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Adieu – adieu – viel Vergnügen!«
»Steigt auch nicht auf den Traunstein.«
»Nell, paß auf, daß Väterchen nicht plötzlich abkühlt, du weißt – – –«
»Ja – ja – der Hexenschuß –«
»Väterchen – nimm nur das Kind in acht –«
»Und gib der Nell nicht immer unbedingt nach, Väterchen – denn du weißt, die Nell –«
Der Wind verschlang das weitere, der Zug trug die Reisenden aus der Halle. Die Nell ließ ihr Tuch noch eine Weile flattern, dann wandte sie sich um.
»Väterchen, jetzt wird sie zur Wahrheit, die Reise.«
»Ja, Nell, und sie soll schön werden.«
»Wie wäre das anders möglich mit einem solchen Reisegefährten!«
»Und mit einem solchen Kameraden, Mädelchen.«
Väterchen nickte seiner Nell glücklich zu.
»Ich will auch meinen Kopf niemals aufsetzen, immer – immer sollst du bestimmen, Väterchen,« verhieß sie feurig.
Väterchen hüstelte ganz unbegründet. »Na, na, Nell, der Mensch soll nicht voreilig sein, besonders nicht in seinen Versprechungen,« warnte er, und seine blauen Augen lachten das hübsche große Mädchen liebevoll an.
Ja, Väterchen liebte seine Einzige, die er außer zwei Söhnen besaß, unbeschreiblich und ließ sich, wie die jungen Herren behaupteten, von ihr mehr beeinflussen, als gut war. Nicht, daß sie eifersüchtig gewesen wären, im Gegenteil, beide liebten die Schwester herzlich und ließen sich im Grunde ebenso von ihr beherrschen wie Väterchen.
Postdirektor Wartenberg, ein großer, schlanker Herr, in der ganzen Familie Väterchen genannt, konnte seit seiner Verheiratung das erste Mal an sich und sein Vergnügen denken. Die Frau war viel krank gewesen, die Söhne hatten viel gekostet, mithin war nichts für unnötige Ausgaben übrig geblieben. Nun aber standen sie in Beruf, Hugo als Arzt, Werner als Baumeister, so waren beide versorgt. Gemeinsam mit dem Vater hatten sie die Reiseroute entworfen und Hugo dafür gestimmt, daß die Nell mitginge. Der Vorschlag hatte ungeteilten Beifall gefunden, namentlich bei Mutter, da Väterchen oft an urplötzlich sich einstellenden Hexenschüssen litt und dann unfähig war, sich zu bewegen. Sollte der Fall auf der Reise eintreten, so konnte die Nell ihn pflegen, außerdem konnte ihr eine Erholung nicht schaden, trotz ihrer ausgezeichneten Gesundheit. Sie war Seminaristin und bereitete sich auf das Examen vor, da war es gut, wenn sie im Hochgebirge neue Kräfte sammelte.
Und nun war es so weit! Wie leuchteten dem Mädchen die braunen Augen, wenn sie sich die hehre Schönheit der Alpenwelt ausmalte, doch das ließ sich ja überhaupt nicht vorstellen, namentlich nicht, wenn einer wie sie noch nie auch nur im Mittelgebirge gewesen war.
Nell kannte nur ihre engere Heimat, Schwerin in Mecklenburg und seine nähere Umgebung. Glücklich war sie aber immer gewesen und jetzt, wo Hugo sich in der Vaterstadt als Arzt niedergelassen hatte, entbehrte sie erst recht nichts. Daß Mutter infolge von körperlicher Schwäche und Charakteranlage das Leben schwer nahm, ward reichlich ausgeglichen durch Väterchens goldenes Lachen und seine ideale Weltanschauung, die er sich bis ins Alter bewahrt hatte.
Alt – war Väterchen überhaupt alt, trotz seiner sechzig Jahre? Seine Kinder hätten gelacht über eine derartige Behauptung. Nein, nein, Väterchen wird niemals alt mit den frohen Augen, den leichten Bewegungen, mit dieser Freude am Leben und der Begeisterungsfähigkeit. Der »junge Alte« pflegten ihn Freunde und Kollegen zu nennen. Nell – getauft Thusnelda, aus Pietät für eine Tante, die den Postdirektor erzogen – hatte vom Vater das goldene Lachen geerbt und war ein sonniges Menschenkind, das überall eitel Sonnenschein sah und für das es keine Schwierigkeiten gab.
Und nun dampften die beiden dem wonnigen Süden zu auf fünf lange, lange Wochen.
* * *
Es war gegen Abend als sie in Salzburg anlangten und Unterkunft in der Traube fanden. Den Tag vorher hatten sie in München verbracht und so viel gesehen wie nur möglich. Die Nell wäre gern länger geblieben, Väterchen hatte jedoch nichts davon wissen wollen, ihn hatte es in die Berge gezogen. In das Salzkammergut sollte die Reise gehen, seine viel gepriesenen Schönheiten mit eigenen Augen zu schauen, war schon seit Jahren der brennende Wunsch des alten Herrn.
Am nächsten Morgen erhoben sich Vater und Tochter frühzeitig, um den halben Tag, der für Salzburg bestimmt war, gründlich auszunützen. Gleich nach dem Frühstück brachen sie auf.
»Weißt du, Nell, jetzt unternehmen wir vorerst eine Rundtour, wie sie in unserem Führer empfohlen wird,« schlug der Postdirektor vor.
»Bitte, Väterchen, laß uns gleich zum Mönchsberg hinauf. Die alte Feste ist doch gewiß das interessanteste hier, und von dort oben muß man ja nebenbei einen wundervollen Blick über die Stadt und das Gebirge haben.«
»Ja – ja – sicher. Also los. Aber Nell, wenn du so anfängst, mich zu überstimmen, wirst bald du die Reise mit mir machen und nicht ich mit dir.«
»Väterchen!« Die Nell schob ihren Arm in den seinen, und lachend gingen sie zur elektrischen Straßenbahn, um schnell bis an den Fuß des Mönchsbergs zu gelangen.
Hier bestiegen sie die Drahtseilbahn, die sie mit großer Geschwindigkeit zur Feste Hohensalzburg hinaufbeförderte. Ein trutziges Wahrzeichen kriegerischer Zeiten, erhebt sich das alte Bauwerk, dessen verwittertes Gestein von ungezählten Seufzern und Gewalttätigkeiten oft grausamster Art hätte erzählen können.
Vater und Tochter trafen es günstig, sie konnten sich sofort einer Gesellschaft anschließen, die sich, von einem Führer begleitet, gerade in die alte Burg begab. Sie bot viel Sehenswertes, besonders interessant waren die Fürstenzimmer mit reicher spätgotischer Schnitzornamentik und einem gut erhaltenen, mächtigen Tonofen aus dem Jahre 1501.
Dann führte der Weg durch lange, schmale Gänge, die durch kleine vergitterte Fenster Blicke in die tief liegenden Gefängnisse früherer Zeiten gestatteten. Ein Schauder ergriff jeden bei dem Gedanken, daß da unten Unglückliche oft jahrelang geschmachtet haben mochten, ohne je das Tageslicht zu schauen. Alle waren schließlich froh, als sie wieder draußen im hellen Sonnenschein standen.
Postdirektor Wartenberg stieg mit seiner Tochter einen Bogengang hinab zu einer breiten Plattform, auf der man in einem kleinen Restaurant Speise und Trank haben konnte. Sie wollten sich aber nicht unnötig aufhalten und genossen nur in aller Stille die wunderbar herrliche Aussicht, die sich ihnen von hier aus bot.
»Väterchen,« Nell griff nach des Vaters Hand.
»Ja, Nell, das sind sie!« Väterchen riß den Hut ab und schwenkte ihn grüßend nach Süden.
Dort türmte sich das mächtige Tennengebirge auf mit dem Hoch- und Bleikogel, der Hohe Göll, davor das grüne Roßfeld, Hallein und Dornberg, und alles überragend das Steinerne Meer mit seinen schimmernden Gletschern. Am Fuße des Mönchsbergs erstreckte sich das liebliche Salzburg, umgeben von einem Kranze bewaldeter Berge, durchflossen von der Salzach; im Hintergrunde erhob sich die gewaltige Kette der Salzburger Alpen.
»Ich grüße euch, ihr erhabenen Häupter, euch, das Ziel meiner Sehnsucht,« rief der alte Herr mit jugendlichem Feuer.
»Väterchen, wie jung und wie schön du aussiehst,« rief Nell bewundernd, »ohne deinen grauen Bart müßte man dich für einen Jüngling halten!«
»Dummes Mädel. Da – schau lieber um dich! Anbetend niederknieen möchte man. Kind, Kind, was sind alle Meisterwerke menschlicher Kunst gegen die Wunder in unseres Gottes Schöpfung! Und nun schnell – schnell hinab, daß wir den Mittagszug nicht versäumen. Begreifst du jetzt, weshalb ich keine Zeit für München hatte?«
»Ja, Väterchen, ja! Wenn ich mir vorstelle, daß wir in diese Wunderwelt hineinkommen! Wie glücklich werden wir sein.«
»Wir sind es schon, Nell!«
»Ja, wir sind begnadet vor vielen, daß wir so Herrliches sehen dürfen, Väterchen! So großartig, so überwältigend habe ich mir das Hochgebirge doch nicht vorgestellt.«
Hand in Hand stiegen sie den Mönchsberg hinunter und schlenderten durch die Stadt, bis es Nell einfiel, daß sie nicht aus Salzburg fahren könnten, ohne Mozarts Geburtshaus gesehen zu haben. Im Fluge ging es dann in die Traube zurück und nach einem hastig eingenommenen Mittagessen zum Lokalbahnhof. Gerade zurecht kamen sie, um noch mitgenommen zu werden.
»Richtig ausgenutzt haben wir die Zeit,« frohlockte Väterchen, »und zu einem Spaziergang an der Salzach hat's auch noch gelangt, trotz meines weisen Töchterchens.«
Die Nell ward rot, sie stimmte aber in sein Lachen ein. Und nun kam die schönste Strecke der Reise.
In langsamer Steigung ging es zwischen waldbedecktem Hügelland zur Station Eugendorf, ein stattliches Dorf mit alter Kirche. Darüber hinaus in der Ferne der Schober mit der jäh abfallenden Drachenwand, an ihrem Fuße der klare Mondsee. Höher und höher ging es durch üppiges Wiesenland, immer entlang an der Berglehne. Immer schöner und großartiger entwickelte sich die Gebirgslandschaft, voll genossen die Reisenden den Blick auf den Mondsee, bis sie in den sechsundneunzig Meter langen Scharflinger Tunnel hineinfuhren und er ihren Blicken entzogen war.
Nach einer Ewigkeit, wie Nell meinte, ward es wieder hell, die Haltestelle Scharfling war erreicht. Aus einer Höhe von sechzig Metern schauten sie in ein wunderliebliches Talbecken, in dem Scharfling mit dem kleinen Egelsee lag. Darüber erhob sich in majestätischer Größe der Schafberg, und von links herüber schimmerte der tiefblaue Mondsee.
»Väterchen, dahin müssen wir,« rief Nell begeistert, »was meinst du, dies Stückchen Paradies müßten wir doch unbedingt durchwandern? Jedem dieser köstlichen Seen wenigstens einen Tag widmen?«
»Wenn du meinst, Kind, so könnten wir von der vorletzten Station aus gehen. Ja, ja, Nell, das wollen wir, es muß ein Genuß sondergleichen sein, hier zu wandern.«
»Schade, daß wir nicht schon ausgestiegen sind,« rief Nell bedauernd, als der Zug sich wieder in Bewegung setzte und in weitem Bogen das breite Talbecken umfuhr, immer wieder Ausblicke auf den Mondsee gestattend.
Nach einem langen Tunnel wieder ein anderes Bild: der tiefschwarze Grottensee mit Schloß Hüttenstein. Gleich darauf hielt der Zug. Nell sprang auf, riß das Handgepäck aus dem Netz und öffnete die Tür.
»Schnell, Väterchen, schnell,« rief sie und sprang hinab.
»Aber Nell –«
»Väterchen – schnell, bitte – bitte, schnell.«
Wollte Väterchen seine Einzige nicht allein auf dem Bahnsteig stehen lassen, so blieb ihm nichts übrig, als schleunigst hinauszuklettern. Kaum stand er, so setzte der Zug sich in Bewegung.
»Nell – was soll dies?«
»Wir wollten doch wandern, Väterchen.«
»Aber doch nicht schon hier. Wir haben doch noch eine Menge Stationen bis St. Wolfgang. Dies ist mal wieder eine Eigenmächtigkeit von dir, die –«
»Väterchen, nicht böse sein! Es ist hier ja so himmlisch, ich hielt's wirklich nicht aus im Zug. Da schau! Konnte man da länger sitzen bleiben?« Sie umfaßte Väterchen und drehte ihn herum.
Die Augen leuchteten ihm auf, als er die Blicke über den düster gefärbten Grottensee, von hohen Bergen umschlossen, schweifen ließ. Romantisch hoben sich die Ruinen des alten Schlosses von einem Felskegel gegen die bewaldeten Berge ab. Helle Sonnenlichter umspielten das verwitterte Gemäuer und überstrahlten den durch die Fensterhöhlungen sich schlingenden, dunklen, knorrigen Efeu.
»Ist das nicht der reine Poetenwinkel, Väterchen?«
»Freilich! Es ist wunderschön! Aber was bezweckst du jetzt, wenn ich fragen darf, Nell?«
O – nun schlendern wir am See entlang, immer der Bahn nach.«
»So! Wollen wir auch durch die Tunnels kriechen?«
»Ach so!«
Nun lachten beide.
»Es wird sich schon eine Straße nach St. Wolfgang finden,« meinte sie dann sorglos, bückte sich, hob Väterchens Rucksack auf und war ihm behilflich, ihn umzunehmen, schulterte den eigenen und warf beide Wettermäntel darüber.
»Nichts da. Jedem das Seine,« erklärte jedoch Väterchen und bemächtigte sich seines Eigentums. »Und wo sind die Schirme?« fragte er.
Bestürzt sah die Nell sich um. Die Schirme, die nagelneuen, grauen Touristenschirme, mit Picken, die Väterchen nebst den Mänteln in München erstanden hatte – ja – wo waren die?
»Sie – sie müssen im Zuge liegen geblieben sein,« stotterte sie ganz erschrocken.
»Höchst wahrscheinlich.« Väterchen zog seine Brieftasche heraus. »Ich werd's für alle Fälle notieren. Also: durch Nells Eigenmächtigkeit Verlust von zehn Mark für zwei Touristenschirme. So. Da steht's. Soll mich mal wundern, was noch alles dazu kommt.«
»O Väterchen – ich schäme mich! Schäme mich grenzenlos.«
»Ist recht, Nell. Kann gar nicht gründlich genug werden, wenn es dir fürs Leben nützen soll. Und nun können wir uns wohl nach dem Weg erkundigen, oder befiehlt mein Fräulein Tochter hier bis morgen zu rasten?« Um Väterchens Mund lachte schon wieder der Schalk, aber die Nell schüttelte nur stumm den Kopf, die braunen Augen voll Tränen. Der Verlust ging ihr nicht so zu Herzen, wie Väterchens Aufzeichnung. Wenn das so weiterging fünf Wochen lang – heute war erst der dritte Reisetag – was für Stoff zu endlosen Neckereien für die Brüder! Sonst war sie einem Scherz nicht abhold, aber in diesem Punkt war sie empfindlich. Was die Eltern und Brüder Eigenmächtigkeit zu nennen beliebten, war nach ihrer Meinung Entschlossenheit, Energie, Zeichen eines starken Charakters. Mit achtzehn Jahren war man doch ein fertiger Mensch. In einem Jahre sollte sie Kinder unterrichten und erziehen, von einer Lehrerin verlangte man solche Eigenschaften. Gut, wenn sie sich die schon früh zu eigen machte.
»So, Mädel, nun hast du lange genug in dich geschaut, nun schau um dich,« erklärte Väterchen, nachdem er Erkundigungen eingezogen und sie einen Weg eingeschlagen hatten, der vom See abführte. »Sieh nur, wie schön die Welt ist. Was – gar Tränen? Kind, wer weiß, ob wir die Schirme nicht in St. Wolfgang vorfinden. Weißt du was? Ich werde in St. Gilgen eine Depesche aufgeben. Na, was sagst du?«
»Ja, ach ja, tu das, Väterchen. Und nicht wahr,« schmeichelnd schob sie ihren Arm in seinen, »dann streichst du die garstige Bemerkung in deinem Taschenbuch wieder aus?«
»Garstig? So eine sachgemäße Aufzeichnung? Nichts da, kleine Nell, was geschrieben steht, bleibt stehen. Ah – atme mal die Luft ein, Kind, schön ist es doch, das Wandern. Und nun ein fröhlicher Weggenosse, mein' Tochter, wenn ich bitten darf.«
Wenn Väterchen »mein' Tochter« sagte, so wußte Nell, daß sie sich zusammenzunehmen hatte. Dank ihres »starken Charakters« gelang es ihr auch schnell. Wie viel die Hoffnung, die Schirme möglicherweise wiederzuerlangen, dazu beitrug, gestand sie sich nicht ein.
Munter plaudernd schritten sie rüstig aus, am Fuße des Falkensteins im engen Tale entlang. Nachdem sie das Ende erreicht und einen kleineren Felskegel umschritten hatten, blieben sie mit einem Ausruf des Entzückens stehen. Das reizende Tal von Brunnwinkel lag vor ihnen, der liebliche Ort mit seinen Villen sich bis hart an die grünen Ufer des Abersees hinstreckend. Weiterhin St. Gilgen und als Abschluß der waldreiche Zwölferkogel.
»O Väterchen, wie ist die Welt so wunderbar schön!« Die Nell rief es in jauchzender Freude und breitete die Arme aus, als möchte sie an ihr Herz drücken, was sie so hoch entzückte.
Langsam schritten sie weiter, das schöne Bild beständig vor Augen, bis sie das herrlich am Westende des Abersees gelegene St. Gilgen erreichten.
»Weißt du was, Väterchen? Hier bleiben wir zur Nacht,« erklärte die Nell mit großer Entschiedenheit, »das heißt,« fügte sie schnell hinzu, als Väterchen zu hüsteln begann, »wenn du magst. Selbstverständlich hast du zu bestimmen.«
»Sieh mal an, wie liebenswürdig!« Väterchen strich mit der schlanken Hand durch den prachtvollen grauen Bart und machte so lustige Augen, daß die Nell lachte.
»Ich tu alles, was du willst, Väterchen, es ist hier ja überall so schön.«
»Und deshalb gleich, wo wir bleiben, nicht wahr, du Schlauberger? Also seien wir einmal leichtsinnig, überlassen Koffer und Schirme ihrem Schicksal und schlagen hier unsere Zelte auf.«
»Geht es aber schief aus, Väterchen, so gibt's für mich keine Bemerkung im Buche.«
»Nein, das kommt dann auf mein Konto, denn Ordnung muß sein, und ich hab's den Jungen versprochen, alle dummen Streiche, die wir zwei ausüben, getreulich zu notieren.«
»Nein, diese Schlingel! Sich darauf schon zu freuen. Wir wollen aber vorsichtig sein, nicht wahr?«
»Mir scheint, wir sind es unglaublich, Nell.«
Vater und Tochter sicherten sich Unterkunft in einem Hotel und stärkten sich durch Speise und Trank. Dann durchstreiften sie den blühenden Ort, sahen sich die alte Kirche mit ihrem romantischen Turm und dem gotischen Portal an und genossen noch einen herrlichen Abend am See.
* * *
Am nächsten Morgen wollten beide ihre Wanderung fortsetzen, ließen sich aber vom Wirt bereden, das gerade abgehende Dampfboot zu benützen und über den See zu fahren. Schnell holte Nell das Handgepäck, Väterchen besorgte Karten und dann bestiegen sie den kleinen Dampfer, froh, noch einen Platz zu erwischen.
»Sieh nur, wie eigen gefärbt der See ist, Nell,« bemerkte Väterchen und wies auf die blaugrün schimmernde Wasserfläche.
»Ja, und sieh nur die vielen, vielen Berge, wie sie sich einer hinter dem andern auftürmen. Und immer noch neue Spitzen tauchen auf! Wenn mir doch einer die Namen nennen könnte.«
»Der da drüben mit dem wunderbar schmalen Plateau ist der Schafberg, der Herrscher unter den Salzburger Alpen, das ist aber auch alles, was ich weiß, Tochter.«
»Danke, Väterchen, so weit reichten meine Kenntnisse auch. Wir müssen uns, sobald wir in St. Wolfgang sind, sofort einen Führer nebst Karte kaufen, denn so dumm durch die Welt zu reisen, ist einfach unerhört.«
»Danke ergebenst, Nell.« Väterchen lüftete höflich den Hut und verneigte sich leicht.
»Aber Väterchen –« zufällig fiel Nells Blick auf einen jungen Herrn, der nicht weit von ihnen stand und nur mit Mühe das Lachen verbiß. Er trat schnell heran und nahm den Hut ab.
»Wenn die Herrschaften gestatten, bin ich gern bereit, mit meinen Kenntnissen zu Hilfe zu kommen, ich bin bereits das dritte Mal hier. Forstassessor Baumgarten,« stellte er sich vor.
Der Postdirektor erwiderte die Höflichkeit und dankte dem jungen Mann für seine Liebenswürdigkeit. »Nehmen Sie sich also unserer Unwissenheit etwas an, Herr Assessor,« bat er mit lächelndem Seitenblick auf seine Tochter.
»Mit Vergnügen, Herr Postdirektor,« er nannte ihm die Namen verschiedener Berge und wandte sich dann an Nell.
»Sehen Sie dort – nein, mehr links, gnädiges Fräulein – die liebliche Bucht von Fürberg und hier gerade an der schroff abfallenden Wand des Falkensteins die kleine Insel mit dem Kapellchen? Eine Sage knüpft sich daran. Ein Bauer soll drüben am Ufer einen Ochsen in gemächlicher Ruhe dahergetrieben haben. Plötzlich wird das Tier aus irgend einer Ursache wild und springt in den See. Das Bäuerlein, nicht gewillt, den feisten Ochsen fahren zu lassen, setzt ihm hurtig nach und erwischt seinen Schweif. Schwimmend erreichen beide das Eiland, das zum Andenken an das Geschehnis das Ochsenkreuz genannt wird.«
»Da droben auf dem Felsvorsprung steht auch ein Kreuz,« bemerkte Nell, »wissen Sie, ob es auch eine besondere Bedeutung hat?«
»Haben Sie aber scharfe Augen, gnädiges Fräulein. Ja, das hat eine ernste Geschichte. Einst fuhr eine lustige Hochzeitsgesellschaft mitten im Winter von Ried aus über den zugefrorenen See nach St. Gilgen zur Trauung. Auf der Rückkehr waren die jungen Leute sehr ausgelassen und einer schlug einen Tanz auf der spiegelglatten Eisfläche vor. Trotz Einspruchs der älteren und besonneneren Personen hieß der junge Ehemann die Schlitten halten, hob seine junge Frau heraus und schwenkte sie im Kreise. Unter Lachen und Jubel folgten andere junge Paare seinem Beispiel und bald herrschte eine tolle Ausgelassenheit. Plötzlich ein Erzittern der Eisdecke, ein Krachen und Splittern, und ehe sich auch nur ein Schlitten mit seinen Insassen retten kann, bricht das Eis im weiten Umkreis, und die ganze Hochzeitsgesellschaft verschwindet samt Pferden und Schlitten in der grausen Tiefe des Sees, gerade dort, wo sich das sogenannte Hochzeitskreuz erhebt.«
»Schrecklich!«
»Ist ja nur eine Sage, Kind,« tröstete Väterchen, »wenn auch etwas glaubhafter als die von dem rabiaten Ochsen.«
»Sehen Sie noch einmal zur Wand hinauf, gnädiges Fräulein, dort hat die Sektion des Deutsch-Österreichischen Alpenvereins Victor von Scheffel eine Huldigungsschrift eingraben lassen, und oben auf der Höhe steht eine kleine Kirche, die Einsiedelei des heiligen Wolfgang, nach dem der Ort seinen Namen trägt. Auch der See wird ebenso häufig St. Wolfgangsee als Abersee genannt.«
Die drei Reisenden unterhielten sich so gut, daß die Fahrt für sie viel zu schnell ein Ende nahm.
Der Postdirektor sah sich unruhig um, als das Dampfboot bei dem terrassenförmig aufgebauten Marktflecken St. Wolfgang anlegte.
»Ja aber – ist der Bahnhof nicht hier in der Nähe?«
»Nein, Herr Postdirektor, der liegt dort drüben am jenseitigen Ufer.«
Väterchen pfiff durch die Zähne. »Und dies war der erste Streich, doch der zweite folgt sogleich. Da sitzen wir an einem Ende des Sees und unser Gepäck befindet sich am anderen. Reizend, was?«
»Es ist so schlimm nicht, Herr Postdirektor,« tröstete der junge Mann, »sehen Sie, dort kommt das Dampfboot, das den Verkehr zwischen dem Ort und der Bahnstation vermittelt. Geben Sie einfach Order mit, daß Ihnen Ihre Sachen gebracht werden, dann sind sie bis Mittag hier. Ist es den Herrschaften recht, wenn ich Sie in Dressels Hotel führe? Man ist dort gut aufgehoben.«
»Das nehmen wir mit Dank an, nur muß ich erst das Dampfboot abwarten und unser Gepäck herbeordern,« entgegnete der Postdirektor. Er blieb am Ufer, während die jungen Leute auf- und abschritten. Verlangend schaute Nell zum Schafberg hinauf.
»Sie wollen ihn heute noch besteigen, Herr Assessor,« fragte sie, »mein Vater meinte, wir wollten morgen früh hinauffahren.«
»Wer weiß, wie morgen das Wetter ist. Nehmen Sie lieber das Sichere für das Unsichere, Fräulein Wartenberg. Kommen Sie mit. Und dann zu Fuß. Die Fahrt hinauf mag ja sehr interessant sein, aber gegen das Klettern kommt nichts. Wie genießt man da jeden Blick, jeden Wechsel der Beleuchtung, jedes neue Bild!«
»Ach – es muß köstlich sein! Ich will mein möglichstes tun, meinen Vater zu überreden. Da kommt er schon. Väterchen –« sie eilte ihm entgegen. »Wollen wir nicht heute noch mit hinauf auf den Schafberg? Zu Fuß natürlich, Herr Assessor sagt, das sei das Schönste, und morgen könne das Wetter schlecht sein.«
Väterchen lachte leise auf. »Sieh mal an. Mit Österreichs Rigi also gleich beginnen. Wie hoch ist er doch?«
»1780 Meter, Herr Postdirektor – eine ganze Leistung freilich – –«
»Für meine sechzig Jahre – wollt's meinen. Und gleich nach dem Mittagessen, oder wollten wir uns das schenken?«
»Nein, nein, Väterchen,« rief Nell lebhaft, »verzeih, ich hatte nicht nachgedacht, und deinen Mittagschlaf darfst du auch nicht versäumen.«
»Wir können vielleicht später noch hinauffahren, erst wollen wir mal vor allen Dingen essen gehen, Tochter, ich habe rechtschaffenen Hunger.«
Sie schritten ins Hotel, ließen sich Zimmer anweisen und trafen sich im Speisesaal mit ihrem jungen Reisegefährten wieder. Es ward an kleinen Tischen gegessen, und Vater und Tochter saßen schon, als der Assessor kam und bat, bei ihnen Platz nehmen zu dürfen.
Alle drei waren sehr heiter und taten, trotz der frühen Stunde – es war noch nicht zwölf – den Speisen volle Ehre an. Als dann der Assessor aufbrach, konnte die Nell einen leisen Seufzer nicht unterdrücken, sie wäre für ihr Leben gern mitgewandert.
»Es würde für den Anfang zu anstrengend sein, Nell,« bemerkte der Postdirektor, dem ihr Seufzer nicht entgangen war, »ich habe Hugo fest versprochen, auch darin vernünftig zu sein.«
»Selbstverständlich, Väterchen, komm, du mußt nun schlafen, ich mach dir's gemütlich.«
In seinem Zimmer half sie mit Kissen und Wettermantel nach, bis der Vater es möglichst bequem auf dem harten Sofa hatte, dann ging sie in das eigene Stübchen und weidete sich an der Aussicht, die sich ihr vom Fenster aus bot. Sie dachte nicht mehr an den Schafberg, sie genoß rein und voll die Freude, hier in dieser paradiesischen Gegend zu sein und noch so viel des Herrlichen vor sich zu haben.
Geschäftig trug sie ein Tischchen herbei, um ab und an einen Blick hinauswerfen zu können, dann setzte sie sich und schrieb an dem Brief, den Väterchen und sie gemeinsam in Tagebuchform begonnen hatten. Darüber vergaß sie Zeit und Stunde und war höchst überrascht, als der Vater nach kurzem Klopfen eintrat.
»Hab mich total verschlafen, Kind. Es ist nach vier und zu spät, um noch hinaufzufahren.«
»Tut nichts,« Nell sprang fröhlich auf, »es ist ja alles so schön, so wundervoll, und was wir heute nicht sehen, bleibt uns für morgen. Hast du gut geschlafen, Väterchen?«
»Prachtvoll! Und fühle mich erfrischt. Ich war müde, Kind.«
»Kein Wunder nach dem Marsch von gestern. Ein Glück, daß wir nicht auf die Kletterei hereingefallen sind.«
»Ja, wenn du nicht einen so vernünftigen Vater hättest.«
Lachend gingen sie hinunter, tranken Kaffee und schlenderten dann durch den malerisch gelegenen Ort mit bunten, altertümlichen Häusern und einer herrlichen, aus dem dreizehnten Jahrhundert stammenden, gotischen Kirche. Ihr Interesse ward besonders durch den Hochaltar und einen zwischen Kirche und Schloß stehenden alten Brunnen mit Reliefs gefesselt. Beides Kunstwerke, auf die der Ort mit Recht stolz ist.
Und dann die Umgebung! Auf Bergeshöhe ein stattliches Hotel, links der dicht bewaldete Kalvarienberg, rechts die tausendvierhundertneunundvierzig Meter hohe Vormauer, ein grünbewaldeter Berg, zwischen ihr und dem jäh in den See abstürzenden Falkenstein, in seiner vollen Majestät der Schafberg.
»Morgen,« sagte Nell in froher Erwartung.
»Ja, morgen,« wiederholte Väterchen, »aber vorläufig wollen wir den Augenblick genießen.«
Nell war mit voller Seele dabei, und heiter plaudernd gingen sie am See entlang, bis der Abend sich senkte. Es war schon spät, sie saßen noch im Speisesaal, der Postdirektor las eine Zeitung, Nell vergnügte sich damit, die Menschen zu beobachten, als noch ein später Gast eintrat, Forstassessor Baumgarten. Ein frohes Leuchten ging über sein offenes, sonnengebräuntes Gesicht, als er die beiden erblickte. Eilig trat er an ihren Tisch.
»Ah – sieh da, Herr Assessor –« der alte Herr legte die Zeitung hin, »eben erst zurück?«
»Soeben erst, ja, nur schnell etwas zurechtgemacht. Darf ich mich niederlassen?«
»Und Ihren gesunden Hunger stillen, versteht sich. Kommen Sie denn jetzt noch zu Fuß herunter?«
»Freilich! War das ein Genuß! Ich möchte sagen, noch größer als der Aufstieg im Sonnenglanz. Haben Sie den See im Mondschein gesehen, gnädiges Fräulein? Nein? Da müssen Sie schnell auf einen Sprung mit hinauskommen.«
Nell erhob sich. »Väterchen –«
»Ja, natürlich – ich komme schon, Kind.«
Stumm standen sie alle drei am Ufer. Der See war etwas in Bewegung. So weit man ihn überblicken konnte, kräuselten sich kleine, kurze Wellen auf seinem Spiegel, alle wie mit flüssigem Silber gekrönt im flimmernden Mondlicht. Langsam kamen sie daher und zerschellten mit leisem Plätschern.
Im bläulichen Schatten der Nacht standen die Berge am jenseitigen Ufer, in scheinbar greifbarer Nähe der Schafberg in wuchtiger Höhe. Scharf zeichnete sich die steile Wand des Falkenstein gegen den Sternenhimmel ab, noch schroffer in der nächtlichen Beleuchtung als am Tage.
»Dort hinauf hat sich einmal ein Hirtenknabe verstiegen,« erzählte Assessor Baumgarten, »und als sich herausstellte, daß Rettung unmöglich sei, zog auf einem Kahn eine Prozession so nahe wie möglich an den Fuß der Wand, und ein Priester sprach den armen Jungen los von seinen Sünden. Bald darauf versagten seine Kräfte, er konnte sich auf dem schmalen Vorsprung nicht mehr halten und stürzte in den See.«
Nell antwortete nicht, scheu flog ihr Blick über die dräuende Felswand, dann nahm das Spiel der leuchtenden Wellen ihre Sinne wieder völlig gefangen.
Da glitt ein Boot daher, sie hörten eine Männerstimme deklamieren und verstanden auch bald die Worte, den Bergpsalmen Scheffels entlehnt, mit denen der Dichter den heiligen Wolfgang den See begrüßen läßt:
Auf und hinaus im wonnigen Licht,
Über moosumsponnenes Trümmergefels,
Wo jenseits zahllos verdunkelte Stämme
Fern wogend durchschimmert der Fluten Grün –
Zum See laßt uns ziehn.
* * *
»Sieh hier,« sagte Väterchen, als die Nell am nächsten Morgen etwas später als er in das Frühstückszimmer kam, und zeigte auf einen Strauß dunkelroter Alpenveilchen, die in einem kleinen Glase vor ihrer Tasse standen.
,,O – woher hast du die schon, Väterchen?«
Der lachte belustigt. »Die sind nicht von mir, Nell. Mußt die Begleitkarte lesen.«
Schnell griff sie nach der Visitenkarte, nahm sie auf und las: »Forstassessor Baumgarten, Güstrow i. M. Auf Wiedersehen!«
»Glaubst du wirklich, Väterchen, daß wir uns auf der Reise noch wiedertreffen?«
»Kann sein, Kind, obgleich der junge Herr auf Schusters Rappen reist und wir per Bahn. Aber nun eile dich, Nell, daß wir zu unserm Frühstück kommen.«
»Ja, ja.« Schnell strich sie Brötchen und schenkte Kaffee ein. »So Väterchen, alles fertig, nun laß dir's schmecken. Aber ich glaube, du rechnest? Oder schreibst du an?«
»Beides. Das Reisen ist unglaublich kostspielig, Tochter, ich habe schon unheimlich viel Geld ausgegeben.«
»Wollen wir uns mehr einschränken, Väterchen? Oder – den Schafberg aufgeben? Die Fahrt wird ziemlich teuer.«
»Ih – nein – darauf haben wir uns beide so besonders gefreut. Aber wie wär's, wenn wir uns Proviant mitnähmen, um oben das Mittagessen zu sparen? es soll da nämlich sehr teuer sein.«
»Gewiß, ich streiche uns Brötchen und lasse uns Eier kochen. Ich werde es gleich bestellen.«
»Tu das, Kind. Mehr Geld als ich mitgenommen habe, dürfen wir nicht ausgeben, und wir wollen doch so viel wie möglich sehen.«
»Natürlich. Wir werden uns schon einrichten, Väterchen.«
Fröhlich frühstückten sie, dann eilte sie noch schnell auf ihr Zimmer, ihre Alpenveilchen in Sicherheit zu bringen.
»Ei Tochter, schaust ja aus, als kämst du schon von einer herrlichen Partie und dabei soll's doch erst losgehen,« rief der Vater ihr entgegen, als sie zurückkehrte.
»O – ich bin so glücklich! Und ich freue mich so auf die Fahrt!«
»Ich auch. Und nun vorwärts. Sieh nur, wie schön der Tag ist.«
Sie gingen nach dem See hinunter, wo sich die Station befand. Der Zug, nur ein Wagen und eine große starke Maschine, stand schon bereit, die Fahrgäste die Zahnradbahn hinaufzuführen. Vater und Tochter eilten, sich Fensterplätze zu sichern.
»Ich habe ordentlich Herzklopfen vor Erwartung,« bemerkte Nell und beobachtete die Einsteigenden, unter denen sich ein junges Mädchen ihres Alters, auch in Begleitung eines älteren Herrn befand. Ob das auch Vater und Tochter waren?
Reiches Blondhaar umgab das feine, zarte Antlitz des Mädchens, dessen Liebreiz nur etwas beeinträchtigt ward durch einen Zug von Müdigkeit und Langeweile um die blaßroten Lippen. Die blauen Augen schauten ernst, fast gleichgültig um sich. Wie war das möglich! War sie krank, oder klappte sonst irgend etwas nicht? Sie trug ein grünes Lodenkostüm, einen Tirolerhut mit Adlerfedern, darüber einen weißen Schleier, der die Zartheit des schmalen Gesichtes noch mehr hob. Sie verhielt sich sehr ruhig, während ihr Begleiter einen nervösen Eindruck machte. Sein bartloses Gesicht sah abgespannt aus, und die etwas gekniffenen Lippen deuteten leichte Gereiztheit an, die dunklen Augen hatten einen kühl beobachtenden, strengen Blick, der aber warm aufleuchtete, wenn er das reizende Mädchen streifte.
Die Maschine setzte sich in Bewegung. Die Nell vergaß die Fremden und wandte ihr volles Interesse der Fahrt zu. Der kleine Zug übersetzte auf langem Viadukt den reißenden Dietersbach, der dem See zuströmte, und gestattete somit einen Blick in die malerische Dietersbachwildnis. Dann begann sofort eine scharfe Steigung an der Berglehne, und den Reisenden bot sich ein Panorama von überwältigender Schönheit.
Immer tiefer blieb der See zurück und immer höher stieg der Berge unabsehbare Kette, eine über der andern empor. Über jähe Schluchten hinweg ging es zur ersten Station, der Schafbergalpe. Hier ward gehalten. Einige Reisende stiegen aus.
»Wir wollen doch auch, Väterchen?« rief Nell und sprang auf.
»Versteht sich, Kind, alles mitnehmen, was sich bietet, das hab ich mir besonders für die Reise zum Grundsatz gemacht.«
Nell sah auffordernd zu der jungen Fremden hinüber, die lehnte sich jedoch mit abweisender Miene zurück.
»Willst du aussteigen, Christa?« fragte ihr Begleiter. Nell zögerte unwillkürlich, um die Antwort zu hören. »Nein, Papa, es ist so kalt draußen. Wir waren ja auch schon einmal hier.«
Nell wußte wahrscheinlich selbst nicht, wie entrüstet ihre braunen Augen das Mädchen anfunkelten, ehe sie absprang. Dann aber dachte sie nicht mehr an die Fremde, das herrliche Gebirgspanorama nahm sie völlig gefangen.
Hochkönig, Watzmann, Untersberg, Torstein und viele andere Riesen der bayerischen und der Salzburger Alpen erhoben ihre Häupter. Empfindlich kalt aber war es auf der Alp, einer weiten Matte mit zehn Sennhütten. Trotzdem hätte sie sich gern noch länger aufgehalten, es hieß jedoch bald die Plätze wieder einnehmen.
Die Bahnstrecke wandte sich nun nach der anderen Seite, und bald erglänzte tief unten ein klarer Seespiegel nach dem andern. Der Baumwuchs hörte auf, der Zug klomm einen kahlen Felsrücken in langsamer Bogenfahrt hinan. Dann ging es in einen langen Tunnel. Plötzlich bot sich den Reisenden durch ein in das Gestein gebrochenes Fenster ein überraschender Ausblick auf den Attersee in seiner vollen Ausdehnung. Schroff fiel die Felswand in den See, hinter dem sich das mächtige Höllengebirge erstreckte.
Wie ein lachendes, in Sonnengold getauchtes Bild lag die Landschaft da, doch nur wenige Minuten durften sie sich daran erfreuen, dann umfing sie wieder tiefe Nacht.
»Gräßlich! Ich kann diese Tunnels durchaus nicht leiden,« hörte Nell ihr Gegenüber sagen und die tröstende Antwort: »Wir sind ja gleich oben, Kind.«
Helles Sonnenlicht erfüllte wieder das Abteil. Der Attersee war verschwunden, blaugrün schimmerten die Fluten des Wolfgangsees tief unten aus grünen Wiesen hervor. Und da war die Endstation erreicht. Die Nell, als erste draußen, stieg schnell mit Väterchen den kurzen, bequemen Weg zum Gipfel empor.
»Hast du auf die beiden uns gegenüber geachtet?« fragte sie, »das sind gewiß auch Vater und Tochter, aber die haben nicht das von der Reise, was wir haben. Wie kann man nur solch Gesicht aufsetzen bei einer so wonnigen Fahrt.«
»Ist ein blasiertes, junges Dämchen und bleichsüchtig dazu, Nell, ist nur zu bedauern. Bin froh, daß ich die nicht zur Begleiterin habe.«
»Und wie viel netter ist mein Väterchen als ihr Papa.«
Lachend stiegen sie das letzte Stückchen bergan und hatten das Gasthaus erreicht.
»Weiter, Nell, erst die Aussicht.«
»Und dann dinieren wir bei Mutter Grün und genießen ohne Unterbrechung all das Schöne. O – Väterchen!«
Stumm, überwältigt standen beide eine ganze Weile vor dem gewaltigen Landschaftsbilde. Weit ins flache Land bis über die Donau hinaus reichte der Blick und schweifte über ein wahres Felsenmeer, das sich nah und fern nach allen Seiten hin auftürmte. Gegen den blauen Himmel hoben sich besonders machtvoll die blendenden Gletscher des Dachstein und die Übergossene Alp mit dem Hochkönig ab. Daneben ragte die in ewigem Eis starrende Spitze des Hoch-Eiser majestätisch auf. Einen reizvollen Gegensatz zu der machtvollen Größe des Hochgebirges boten die Täler. Vierzehn Seen spiegelten das goldene Sonnenlicht wieder, das über blühende Matten und Wiesen, über anmutige Dörfer und Weiler, über lauschige Wälder seine funkelnden Strahlen ausgoß und selbst das tote Gestein mit einem rosigen Schimmer überhauchte.
»Kind,« sagte Väterchen bewegt und preßte der Tochter Hand, »wie hat unser Gott doch seine Welt so königlich geschmückt! Und das für uns, für uns! Was sind wir, daß er uns mit so viel Schönheit umgibt? Herrgott, macht dies die Seele groß und weit und frei!«
Lange noch standen beide im Schauen versunken. Alle Mitreisenden waren einer nach dem andern ins Unterkunftshaus gegangen, zu speisen. Langsam schritten Vater und Tochter auf dem Plateau umher und machten sich auf jede Kleinigkeit in der zauberhaften Landschaft aufmerksam. Endlich merkte Nell, daß der Vater stiller ward.
»Du mußt ruhen, Väterchen,« sagte sie energisch, »komm, wir suchen ein Plätzchen und packen unser Körbchen aus.«
»Ja, Tochter, ich glaube wirklich, ich habe Hunger.«
Sie ließen sich nieder und verspeisten ihre Eier und Brötchen mit bestem Appetit. Höchst überrascht schaute die Nell, als Väterchen seine kleine Feldflasche hervorzog, das Gläschen abhob, mit Wein füllte und ihr reichte.
»Trink mir's an, Nell.«
»Wie großartig, Väterchen! Wir dinieren hier wirklich eben so gut wie die da drinnen und besser noch, weil sich hier Auge und Herz erfreuen kann. Sieh, da kommt der andere Vater mit seiner Tochter. Sie ist doch entzückend.«
»Dem Äußern nach, ja.«
Das Paar ging ziemlich nah vorüber, dabei streifte sie ein Blick des jungen Mädchens, so verwundert, mitleidig und spöttisch, daß der Nell das Blut heiß ins Gesicht schoß und sie den Kopf stolz in den Nacken warf. Das alberne Ding hatte nicht nötig, sie zu bemitleiden, mit der tauschte sie noch lange nicht.
Ihr Körbchen am Arm, machte sie dann einen nochmaligen Rundgang um die Plattform und pflückte Alpenrosen, die sie Mutter schicken wollte.
»Du hast ja unten einen ganzen Strauß Alpenveilchen, nimm doch davon,« schlug Vater vor.
»Wer weiß, ob die sich so lange halten, und dann gibt man geschenktes Gut nicht gleich wieder fort,« erklärte sie fröhlich.
Als sie dann wieder nach St. Wolfgang zurückkehrten, blieb die blonde Christa, die ihnen zufällig wieder gegenüber saß, für die Nell nichts weiter als Luft.