wollte. Er war sich auch gar nicht genau bewußt, warum er gerade diese kleine Stadt als Zufluchtsort gewählt hatte. Er wußte kaum einen Grund dafür. Er war auf der Durchreise zuweilen dagewesen, aber nie länger als einen Tag.

Im übrigen hatte er das dumpfe Bewußtsein, daß es jetzt fast gleichgültig war, wohin er fuhr.

Während ihm diese Bilder wechselweise und doch mit unheimlicher Klarheit durch das Gehirn irrten, empfand er plötzlich wieder die furchtbare Müdigkeit, die ihn gestern den ganzen Tag nicht losgelassen hatte. Er sah auf die Uhr. Es waren erst fünf Minuten vergangen, seit er aufgewacht war. Er hatte also fast noch zwei Stunden zu schlafen.

Als ihm der Kondukteur an die Türe klopfte, fuhr er auf und zog sich langsam an. Er besah sich im Spiegel. Er kam sich müde und alt vor. Sein mageres Gesicht erschien noch knochiger als sonst, die Augen waren tief eingesunken.

Er setzte sich auf den Rand der Couchette und rauchte nachdenklich eine Zigarette. Eines war sicher. Solange der Zug nicht im Bahnhof war, konnte ihm nichts geschehen. Aber das dauerte nur noch ein paar Minuten ...

Der Zug fuhr jetzt durch eine Vorstadt, dann kam ein Tunnel. Hardy fühlte nun die Erregung wie einen schmerzhaften Kitzel in der Magengegend. Er starrte auf den Lederkoffer, der zu seinen Füßen lag, und dachte: »Vielleicht steht doch einer am Bahnhof bereit, um mich zu erwarten.« Wie er sich in diesem Falle verhalten würde, wußte er nicht. Nun ging es über knarrende Weichen. Der Zug fuhr langsam in die Halle. Es ging auf sieben Uhr.

Hardy reichte sein Gepäck einem Träger zum Fenster hinaus. Es waren nur wenig Menschen auf dem Perron. Durchaus niemand, der ihm verdächtig erschienen wäre. Er schritt langsam hinter dem Träger her, kaufte sich am Kiosk ein paar Zeitungen, erinnerte sich noch vag eines Hotels, in dem er einst gewohnt hatte und das am See gelegen war. Er nahm am Ausgang einen offenen Wagen und fuhr davon.

Er fühlte sich jetzt wie geborgen. Je mehr er sich dem See näherte, um so klarer wurde die Luft. Es war ein warmer Junimorgen. Wie der Wagen über die Seebrücke fuhr, trieb ihm der Wind den Geruch von frischem Wasser entgegen.

Es war, als ob er plötzlich erwachte. Es entzückte ihn die Bucht des Sees, aus dem das Gelände in sanften Hügeln aufstieg. Aus dem Wasser blinkte die Morgensonne in einem matten, silbernen Glanz, in den da und dort grüne und tiefere blaue Töne hineinleuchteten. Er überließ sich, während er dem Quai entlang fuhr, diesem Eindruck, und es schien fast, als ob ihm darob wohler würde.

Er nahm ein Zimmer in der dritten Etage auf den See. Er sah so über die Bäume der Anlagen hinweg und konnte zugleich den Quai beobachten. Das schien ihm wichtig zu sein. Er badete sich, bestellte das Frühstück und legte sich dann zu Bett. Die Uhr ging jetzt auf acht. Als ihm der Zimmerkellner den Tee und die Sandwichs gebracht hatte, schloß er die Türe ab. Er aß langsam und mit wirklich mehr Lust als gestern. Dann nahm er die Zeitungen und sah sie durch. Er fand nichts über seinen Fall, las dagegen einen Artikel über wilde Völkerstämme in Nord-Formosa, was ihn sehr interessierte.

Dann legte er die Hände vor sich auf die Decke und starrte gegen das Fenster. Die Jalousien waren heruntergelassen und es lag eine behagliche Dämmerung im Zimmer. Draußen schien die Sonne, und die Ritzen der Stores glänzten wie feine goldene Stäbe.

Hardy kam sich jetzt vor, als ob er Kriegsrat halten müßte. Sollte er inkognito hier bleiben oder seine Reise fortsetzen? Er dachte darüber nach, wie es sehr pittoresk sein könnte, in seiner Situation über Genf nach Südfrankreich zu fahren, alle diese kleinen Städte der Provence zu besuchen, die gewiß nicht ohne Reiz waren. Dann könnte er sich gegen die spanische Grenze wenden, noch tiefer nach dem Süden gehen, Nordafrika genießen ... bis er auf eine ganz selbstverständliche Art zu einem Ende käme.

Diese Idee schien Hardy gar nicht so aussichtslos zu sein. Er sah sich als Einsiedler in einem kleinen Hotel in Algier, würde französische Regiezigaretten rauchen und im Cinéma einmal wöchentlich die Ereignisse der großen Welt auf der weißen Leinwand betrachten. Mit Cecile hatten alle seine Gedanken gar nichts mehr zu tun. Auch dachte er keinen Augenblick an die Möglichkeit einer Rückkehr. Dumpf hatte er es in den Nerven, daß dies nun alles als etwas Unwiederbringliches hinter ihm lag.

Mit einer unheimlichen Klarheit des Gehirns betrachtete er diese Aussichten seiner Zukunft. Sie waren gewiß nicht mehr groß und auch nicht sehr verheißungsvoll. Aber er war ja jetzt auch in einem Alter, wo eine gewisse Resignation zu ertragen war. Was er gestern und vorgestern erlebt hatte, schien weit hinter ihm zu liegen. Es war ihm fast, als ob ihn in all dem ein ganz fremder, starker Wille geleitet hätte, und als ob er nur ein Instrument gewesen wäre, das etwas auszuführen hatte, was im Schicksal beschlossen lag.

Ja ... Cecile ... fünf Jahre hatte er mit ihr gelebt und war nicht zur Erkenntnis gekommen, daß diese Leidenschaft, von der er so ergriffen gewesen war, daß sie ihn zu erwürgen schien, ihn nur ganz peripher und oberflächlich gequält hatte. Cecile selbst erschien ihm jetzt als eine sehr ferne, in Nebel getauchte Gestalt. Als etwas sehr Gewöhnliches. Sie hatte ihn betrogen, wie so viele Frauen ihre Männer betrügen, sie hatte es vielleicht nicht einmal mit besonderer Passion getan, sondern einfach die alte Beziehung fortgesetzt.

Er konnte es sich fast nicht erklären, wie diese Frau ihn derart aufzuwühlen vermocht hatte. Warum hatte er ihr nicht lächelnd die Hand zum Abschied gereicht und etwa gesagt: »Liebes Kind, ich wünsche dir Glück usw.« Richard wäre vielleicht in diesem Augenblick sehr verlegen geworden und hätte sich als alter Junggeselle doch um die Heirat herumgedrückt. Sie wären dann vielleicht erst recht gute Freunde geworden bei dem Bewußtsein, wie wenig wichtig eigentlich diese ganze Geschichte war.

Das erschien jetzt Hardy als das Unheimlichste, wie aus etwas so Banalem, Alltäglichem etwas derart Furchtbares hatte entstehen können.

Als er aufstand, ging es gegen Mittag. Die Sonne lag auf dem See und Hardy beschloß, am Nachmittag eine Bootfahrt zu machen. Das würde ihm sicher ausgezeichnet bekommen. Er ließ sich das Frühstück im Zimmer servieren und stieg nachher in die Halle hinunter. Er befand sich jetzt ganz wohl. Er schaute in die Journale, die auf einem Tisch lagen, sah nach einer jungen Dame, die in einem bunten Sweater in einem Schaukelstuhl lag, und offensichtlich kein größeres Vergnügen kannte, als eine rhythmische balancierende Bewegung, die sie mit einem leichten Wippen ihres rechten Fußes verursachte.

Zufällig trat er auch an die Loge des Conciergen, wo an der Wand die Sportstelegramme und zugleich die Nachrichten der Agence Havas angeschlagen waren. Da las er – der Anschlag war mit zwölf Uhr mittags datiert –: »In M. ist in der Privatklinik des Professors H. ein bekannter hiesiger Sammler und Sportsmann plötzlich verschieden. Dieser Todesfall hat das größte Aufsehen verursacht und wird sogar mit der unvermittelten Abreise des bekannten Chirurgen in Zusammenhang gebracht. Wir geben mit allem Vorbehalt wieder, daß eine amtliche Untersuchung bereits eingeleitet ist und daß man sensationelle Überraschungen erwarten darf.«

Hardy kam es ganz selbstverständlich vor, daß diese Nachricht da an der Wand stand. So etwas Ähnliches hatte er erwartet. Er beschloß jetzt aber doch, keine Bootfahrt zu machen. Während er auf dem Quai dahinschritt, fragte er sich nicht ohne Neugier, wie man ihm wohl die Sache nachweisen wollte, wenn er jetzt mit dem nächsten Zug zurückführe. Chemisch war das Gift im Körper nicht mehr festzustellen. Das einzige Verfahren, das zu einem Resultat geführt hätte, wäre das faradische gewesen, und zwar während der Agonie, indem die Reizung von den Nerven aus nicht mehr möglich gewesen wäre, sondern nur durch direkte Einwirkung des elektrischen Stromes auf die Muskeln tetanische Zuckungen der Glieder hätten erzielt werden können. Aus diesem Umstand hätte man die Spur dieses einzigartigen Giftes gefunden. Aber das Verfahren war jetzt unausführbar.

Daß er das Gift besessen hatte, wäre nicht belastend gewesen, da er es früher schon in minimalen Dosen bei Starrkrampf anwendete. Zwar ohne viel Erfolg.

Einzig und wirklich belastend war die Aussage Ceciles. War vielleicht der Umstand, daß der tote Hund gefunden werden konnte, den die Dienerschaft als den von ihm am selben Morgen gekauften Dackel wiedererkennen würde. Allem Anschein nach mußte Cecile doch gesprochen haben. Daß er es ihr aber hatte sagen müssen, das wurde von ihm auch jetzt noch als eine Nötigung empfunden. Er hatte es tun müssen, trotzdem er gegen sich gezeugt. Es war ihm wie eine Sühne für den Tod Richards vorgekommen. Er hatte gegen sich zeugen müssen, und zwar mit dem Bewußtsein all der möglichen Konsequenzen.

Hardy hatte sich auf eine Bank gesetzt. Er sah seitwärts am Geländer einen Menschen stehen, in einem dunklen Anzug und einem schwarzen Filzhut. Es schien ihm, als ob ihn dieses Individuum beobachtete. Es war sehr gut möglich, daß es ein Beamter der Kriminalpolizei war. Vielleicht hatte er nur den Verhaftsbefehl noch nicht in der Tasche. Wer wußte, ob diese Order nicht noch im Laufe des Spätnachmittags eintreffen konnte.

Hardy stand jetzt auf und ging langsam nach dem Hotel zurück. Als er sich umdrehte, kam der Mensch hinter ihm her, aber es war ihm nicht klar, ob seine Vermutung nicht doch nur zufällig sein konnte. Während des Schreitens erwog er die Idee einer plötzlichen Abreise, verwarf sie aber sofort. Wollte er es riskieren, daß dieses Individuum oder irgendein anderes ihm im Augenblick, da er in das Kupee steigen wollte, sanft die Hand auf den Arm legte, als ob es sich nur um eine ganz nebensächliche Unterredung handle. Was wollte er dann tun, indes ihn der andere zu dem nächsten Polizeibureau führte und ihm in aller Ruhe seine Identitätspapiere abforderte?

Könnte er sich auf der Straße eine Kugel ins Gehirn schießen? Er hätte sich wirklich im Tode noch geschämt, auf einem Bahnhofplatz vor Lohnkutschern und Chauffeuren und kleinen Mädchen, die vielleicht zufällig da vorbei zur Schule gingen, eine solche Szene aufzuführen. Nein, dem allen mußte entschieden vorgebeugt werden, auf solche Zufälligkeiten konnte man es nicht ankommen lassen.

Als er ins Hotel zurückkam, schien ihn auch der Concierge mit sonderbaren Augen anzusehen. Hardy ging auf ihn zu und fragte ihn fast provokant, ob nicht ein Brief für ihn da wäre. »Wie ist Ihr Name?« fragte der andere.

»Kämmerer ...« sagte Hardy. »... Nummer vierundzwanzig ...« – »Nein,« sagte der Concierge, der es auswendig zu wissen schien. Er lächelte dazu ein wenig schief.

»Natürlich ...,« dachte Hardy, »der ist auch schon informiert ...« Er stieg langsam die Treppe hinauf, in der zweiten Etage aber begann er eilig zu steigen, als ob ihm jemand auf den Fersen wäre, und er atmete erst wieder auf, als er die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte.

Erschöpft sank er auf einen Stuhl. Unwillkürlich horchte er auf die Geräusche im Gang. Es konnte jetzt jeden Augenblick passieren, daß jemand an die Türe klopfte und im Namen des Gesetzes Einlaß verlangte.

Er trat ans Fenster, starrte hinunter. Da schien derselbe Mensch wieder am Geländer zu stehen. Er war zwar nicht deutlich zu erkennen. Jedenfalls aber trug er denselben schwarzen Hut.

Es war jetzt kaum Angst, das in Hardy aufstieg, vielleicht eine gräßliche, unbändige Wut, daß er so in die Hände der andern gegeben war, der Willkür des Zufalls ausgeliefert, daß er schon jetzt im Augenblick, wo ihn noch niemand hinderte, zu gehen und zu stehen, wo er wollte, daß er schon jetzt völlig seine Freiheit verloren hatte. Er wagte es wirklich nicht mehr, in die Straße hinunterzugehen. Nur die geschlossene Türe gab ihm wenigstens noch so viel Schutz, daß er Zeit für das Allerletzte hatte. Daß aber das plötzlich so nahe, so beklemmend nahe gerückt war, gab ihm doch ein sonderbar schmerzliches Staunen ins Herz.

Aber seine Phantasie suchte nach der Möglichkeit des Todes. Er sah sich jetzt wirklich eher dort ganz regungslos und kalt im Stuhl sitzen als eine Nacht in einem Polizeigefängnis, mit all den Perspektiven, die nachher zu erwarten waren.

Er wußte jetzt auch zugleich, daß er einen schwereren Tod haben werde als Richard, der seinem Ende bis fast zuletzt ganz ahnungslos entgegengegangen war. Sonderbar auch, daß er sich eigentlich nie innerlich von Richard getrennt gefühlt hatte. Hatte er ihn gehaßt? Kaum ... oder vielleicht doch?

Auch an Cecile dachte er nun sehr versöhnlich. Sogar, wenn sie ihn verraten hatte, war sie zu entschuldigen. Sie hatte sich wohl vom momentanen Haß leiten lassen. Sicher hatte sie Richard viel leidenschaftlicher geliebt als er sie. Hardys Rache wäre viel grausamer gewesen, wenn er ihr den Geliebten gelassen hätte, damit sie die Katastrophe ihrer Liebe hätte erleben müssen. So aber war Richard für sie zum Märtyrer geworden, unauslöschlich durch die Ekstasen des Schmerzes in ihr Herz eingegraben.

Hardy rückte einen Fauteuil ans Fenster. Es saß sich behaglich darin. Aber mit all diesen Überlegungen ging es nicht weiter.

Ein großes Gefühl des Ekels überkam ihn. Vor sich, vor der Welt, vor dem ganzen Zustand, in dem er jetzt gefangen war. Er fand keinen Ausweg, so sehr er einen solchen suchte. Er fühlte sich auch sehr matt. Eine tiefe Müdigkeit hatte sein Gehirn umfangen. Was jetzt noch kommen konnte, war entweder häßlich und grausam, ein erregender Prozeß, vielleicht Verurteilung, oder dann eine dumpfe, aussichtslose Existenz.

Er hatte für dies alles keinen Mut und keine Lust mehr. Instinktiv ersehnte er, daß es mit ihm zu Ende ginge.

Da sah er plötzlich wieder Cecile. So wie er sie zum erstenmal erblickt hatte. Er war bei Freunden gewesen, die draußen an der Isar wohnten. Von den Fenstern sah man auf eine Brücke. Dahinter waren Anlagen. Er hatte sie dort ganz zufällig getroffen. Es wurde musiziert, aber es war langweilig. Sie hatten sich zusammen in eine Ecke gesetzt. Soviel er sich jetzt erinnerte, war Richard in jener Zeit wieder von München fortgewesen. Trotzdem Hardy schon von der jungen Dame gehört hatte, die Musik studierte, war er ihr früher nie begegnet. Sie war über ihn offenbar viel besser informiert.

An jenem Abend hatte er sie im Auto nach ihrer Wohnung gefahren. Er hatte dies Zusammensein zunächst wirklich nur als sehr angenehm empfunden. Es regnete in jener Nacht. Der Baron F., ein Vetter des Gastgebers, war auch noch mit im Wagen. Man mußte ihn in der Galeriestraße absetzen.

Cecile führte einen kleinen Haushalt mit einer Köchin und einer Zofe. Acht Tage später war er bei ihr mit denselben Freunden zum Lunch eingeladen. Man aß vortrefflich und war sehr vergnügt. Er mußte sich aber bald verabschieden, da er im Spital zu tun hatte. Sie begleitete ihn hinaus und er küßte ihr die Hand. Er war etwas übermütig. Es war eigentlich nicht die Hand, die er küßte, sondern das Gelenk, fast der Arm ... Cecile lachte ganz vergnügt.

Da war ihm, als ob sich da etwas bilden müßte.

Hardy erinnerte sich jetzt daran mit außerordentlicher Klarheit. Ceciles Wohnung lag auf einem stillen Platz. Sie hatte fünf Zimmer in der Front und zwei nach dem Garten. Eines nach dem Garten hatte auch eine Veranda, von der aus man nach dem Lenbachplatz sah. Dort machten sie eines Sonntagnachmittags photographische Aufnahmen. Es war Mitte Mai. Genau sechs Jahre waren es her.

Er kam öfter allein zu ihr. Sie sang ihm oft vor, was ihn zwar enttäuschte. Ihre Stimme war an sich ganz gut, aber es fehlte ihr an Talent. Sie war nicht im besonderen Sinne musikalisch. Eines Abends telephonierte er. Sie war ausgegangen. Es war schon Anfang Juni. In diesem Moment fühlte er, wie er eifersüchtig war, wie ein entsetzlich schmerzliches Gefühl des Verlangens nach ihr in ihm auflohte.

Von da an liebte er sie. Unbändig, ungestüm. Der geringste Widerstand vermochte ihn in Raserei zu versetzen. Aber sie gab nicht nach. Er mußte anerkennen, daß sie sehr klug sei ... Er sah auch bald ein, daß sie nicht zu Abenteuern geneigt war.

Da hielt er um ihre Hand an. Sie lachte ihn aus. Bat um Bedenkzeit bis zum Herbst. Er war jetzt fast täglich bei ihr. Telephonierte zwischen zwei Operationen. Sein Nervenzustand wurde durchaus unhaltbar. Aber er war trotz allem außerordentlich glücklich.

Schlimmer, ganz unerträglich, wurde sein Zustand im Sommer. Cecile war mit ihrer Kammerfrau allein nach Scheveningen gefahren und hatte ihm durchaus verboten, ihr zu folgen. Er stand damals Martern der Eifersucht aus. Im übrigen wäre es ihm auch gar nicht möglich gewesen, bei ihr zu sein, denn er hatte Mitte August an einem Kongreß in Wien teilzunehmen. Aber er war bis im September so mürbe geworden, daß sie jetzt alles über ihn hätte beschließen können. Einen Willen hatte er fast gar nicht mehr.

Im Dezember hatten sie geheiratet und waren über Weihnachten an die Riviera gefahren.

Wo Richard während all der Zeit gesteckt hatte, war Hardy jetzt gar nicht mehr klar. Er hatte damals wahrscheinlich keine Gelegenheit gehabt, sich mit ihm zu beschäftigen. Jedenfalls konnte er sich nur daran erinnern, daß er an der Hochzeit einen sehr amüsanten Toast gesprochen hatte.

Wie komisch, grotesk ihm diese Zusammenhänge heute vorkamen.

Nachher hatte er sehr glücklich gelebt, wenn er auch, wie nach einem großen Sturme, ruhiger geworden war. Er hatte vielleicht überhaupt nicht das Talent gehabt, sich andauernd mit einer Frau zu beschäftigen. Richard verstand das besser.

Er fuhr plötzlich zusammen. Er hörte Tritte im Korridor. Jemand klopfte an die Türe. Hardy war aufgesprungen. Sein ganzer Körper zitterte. Er fuhr mit der Rechten in die Tasche, griff nach dem kleinen Revolver. Jetzt drückte jemand auf die Schnalle.

Hardy dachte jetzt nur an das eine: »Sie werden die Türe aufsprengen müssen, und bis dahin ...« Er horchte atemlos. Ein Schlüssel wurde ins Schloß gesteckt, konnte aber nicht eindringen, weil von innen der Schlüssel steckte.

Darauf entfernten sich die Tritte.

Hardy setzte sich wieder in den Stuhl. Es war vielleicht der Zimmerkellner gewesen, der ihn derart aufgeschreckt hatte. Aber er empfand jetzt eine starke Migräne. Dieser Ruck in den Nerven war doch ganz entsetzlich gewesen.

Er dämmerte in trüben Gedanken vor sich hin. Dieses ganze Zimmer kam ihm unheimlich, gespensterhaft vor.

Dann sah er wieder Cecile auf einem Maskenball bei Freunden. Sie hatte an diesem Abend so schöne nackte Schultern gehabt ... »nackte Schultern« träumte er weiter ... darin hatte vielleicht das ganze Geheimnis gelegen. Aber er sah sie jetzt wieder ganz deutlich.

Und plötzlich, ganz unvermittelt, kam ihm das Allegretto der siebenten Sinfonie Beethovens in den Sinn. Das Motiv fiel ihm wie vom Himmel ... ja, so mochte es sein, mit leichter Bewegung im Zweivierteltakt und dabei abgründig traurig ... abgründig faszinierend ...

Er stand auf, nahm aus dem Lederkoffer das kleine Tongefäß mit der spröden, dunkeln Masse. Nahm ein Glas mit Trinkwasser und brachte eine gute Messerspitze voll hinein. Rührte das Pulver mit der Messerklinge auf.

»Komisch,« dachte er, »ich könnte jetzt das alles trinken, und es würde mir gar nichts schaden ...«

Dann suchte er die silberne Spritze.

Einen kleinen Spiegel stellte er auf das Fenstersims. Er wollte bis zum letzten Moment sein Gesicht beobachten.

Dann sog er die Spritze voll, zog sich das Beinkleid hoch, löste den Strumpf und das Unterbeinkleid und suchte den Wadenmuskel. Mit großem Ernst machte er die Injektion. Dann schüttelte er den Inhalt des Glases auf den Boden, das Tongefäß und die Spritze warf er aufs Geratewohl zum Fenster hinaus in die Baumkronen.

Er ordnete jetzt wieder seine Kleider, während er die Lähmung in den Beinmuskeln aufsteigen fühlte. Er legte sich ganz in den Stuhl zurück und betrachtete sich dabei im Spiegel. Er war gar nicht erstaunt, wie eingefallen er aussah. Er wendete den Blick nach rechts. Da war der blaue Himmel und jenseits des Sees eine Höhe, von Tannen überwachsen. Er wußte aus der Erinnerung, daß dort oben ein Hotel stand.

Er versuchte jetzt, den rechten Fuß zu bewegen. Aber es war seltsam: trotzdem er genau das Bewußtsein hatte, daß die Nerven des Beines den Willen zur Bewegung hatten, blieb der Fuß still.

Er fühlte jetzt überhaupt, wie es im Körper aufstieg.

Vor zwei Tagen, fast um dieselbe Zeit, war Richard gestorben. Seltsam, daß er schon damals ganz dumpf gewußt hatte, daß er selbst bald ein ähnliches Schicksal haben würde. Er hatte seinen Freund mit Willen und Absicht getötet, und er war sich doch nicht als das vorgekommen, was man so gemeinhin einen Mörder nannte. Nein, damit wollte er nichts zu tun haben ... Es war etwas ganz anderes für ihn gewesen, etwas, wofür er keinen Namen fand.

»Zwei nackte Schultern,« irrte es wieder durch sein Gehirn. Der Gedanke tat ihm wohl. Hatte er sie denn nicht doch unendlich geliebt?

Jetzt empfand er die Lähmung schon im Unterleib. Es war doch unheimlich, diese Stille, die von unten herauf mit furchtbarer Sicherheit in den Körper kam. Noch ein paar Augenblicke mochte es dauern. Er legte die Hände übereinander wie in einer unendlichen Geborgenheit.

Nun mochten sie alle kommen und an der Türe schnallen und klopfen. Er kicherte etwas hämisch und schnitt ein Gesicht dabei voll pikanter Ironie. Es schien ihm, als hätte er die Kriminalpolizei auf eine ganz glänzend geistreiche Art düpiert.

Da riß er plötzlich die Augen auf, tastete mit den Händen am Körper ... er starrte in den Spiegel ... ein Würgen kam in den Hals ... noch sah er sich deutlich ... ganz deutlich ... seine Augen wie zwei Punkte ... wie einen fernen Punkt, und dann wurde alles ganz weiß ...

Der Kopf sank ein, er schnappte nach Luft ... hörte noch wie in einem schmerzhaften Takt den Herzschlag, der ihm in den Schläfen zitterte ...

Der Zimmerkellner fand ihn am andern Morgen. Er lag eingeknickt im Stuhl am offenen Fenster. Sein geistreiches, verwittertes Gesicht zeigte einen müden und zugleich fast zufriedenen Zug. Da die Nacht etwas kühl gewesen war, hatte sich Reif in seinen grauen Spitzbart gesetzt.


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