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Nachdem Lukrezia auf jenem Balkon über dem Blutgerüste der beiden Este, von dem Triumphgeschrei und Hilferuf Don Cesares erschreckt und überwältigt, in plötzlichem Liebesgehorsam gegen ihren Bruder den Richter Strozzi zu ihrem Mitschuldigen gemacht hatte, fiel sie ein paar Stunden später, aus dem Zauber halb erwachend, in Reue und fühlte sich voll Bitterkeit gegen den feigen Mann, der, statt vor ihrer Schwäche enthaltsam zurückzutreten, das Verhängnis ihrer alten Knechtschaft mißbrauchte, um, der Niedrige, Forderungen zu stellen, die sie, solange sie ihrer selbst und ihrer vollen Besinnung mächtig blieb, niemals gewähren konnte. Ein tödlicher Widerwille gegen den seiner Leidenschaft blind gehorchenden Richter, der ihr, seiner Fürstin, einen gemeinen Handel antrug, bemächtigte sich ihrer. Sie war schuld daran, und sie haßte ihn darum.
An jenem Abend entfaltete Lukrezia in der Heimlichkeit ihres Schlafgemachs ihren zweiten Brief.
Hier meldete ihr der treue Bembo von Rom aus die Wiedererscheinung Don Cesares in Italien und beschwor sie kniefällig, so schrieb er, nicht einen Augenblick zu zögern, sondern sich ihrem Gemahl flehend in die Arme zu werfen und dort durch das Bekenntnis ihrer Schwäche Schutz gegen sich selbst zu suchen.
Über dem Brief war sie todesmüde bei brennenden Kerzen in Schlummer gesunken, aber aus den beginnenden Träumen wieder aufgefahren. Es hauchten Geisterwinde und bewegten die Flämmchen der Kerzen.
Sie starrte in eine dunkle Ecke, bis ihre unverwandten Blicke dort die Erscheinung Cesares gestalteten. Jetzt, jetzt trat er hervor und schritt auf ihr Lager zu, die Samtmaske, die er immer trug, von den wohlbekannten, bleichen Zügen hebend.
Da stieß Lukrezia durchdringende Schreie aus und weckte damit die in der Kammer nebenan schlafende Angela, die ihr zu Hilfe eilte und bis zum Hahnenschrei neben ihr saß.
Im ersten Morgenschimmer las die Herzogin den Brief Bembos zum andern und zum dritten Male. Dann erhob sie sich schleunig und lief im Schlafgewand auf nackten Sohlen über die kalten Steinplatten der Schloßgänge in die Kammer Don Alfonsos.
Sein Lager war leer. Er war in noch früherer Stunde verreist, eine Zeile zurücklassend, er eile nach Bologna, um bei der Gefahr dieser Zeit an der Seite seines Lehnsherrn, mit dem nicht zu scherzen sei, der Heiligkeit Julius des Zweiten, in Treue gefunden zu werden. Er gebe seiner Gemahlin die Regentschaft und zum Berater den Kardinal Ippolito.
Hilflos, schutzlos, weinend wie ein Kind, kehrte Lukrezia in ihre Kammer zurück.
Im hellen Tageslicht wichen die Gespenster, doch die Herzogin, deren der Bruder sich nach und nach wieder völlig bemächtigte, begann mit allen Kräften ihres Geistes für ihn zu wirken und jede Stunde ihres Lebens in seinem Dienste zu verwenden, indem sie sich einbildete, sie tue aus treuer Schwesterliebe, die das Natürlichste der Welt sei, Erlaubtes und Unerlaubtes, für einen großen und unglücklichen Fürsten, ihren geliebten Bruder.
War er nicht noch ein Jüngling mit unendlicher Zukunft? Von seiner Berechtigung aber, in seinen verlorenen Besitz zurückzukehren und in Italien die Herrscherrolle zu spielen, kraft seiner Geburt und seiner seltenen königlichen Begabung, war sie völlig überzeugt.
Dem Großrichter hatte sie eine Zeile geschrieben, welche die geheime Botin, ihre Kammerzofe, ihr wieder zurückbringen mußte, und worin sie ihm sagte, sie habe gestern in der römischen Kammer in Freude und Bestürzung über den unerwartet befreiten Bruder Worte geredet, auf die sie sich nicht mehr besinne, und deren sich Strozzi auch nicht erinnere, warum sie ihn nicht einmal bitte, weil sich das bei einem Edelmanne von selbst verstehe.
Der Anfang des neuen Jahres war eine Zeit der Angst und Gefahr für ganz Italien. Die Völker waren aufgeregt. Die Höfe lauschten in atemloser Spannung über die Meeresalpen und die Pyrenäen, während Cäsar anfangs wenig von sich hören ließ und sich, wie der Drache seiner Helmzier, aus seinen eigenen Ringen langsam emporhob.
Welche Möglichkeiten!
Er konnte aus der herrenlosen Romagna als Kondottiere der Venezianer den Papst verjagen. Er konnte, als Verwandter des Königs von Frankreich, durch irgendeine Wandlung der Dinge, von diesem an die Spitze eines seiner in Italien liegenden Heere gestellt werden.
Man wußte, es war eine Tatsache, daß Cesare Borgia in Italien beliebt war. Der Instinkt des Volkes und die Begeisterung der Kriegsleute feierten ihn als – den Begünstiger der heimischen Waffen und den grausamen, aber nützlichen Vertilger der kleinen Stadttyrannen. In der Romagna, ja selbst im Ferraresischen, dem Eigentum der Este, vergötterte ihn die Volksmasse und krönte sein Andenken, wie einst das unterste Rom das Andenken Neros bekränzte, an dessen Untergang es auch niemals hatte glauben wollen.
Es war ein unheimliches Frühjahr. In den Staatskanzleien wachten die Schreiber über der Feder, und nächtlicherweile flogen auf den sturmgepeitschten Landstraßen die Pferde vermummter Boten.
Die Herzogin erschien blaß und angegriffen; denn auch sie legte die Feder nicht aus der Hand. Es galt, die befreundeten italienischen Höfe von den guten Absichten Cesare Borgias zu überzeugen. Sie versicherte sowohl mit den heiligsten Beteuerungen als mit den feinsten und anmutigsten Wendungen, er komme mit edlen, friedlichen Gedanken und gerechten Absichten. Und dies tat sie aus eigener Klugheit noch vor der Ankunft des zweiten Boten ihres Bruders.
Dieser, ein gewisser Federigo, kam mit einem Schreiben an die Herzogin von Ferrara und in einer Sendung an Papst Julius, den Eroberer von Bologna. Der Heilige Vater aber warf den Gesandten Cäsars in den Kerker, und Lukrezia gab sich viele vergebliche Mühe, den Kanzler ihres Bruders, wie sie den Abenteurer betitelte, von der gestrengen Heiligkeit loszubitten. Auch den eigenen Gemahl bat sie dringend, ihr in dieser Sache beizustehen. Doch Don Alfonso riet dem Papste im Gegenteil, den zweideutigen Gesandten in der Stille erdrosseln zu lassen – ebenfalls vergeblich, denn der Bote entschlüpfte.
Dergestalt hatte die Herzogin hundert Anliegen und Geschäfte zugunsten ihres Bruders. Alle mit der höchsten Klugheit eingeleitet, gefördert oder aus Vorsicht geschickt wieder abgebrochen.
Durch wenige Zimmerbreiten von ihr getrennt, bemühte sich in demselben Schlosse bis tief in die Nacht der leidende Kardinal, ihre Verbindungen mit Don Cesare aufs genaueste zu überwachen und all ihre Pläne zu studieren, um sie bis auf einen gewissen Punkt reifen zu lassen und dann zu vereiteln.
Vor seinem Zurücktritte aus dem ferraresischen Staatsdienst und der Entlassung seiner ausgesuchten und vorzüglich geschulten polizeilichen Werkzeuge reizte es ihn, sein diplomatisches Meisterstück zu liefern.
So überblickte er das ganze Gewebe Lukrezias und bewunderte in der Stille seiner Arbeitsräume den Vorrat schärfsten Verstandes und unerschöpflicher Auskünfte, welchen die Herzogin in einer zum voraus verlorenen Sache anwendete. Denn er fing ihre Briefe auf, las sie, versiegelte sie wieder kunstvoll und schickte sie dann gewissenhaft an ihre Bestimmung mit sie begleitenden Schreiben entgegengesetzten Inhalts aus seinem Interessenkreise, welche die Wirkung der ihrigen vollständig zerstörten.
Und das tat er, ohne daß Lukrezia eine Ahnung davon hatte. So hatte es der Herzog angeordnet, der die Gemahlin mehr als je liebte und um jeden Preis schonen, in keiner Weise bloßstellen wollte; denn er wußte, daß die kluge und reizende Lukrezia bei der Annäherung Cäsars ihrer selbst nicht mehr mächtig war und wieder in den Bann ihres alten Wesens, ihrer früheren Natur gezogen, schuldvoll und schuldlos sündigte.
Demselben Wohlwollen gegenüber dem verführerischen Weibe verfiel auch der Kardinal. Er bewunderte den schützenden Zauber des von ihr ausgehenden Liebreizes und verbündete sich, soweit es in Alfonsos Interesse möglich war, mit dieser seltsamen Macht, welche Lukrezia von jung an aus begrabenen Wellen gehoben und wie auf Schwingen über zerschmetternde Abgründe hinweggetragen hatte.
So genoß er, die Kluge stündlich täuschend, kein Vergnügen der Bosheit, sondern er glich dem Arzte, der von einer lieben Kranken, die an Wahnsinn leidet, Gift und tötende Waffen entfernt.
Auch die Regentin, obgleich sie das Gegenspiel des Kardinals teilweise zu erraten begann, blieb ihm aus Klugheit und unbewußter Achtung einer verwandten Anlage gleichermaßen gewogen.
Sie zog ihn oft zur Tafel, und dann entspann sich bald das anregendste Gespräch, in welchem eines das andre zu enträtseln und zu erhaschen suchte, dem feinsten Schachspiele vergleichbar. Nur daß die Herzogin jeden Vorteil emsig benützte, während der überlegene Kardinal sie mitunter lächelnd auf einen von ihr begangenen Fehler aufmerksam machte oder eine von ihm genommene Figur großmütig stehen ließ.
Federigo, Cäsars Bote, hatte der Herzogin, bevor er nach Bologna zu der Heiligkeit des Papstes zog und von ihm gefesselt wurde, im Geheimnis den zweiten Brief des Bruders übergeben. Es war ein Schreiben von wenigen dringenden Linien, zwischen denen, nur dem Auge Lukrezias sichtbar, verruchte Anschläge und teuflische Einflüsterungen liefen.
Nachdem der Verführer gemeldet, er habe mit dem Könige von Frankreich angeknüpft, bis jetzt zwar ohne Erfolg, den er abwarten könne, da er fürs erste nach Italien strebe, schrieb Cäsar: Um dort Fuß zu fassen, bedürfe er durchaus eines Gehilfen, eines ungewöhnlichen Mannes von bedeutenden Eigenschaften und ebenso gefälliger als imponierender Erscheinung. Er wisse einen, wahrlich wie gemacht, ihm zu dienen, den Richter Herkules Strozzi. Er kenne ihn wohl, denn der Vater ihres Gemahls, weiland Herzog Herkules, habe ihm diesen Strozzi, einen Jüngling von klassischen Zügen und strengem Betragen, als seinen Geschäftsträger in der Romagna gesendet, damals, da er auf dem Gipfel seiner Macht gestanden, welchen er mit Gottes und des Schicksals Gunst und der geliebten Schwester Hilfe wieder zu ersteigen hoffe.
»Teuerste«, schloß er, »tue, was Dir möglich ist, das Größte und Äußerste, um diesen einzigen, den ich als einen Bruder schätze, für mich zu gewinnen.«
Lukrezia erbleichte über dem Briefe. Aber sie hatte jetzt seit Wochen wieder mit Cesare in seinen vielen, auch seinen jugendlichen und liebenswürdigen Gestalten zusammengelebt. So hatte er sich, obschon ein Abwesender, wieder mit ihrem ganzen Denken verschmolzen und ihre Seele mit seinem Frevelsinn verpestet.
Zwar sie widerstrebte kräftiger als früher dieser schmachvollen Sklaverei. Aber war sie nicht an Cäsar, als an ihr Schicksal, geschmiedet, seit er sie vom Sterbelager ihres zweiten, von ihm gemordeten Gemahles wegriß, und sie den Widerstand vergaß?
Sie gehorchte ihm wiederum.
Sie berief den Richter, hielt aber Angela neben sich und faßte sie bei der Hand, um nicht einen Augenblick mit ihm allein zu sein.
Herkules Strozzi wurde in das enge Oratorium der Herzogin geführt, die ihm schweigend den Brief ihres Bruders bot.
Nachdem er ihn gelesen – nur einmal – denn die tückischen Worte, die seine Leidenschaft stachelten und ihr schmähliche Dienste zu leisten schienen, hatten sich ihm schon auf ewig eingebrannt, schwieg er und schwelgte in glühenden Träumen. Er sah Cesare siegreich nach der Krone Italiens greifen. Er sah sich selbst als seinen Kanzler an seiner Seite. Der Herzog von Ferrara war verschwunden, wohl von Cesare Borgia ausgelöscht und aus der Mitte getan. Lukrezia wiederum Braut, jugendlicher und heller als je, stand vor seinen trunkenen Augen in derselben triumphierenden Lichtgestalt, wie er sie bei ihrem Einzuge in Ferrara geschaut hatte.
Er sah sie mit den Blicken seiner taumelnden Sinne, denn, die vor ihm stand, war eine andre. Zwar lächelte sie auf das Geheiß des Bruders, doch die großen, lichten Augen starrten versteinernd, wie die der Meduse. Er aber sah sein Verderben nicht. Heuchlerisch redete er, der geborene Republikaner, von Cäsar Borgias Gerechtigkeit, die er immer bewundert habe. Die Kleinen und Schwachen habe der Großmütige geschützt und gehegt, wie der Blitz Jupiters habe er nur die stolzen Zinnen getroffen. Er pries die Tugend der Stärke. Er lobte die Gewalttat, die durch die Unterdrückung des Rechts in das höhere Recht zurückführe. So erschöpfte er das ganze ekle Wörterbuch des Tyrannenlobs; und er wäre ein Abscheulicher gewesen, wenn er geglaubt hätte, was er sagte; aber er redete unüberzeugt und leer, während er nur ein Begehr hatte, der vor ihm stehenden Lukrezia irgendeine Gewährung, einen Lohn abzulocken oder abzuzwingen.
Zuweilen stammelte er dieses Ziel verfolgende, irre Worte, unheimlich gemischt mit dem Lobliede der Gewaltherrschaft. Dann aber sah er plötzlich auf dem Munde Lukrezias ein Lächeln zucken, bitter wie der Tod. Er sah die ernsten und tieftraurigen Augen Angelas unter richtenden Brauen auf sich geheftet. Und, mehr als der Prunk der ihn umgebenden Kruzifixe und heiligen Bilder, erschreckte ihn der stumme Vorwurf des unschuldigen Mädchens.
Er mußte darauf verzichten, das kleinste gewährende Wort mit sich zu nehmen.
Da sann er eine Weile mit verschränkten Armen und unglücklichem Antlitz. »Ich gehe zu Don Cesare!« sagte er dann. »Was schickt Ihr ihm durch mich, Madonna?«
»Euch selbst!« antwortete Lukrezia. »So sieht der Bruder, daß ich ihm gehorche.«
»Darf ich sagen, daß Ihr ihm willig gehorchet?«
Lukrezia antwortete nur mit einem schwachen Lächeln. Rasch verschwand er.
Da umschlang das Mädchen die Schultern Lukrezias und fragte sie, Auge in Auge:
»Was wollte der Mensch mit seinem Lallen immer und immer wieder sagen? Was erhält er zum Lohn? Was gibst du ihm? – Den Tod? ...«
Die Herzogin lächelte wiederum und ließ die Fragerin allein.
Diese warf sich auf den Betschemel nieder. Aber, das Vaterunser flüsternd, konnte sie den Gedanken nicht loswerden:
Mit einem unüberlegten Worte habe ich einen Menschen geblendet und kann es nie verwinden! Diese aber lächelt, indem sie einen Menschen überlegterweise in den sicheren Tod sendet.
Doch hielt sie sich darum nicht für die Bessere, sondern verschloß das gemeinsame Elend in ihrer barmherzigen Brust.
Es war an einem Märztage nach Mitte des Monats, daß der Kardinal bei schon geöffneten, mit dem blauesten Lenzhimmel gefüllten Fenstern bei der Herzogin speiste.
Da fiel das Gespräch gelegentlich auf den Großrichter Herkules Strozzi, von dem der Kardinal behauptete, er habe Ferrara heimlich verlassen.
Darauf äußerte die Herzogin, unmerklich erbleichend, ihre Verwunderung, daß ein so gewissenhafter Beamter eine längere Reise ohne Urlaub unternommen habe, welche zu erteilen die Sache der Regentin sei, wie sie glaube.
Der Kardinal erwiderte, Herkules habe sich bei seinen zwölf Kollegen beurlaubt, wohl mit dem Gedanken, in Abwesenheit des Herzogs dürfte das genügen. Übrigens habe er vorgewendet, eine Familiensache der Strozzi verlange seinen schleunigen Besuch in Florenz.
Die Herzogin und der Kardinal ergingen sich dann in allerlei Vermutungen über die wahre Ursache dieser Abreise; da sie aber eine einleuchtende nicht finden konnten, vereinigten sie sich dahin, die vorgegebene könne am Ende die wahre sein.
Beide wußten mit voller Gewißheit, daß Herkules Strozzi bei Cäsar Borgia war.
Wenn ihre Augen hätten den Raum durchdringen können, so hätten sie die beiden gesehen, den gefürchteten Herzog und den Richter, vom Wirbel bis zur Zehe gepanzert, wie sie unter einem glorreichen Südhimmel durch blühendes und duftendes Heidekraut an den Krümmungen eines Absturzes emporkrochen, über sich die vier steilen Türme einer gotischen Burg mit Mordgängen und Schießscharten, sie beschleichend, nebst vielen andern Bewaffneten.
Sie hätten gesehen, wie ein Steinregen von den belagerten Zinnen sprang und manchen Klimmenden in den Abgrund warf. Gesehen, wie jetzt ein Block sich von der Burg herabwälzte, in gewaltigen Sätzen von Fels zu Fels sprang, den schrecklichen Sohn des Papstes traf und ihn zerschmettert in die Tiefe stürzte.