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»Deutsche Dichtung«, 1.Januar 1891.
»Huttens letzte Tage«, meine erste größere Dichtung, erschien zum erstenmale im Jahre 1871. Sie ist aus drei Elementen geboren: aus einer jahrzehntelang genährten, individuellen Lebensstimmung; dem Eindrucke der heimatlichen, mir seelenverwandten Landschaft und der Gewalt großer Zeitereignisse. Alle drei gewannen ganz von selber Gestalt in meinem Helden.
Ich hatte früher zwei Bändchen Gedichte ausgehen lassen, Reisebilder und Balladen, ohne hervortretende individuelle Züge, wenn nicht den einer aus innern Jugendkämpfen hervorgewachsenen, Einsamkeit liebenden Resignation, und den andern eines in langen und soliden geschichtlichen Studien erstarkten Gerechtigkeitssinnes, welcher schon im väterlichen Blute lag. Diese Gedichte bezeichnen und schließen eine Lebensepoche ästhetischer Beschaulichkeit, mannigfaltigster, vielsprachiger Lektüre, verschiedener Interessen, ohne die Glut einer erwärmenden Parteinahme des Herzens, und vieler nachhaltiger Reiseeindrücke, deren stärkster, neben der unwiderstehlichen Anziehung meiner heimischen Schneeberge, die alte Kunstgröße und der süße Himmel Italiens war. So hatte ich mich, ohne öffentliche Thätigkeit, in eine Phantasiewelt eingesponnen, und es konnte nicht ausbleiben, daß bei meiner übrigens kräftigen Natur, dieses Traumleben ein Ende nehmen mußte, und ich zu einer scharfen Wendung bereit war, etwa wie sie der Rhein zu Basel nimmt.
Ich bin zu jener Zeit ein wanderlustiger Mensch und ein froher Ruderer und Schwimmer gewesen. So blieb mir kein Fleck unseres Seespiegels und seiner schönen Ufer unbekannt, am wenigsten das unweit meines damaligen Wohnsitzes gelegene Eiland der Ufenau, welches den doppelten Reiz lieblichen Stille und einer großen Erinnerung besitzt. Oft bin ich bei den zwei Kirchlein gestanden, die auf dem nördlichen Wiesengrate über einem das Ufer einfassenden Kranze von Eichen und der grünen, die Insel bildenden Mulde den Höhepunkt der Ufenau bezeichnen. Zwischen den beiden Kirchen steht das verstümmelte Steinkreuz, welches dem Fremden als das Grabzeichen Huttens gewiesen wird. Nicht das wahre. Auf meine geäußerten Zweifel an der Echtheit der Grabstätte erwiderte mir einst der mich begleitende Knecht des Pächters mit ruhiger Sicherheit, der Stein stehe da, um den fragenden Besuchern einen »Anhaltspunkt« zu geben. Ein Bube aber, der dabei war, zeigte mit dem Finger in die Tiefe auf eine sumpfige Stelle und lachte: »Ich weiß wo er steckt! Dort unten.«
Die Ufenau ist, wie zu Huttens Zeit, Klostergut und wird von Konventualen besucht, die in dem gegenüberliegenden Uferlandhaus Seiner Gnaden von Einsiedeln ihre Ferien genießen. Auch der Abt selbst betritt zuweilen das Inselchen und ich erinnere mich mit Schrecken, eines Abends, gerade da man seinen Besuch auf morgen zur Besichtigung einer Baute erwartete, von der Ufenau heimgekehrt, beim Ablegen meines Rockes eine ungewöhnliche Schwere der Tasche gespürt und einen altertümlichen, ungeheuern Schlüssel daraus hervorgezogen zu haben. Es war der mir von den Inselleuten anvertraute, zu dem aussichtsreichen äbtlichen Pavillon der Südseite, welchen ich zurückzugeben vergessen hatte. So wurde ich auf der Insel heimisch und geschah es, daß Hutten, dessen Leben ich genau kannte, nicht als der ideale Freiheitskämpfer, der Hutten, welcher durch die damalige deutsche Lyrik ging, sondern als ein Stiller und Sterbender in den sanften Abendschatten seiner Insel meinem Gefühle nahe trat und meine Liebe gewann.
Unter meinen poetischen Entwürfen lag eine Skizze, wo der kranke Ritter ins verglimmende Abendrot schaut, während ein Holbeinischer Tod von der Rebe am Bogenfenster eine Goldtraube schneidet. Sie bedeutete: »Reif sein ist Alles.«
Das ist der Kern, aus dem mein Hutten entsprungen ist. Ich nahm das Gedicht in meine Sammlungen nicht auf mit dem dunkeln Gefühle, den vollen Hutten gebe es nicht.
So blieb es liegen jahrelang.
Inzwischen vergrößerten sich die Zeitereignisse. Zwei Aufgaben des Jahrhunderts, die Einigung Italiens und Deutschlands, schritten ihrer Erfüllung entgegen. Beide verfolgte ich mit persönlichem Interesse.
Im Jahre 1849 hatte sich der Baron Bettino Ricasoli längere Zeit in der Schweiz aufgehalten. In Zürich befreundete er sich mit unserer Familie, und ich lernte einen Mann kennen, dessen starke Seele der eine Gedanke der Freiheit und Einigung Italiens erfüllte. Dafür war er zu jedem Opfer bereit.
Damals erschien er mir als ein starrer Idealist, dessen eisernem persönlichem Willen sich die politische Wirklichkeit niemals fügen werde.
Anders war es, als ich ihn 1858, ein Jahr vor dem Ausbruch des italienischen Krieges, in seinem heimatlichen Toskana wiedersah. An einem Maiabend auf einem seiner Landgüter im Valdarno riß er mich hin durch die freudige Sicherheit, womit er mir seine Ziele, die jetzt greifbar vor ihm standen, bezeichnete. Damals und später, als er mit diktatorischer Gewißheit sein Toskana dem Könige von Italien zuführte, wurde mir beschämend klar, was ein Charakter im Leben einer Nation zu bedeuten hat.
Das glückliche Fortschreiten der italienischen Einigung ließ die baldige Gründung auch einer deutschen Einheit ahnen, wenn auch in jener Zeit gerade in Zürich Großdeutsche und Kleindeutsche schärfer als je auseinander traten. Der Sieg von Sadowa entschied diese Frage durch das Schwert. Für mich war es seit lange keine mehr gewesen. Schon der Sechszehnjährige hatte darüber eine Weisung erhalten, von der mich nur wundert, wie tief und unwiderleglich sie mir eingeprägt blieb. Ich verkehrte damals mit Gustav Pfizer, dessen redebegabte Frau mit meiner Mutter befreundet war, und der mich wohl leiden mochte. Der schweigsame Stoiker, den Heine so gewissenlos mißhandelt hat, wurde nicht müde, mir zu wiederholen, daß geschichtliche Bildungen und Entwickelungen, wie eben der Beruf Preußens zur deutschen Vormacht, zwar durch ungeeignete Persönlichkeiten – er meinte den geistreichen Friedrich Wilhelm IV. – verspätet, aber nur solange aufgehalten werden können, bis die günstige Stunde ihren Mann findet.
Dieser wundersame Glaube an das Preußen zustehende Amt blieb für mich die langen Jahre hindurch ein nicht zu bezweifelnder Satz, den ich übrigens für mich behielt, bis ich, bei herannahender Entscheidung, in François Wille, meinem lieben Freunde und Nachbarn in Meilen, einen feurigeren Glaubensgenossen fand.
Dr. Wille, der, die Welt und die bedeutenden seiner Zeitgenossen wohl kennend, eine sichere Schätzung der politischen Werte der Gegenwart besaß, hat mir erzählt, wie Heinrich Heine, das noch ungedruckte Wintermärchen in Hamburg ihm mitteilend, einen ärgerlichen Vers vortrug, worin er die preußischen Junker »davonlaufen« ließ. Da habe er ihm gesagt: »Lieber Heine, schimpfen Sie auf die preußischen Junker so viel Sie wollen! Aber das muß fort! ›Davonlaufen‹ war ihre Sache nie.« So waren wir einig bei Wille unter den Bäumen von Mariafeld, wie es kommen müsse, aber alle doch sehr getröstet und gehoben, als es so kam.
Alle – bis auf einen einzigen Gast, Gottfried Kinkel, der als ein abgeirrter Achtundvierziger eifersüchtig grollte.
Gerade zwischen 1866 und 1870 sah ich Wille sehr häufig und sein temperamentvolles Wesen ermutigte meine dichterischen Kräfte. Sicherlich erzählte ich ihm oft von Hutten, dessen Waghalsigkeit er liebte, nicht davon zu reden, daß er, als gewesener Journalist, eine Zärtlichkeit für den Ritter hatte, von dem er behauptete, er sei der Aelteste der Journalistenzunft. Hutten fing an in mir zu leben. Er war in den Vordergrund meiner Seele getreten.
Aufs tiefste ergriff mich jetzt der ungeheure Kontrast zwischen der in den Weltlauf eingreifenden Thatenfülle seiner Kampfjahre und der traumartigen Stille seiner letzten Zufluchtstätte. Mich rührte sein einsames Erlöschen, während ohne ihn die Reformation weiterkämpfte. Wieder erfüllten sich große Geschicke in Deutschland und der ohne Grab und Denkmal Ruhende hätte seine Lust daran gehabt, denn auch er hatte von der Einheit und Macht des Reiches geträumt.
Ritter Hutten, den ich hier auf seinem Eiland bisher entsagend sterben sah, erhob sich vor meinem Blicke, um es ungeduldig zu umschreiten, hinaushorchend nach dem Kanonendonner an der Grenze, den man in der Winterstille auf den Höhenzügen seines Sees vernehmen konnte.
Ich getraute mir, Huttens verwegenes Leben in den Rahmen seiner letzten Tage zusammenzuziehen, diese füllend mit klaren Erinnerungen und Ereignissen, geisterhaft und symbolisch, wie sie sich um einen Sterbenden begeben, mit einer ganzen Skala von Stimmungen: Hoffnung und Schwermut, Liebe und Ironie, heiliger Zorn und Todesgewißheit, – kein Zug dieser tapfern Gestalt sollte fehlen, jeder Gegensatz dieser leidenschaftlichen Seele hervortreten.
So belebte sich mir die Ufenau. Ignatius Loyola wird, nach Jerusalem pilgernd und unterwegs den nahen Heilsort Einsiedeln aufsuchend, nach der kleinen Insel verschlagen und von Hutten beherbergt. Der abenteuerliche Paracelsus kommt von seinem Wohnsitz am nahen Etzel herüber, um dem Kranken als Arzt den Puls zu befühlen. Der in Zürich hausende Herzog Ulrich, Hans Huttens Mörder, erscheint und wird dem Sterbenden zum letzten Aergernis. Mit diesen Gestalten des sechzehnten Jahrhunderts schreiten auf der Insel die Geister der Gegenwart.
In jenem Winter von 1870 auf 1871 entstanden die kurzen Stimmungsbilder meiner Dichtung Schlag auf Schlag. Jeder Tag brachte ein neues, und jede Woche las ich sie in Mariafeld vor. Daneben stob mancher andere Funke aus dem Amboß. »Der »deutsche Schmied« wurde gedruckt und gesungen. Ich sehe, er ist nun zum Volksliede geworden und hat meinen Namen verloren, wie es auch recht ist. Es war eine glückliche Zeit. –
Ich war damals dermaßen in deutschen Eifer geraten, daß ich, ganz gegen die angeborne Abgeschlossenheit meines Wesens, mich eines Tages an Gottfried Kinkel wagte und ihn dringend beschwor, durch ein schönes patriotisches Gedicht mit Deutschland Frieden zu schließen und in das erstandene Reich heimzukehren. Dieser Angriff des Schweizers verblüffte den liebenswürdigen Dichter dergestalt, daß einen Augenblick der unmögliche Gedanke in ihm aufstieg, ich strebe nach seiner Professur in Zürich und wünsche ihn weg. Ich erschrak und lachte innerlich und ließ ab.
Hassel in Leipzig druckte mir den Hutten mit Freuden. Das Büchlein erlebte bald neue Auflagen. Bei kühlerm Blute und fortgesetzten geschichtlichen Studien setzte ich später noch manchen realistischen Zug in das Bild des Ritters, um ihm Porträtähnlichkeit zu geben.
Während mein Hutten zum erstenmal unter der Presse war, im Sommer 1871, eilte ich auf meine Berge und erwog dort, während Wochen, die mir lange schienen, zwischen Bangen und Hoffen sein Los. Nachricht fand ich erst bei meiner Heimkehr: es war ein sympathisches, öffentliches Urteil von Johannes Scherr, ein erster freudiger Zuruf, dem aus der Heimat und aus Deutschland wachsender Beifall und dann volle Zustimmung folgte. Dies ist die Entstehungsgeschichte von »Huttens letzte Tage«.