Ernst Clefeld
Der philosophierende Vagabund
Ernst Clefeld

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Beginn der zweiten Schauspielerperiode.

1882–1884.

Ankunft In Berlin. – Agentenbesuche. – Obdachlos. – Anfang des Schmierenelends. – Schmierenzustände. – Ein sonderbares Liebesabenteuer. – Aphrodite Urania. – Garderobenscherze. – Aphrodite Pandemos.

Bis jetzt war's nur ein Kampf um Ideale. Nun nimmt der Kampf um diesen Kampf den Anfang.

Ich stieg in Berlin, das ich schon aus früheren Jahren kannte, in einem kleinen Gasthofe ab. Am nächsten Morgen führte mich mein erster Weg zu den Agenten, voll Selbstvertrauen, befreit von jenem tückischen Gespenst, das mich einst auf Schritt und Tritt verfolgte und mir den Aufstieg zu den Höhen der Kunst versperrte.Wohl erweckte die Erinnerung an mein einstiges Leiden anfänglich ein Gefühl der Furcht, das mir aber, da ihm der eigentliche Grund entzogen war, nicht mehr gefährlich werden konnte. Ich brauchte immerhin einige Zeit, um es ganz los zu werden. Ich sah nun freie Bahn vor mir und hoffte zuversichtlich, bald ein gutes Engagement und auf mein Trauerspiel gleich einen Vorschuß zu bekommen, den ich sofort den Tanten senden wollte. Man hatte ja in Berlin nur mehr auf mich gewartet: man brannte ja schon auf mein Stück: man lauerte ja mit Schmerzen auf mein Erscheinen, um mich so schnell als möglich an einem Hoftheater zu plazieren. Ich hatte noch nicht genug erfahren. Es mußte noch ganz anders kommen. Die erlittenen Enttäuschungen vermochten der Vernunft noch nicht den Faden an die Hand zu geben, meine Phantasie zu lenken und sie in den Bereich der Möglichkeit zu bannen: mich konnte nur die krasse Wirklichkeit ernüchtern. Der Eindruck des sich zwischen ihr und meinen Hoffnungen ergebenden Kontrastes stand freilich nicht mehr auf derselben Höhe. Die Gewöhnung hatte an mein Gemüt schon ihre Hand gelegt: die Wirkung trat schon mehr in ein Verhältnis zur Vernunft: ich lernte schon, mich in mein Schicksal zu ergeben.

Wie der Herr Schulinspektor mir nicht vergessen konnte, daß ich einst bei der Bühne war, so konnten die Agenten nicht verstehen, weshalb ich ihr so lange ferngeblieben. Es mußte seinen Haken haben. Dort stand mir der Komödiant, hier der Abiturient im Wege. Alle Versicherungen hinsichtlich meines ernsten Strebens, das die jüngst verflossene Zeit erfüllte, waren in den Wind gesprochen. Die Aeußerlichkeit, der Erfolg hat ja auch nirgends eine solche Stimme, wie gerade beim Theater. Selbst das Talent spielt eine kleine Rolle im Verhältnis zu dem, was einer hat und wie er aussieht. Ich taugte auch nicht für die Bühne, weil ich auf die Meinung der Welt nie einen großen Wert gelegt. Nun sollte ich um der Agenten Meinung buhlen: ihnen, deren Schwerpunkt nur nach außen fällt, ohne jede äußere Hilfe für mich ein Interesse abgewinnen. Von dieser Sisyphusarbeit kam ich täglich um eine Hoffnung ärmer nach Hause. Nach acht Tagen war auch als letzte die auf mein Trauerspiel begraben. Immerhin kam mir der Lektor desselben liebevoller als alle anderen entgegen. Mein Talent daraus erkennend, sprach er die vollste Ueberzeugung aus, daß ich gar wohl berufen wäre, ein ganz brauchbarer Bühnenschriftsteller zu werden.

Nachdem ich wochenlang auf ein annehmbares Engagement gewartet, war schon die höchste Not hereingebrochen. Das letzte Wertobjekt meiner geringen Habseligkeiten befand sich im Leihhaus, und als ich im Gasthofe bereits für einige Tage mit der Bezahlung im Rückstande war, verwehrte mir der Wirt eines Abends den Eintritt, meinen fast leeren Koffer als Pfand behaltend. Wie betäubt stand ich da. In das wirre Treiben der Großstadt blickend, war es mir, als ginge mich alles nichts mehr an. Langsam entfernte ich mich. Ich sah fröhliche Gesichter. Die wissen nicht, wie mir zumute ist. Ach, und die Tanten! Wenn die es wüßten! Jetzt denken sie an mich: ich weiß gewiß, daß sie in jedem Augenblicke an mich denken. Es ist schon spät. Bald werden sie zu Bette gehen. Die Sorge um mich wird sie nicht schlafen lassen. Und sie sind schon so alt und schwach. Ich dagegen noch so jung. Soll ich ruhig schlafen dürfen, während sie bloß im Gedanken an die Möglichkeit, daß meine Hoffnungen sich nicht erfüllen könnten, jetzt bittere Tränen weinen? Nicht um sie war ich besorgt, während sie es nur um mich sind. Ist ihre Lage nicht schlimmer als meine? Habe ich nicht dazu beigetragen? Also nur, weil mir die Aussicht fehlt, ihnen zu helfen, wie sie mir gerne helfen möchten, nur in Anbetracht des Schmerzes, den sie empfinden würden, wenn sie um meine Lage wüßten und doch nicht helfen könnten, kann diese mich schmerzlich berühren. Egoist! Mußtest du erst ohne Obdach sein, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen? Und das Bewußtsein, daß mein Empfinden sich dem ihren nähert, kann mich doch nur mit Stolz, mit innigster Genugtuung erfüllen. Ja, ich liebe sie, wie sie mich lieben, ich empfinde das, was sie empfinden: ich bin Eins mit ihnen. Leicht ist mir ums Herz geworden. Ich fühlte mich so frei, so reich, plötzlich so reich im Nichtbesitze dessen, was sie nicht besitzen. Der Schleier fiel, der mir mein Innerstes verhüllte; es zeigte sich mir ein Schatz, dessen Unermeßlichkeit mir alle Aussicht auf Entbehrungen und Not versperren und alle äußeren Güter als so verschwindend klein erscheinen lassen mußte: es war die Liebe!

Ich kam unter den Linden an. Die Sterne standen am Himmel, kein Windhauch war zu spüren, nur eine erfrischende Kühle herrschte nach einem heißen Tage in der herrlichen Septembernacht. In Gedanken weitergehend, sah ich mich plötzlich vor der Universität. Unnahbar stand sie vor mir. Von ihrer Stirne las ich: »Fort! Geh deiner Wege, Komödiant! Du hast hier nichts zu suchen. Geh!« – Ich schlich an die eiserne Gittertür: verschlossen! Wie ein Dieb lief ich davon.

Ich setzte mich auf eine Bank im Lustgarten, wo ich in Träumereien versank. Die aufgehende Sonne mahnte mich sehr gnädig an die Wirklichkeit meines Daseins, sehr brutal aber der Magen. Die Bäckerjungen liefen mit den frischen Semmeln, Schrippen, Hörnchen an mir vorüber, die meine Augen gierig verschlangen. Ach, lieber Gott, bloß einen Sechser, schenke mir bloß einen Sechser! Mein Blick fiel auf den Boden – es lag ein Groschen vor mir. Mein Herz frohlockte. Ich eilte zum Bäcker und kaufte mir vier Schrippen, die ich aus heißer Dankbarkeit auf derselben Bank mit wahrem Heißhunger verzehrte.

Am frühen Vormittag trat ich wieder die verhaßten Agentenbesuche an. Bei einem dieser Herren traf ich einen Schmierendirektor Stein, der meine Not erkennend, huldvollst erklärte, daß er mich engagieren wolle. Ich lehnte ganz entschieden ab. Als mich aber der Agent mit Zureden bestürmte, mir klar machte, daß die Verträge für alle größeren Theater schon längst abgeschlossen seien und nur die Kündigungsfrist vielleicht noch etwas Besseres bringen könne, mich mit einem Blick auf die Kleidung fragte, ob ich inzwischen Hungers sterben wolle, und mir der Herr Direktor in drei blanken Goldstücken als Vorschuß 30 Mark hinlegte – da war mein Widerstand gebrochen. Ich akzeptierte schweren Herzens, brachte meine Sachen in Ordnung und fand mich nachmittags am Bahnhofe ein, um in Gesellschaft des Herrn Stein und einer Schauspielerin die Reise ins Engagement anzutreten. Plötzlich verlangte er von mir, daß ich für jene das Reisegeld auslegen solle. Mit nicht geringem Erstaunen erklärte ich, daß ich dazu außer stande sei, da ich den Vorschuß zur Einlösung meiner Sachen und zur Bezahlung im Gasthofe verwendet hätte. Wohl besaß ich noch eine geringe Barschaft, hütete mich aber, dieselbe herauszugeben. Als er immer heftiger in mich drang und mich sogar durch einige Ausdrücke provozierte, geriet ich mit ihm in Streit, wobei ich ihm die mir zugefügten Beleidigungen als wahrer Krösus in entsprechender Münze zurückgab. Lieber obdachlos, sagte ich mir, als ein solches Engagement! Schon wollte ich beim Bahnhofspediteur meine Sachen versehen, um ihm den Vorschuß zurückzahlen zu können. Es war leider nur ein Verzweiflungsgedanke, da ich kaum die Hälfte darauf erhalten hätte. Endlich löste er das Billett. Ich fand meine Annahme, daß er noch so viel Geld bei sich habe, bestätigt. Nun stand auch mein Urteil über seinen Charakter fest.

Wir fuhren vierter Klasse. Zusammengekauert saß ich auf meinem Koffer. Ich dachte an die vergangene, obdachlose Nacht. Wie ein schöner Traum stand sie vor mir. Alle inneren Erlebnisse derselben versuchte ich noch einmal zu durchleben. Umsonst! Gestern war ich mit mir allein. Die Gesellschaft, der Anblick dieses Menschen ließ mich nicht mehr zu mir selbst gelangen. Ohnmächtig zeigte sich mir die Vernunft dem Eindruck des Gemeinen gegenüber. Der Gedanke an die Tanten, der mich gestern noch in lichte Sphären hob, schleuderte mich heute in den Abgrund. Ich sah ihr Bild neben diesem. Das war zuviel, das durfte ich ihnen doch nicht antun. Das Band, das mich bisher so innig an sie knüpfte, schien mir entweiht, zerrissen. Unwürdig fühlte ich mich ihrer Liebe. Das Bewußtsein, daß ich mich ihm verschreiben konnte, brachte mich zur Raserei. Und kein Entrinnen mehr! Ich hätte ihn an der Gurgel packen mögen. Wie ein gereiztes Tier im Käfig lief ich umher. »Nanu,« sprach er, »was ist denn mit Ihnen los?« – »Sprechen Sie mich nicht an,« schrie ich ihm zu, »Sie haben es mit einem Rasenden zu tun!« Er verstummte. Alle Anwesenden starrten mich an. Eine dumpfe Stille folgte. Ich setzte mich wieder auf meinen Koffer und weinte. Einige flüsterten und lachten. Das schien ihm Mut zu geben. Er deutete ihnen an, daß es bei mir im Kopfe nicht ganz richtig sei, worauf ein neues Lachen folgte, während zwei neben mir sitzende alte Weiber ängstlich weiterrückten. Man hielt mich wirklich für verrückt, was mir sogar ein Lächeln entlockte. Als der Herr Direktor dies bemerkte, reichte er mir äußerst freundlich mit den Worten: »Na, wollen uns doch wieder vertragen,« seine Kümmelflasche. Diese mechanisch zum Munde führend, tat ich einen kräftigen Zug. Lauter Beifall belohnte mich für diese Leistung. Der Herr Direktor, der mit Absicht dieses Schauspiel inszenierte, wußte wohl, daß er im Falle des Gelingens die Lacher auf seiner Seite haben würde. Er schien befriedigt: sein ganzes Wesen sagte mir: »Na, Junge, jetzt trinkst du schon mit mir aus einer Flasche, das wird noch viel besser kommen.« Nun war mein Abscheu vor ihm um so größer. Er wußte mich zu überfallen, zu sich, zu seinesgleichen in den Sumpf zu ziehen, in einem Augenblicke, in dem ich nicht mir selber angehörte, in dem meinem gebrochenen Willen der Zeiger der Erkenntnis fehlte. Ich hatte vielleicht das Gefühl, daß ich vorher zu schroff gewesen, was mein versöhnliches Gemüt auf diese mir so nah gelegte Art wieder auszugleichen suchte. Wenn mir mein größter Feind, von dem ich wußte, daß er mir den Tod geschworen, in diesem Augenblicke die Flasche hingehalten hätte mit den Worten: »Trink, wir wollen uns wieder vertragen,« so würde ich zugegriffen haben, ohne die Folgen zu bedenken. Ich bin nie Herr der Gegenwart. Unmittelbar nach begangener Torheit wird mir freilich alles klar, wo es aber meist zu spät ist. Um wie viel weniger war ich es in dieser Stimmung. In einen Höllenabgrund blickend, griff mein hilfloser Lebenswille nach irgendeinem Anhaltspunkte, und wenn es der Tod selber wäre, um sich daran festzuklammern. Es ist zufällig der Schnaps gewesen.

Geistig und körperlich gebrochen, kam ich in P .... an. Bei einem Handwerker fand ich Wohnung und Verpflegung. Aus Oesterreich und von meinen Tanten kommend, ist mir der Eintritt einer äußerst mageren Zeit um so fühlbarer geworden. Die gewöhnlichen Gerichte waren Grütze, Milchreis, Linsen, Bohnen: nur Sonntags gab es Fleisch in sehr bescheidenem Maße. Eine Kuhkäsestulle mit einer Flasche Braunbier war mein tägliches Abendbrot.

Wir spielten im Saale eines Wirtshauses. Es war eine sogenannte »stehende Bühne«, die sich durch ein von Fachleuten aufgebautes Podium und bereits aufgestellte Kulissen von der »fliegenden Bühne« unterscheidet, deren Podium erst durch auf Fässer gelegte Bretter von den Kunstjüngern selbst hergestellt wird. D er Direktor der »fliegenden Bühne« ist zugleich Besitzer der Dekorationen, deren Transport der Uebersiedelung nach einem neuen Orte unter Aufsicht eines Mitgliedes der Truppe vorangeht. Die Tüchtigkeit desselben in allen erforderlichen Handarbeiten übertrifft noch seine dramatische Fixigkeit und Fertigkeit. Obendrein ist er stets besoffen. Dieser »Mann für alles« ist Maler, Zimmermann, Zettelträger, Requisiteur und Schauspieler in einer Person. Er ist die Perle des Direktors, weshalb sich jeder hütet, mit ihm in Konflikt zu geraten. Der durch die Not des Schmierenlebens gebeugte Schauspieler geht ihm aus dem Wege oder greift stillschweigend und resigniert mit an, wenn er es gebietet. Kriechendes Wesen gegen den Direktor, brutales Auftreten oder eine sich besonders im Trunke äußernde herablassende Protektormiene gegen Kollegen geben die Charakteristik dieser Subjekte, die mir nicht selten zum Verhängnis wurden. Wer kann sich vorstellen, was es heißt, seine Existenz von den Launen eines solchen Individuums abhängig zu wissen!

Dieser »Mann für alles« ist der Haupttypus der »fliegenden Bühne«, deren Direktoren meistens »auf Teilung« spielen, während er bei Gagendirektionen, die in der Regel Ortschaften mit »stehenden Bühnen« aufsuchen, keinen so fruchtbaren Boden findet.

Das ist jedoch kein großer Vorzug, weil diese Direktoren einen anderen Trabanten haben, der fast unfähig zu jeder nützlichen Tätigkeit, sich zur Ausführung gemeiner Streiche um so brauchbarer zeigt. Das Anzetteln von Intrigen, das Heraufbeschwören von Zwistigkeiten mit Mitgliedern, die der Direktion unbequem sind, ist deren eigentliches Feld.

Die Gagendirektionen niedrigster Kategorie sind materiell viel schlechter fundiert, und ihre jedesmal schnell zusammengewürfelte Gesellschaft kann in »künstlerischer« Hinsicht mit den Darbietungen der bei »fliegenden Bühnen« eingesessenen Mitgliedern nicht konkurrieren. Jene dünken sich aber bedeutend besser, weil sie ihre Mitglieder in Gage nehmen, die sie nur leider meistens nicht bezahlen,Die Bühnengenossenschaft hat diesem Treiben Einhalt getan. während der Direktor der »fliegenden Bühne« auf Teilung spielt, weil er sich dabei viel besser steht und bei schlechtem Geschäftsgange der vorhandene Fundus dadurch vor Pfändung geschützt wird.

Stein besaß alles Erforderliche für einen kleinen Gagendirektor: einen hohen Zylinder, einen schäbigen Straßenanzug und ein paar karierte Habits für komische Rollen, wie sie zu Nestroys Zeiten Mode waren. Er hatte lange gedient und sprach stets im Unteroffizierstone. Bei den Proben liebte er es, mit seinen Kasernenhofblüten zu glänzen. Weil er seine Mitglieder nicht per »Er« anreden konnte, vermied er das »Sie« nach Kräften, z.B. »Möchten wohl bloß Gänsebraten essen?« »Sollten die Flinte abends putzen und nicht morgens!« Sobald er irgendeinen Schelmenstreich ausgeheckt hatte, rieb er sich vergnügt die Hände. Man wußte nicht, ob er sich mehr über dessen Gelingen oder über seine Verschmitztheit freute.

Bei den ersten Vorstellungen war der Saal fast völlig leer. Die noch ziemlich weite Entfernung des Gagetages und die Hoffnung auf eine mittlerweile zu erzielende Einnahme gaben ihm den Mut, sein freches Wesen aufrecht zu erhalten.

Auf einem überplanten Leiterwagen machten wir einen Abstecher nach einem in ungefähr drei Stunden erreichbaren Ort.Weil ich nur aus der Erinnerung schreibe, steht unter den vielen Abstechern während meiner Bühnenlaufbahn nicht jeder einzelne klar vor mir. Es kann eine Verwechselung vorkommen. Diesen ersten aber habe ich noch ziemlich im Gedächtnisse. Dennoch kann ich nicht darauf schwören, daß sich alles genau nach folgender Schilderung zugetragen. Jedenfalls erhält der Leser ein treues Bild, wie es bei Abstechern zugeht.

Ich steckte mir die Ilias in die Tasche. Neugierig musterte der Direktor die griechischen Buchstaben. »Ist wohl hebräisch?« fragte er. »Sollten lieber Ihre Rolle lernen!« Der humoristische Vater war eben im besten Zuge, sich durch die Erzählungen seiner Triumphe über die trostlose Gegenwart hinwegzutäuschen, als er auch schon aus Schabernack durch die Zoten und Scherze seiner jüngeren Kollegen unterbrochen wurde. Diese Ausgelassenheiten halten aber nur in der ersten Stunde an. Der Unmut über die entsetzliche Fahrt gibt sich bald in einem dumpfen Hinbrüten, in zynischen Ausbrüchen oder einem mehr oder minder kräftigen Fluchen und Schimpfen kund. Der Grad dieser Kundgebungen gibt den Maßstab für den Respekt vor dem Herrn Direktor. »Wem's nicht paßt,« schreit dieser, »der muß sich an ein Hoftheater engagieren lassen.«

Der Homer hatte nur eine kurze Auferstehung gefeiert; er konnte sich auf dieser Fahrt und in dieser Gesellschaft nicht behaupten. Das wäre selbst einem Odysseus über die Hutschnur gegangen.

Erleichtert atmete ich bei der Ankunft auf. Die ausgestandenen Qualen waren indessen nur ein kleines Vorspiel zu der nun folgenden Komödie auf und hinter der Szene.

Garderoben waren nicht vorhanden. Wir zogen uns hinter den Kulissen an, die Herren auf der einen, die Damen auf der anderen Seite. Für Stühle ist kein Platz. Man zieht sich stehend an. Kein Souffleurkasten. Es wird aus der ersten Kulisse souffliert. Keine Requisiten. Jeder muß sich, was er braucht, vom Wirt, dem Hausknecht oder Kellner erbetteln. Es fehlt eben der »Mann für alles«. Endlich ist man angekleidet. »Ach, Gott sei Dank!« Man hat wieder viel überstanden. Der Herr Direktor stürzt mit der Kasse auf die Bühne. Er hat sein Hauptgeschäft erledigt. Nun schnell in die Hose rin, Perrücke auf, zwei rote Striche ins Gesicht. »Es kann angehen!« Nein, noch nicht, es steht noch keine Dekoration. »Das Zimmer herunter, fix, fix, fix! Können auch anfassen, wenn Se auch hebräisch können! Herrje, die Leine ist gerissen! Wo ist der Hausknecht? Hausknecht! Na, so rufen Sie doch den Hausknecht!« Er kommt und hilft. »Na endlich! Noch schnell Tisch und Stuhl hinaus! So, nun los! Klingelzeichen! Wo ist die Klingel? Nicht einmal eine Klingel da! Dort steht ein Weißbierglas! Und hier ein Löffel! Geben Sie das Zeichen, fix! Na, warum geht es denn nicht hoch? Kein Mensch am Vorhang! Schnell an den Vorhang. Mensch! Ich trete doch a tempo auf.« Der Vorhang hebt sich langsam, doch nur von der einen Seite. »Woran hapert's denn schon wieder?« Die Schnüre haben sich verwickelt. Es bildet sich ein offenes Dreieck. »Runter, runter mit dem Vorhang! Hausknecht! Wo steckt denn der verfluchte Kerl?« Der Hausknecht wird zum Retter. Es geht los. Jeder bemüht sich, links zu stehen. Keiner weicht, ein regelrechter Kampf entspinnt sich. Man will die holde Nähe des Souffleurs genießen! Wutschnaubend steht der Partner da, wenn er verdonnert ist, die rechte Seite einzunehmen.

Doch »es wird aus«. Und der Gedanke, daß es aus wird, hielt mich auch diesmal aufrecht mit der Hoffnung, noch eine Mark Vorschuß zu erhalten. Meine Käsestulle war längst aufgezehrt. Ich hatte Hunger. Zögernd nahte ich mich dem Direktor. »Ach, wollen schon wieder Vorschuß haben. Da!« Krampfhaft hält man das Geldstück in der Hand, wie ein den Räuberhänden entrissenes Eigentum, tief gräbt es sich ins Fleisch, elektrisch zuckt es durch den Körper – man fühlt sich glücklich, reich, man eilt in die Gaststube, um seinen Hunger zu stillen.

Am Büfett steht ein behäbiger Viehhändler, der einen gnädig heranwinkt. »Hast deine Säcken gut gemacht, hast fein gespölt, mer wull'n een' heben.«

Die Don Juans des Ortes und in der Nähe hausende Rittergutsbesitzer, deren Gespanne draußen warten, drängeln sich an die Damen heran. Man sieht die Gesellschaft in ein Seitenzimmer verschwinden. Wein, Schmor- und Gänsebraten werden einem nach und nach an der Nase vorbeigetragen. Während drinnen die Gläser klirren, würgt man draußen sein Stück Leberwurst hinein, zählt seine Groschen und kämpft einen heißen Kampf, ob man es riskieren kann, sich noch ein Glas Bier zu gönnen. Was kann da sein! Man trinkt noch eines. Stumpfsinnig sitzt man da. Nur der Gedanke ans Nachhausefahren gibt plötzlich einen Stich ins Herz. Wird es denn nicht bald losgehen? Nein. Es wird erst Sekt hineingetragen. »Noch ein Glas Bier!« Die Mark ist aufgezehrt. »Nun wird es aber Zeit, Direktor! Wir haben morgen um zehn Uhr Probe.« »Ja, es wird schon angespannt!« Der Herr Direktor ruft ins Nebenzimmer: »Es ist Zeit zum Aufbruch, meine Damen!« »Ach, Herr Direktor!« ruft man drinnen. »Treten Sie näher, Herr Direktor!« Der Herr Direktor tritt hinein, schon um's mit den Herrschaften nicht zu verderben. Die Sauferei beginnt von neuem. Wütend rennt man auf und ab. »Verdammte Menscher!« brummt der eine, »verfluchte Bande,« kreischt der andere. »Die saufen sich die Huke voll,« brüllt der dritte, »und wir können hier verdursten!« Dabei lacht er in sich hinein. Es ist zugleich eine minder zarte Anspielung gewesen. Mit einemmal erinnern sich auch die Herren da drinnen, daß da draußen durstige Seelen in Gestalt von armen Teufeln sitzen. Der Kellner kommt und bringt jedem ein Glas Wein. »Von den Herren! Sie sollen sich's gut schmecken lassen!«

Von keiner Lippe kommt ein Wort des Dankes. Die Höflichkeit erstickt in der noch herrschenden Empfindung, selbst der Verkommenste scheut sich, wenn das Glas Wein auch sein Inneres umgestimmt, diesen Umschwung zu bekunden. Und jener dritte murmelt selbstzufrieden: »Verdammte Ochsen, das ist euch jetzt erst eingefallen!«

Der perlende Wein im verlockenden Römer stellte auch mich auf eine harte Probe. Soll ich trinken oder nicht? So klein und unbedeutend der Tatbestand auch an sich ist: Jede solche Niederlage stumpft das Gemüt ab für ein höheres Empfinden; sie ist die Wurzel der Verkommenheit. Endlich war auch dem Kutscher die Geduld gerissen. Er riß die Türe auf und rief: »Wie lange soll ich denn noch warten? Ich soll um vier Uhr schon aufs Feld!« Es kam zum Aufbruch. Mein Wein stand noch immer da. »Sie sind ein Schafskopf,« sagte einer, »wenn Sie nicht trinken, trinke ich.« Nun leerte ich das Glas mit einem Zuge.

Die Wagenbesitzer lassen es sich nicht nehmen, die Auslese der Damen – natürlich in Begleitung anderer Herren – sittsam nach der Stadt zu fahren. Den Rest der Schönen, in deren Busen ein Orkan tobt, bringt man galant zum Leiterwagen. »Brechen Sie sich das Genick! Adieu!«

Gemäß den inneren und äußeren Erlebnissen des Tages gibt die Rückfahrt ein buntes Stimmungs- und Charakterbild.

Der an solche Fahrten gewöhnte Schmierenkomödiant singt einen Gassenhauer, der andere greift wieder zu seinen Zoten, der dritte flucht wie bei der Hinfahrt laut oder im stillen, je nachdem es ihm angesichts des hohen Direktoriums die Furcht vor einer Kündigung gestattet, die verschmähten Damen räsonnieren über die Schamlosigkeit ihrer Kolleginnen, die sich in später Nacht – horribile dictu! – von Herren allein nach Hause fahren lassen; der Anstand hätte es erfordert, sie als Hüterinnen mitzunehmen; der Direktor stimmt mit ein, wenn eine darunter war, auf die er selbst ein Auge hatte, oder eine, die er gerne los sein will; wenn nicht, so hält er es für Direktionspflicht, seine Damen in Schutz zu nehmen. Herr Stein schimpfte kräftig, weil sein Verhältnis für heute einen Gutsbesitzer vorgezogen, während die Frau Direktor sich außergewöhnlich fröhlich zeigte.

Bald verstummt alles. Man hört nur noch das Geknarre des schaukelnden Leiterwagens und die Peitsche des Kutschers. Nach langer Pause wird ein leises Stöhnen hörbar. Ein boshafter Kollege steckt rasch ein Streichholz an. Die tugendhafte Naive ruht in etwas fraglicher Stellung in den Armen des Regisseurs, der das arme Kind in Schlummer wiegt.

Nach einem solchen Abstecher sieht man am nächsten Tage oft die wunderlichsten Pärchen. »Das Mensch« von gestern ist über Nacht zum »Engel« geworden. Der nächste Abstecher macht schon wieder ein »Mensch« daraus.

Wir kamen in früher Morgenstunde zurück. Um zehn Uhr war Probe. Die Kellner brachten den Saal nach einem stattgefundenen Tanzvergnügen in Ordnung, stellten Tische und Stühle auf, deren vorderste Reihen durch das Anhängen von Nummern wieder das Prädikat »Sperrsitz« erhielten. Man konnte sein eigenes Wort nicht verstehen, viel weniger den Souffleur, Obendrein war man nicht ausgeschlafen. Die ungetreue erste Heldin wischte sich fortwährend Tränen aus den Augen, wahrend der Herr Direktor ihr Blicke zuwarf, aus denen ungefähr zu lesen war: »Ich werde dich schon mores lehren, Kanaille, verfluchte!« In dieser Stimmung war er noch frecher als gewöhnlich. Der routinierte Schmierenhäuptling kannte seine Pappenheimer und wollte die vorhandene Unlust durch verschärfte Grobheit unterdrücken. Diesen Ton schlug er auch gegen mich an. Das war zu viel, der Gegensatz zwischen meinem jüngst vergangenen Streben und der Gegenwart zu groß, zu grausam die Erinnerung an alles. Was konnte ich den Tanten schreiben? Lügen, nichts als Lügen! Im Abschütteln des verhaßten Joches erblickte ich den einzigen Ausweg. Nur fort! Was dann auch immer kommen mag. Ich war nicht mehr bei Sinnen. Das physische Unbehagen steigerte noch dies Empfinden. Nach einem kurzen Streite warf ich meine Rolle hin und lief nach Hause. Darauf war er nicht gefaßt, hatte er doch mich vielleicht noch nötiger als ich ihn. Es dauerte auch nicht lange, bis er an mein Fenster kam, um mich zur Rückkehr zu bewegen. Als er sein fruchtloses Beginnen einsah, rief er mir leise zu: »Hallunke!« Ich brüllte nun, daß es die ganze Straße hören konnte: »Haderlump, Haderlump, Haderlump!« »Ah, Servus, Landsmann!« rief ein vorübergehender Oesterreicher. Dann stürmte ich hinaus und irrte planlos durch die Straßen. Als ich wieder nach Hause kam, fand ich meine Tür verschlossen. Die Wirtsleute erklärten mir, der Herr Direktor wäre dagewesen und hätte ihnen mitgeteilt, daß ich mit meinen Sachen durchgehen wollte. »Durchgehen – ich?« Ja, ja, dergleichen kenne man schon am Orte; von den vorigen Spielern wären drei Stück durchgebrannt und die armen Wirtsleute hätten das Nachsehen gehabt. Ich erklärte, daß mir das gar nicht in den Sinn gekommen. Auf die Frage, weshalb ich dann nicht bezahle, wußte ich freilich keine rechte Antwort. Jetzt erst kam ich zum Bewußtsein meiner Lage. Man fackelte jedoch nicht lange. Einem Menschen, der kein Geld besitzt und es obendrein noch wage, dem Herrn Direktor frech zu kommen, wäre alles, nur nichts Gutes, zuzutrauen. Vorwärts! Hinaus! Da stand ich wieder. Konnte es auch anders kommen? Mußte ich nicht vorher wissen, daß es nicht anders kommen könne? Hatte ich vielleicht erwartet, daß ein Engel vom Himmel steigen würde, um mir beizustehen? Und ich war nicht in Berlin, wo man sich noch helfen kann; ich war in einem Philisternest, in dem man den Komödianten ohnehin für einen Wegelagerer hält. Wie wird man mich erst ansehen, als einen, der gar nicht mehr der Truppe angehört? Als frechen, obdachlosen Vagabunden, der zum Theaterspielen sogar zu schlecht ist. Die Meisterin lief auch schon zu der Frau Nachbarin, um ihr nur schnell ihr Leid zu klagen und diese Schreckenskunde zur Warnung der ehrsamen Bürgerschaft wie ein Lauffeuer zu verbreiten. Auf der Schwelle erschien der Meister, behaglich eine Stulle kauend, die er sich jetzt doppelt gönnte im Bewußtsein, daß er sich durch das Verschließen der Wohnung gerade noch im rechten Augenblicke vor Schaden zu bewahren gewußt hatte. »Gehen Sie doch zum Direktor,« rief er mir zu, »der Mann läßt mit sich sprechen. Wenn Sie ihn recht schön bitten, ist es möglich, daß er Sie wieder einstellt.« Ihn bitten? Eher sterben! Mir kam ein rettender Gedanke! Ich ging zum Bürgermeister, um mir die Erlaubnis zu einem Rezitationsabend einzuholen. Da ich keinerlei diesbezügliche Papiere besaß und also kein vorliegendes höheres Kunstinteresse nachweisen konnte, wurde er stutzig. Ich hielt es für das Beste, ihm alles offen zu erzählen. Er ließ den Direktor kommen, der nun sehr kleinlaut war, und brachte eine Einigung zustande. Ich dachte mir: »Pack schlägt sich, Pack verträgt sich.« Was aber blieb mir anders übrig? Er wußte wenigstens, daß ich mich im Falle der Not gleich an die richtige Adresse wende und ließ mich vorläufig in Ruhe. Als die Geschäfte sehr schlecht gingen und er nicht einmal den kleinen Rest der Gage zahlen konnte, setzte er sogar eine freundliche Miene auf. Ein alter Schauspieler, der eben einige hundert Mark geerbt, borgte dem jetzt tiefgebeugten Direktor das Nötigste, um die Uebersiedlung in den nächsten Ort zu ermöglichen. Dort gingen die Geschäfte glänzend. Er bekam auch noch ein paar tüchtige Mitglieder.

Der Tiefgebeugte wußte sich bald aufzurichten; er schlug wieder den alten Ton an. Diesmal hatte er sich verrechnet. Ich war als Schauspieler sehr beliebt; meine Freunde veranstalteten für mich einen Rezitationsabend, mit dessen nach Bezahlung der Pension nur noch geringem Erträgnisse ich nach Berlin reiste.

Hier wieder das alte Lied: Warten, hungern, obdachlos! Das Schicksal dressiert sich seine Leute. Immer mehr wies es mich auf mich selbst an. Mit dem Falle aller äußeren Güter stiegen meine inneren Werte. Ich hätte gerne auf die Dauer den Hunger dem Bissen Brot vorgezogen, den ich mir durch meine Freiheit oder gar unwürdigen Sklavendienst erkaufen mußte. Man schickte mich nun zu einem Direktor, der, wie man mir sagte, sein zwar kleines Unternehmen echt künstlerisch zu leiten wisse. Noch nicht im Besitze meiner abermals verpfändeten Sachen, die ich mir durch den Spediteur nachsenden ließ, sollte ich als Charakterspieler am Tage nach meiner Ankunft in der Rolle eines eleganten Liebhabers auftreten. Ratlos lief ich umher. Von einem Kleiderhändler einen Anzug borgen – leicht gesagt! Er verlangte beinahe die doppelte Tagesgage und außerdem noch eine Bürgschaft. Dem Direktor, der mir nach Berlin 12 Mark Reisegeld geschickt und beim Eintreffen noch 8 Mark gegeben hatte, durfte ich nicht mehr kommen. Er zeigte sich mir ohnehin schon äußerst reserviert und gab mir zu verstehen, daß er mir einen höheren Vorschuß als die bereits gezahlte Viertelmonatsgage nicht bewilligen könne. Der Abend kam, ich sollte ins Theater gehen und hatte noch immer keinen Anzug. Schon wollte ich zum Direktor laufen und ihm sagen, daß ich nicht spielen könne, wenn er nicht hilft, als ich im letzten Augenblicke einen alten Juden fand, der mir für ein Freibillett einen Anzug borgen wollte. Erst während er diesen schon vom Nagel nahm, kamen ihm noch allerlei Bedenken. Mir stieg das Blut zu Kopfe. Ich schwur beim Azurblau des Himmels, bei seinem Gott der Rache schwur ich ihm, daß er den Anzug unversehrt zurückerhalte! Endlich griff er nach Papier, um ihn mir einzupacken. Seinen Versicherungen, daß mir derselbe passen werde, Glauben schenkend, probierte ich ihn nicht erst an, aus Angst, daß er vielleicht noch anderen Sinnes werden könnte. Nur her! Adieu!

Als ich in die Garderobe trat, saß jeder schon auf seinem Platze. Bald kam auch der Direktor. Siegesbewußt blickte ich auf meinen schwer erworbenen hellen, gut erhaltenen Anzug. Ich konnte es kaum mehr erwarten, bis ich ihn am Leibe habe. »Friseur, noch einen eleganten Schnurrbart! So!« Nun aber schnell! Herr des Himmels! Die Hose ist ja viel zu weit – die Weste erst – und, ach, der Rock! Was nun? Ich getraute mich nicht aufzustehen. Da – erstes Klingelzeichen. Auf die Plätze! Zweites – drittes! Ich erhob mich. »Wie sehen Sie denn aus?« schrie der Direktor. »Mann, so können Sie doch nicht hinausgehen.« Zu spät! Der Vorhang ging schon in die Höhe, und ich kam in der zweiten Szene. Im Bewußtsein meines Aussehens spielte ich auch dementsprechend, und als das Stück zu Ende war, war auch mein Schicksal schon entschieden. Ich erhielt die Kündigung. Nach Ablauf der Kündigungsfrist hatte ich als Rest der halben Monatsgage noch zwanzig Mark zu fordern. Nun erst eine Wohnung mieten, denn ich wohnte noch im teuren Gasthof, die Sachen einlösen, noch volle vierzehn Tage leben und dann – was dann? Ich schlief ganz ruhig. Am nächsten Morgen suchte ich mir eine Wohnung. Nichts zu finden. »Wir nehmen keine Schauspieler,« erhielt ich meistenteils zur Antwort. Als ich schon jede Hoffnung aufgegeben hatte, traf mich aus einem Fenster der Blick einer jungen Frau. Ich zog den Hut, sie dankte freundlich, ich trat ein. Zwei Zimmer waren zu vergeben. Sehr traurig stand ich da, um zu erklären, daß ich den Preis für eine solche Wohnung nicht erschwingen könne, als sie, sofort erratend, was ich sagen wollte, mit der Bitte, nur einen Augenblick zu warten, freundlich lächelnd verschwand. Sehr bald kam sie zurück: ihr Mann sei einverstanden, sie würden mir diese Wohnung mit zweimal Kaffee täglich für acht Mark monatlich, wenn es mir nicht zu teuer wäre, ganz gerne überlassen. Nun sah ich Land vor mir. Und wenn ich nur vierzehn Tage bleibe, werden diese guten Menschen auch nichts sagen.

Vor fünf Minuten noch auf der Straße und nun Herr einer freundlichen, behaglich eingerichteten Wohnung! Sopha, Schreibtisch, Bücherschrank, das Bett mit feinsten Linnen überzogen, kein Stäubchen zeigte sich im ganzen Raume, aus allen Fugen strömte mir der Duft der Sauberkeit, des Wohlstandes entgegen. Was mein Entzücken noch erhöhte, ich hatte die Aussicht in den kleinen Garten. Wie mußte mir zumute sein nach einem langen ruhelosen Dasein! Ich legte mich aufs Sopha, mich ganz der berauschenden Wirkung dieses Eindrucks überlassend. Eine süße Ruhe kehrte in mir ein. Ich nahm mir vor, jede Minute wahrzunehmen und mich behaglich in ihr auszubreiten, um nur die Seligkeit der kurzen Zeit, die ich hier bleiben durfte, bis auf den letzten Tropfen zu durchkosten.

Plötzlich klopfte es, und herein trat meine junge Wirtin. Sie brachte mir den Kaffee mit einem Teller voll Butterbrötchen. Der starke Duft verriet mir gleich, daß ich nach langer Zeit hier wieder einmal wirklich Kaffee trinken werde. Ich dankte herzlich, bemerkte auch noch sehr bescheiden, daß sie sich doch nicht selbst bemühen möge usw. – O das mache gar nichts aus, sie tue das sehr gerne, sagte sie, und wenn ich sonst noch Wünsche habe, so möge ich mich ja nicht scheuen, sie auszusprechen. Dabei glaubte ich auf ihrem Antlitz eine leichte Röte zu entdecken: es schien mir auch, als wollte sie noch etwas sagen, wozu sie mein Benehmen freilich nicht ermuntern konnte. Noch unter dem Eindrucke der so jähen Umgestaltung meiner Lage stehend, war ich wie vor den Kopf geschlagen. Ich war so sehr von Dankbarkeit erfüllt, daß ich nicht wußte, wie ich sie zum Ausdruck bringen sollte; mich drückte das Gefühl der Armut diesem Reichtum gegenüber. Meine Verlegenheit bemerkend, entfernte sie sich zögernd und warf mir von der Türe aus noch einen freundlichen und, wie mir schien, vielsagenden Blick zu. Was war das? Sollte sie – – – –? Ach, was sind das für Gedanken! Man nimmt mich hier freundlich auf, aus Mitleid auf. und ich – – – –! O pfui! Ich bat es ihr im tiefsten Herzen ab, was ich soeben denken konnte.

Als ich am nächsten Morgen noch im Bette lag, vernahm ich ein ganz leises Klopfen. Herein trat wieder meine junge Wirtin mit dem Kaffee. Ihr Antlitz glühte. Sie setzte ihn auf den Tisch und warf mir wieder einen Blick zu, denselben Blick, nur noch verheißungsvoller Nun fing ich an, ihre Handlungsweise, ihr Benehmen zu erwägen. Sie bringt mir selbst den Kaffee, während ich noch im Bette liege. Und dieser Blick! Sollte das Komödie sein? Will man mich vielleicht nur auf die Probe stellen, ob ich der freche Schurke bin, der den Verführer, den Ehebrecher spielen möchte aus Dank dafür, daß man ihn von der Straße aufgenommen? Weshalb errötet sie dann aber? Ist es denn nicht natürlich, daß eine junge Frau errötet, wenn sie in das Zimmer eines fremden Mannes tritt? Kann der Gedanke an die Möglichkeit, daß ihr Erscheinen mich bewegen könne, mir Freiheiten herauszunehmen, sie nicht schon in Erregung bringen, um so mehr, wenn sie mich auf die Probe stellen wollte und also diese Möglichkeit durch ihr Benehmen selbst der Annahme der Wirklichkeit schon näher brachte? Frauen sind unberechenbar! Ist es denn ausgeschlossen, daß sie auf meine Kosten ihrem Manne gegenüber die Rolle der siegreichen Tugend spielen will? Wenn sie aber dennoch – – –! Nein! Ich wies den Gedanken ab, ich hatte Furcht vor dem Gedanken.

Während dieser Reflexionen hatte ich mich angezogen. Als ich das Fenster öffnete, um die frische Gartenluft hereinzulassen, klopfte es abermals. Sie brachte mir ein Gläschen Portwein mit Kaviar-, Lachs- und Schinkenbrötchen und fragte mich, ob sie sich erlauben dürfe, mich zu Mittag einzuladen. Ich nahm äußerst dankbar an. Mit Hilfe ihres Mädchens servierte sie mir auch das Mittagessen auf meinem Zimmer. Ach, das Essen! Die wahren Fleischtöpfe Aegyptens. Es war freilich nur Hausmannskost, aber eine, für die ich jede andere stehen lasse. Ich kenne keinen größeren physischen Genuß, als den des ausgehungerten armen Teufels bei einer guten vollen Schüssel, ein Genuß, den noch der Eintritt des Unerwarteten erhöhte. Wie ich schwelgte! Lukullus war ein Waisenknabe gegen mich. Als ich noch kräftig bei der Arbeit war, klopfte es schon wieder. Es war der Spediteur, der mir die Sachen brachte. Mir blieb der Bissen im Halse stecken. Jetzt die Sachen! Ich bat ihn, sie nur gleich wieder mitzunehmen, da ich noch nicht bezahlen könne. Ich hätte nichts mehr zu bezahlen, sagte er. »Schon bezahlt?« – »Ja,« tönte es aus dem Hintergründe, »ich habe mir erlaubt, den kleinen Betrag einstweilen für Sie auszulegen.« Nun war es mir. als ob ich erröten müßte. Das war zuviel auf einmal. Ich küßte ihr die Hand und gab meinem Bedenken Ausdruck, ob ich auch in die Lage kommen werde, alles gutzumachen. Sie wehrte ab. Wenn sonst nichts wäre, meinte sie, so hätte es gute Wege. Ein müdes Lächeln begleitete diese Worte, dem alsbald eine heiße Träne folgte. »Gnädige Frau!« – »Ach, ich bin sehr unglücklich,« schluchzte sie, ihr Haupt auf meine Schulter legend. Wenn ich bisher nur an ihrer jugendlichen Anmut Gefallen finden konnte, in ihrem Schmerz fand ich sie schön. Und sie war unglücklich wie ich. Das mußte ihr sofort mein Herz gewinnen. Schon war ich ihr wahrer Freund und innig bat ich sie, mir ihr Leid zu offenbaren.

Es war die alte Geschichte. Auf Wunsch der Eltern hatte sie ihrer Versorgung wegen einen wohlhabenden Fabrikanten geheiratet. In den ersten Jahren der kinderlosen Ehe war sie zufrieden, bis ihr Mann zu trinken anfing. Mit dieser Leidenschaft sei der Unfriede eingekehrt, der nicht selten zu Mißhandlungen führe.

Ich fühlte inniges Mitleid, verbunden mit dem schmerzlichen Empfinden meiner Ohnmacht, ihr zu helfen. Man wird über mich lachen. Ich konnte nur das Herz sprechen lassen, indem die durch den körperlichen Zustand und mein ernstes Streben bedingte jahrelange Askesis einen sinnlichen Gedanken gar nicht mehr aufkommen lassen wollte. Ich raffte meine ganze Lebensweisheit zusammen, um ihr einen Trost zu spenden, zeigte ihr, wie beneidenswert ihr Los gegen meines sei; fruchtlose Mühe! Sie gab mir freilich das Versprechen, sich in ihr Schicksal zu ergeben, aber das waren leere Worte: ihr ganzes Wesen, ihr Abschied nach diesem ersten Zusammensein konnte mir eine gewisse Kälte und Enttäuschung nicht verhehlen. An jedem folgenden Tage trat sie mir voll neuer Zuversicht und Hoffnungsfreudigkeit entgegen, um am Abend wieder in derselben Weise von mir zu scheiden.

Eines Morgens brachte sie mir den Kaffee an das Bett. Sie weinte, helle Tränen rollten über die Wangen. Als ich abermals, vom tiefsten Mitleid ergriffen, die auf meine asketischen Grundsätze aufgebauten priesterlichen Ermahnungen fortsetzen wollte, fiel sie mir um den Hals und erstickte meine Worte mit glühenden Küssen. Das war deutlich. Nun konnte ich mir mit bestem Willen nicht mehr verhehlen, was sie wollte; meine Sophistik war zu Ende. Aber das geht doch nicht, das geht aus verschiedenen Gründen nicht. Armes Weib, dachte ich mir, du hast Unglück mit den Männern. Ich hätte von Stein sein müssen, um bei dieser Umarmung nichts zu empfinden, aber das durch die frühesten Mißerfolge verlorene Selbstvertrauen, die Furcht vor einer Wiederholung ließ mein Empfinden nicht zur Reife kommen. Blieb mir doch noch immer der klägliche Ausweg, mich hinter dem Selbstbetruge meiner Biederkeit zu verschanzen. Dennoch waren es schreckliche Augenblicke. Nicht für Neapel möchte ich sie noch einmal durchleben. Vor mir das schöne, liebebedürftige, vor heißem Verlangen nach mir sich verzehrende Weib – und ich? Ich führte eine große Komödie auf. Im scheinbar erbittertsten Kampfe zwischen Liebe und Pflicht ließ ich diese siegreich hervorgehen. Das hatte sie freilich nicht erwartet, eine solche Festigkeit der Grundsätze, die alle Venuskünste nicht zum Wanken bringen konnten. Der hergelaufene Komödiant wies ihre Huldigung zurück: er konnte diesem Ausdruck ihrer glühenden Begierde widerstehen! Sie fühlte sich aufs tiefste verletzt: ich hatte sie und das Geschlecht in ihr beleidigt. Mit unerbittlicher Strenge rief meine Larve der Beharrlichkeit in ihr das beschämende Gefühl ihrer Schwäche hervor, der Ohnmacht ihrer Reize, mich überwinden zu können. Wie eine geknickte Rose stand sie vor mir. Und sie war doch nicht geknickt. Den letzten Rest meiner Manneszierde – ich hätte ihn in diesem Augenblicke hingegeben, wenn – aber – ! Als sie schon in der Türe stand, drängte es mich, ihr als bestes unfehlbares Mittel gegen solche Anfechtungen Kants »Macht des Gemüts« sehr warm zu empfehlen.

Mit meiner Ruhe war's vorbei. Du bist zu gar nichts zu gebrauchen, sagte ich mir, rein zu gar nichts, und obendrein noch ein Betrüger, ein erbärmlicher Komödiant. Du spielst dich auf den Ehrenmann hinaus und bist nichts als ein großer Schwächling, zu feige, ihr deine Schwäche zu gestehen. Ich konnte mir selbst nichts mehr vorlügen. Meine Liebe war groß genug, um alle moralischen Bedenken zu verscheuchen. Zum erstenmal in meinem Leben beklagte ich tief den Verlust meiner Männlichkeit. Ich hätte für eine Stunde des Glückes am Busen dieses Weibes meine Seele dem Teufel verschrieben. Dennoch ist es, wie sich sehr bald zeigen wird, nur das mangelnde Selbstvertrauen gewesen. Ich glaubte eben an meine Schwäche, und dieser feste Glaube drückte mich in ihrer Nähe zu Boden. Ich fürchtete die nächste Begegnung, mein ursprünglicher Wunsch, recht lange hier zu bleiben, hatte sich in den entgegengesetzten verwandelt. Ich brauchte die Minuten nicht mehr festzuhalten, sie wurden mir zu Ewigkeiten.

Nachdem sie in den nächsten Tagen eine strenge Zurückhaltung zur Schau getragen, glaubte ich allmählich in ihrem ganzen Wesen eine große Veränderung wahrzunehmen. Eine fast stoische Ruhe sprach aus ihren Zügen, alle wilden Wünsche und Begierden schienen einzuschlafen, sie zeigte mir Ergebenheit in ihr Schicksal. Und das ist keine Verstellung oder neues Reizmittel gewesen, denn sie ist sich konsequent geblieben. Ihre Arme um meinen Hals schlingend und mir tief ins Auge blickend, schien sie sagen zu wollen: »Ich habe dich lieb und möchte auch am liebsten dein sein, ganz dein; weil es aber doch nicht sein kann, so bin ich auch zufrieden, wenn du mir nur wirklich gut bist.« Sie näherte sich der Entsagung. Wir wurden uns nun darin ähnlich, freilich nur der Wirkung nach. Hätte sie die Ursache meiner Entsagung gekannt, sie würde mich verächtlich gemieden haben. Wäre es aber angezeigt gewesen, ihr den Grund meiner Zurückhaltung ganz offen zu gestehen? Diese Offenheit hätte eine sehr schlechte Wirkung erzielt. Unter der selbstverständlichen Voraussetzung einer mir tatsächlich möglichen Repräsentation meines Geschlechts, deren Verlust auf Seiten ihres Mannes der erste und letzte Grund ihrer Entfremdung war, hat sie sich mir überhaupt genähert. Die Erkenntnis eines solchen auch auf meiner Seite bestehenden Verlustes hätte sie mit größter Erbitterung erfüllt, und vor Begierde, endlich einen brauchbaren Vertreter zu finden, würde sie sich, ihrem Geschicke trotzend, dem nächst Besten an den Hals geworfen haben. Bin ich nicht selbst schon dieser nächst Beste gewesen? Kein im Vollbesitze seiner Kräfte stehender Mann hätte dieser sich ihm bietenden Verlockung widerstanden. Zufällig bin gerade ich gekommen. Meine Traurigkeit, mein Unglück, das sie mir von der Stirne lesen konnte, berührte eine gleichgestimmte Saite ihres Gemüts, und die bald für mich empfundene, von mir aufrichtig erwiderte Herzensneigung vermochte dem gut veranlagten Weibe doch ein kleines Surrogat für die nicht befriedigte Sinnlichkeit zu bieten. Wir küßten uns oft lange und innig. Sie fühlte, wie sehr ich sie liebte, und ihre hohe Meinung von mir, welche ihr die scheinbar in starrer Männlichkeit sich behauptende große Willenskraft einflößte, erfüllte sie mit Stolz, mein Herz zu besitzen, sie zugleich immer mehr mit dem Streben beseelend, mir in Größe und Erhabenheit der Gesinnung gleichzukommen. Während sie diese reine Seligkeit genoß, war es mir oft, als müsse sie mich plötzlich zurückschleudern im Gefühle, daß sie einen Betrüger umarme. Und doch liebte ich sie; doch hat sie ein richtiger Instinkt geleitet, da ich im Besitze meiner Mannheit war; doch habe ich eine edle Wirkung erzielt, indem ich eine unmoralische Gesinnung, als welche die Absicht des Ehebruchs unter was für Umständen auch immer anzusehen ist, in eine moralische umzusetzen wußte. Sie hatte eine solche Freude an ihrer auf allerlei Irrwegen durch Betrug und Selbstbetrug erreichten Stärke, daß es mir erst durch ein ebenso mühsames Abreißen des schönen Baues, auf den ich immerhin mit Wohlgefallen blickte, gelungen wäre, sie jetzt noch zu besitzen.

Mein Engagement war zu Ende. Der Direktor hatte mir zwar durch freundliche Mienen und Worte zu verstehen gegeben, daß er die Kündigung zurücknehmen würde, worauf ich jedoch nicht reagierte, da doch nur die Aussichtslosigkeit, noch einen kleinen Vorschuß zu erhalten, an jenem Ereignisse schuld war. In erster Linie bestimmend wirkte aber mein entschiedener Widerwille, noch fernere Wohltaten in einem Hause zu genießen, in dem mir mein Geschick eine so merkwürdige Stellung zuerkannte. Nachdem ich auf Drängen der jungen Frau noch einige Tage geblieben, kutschierte mich ihr Mann in ihrer Begleitung eines Abends zur Bahn. Noch ein Gruß, ein Händedruck, und vorbei war ein langer quälender und doch so kurzer schöner Traum. Nun kam es mir vor, als hätte ich in diesem Hause unfreiwillig als Erzieher gewirkt. Ob meine Tätigkeit von dauerndem Einfluß geblieben, kann ich nicht sagen: jedenfalls hat die Erinnerung an unser Zusammensein dieses edle, der höchsten Empfindungen fähige Weib vor dem Aeußersten bewahrt. Wir schrieben uns lange, bis mich wieder neue Herzensangelegenheiten und Schicksalsschläge gänzlich in Beschlag genommen hatten.

Ich reiste nach H....., um daselbst ein auf brieflichem Wege gefundenes Engagement anzutreten. Die Saison hatte noch nicht begonnen, und ich war als erster angekommen. Als der Tag des kontraktlich stipulierten Eintreffens immer näher rückte, kamen auch die Schauspieler angerückt, einer nach dem anderen. Da sehen sich alte Freunde, da ein paar Todfeinde wieder; hier trifft ein Ferdinand seine falsche Louise, die er ohne Kabale am liebsten auf der Stelle vergiften möchte. Dort liegen sich zwei Rivalinnen in den Armen, die es für geraten halten, das Vorspiel des sich durch eine Saison hinziehenden Intrigen- und Spektakelstückes, reich an diversen Liebes-, Eifersuchts- und verfluchten Szenen mit einem Judaskusse zu beginnen.

Vor Eröffnung der Saison ist es meist sehr gemütlich. Man macht gemeinsame Ausflüge, erzählt von seinen letzten Triumphen und Lorbeerkränzen, von seinen Heldentaten und durchgeprügelten Direktoren, man liebt sich, neckt sich und erschöpft sich im Lobe des neuen Direktors. Das erste Rauschen des Vorhangs ist auch das erste Zeichen zum Beginne der Feindschaft. Das Leben hinter den Kulissen nimmt seinen Anfang. Tespis zieht seinen Karren auf krummen Wegen, und wer Melepomenen dient, muß Dianen den Dienst versagen. Ich habe tugendhafte Talentlosigkeiten gesehen, die ich später, als sich Gelehrte, Börseaner und Pfaffen in die Reliquien ihres Tugendmantels teilten, als gute Schauspielerinnen wiedertraf.

Die inneren Zustände sind an jedem Theater mit geringen Unterschieden dieselben. Die Ausgeburten des Neides schwingen die Geißel, die in Mußestunden durch die Bosheit ihre pünktliche Ablösung finden. Das kann man fast jeden Abend in der Garderobe sehen, besonders bei der öfteren Wiederholung eines Stückes. In der ersten Pause wird gegessen. Während dieser mit der größten Andacht vollzogenen Handlung herrscht die größte Ruhe. Beim Essen darf man niemand stören. Sobald das geschehen ist, beginnen die sogenannten Garderobenscherze. Man hat mir einmal den Koffer erbrochen, um ihn mit alten Knochen zu füllen; die Straßenstiefel, als ich gerade eilig fort mußte, am Plafond angenagelt: in die Teintschminke Nähnadeln gesteckt, wodurch ich mich hätte blind machen können; unter den Kragen der Weste alten Käse gestrichen, daß ich von dem mit mir herumgetragenen Gestank fast rasend geworden bin: ich mußte Zeuge sein, wie einer zur Vergeltung für erlittene Bubenstreiche den neuen Zylinder des anderen als Klosett benützte.

Ich spreche vom Gros des Schauspielerstandes, das leider an jedem Theater mehr oder minder zahlreich vertreten ist. Die Anständigen müssen in der Regel zur Zielscheibe dieser Roheiten dienen. So hatte ich oft, wenn ich mich sonst einigermaßen wohl fühlte, unter der Bosheit meiner Kollegen zu leiden, so daß ich nicht selten mit dem Gefühle, als ginge ich in eine Folterkammer, die Garderobe betrat. Und als ich in meinem Kampfe gegen Bosheit, Lüge und Gemeinheit endlich aus der Jacke gehend an Deutlichkeit nichts mehr zu wünschen übrig ließ, kam ich allmählich in den Ruf eines großen Krakehlers.

Es ist bemerkenswert, daß die während meiner Bühnenlaufbahn sich so oft ähnlichen äußeren Umstände auch auf dem Gebiete der Liebe oft einander ähnliche Erscheinungen und zwar nacheinander hervorriefen.

Als junger Schauspieler mit entsprechendem Aeußeren war auch ich für das schöne Geschlecht nicht ohne Anziehungskraft. Mein Herz zeigte stets seine alte Empfänglichkeit, es schmeichelte meiner Eitelkeit, doch noch als Mann gelten zu können, und die Sinnlichkeit reckte wieder aus ihrem Verstecke das Köpfchen hervor, als ob sie auch noch ein Wörtchen zu sprechen hätte. Solange mich nur ein ideales Stieben beseelte, wurde es mir sehr leicht, auf alle sinnlichen Genüsse zu verzichten, – ich fühlte gar nicht die mir durch den körperlichen Zustand auferlegte Entsagung. Die immer mehr erwachende Erkenntnis meiner Aussichtslosigkeit beim Theater, die an den kleinen Bühnen so geringe Kunstpflege, der dadurch gehemmte Eifer des Strebens und sich daraus ergebende ledige bittere Kampf ums Dasein selbst mußten die Ideale – wenigstens augenblicklich – verdrängen und die physischen Forderungen in den Vordergrund stellen. Je entfernter sich mir noch die Aussicht auf den Besitz der Geliebten zeigte, desto stolzer erhoben sie ihr Haupt, um, wenn ich mich ihm wie in einem Taumel nähernd, dem zarten Winke der Besitzergreifung folgen sollte, ihr Heil in feiger Flucht zu suchen.

Als mein Engagement schon längst zu Ende war, wollten die Unterhandlungen mit einer anderen Bühne in H.... zu keinem Abschlusse gelangen. Die unvorhergesehene Wartezeit hatte meine Mittel wieder völlig erschöpft,– ich sah mich in der traurigen Lage, am bevorstehenden Ersten meine Miete nicht bezahlen zu können. Nachdenklich wandelte ich durch die Straßen, als mir plötzlich jemand auf die Schulter klopfte. Es war ein junger Ehemann, den ich nebst Frau in einem Gasthause kennen gelernt hatte. Er machte mir zum Vorwurf, daß ich seiner Einladung, sie doch einmal zu besuchen, nicht gefolgt sei. Bei einem Glase Bier frug er mich, wie es mir gehe, und bot mir endlich an, bei ihm Wohnung zu nehmen. Ich wandte ein, daß ich jetzt nicht bezahlen könne. Das hätte gar keine Eile, sagte er, er wolle darauf gerne warten, bis mein Engagement perfekt geworden. Auch seine Frau würde sich besonders freuen, wenn ich mich entschließen könnte, sein Anerbieten anzunehmen. Ich möge nur meine Sachen holen, er gehe, um die Stube für mich herzurichten.

Als ich allein war, fing ich erst an zu überlegen und stand schließlich dem mir bekundeten Interesse etwas skeptisch gegenüber. Mir war es, als ob wieder ein zartes Weiberpfötchen mit im Spiele wäre. Doch hielt ich mir auch seine Jugend vor, seine Kraft und Männlichkeit! Und ich hatte zugesagt. Also los! Die Wirtsleute ließen mich nach Schilderung meiner Lage gerne ziehen und – weniger durch mein Gepäck als durch mein Gemüt beschwert – trat ich in mein neues Heim. Ich wurde äußerst freundlich aufgenommen, besonders von der jungen Frau; ihr Antlitz strahlte vor Entzücken. Ich fand noch nicht den Mut, mir die Bestätigung meiner Ahnung zu gestehen, ich wünschte sehr, die gründlichste Enttäuschung zu erfahren. Ich trat näher. Der äußere Eindruck vermochte mich nicht zu erheben. Die Wohnung war zwar sauber, doch fast ärmlich eingerichtet.

Mir selbst fiel das Entbehren niemals schwer: es war mir leicht, die Not allein zu tragen, den Anblick jenes kleinen Elends aber konnte ich nicht überwinden. Wenn ich sehen mußte, wie die innere Armut, die äußere an Schwere überbietend, den Träger dieser Lasten in einen jammervollen Abgrund schleudert, fühlte ich mich mitgerissen, weil mir der Anblick dieser häßlichen Erscheinung die erhabene Stütze raubte, die mir die Not gewährte, wenn ich mit ihr allein war.

Ich wurde jedoch bald gewahr, daß dies hier durchaus nicht der Fall war. Der Mann hatte eine sehr einträgliche bürgerliche Stellung. Sein Grundsatz war, auf Kosten der äußeren Erscheinung dem Inneren nichts zu versagen. Eine gute Zigarre war ihm lieber als ein leerer silberner Zigarrenhalter.

Nach dem Abendessen machte die junge Frau den Vorschlag, einen kleinen Spaziergang zu machen. Hinsichtlich meiner Ahnung war sie schon längst so gnädig, mich jedem Zweifel zu entreißen. Verheißungsvoll hatten mir ihre verlangenden Blicke einen neuen Liebesroman in diversen Kapiteln angekündigt. Wie ein gefangener Vogel saß ich da. Ich ärgerte mich, daß ich nicht meinem Instinkt gefolgt, ich ärgerte mich noch mehr über ihn und seine Blindheit, ich zürnte ihr hauptsächlich, daß sie den Ahnungslosen zum Vogelfänger machen konnte. Zur Uebernahme einer so kläglichen Heldenrolle auch durchaus keine Lust verspürend, sann ich nach, wie es mir möglich wäre, mich aus der Affäre zu ziehen.

Indessen konnte ich an ihr schon eine große Unruhe bemerken. Sie wollte was, sie war mit sich nur noch nicht einig. Die Notwendigkeit der Gegenwart ihres Mannes schien ihr durchaus nicht einzuleuchten. Sie nestelte so lange hin und her, bis sie auf einmal die schreckliche Entdeckung machte, daß ihre Gürtelschnalle entzwei sei. Ich durchschaute ihre Absicht und sprang auf, um schnell eine zu besorgen, als ihr Mann auch schon verschwand. Die hinter ihm ins Schloß fallende Tür gab ihr das Zeichen zur inneren Befreiung. Ihr Atem flog. Gierig wie der Blick des Habichts schien ihr Blick mich zu verschlingen. Ich armes Huhn! Wohin? Zu spät! Sie hing bereits an meinem Halse. Mund, Wangen, Stirne, Augen küßte sie in fieberhafter Glut, nicht einmal meine Nase war ihren Küssen heilig. Diesem stürmischen Verlangen gegenüber meine Kraft abschätzend, fühlte ich mich ganz gebrochen. Das Selbstvertrauen war wieder vollständig geschwunden, und der quälende Gedanke an meine Schwäche kämpfte jede sinnliche Erregung nieder. Teilnahmslos wie eine Puppe saß ich da. Sie sah mich fragend an, wie es denn möglich sei, bei dieser glühenden Umarmung kalt zu bleiben. Ich blieb stumm, ich stellte den Vergleich an zwischen ihr und jener Frau, die ich einst liebte, und ich fand, daß sie mit jener sich nicht messen konnte. Ein Zug niedrigster Sinnlichkeit, der um ihre Lippen spielte, gab ihr den Stempel des Gemeinen. Als ob die Meisterin Natur in ihrer Laune auf ein Engelsantlitz mit einem einzigen Striche die Schlangenseele zeichnen wollte. Mir schien es auch, als ob ein stechender Blick des Zorns mir diese Seele offenbarte. Dann vor mir niederkniend und mit ihren weichen Armen mich umschlingend, sprach sie in mich hinein, so sanft, so weich, so engelsmilde frug sie mich, ob ich ihr wirklich nicht vergönnen wolle, mir den geraden Weg ins Himmelreich zu zeigen. Mich dabei kosend, herzend wie ein Kind, dem nur die richtige Pflege fehlte. Meine Sinnlichkeit erwachte. Ich drückte sie an mich in heftiger Leidenschaft und hielt sie fest in meinen Armen. – Da knarrt die Tür. Sie nahm schnell ihre Unschuldslarve an. Ich konnte meine Verlegenheit nicht verbergen. Wäre er weniger vertrauensvoll gewesen, er hätte sie bemerken müssen.

Während des Spaziergangs trieb es mich in einem fort, auf- und davonzugehen. Einen solchen Ekel flößte mir ihre Verstellungskunst dem arglosen, gutmütigen Manne gegenüber ein. Zum erstenmale sah ich schaudernd in den bodenlosen Abgrund einer Frauenseele. O wäre ich ihm nie begegnet!

Als ich sie zuerst gesehen, gab sie sich ganz als das treue, liebende, pflichterfüllte Weib. Ihre Zärtlichkeit zu ihrem Mann schien mir nur zu übertrieben: ich hatte das Gefühl, daß sie damit kokettiere. So war es auch. Meine kalte Höflichkeit ist dessen Ursache gewesen. Als sie bemerkte, daß sie von meiner Seite kein Entgegenkommen zu erwarten habe, war sie bemüht, mir ihr Empfinden zu verbergen. Sie fühlte sich in ihrer Eitelkeit verletzt und wollte zeigen, daß sie besitze, was sie brauche. In ihrer Liebenswürdigkeit zu ihm und ihrer Kälte gegen mich, als einer Kränkung meiner Eitelkeit, sah sie zugleich den stärksten Reiz, der mich in ihre Arme treiben könnte.

Ganz mit mir selbst beschäftigt, ging ich hinter ihnen her. Er sah sich um und fragte mich, was mir denn auf einmal fehle. Ich sagte kurz, ich hätte eben meine Abreise beschlossen. Lachend meinte er, ich möge mir das erst ein wenig überschlafen. Sie aber war wie umgewandelt und fiel von einer Stimmung in die andere. Ich bin für sie auf einmal nicht mehr dagewesen. Als das auf mich nicht den geringsten Eindruck machte, griff sie allmählich zu den höheren Weiberkünsten. Sie wischte sich eine heiße Träne, die selbstverständlich nur ich bemerken durfte, sie nahm zur flehendsten Gebärde ihre Zuflucht, sie faßte sich krampfhaft ans Herz, als ob es zu zerspringen drohte – – –

Am nächsten Morgen, es war Sonntag, hörte ich einen kleinen Streit. Er wollte nicht ins Dampfbad gehen. Wenn sie sagte, daß er das Reißen habe, so mußte er es nämlich haben, auch wenn er davon nichts spürte, und wenn er uns in innigster Umarmung überrascht und sie ihm eingeredet hätte, daß er träume, so würde er daran auch nie gezweifelt haben. So fest schwur der Bedauernswerte auf die Treue seiner Frau, daß er einmal sagte, er würde kein Bedenken tragen, mich zu ihr ins Bett zu legen. Bevor er fortging, gab er ihr scherzend noch den Auftrag, mich nur ja festzuhalten, wenn ich inzwischen ausrücken wolle.

Sie lud mich zum Morgenkaffee. Mein Benehmen hielt sie nicht ab, mir wieder um den Hals zu fallen. Als ich ihr zu Gemüte sprach, traf mich ein Blick des Zorns, den ich nie vergessen werde. Ich hatte nur den Drang: Hinaus! Mit einem Satz war ich verschwunden. Sie mir nach. Winselnd fiel sie vor mir nieder, nur nicht so von ihr zu gehen, ihr doch wenigstens zu verzeihen, da sie mich so glühend liebe. Ich wußte nicht, was mit mir vorging. Und sie weinte. Der Ausdruck ihres um mich empfundenen Schmerzes, der mir auch sie verklärte, die heißen Tränen, die ihr die Sehnsucht nach mir erpreßte, brachen jeden Widerstand, und völlig willenlos, wie ein hilfloses Kind, folgte ich ihrer Leitung. – – – – – – – – – – – –

Als ich in stolzem Mannesgefühle auf meine Meisterin blickte, bemerkte ich ein sehr geringschätziges Lächeln. Ihre unermüdliche Ausdauer machte jedoch bald den Schüler zum Meister. Ich blickte zu ihr auf als zu meiner Schöpferin; sie sah in mir ihr Geschöpf. Das emporkeimende Gefühl meiner Mannheit erstickte jede bessere Regung: der Dämon wildester Leidenschaft durchbrach alle Schranken und Hindernisse: das nur noch auf Befriedigung maßloser Sinnlichkeit gerichtete Streben machte mich zum gewissenlosen Verräter. Unwiderstehlich trieb es mich, den von ihr gehobenen Schatz in ihren Armen sinnlos zu verprassen. Nur wenn ich an jenes edle Weib denken mußte, erfaßte mich eine tiefe Wehmut. Im ersten Augenblicke war es mir freilich, als müßte ich zu ihr hin, mich ihr zu Füßen werfen, um als zu neuem Leben Erwachter ihr das reuige Bekenntnis meiner Lüge abzulegen. Doch nein! Es war ganz gut so, wie es war. Unsere Uebereinstimmung der Seelen war zu groß: ein vorübergehendes Glück wäre nur die Quelle des tiefsten Elendes gewesen. Diese hingegen warf mich sehr bald wie eine ausgepreßte Zitrone beiseite, ohne in mir eine erhebende Erinnerung zurückgelassen zu haben, wohl aber das Gefühl der Dankbarkeit für die große Tatkraft, deren es bedurfte, um den fest eingeschlafenen Trieb zu neuem Leben zu erwecken. Im Bewußtsein, in ihrem ehelichen Leben schon viele Vorgänger gehabt zu haben, brauchte ich mein Gewissen ihretwegen nicht zu belasten. Und ihres Mannes wegen? Ich hätte mindestens den Mut besitzen müssen, ihm alles zu gestehen, um ihn aus der Umgarnung dieser Schlange zu befreien. –


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