Raphael Kühner
Paradoxe der Stoiker
Raphael Kühner

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Fünftes Paradoxon.

‘Ότι μόνος ο σοφὸς ελεύθερος, καὶ πα̃ς άφρων δου̃λοςDiog. Laert. 7, 121: μόνον τε ελεύθερον (ει̃ναι τὸν σοφόν), τοὺς δὲ φαύλους δούλους· ει̃ναι γὰρ τὴν ελευθερίαν εξουσίαν αυτοπραγίας, τὴν δὲ δουλείαν στέρησιν αυτοπραγίας..

Der Weise allein ist frei, und jeder Thor ist ein Sklave.

I. 33. Mag fürwahr dieser als Befehlshaber gepriesen oder auch so genannt oder dieses Namens würdig erachtet werden. Wie oder welchem freien Manne wird denn der befehlen, der seinen eigenen Begierden nicht befehlen kann? Er zügele zuerst seine Begierden, verachte die sinnlichen Vergnügungen, bezähme seinen Zorn, halte seine Habsucht in Schranken, entferne die übrigen Flecken seiner Seele. Dann fange er an Anderen zu befehlen, wenn er selbst den schlechtesten Herrinnen, der Schande und der Schmach, zu gehorchen aufgehört hat. So lange er wenigstens diesen sein Ohr leiht, kann man ihn nicht für einen Befehlshaber, ja nicht einmal für einen freien Mann halten.

Es ist nämlich ein vortrefflicher Lehrsatz, der von den gelehrtesten Männern aufgestellt ist, – ich würde mich nicht auf ihr Zeugniß berufen, wenn ich diesen Vortrag vor einigen Ungebildeten zu halten hätte; da ich aber vor den einsichtsvollsten Männern rede, denen solche Behauptungen nicht unbekannt sind, warum sollte ich mir den Schein geben, als ob ich die Mühe, die ich auf diese Studien verwendet habe, für verloren achtete? – Es ist also von Männern der gründlichsten BildungAußer den Stoikern stellten diesen Satz auch die Sokratiker, die Akademiker und Platoniker auf. Vgl. Xenoph. Comment. IV, 5, 3–12. Auch der Kirchenvater Augustin. de Civit. Dei IV, 3. spricht den Satz ganz wie die Stoiker aus: Bonus, etiamsi serviat, liber est, malus autem, etiamsi regnet, servus est, nec unius hominis, sed, quod est gravius, tot dominorum, quot vitiorum. der Satz aufgestellt, außer dem Weisen sei Niemand ein Freier.

34. Denn was ist Freiheit? Die Macht so zu leben, wie man willWas unter dem Wollen zu verstehen sei, wird in den folgenden Worten erklärt. Vgl. Cicer. Tusc. IV. 6, 12: Eam (voluntatem) illi (Stoici) putant in solo esse sapiente, quam sic definiunt: voluntas est, quae quid cum ratione desiderat. Quae autem ratione adversa incitata est vehementius, ea libido est vel cupiditas effrenata, quae in omnibus stultis invenitur.. Wer lebt nun so, wie er will, außer demjenigen, welcher zu jeder Zeit dem Sittlichrechten folgtHalm muthmaßt: nisi qui recta sua sponte sequitur; aber der Zusatz sua sponte ist überflüssig.? welcher seine Pflichten freudig erfüllt, welcher sich einen wohl überlegten und bedachten Lebenswandel gesetzt hat, welcher den Gesetzen zwar nicht aus Furcht gehorcht, aber sie befolgt und ehrt, weil er dieß für das Heilsamste erkennt, welcher Nichts sagt, Nichts thut, Nichts endlich denkt als gern und frei, dessen sämmtliche Entschließungen und sämmtliche Handlungen aus ihm selbst hervorgehen und auf ihn selbst wieder zurückgehenIch lese mit Orelli referuntur, das sehr viele, wenn auch nicht die besten Handschriften haben; Halm mit den besseren Handschriften feruntur. Die Silbe re konnte leicht wegen der vorhergehenden Silbe que übersehen werden. Zu proficisci bildet referri, nicht aber ferri den rechten Gegensatz. Borgers vergleicht: Cicer. Phil. 9, 5: ea, quae proficiscebantur a legibus,.. ad acquitatem referebat. Fin. 2. 18: proficiscantur a natura,.. ad utilitatem referantur. 3. 18: ab his omnia proficiscantur,.. ad ea referri omnes nostras cogitationes., und bei welchem Nichts mehr gilt, als sein eigener Wille und sein eigenes Urtheil, welchem sogar die Schicksalsgöttin, der man doch die größte Gewalt zuertheilt, weichen muß? sowie ein weiser DichterEinige Herausgeber meinen, Appius Claudius Cäcus (s. zu Cato 6, 16) sei gemeint, dessen Gedicht auch Tusc. IV. 2, 4. erwähnt wird (s. Orelli Onomast. p. 150) und bei Sallustius in der Rede ad Caesarem de re publica ordinanta, wo es heißt: Res docuit id verum esse, quod in carminibus Appius ait: fabrum esse quemque fortunae. Andere beziehen die Worte auf Plautus Trinum. II. 2, 84: non sapiens quidem pol ipse fingit fortunam sibi. gesagt hat: Jedem gestaltet sich sein Schicksal nach seinem eigenen Charakter.

Dem Weisen allein wird also das zu Theil, daß er Nichts gegen seinen Willen thut, Nichts mit Betrübniß, Nichts aus Zwang. Wenn nun auch der Beweis für diese Behauptung mit mehreren Worten zu erörtern ist, so ist es doch ein kurzerDie Stoiker liebten dergleichen kurze Schlußsätze, die sie consectaria nannten. Vgl. mit unserer Stelle: Cicer. Fin. III. 7, 26: Potest id quidem (quod honestum sit, id solum bonum esse) fuse et copiose et omnibus electissimis verbis gravissimisque sententiis et augeri et ornari; sed consectaria me Stoicorum brevia et acuta delectant. und einzuräumender Satz, daß, wer sich nicht in einer solchen Gemüthsstimmung befinde, auch nicht frei sein könne. Sklaven sind also alle Schlechten.

35. Und diese Behauptung ist weniger der Sache als den Worten nach befremdend und seltsam. Denn nicht in dem Sinne sagt man, solche Menschen seien Sklaven wie die Leibeigenenmancipia. Die Sklaven wurden bei den Römern nicht als Personen, sondern als Sachen, als Eigenthum ihrer Herren, betrachtet, die unumschränkte Gewalt über sie hatten. In den Sklavenstand kam man entweder durch die Geburt oder durch Gefangenschaft im Kriege oder durch Kauf oder durch Schuldhörigkeit (nexum) (wenn man unvermögend war seine Schulden zu bezahlen, so fiel man als Schuldknecht dem Gläubiger anheim), oder durch Bestrafung. S. Adam Röm. Alterth. Th. I. S. 65 ff., die durch Schuldhörigkeit oder auf eine andere Weise nach dem bürgerlichen Rechte Eigenthum ihrer Herren geworden sind, sondern wenn Sklaverei, wie sie es denn auch wirklich ist, darin besteht, daß man einem kraftlosen und kleinmüthigen Geiste, der keinen freien Willen hat, Gehör gibt: wer sollte da noch leugnen, daß alle Leichtfertigen, alle Leidenschaftlichen, kurz alle Schlechten Sklaven seien?

II. 36. Oder soll mir der etwa für frei gelten, welchen ein Weib beherrscht? welchem sie Gesetze auferlegt, vorschreibt, gebietet, verbietet, was ihr gut dünkt? welcher der Befehlenden Nichts abzuschlagen, Nichts zu verweigern wagt? Sie fordert; man muß gewähren. Sie ruft; man muß kommen. Sie stößt fort; man muß gehen. Sie droht; man muß zittern. Ich fürwahr bin der Ansicht, ein solcher Mensch sei nicht ein Sklave, sondern der nichtswürdigste Sklave zu nennen, auch wenn er aus der angesehensten Familie abstamme.

Und Diese ganze Stelle wird in den Handschriften etwa so gelesen: Atque ut in magna familia stultorum sunt alii lautiores ut sibi videntur servi sed tamen servi atrienses acuparii stultitiae suae quos signa – – – delectant et sumus inquit principes civitatis vos vero ne conservorum quidem vestrorum principes estis, sed ut in familia qui tractant ista etc. Diese nicht allein in einzelnen Worten, sondern durch Umstellung ganzer Sätze verderbte Stelle hat Madvig, dem auch Halm beipflichtet, sehr scharfsinnig also wieder hergestellt: Atque in pari stultitia sunt, quos signa – – – delectant. At sumus, inquit, p. c. Vos vero – – – estis. Sed ut in magna familia sunt alii lautiores, ut sibi videntur, servi, sed tamen servi, ut atrienses, at qui tractant ista etc. in gleicher Thorheit befinden sich die, welche an Bildsäulen, an Gemälden, an fein gearbeitetem Silbergeschirr, an Korinthischen Kunstwerken, an prachtvollen Gebäuden ein überaus großes Wohlgefallen finden. – »Aber wir sind ja,« sagen sie, »die Ersten im Staate.« – Ihr seid fürwahr nicht einmal die Ersten unter eueren Mitsklaven. 37. Aber sowie es in einem großen Hauswesen einige feinere Sklaven gibt, wie sie sich dünken, aber doch immer Sklaven sind, wie zum Beispiel die Aufseher des Atriums; diejenigen hingegen, welche dergleichen Geschäfte haben, wie putzen, salben, fegen, sprengen, nicht die ehrenvollste Stelle der Sklaverei behaupten: so nehmen auch im Staate die Männer, die sich der Begierde nach solchen Dingen ergeben, beinahe die unterste Stelle der eigentlichenipsius servitutis. Ipsa servitus ist die Sklaverei im eigentlichsten Sinne, d. h. die Sklaverei in philosophischem Sinne. Sklaverei ein.

»Große Kriege,« sagt Einer, »habe ich geführt; großen Befehlshaberstellen habe ich vorgestanden.« – Nun, so habe auch eine Gesinnung, die des Lobes würdig ist.

Ein Gemälde des AëtionAëtionis, so Halm nach den besten Handschriften, st. der anderen Lesart Echionis, die sich gleichfalls in mehreren Handschriften bei Cicer. Brt. 18, 70 u. Plinius N. H. 35, 78 findet, wo aber in neuerer Zeit richtig die andere Lesart hergestellt ist. Aëtion lebte zur Zeit Alexander's des Großen. oder eine Bildsäule des PolykletusPolykletus aus Sycion im Peloponnese, berühmter Bildhauer, im Zeichnen und Malen nicht unerfahren, ein Zeitgenosse des Perikles. Er war ein Schüler des Argivers Ageladas. Unter seinen Bildhauerwerken wurde besonders gerühmt eine Juno aus Elfenbein und Gold und ein Doryphorus. S. Plinius H. N. 34, 8. fesselt dich und versetzt dich in Staunen. Ich will nicht fragen, woher du sie geraubt hast, wie du sie besitzest. Wenn ich sehe, wie du sie anschauest, sie bewunderst, in Ausrufungen ausbrichst; so urtheile ich, daß du ein Sklave aller Albernheiten bist. 38. »Nun, sind denn das nicht artige Dinge?« – Ja wol; denn auch wir haben ein Kennerauge; aber ich bitte dich, diese Dinge mögen für anmuthig gelten, aber doch nur so, daß sie nicht zu Fesseln von Männern werden, sondern zur Ergötzung junger Leute dienen. Denn was meinst du? Wenn Lucius MummiusLucius Mummius zerstörte Korinth im J. 146 v. Chr. Von den unendlich vielen und herrlichen erbeuteten Kunstwerken behielt er für sich Nichts, sondern schmückte damit die Stadt Rom aus; einige schenkte er auch anderen Städten Italiens. Vgl. Strabo 8, c. 6. Nach Plinius 34, 7. starb er so arm, daß er seiner Tochter keine Mitgift hinterließ. Einen dieser Leute sähe, wie er ein Korinthisches Nachtgeschirr leidenschaftlich betaste; würde er, der für seine Person auf ganz KorinthD. h. alle Schätze und Kunstwerke Korinths. keinen Werth legte, ihn für einen vorzüglichen Bürger oder für einen sorgsamen Haushofmeister halten?

Möchte doch ein Manius CuriusUeber Manius Curius Dentatus s. zu Cato 6, 15. wieder aufleben oder Einer von den Männern, in deren Landgütern und Häusern Nichts von Glanz, Nichts von Schmuck sich befand außer ihnen selbst, und sehen, wie ein Mann, der die höchsten Auszeichnungen des Volkes genießt, bärtige Barben in seinem Fischteiche fängt und sie mit den Händen befühlt und sich der Menge seiner Muränen rühmtEine Anspielung auf Lucullus und den Redner Hortensius, die kostbare Fischteiche angelegt hatten. Vgl. Cicer. ad Att.. I. 19 u. 20.. Würde er nicht einen solchen Menschen für einen Sklaven so niedriger Art halten, daß er ihn in seinem Hauswesen nicht einmal für irgend ein wichtigeres Geschäft tauglich fände?

39. Oder ist etwa deren Sklaverei zweifelhaft, die aus Begierde nach Vermögen keine Bedingung des härtesten Sklavendienstes zurückweisen? Die Hoffnung auf Erbschaft, übernimmt sie nicht alle Unbilligkeit des Sklavendienstes? welchen Wink des reichen Greises ohne Erben beachtet sie nicht? Sie redet ihm nach dem Munde; was ihr auch zugemuthet werden mag, thut sie; sie begleitet ihn, sitzt bei ihm, macht ihm Geschenke. Was von diesen Dingen ist das Benehmen eines freien Mannes? was, mit einem Worte, nicht das eines trägen Sklaven?

III. 40. Wie? Jene Begierde ferner, die eines freien Mannes würdiger scheint, die Begierde nach Ehrenämtern, Befehlshaberstellen, Provinzen, welche harte Herrin ist sie, wie gebieterisch, wie heftig! Dem CethegusPublius Cornelius Cethegus genoß als Prätor im Staate großes Ansehen (vgl. Cicer. Brut. c. 48), führte aber einen schlechten Lebenswandel. Lucullus, der damals Statthalter in Cilicien zu werden wünschte, um den Krieg mit Mithridates, der wieder auszubrechen drohte, zu führen, erniedrigte sich so sehr, daß, obwol er den Cethegus wegen seines ausschweifenden Lebens verabscheute, kein Mittel unversucht ließ ihn zu gewinnen und sogar seine Geliebte Precia durch Geschenke und Schmeicheleien zu bestechen suchte. S. Plutarch. Vit. Luculli c. 6., einem keineswegs bewährten Menschen, zwang sie Männer dienstbar zu sein, die sich höchst angesehen zu sein dünkten, ihm Geschenke zu senden, des Nachts zu ihm in's Haus zu kommen, ja endlich ihn flehentlich zu bitten. Was ist Sklaverei, wenn dieß für Freiheit gelten kann?

Wie? Wenn die Herrschaft der Begierden gewichen und eine andere Herrin erstanden ist aus dem Bewußtsein der Sünden, die Furcht, was ist das für eine elende, was für eine harte Sklaverei! Jungen Männern, die sich ein Wenig auf das Schwatzen verstehen, muß man dienenNämlich um nicht von ihnen angeklagt zu werden.; Alle, die Etwas zu wissen scheinen, werden wie Herren gefürchtet. Der Richter vollends, welche Herrschaft übt er! mit welcher Furcht erfüllt er die Schuldigen! Oder ist nicht jede Furcht eine Sklaverei?

41. Was für eine Geltung hat also jene mehr wortreiche als weise Rede des großen Redners Lucius CrassusLucius Licinius Crassus, einer der größten Redner unter den Römern vor Cicero. S. unsere Einleitung zu der Uebersetzung der drei Bücher vom Redner S. 18–21 [§. 5.]. Die hier angeführte Rede ist die, welche Crassus im J. 106 v. Chr. hielt, um den Gesetzvorschlag des Consuls Quintus Servilius Cäpio zu unterstützen, in welchem der Vorschlag gemacht war, daß die Gerechtigkeitspflege, die seit dem J. 122 v. Chr. in den Händen der Ritter war, gemeinschaftlich von den Rittern und dem Senate verwaltet werden sollte. Die Römischen Ritter hatten sich nämlich der größten Ungerechtigkeit und Grausamkeit gegen den Senat schuldig gemacht. Doch ging der Vorschlag wahrscheinlich nicht durch. Vergl. Cicer. de Orat. I. 52, 225. : »Entreißt aus der Sklaverei!«? – Was versteht unter Sklaverei der so ungesehene und vornehme Mann? – »Laßt uns Niemandem dienstbar sein!« – Will er in Freiheit gesetzt werden? Keineswegs; denn was fügt er hinzu? – »Außer euch allen insgesammt.« – Den Herrn will er umändern, nicht frei sein. – »Denen wir dienen können und es schuldig sind.« – Wir aber, wenn anders uns ein erhabener und großer und durch Tugenden emporgetragener Geist einwohnt, sind es weder schuldig, noch können wir es. Du magst sagen, daß du es könnest, weil du es ja kannst. Daß du es aber schuldig seiest, sage nicht, weil Niemand Etwas schuldet, als was schimpflich ist nicht zurückzuerstatten.

Doch genug hiervon. Jener mag zusehen, wie er ein Befehlshaber sein könne, da die Vernunft und die Wahrheit selbst darthut, daß er nicht einmal frei ist.


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