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»Darf ich Sie um ein Wort bitten, Herr Doktor!« Arnold Derwent hatte Doktor Viret, als dieser am folgenden Morgen von Annens Krankenzimmer herabkam, an der Stiege erwartet. »Möchten Sie mir einen Augenblick in die Bibliothek folgen? Ich habe eine Fährte entdeckt.«
»Hm! Das wäre überraschend schnell!« rief Doktor Viret, während er mit Arnold nach dem Studierzimmer schritt, wo sich auch Florence bald darauf einfand.
»Das war von jeher meine Art,« entgegnete Arnold, »wenn ich ein Geschäft übernehme, führe ich es stets in möglichst kurzer Zeit zu Ende. Mein Verdacht lenkt sich auf die Frau, welcher Lisa Montag Nacht im Dorfe begegnete.«
»Lisa ist eine Närrin! Wenn Ihre Spur nach dieser Richtung führt, so wird sie uns nicht viel nützen.«
»Sie haben unrecht, Doktor,« berichtigte Arnold – »möglich, daß die Dirne eine Närrin ist, doch würde dies keineswegs ihre Sehkraft beeinträchtigen. Es ist erwiesen, Lisa begegnete einer bestimmten Person. Kennen Sie unseren Nachbar Fairford?«
»Nein!« antwortete Doktor Viret, »niemand kennt ihn – ich glaube er wünscht auch gar nicht gekannt zu sein – ich verstehe das ganz gut.«
»Mein Vater war mit Herrn Fairford befreundet,« fiel Florence ein und senkte die Augen zu Boden.
»Ja, und er besuchte uns gestern abend,« sagte Arnold. »Wir wissen, daß die fragliche Frau Montag Nacht durch das Dorf ging – warum sollte sie dasselbe nicht in der Nacht des vierten März gethan haben? In diesem Falle wette ich hundert gegen eins, daß sie Onkel Roderich begegnet sein muß.«
»Und die ganze Zeit über nichts von dieser Begegnung verlauten ließ,« warf Doktor Viret ungläubig ein – »das scheint mir höchst unwahrscheinlich. Die Frauen sind unter allen Umständen weit eher geneigt, das was sie sehen, auszuplaudern, als zu verschweigen.«
»Sie stellen meine Geduld auf eine harte Probe, Herr Doktor! Wenn Sie jede Vermutung als unmöglich verwerfen, dann hört alle Beratung auf. Ich habe mir eine Theorie gebildet – sobald diese sich als unhaltbar erweist, werde ich sie fallen lassen und eine neue ersinnen – aber erst sollte man sie prüfen. Sie können nicht leugnen, in der ganzen Angelegenheit ist irgend etwas faul. Ich möchte schwören, das Weib steht in Verbindung mit Fairford, aller Wahrscheinlichkeit nach ist sie seine Frau.«
»Was fällt Ihnen ein!« rief Viret. »Wie kommen Sie zu dieser Annahme?«
»Irgendwo muß sie wohnen – Fairford ist unser nächster Nachbar und hat dennoch niemals die leiseste Andeutung über die Existenz dieser Frau gemacht – Beweis, daß irgend ein Geheimnis dahinter steckt.«
»Gewiß,« warf Florence lebhaft ein, »dürfte Herr Fairford triftige Gründe haben, über Dinge zu schweigen, die uns durchaus nichts angehen.«
»Ohne Zweifel hat er gewichtige Gründe,« versetzte Arnold rasch. »Sie erscheint niemals bei Tage und führt das Dasein eines Nachtvogels; müssen Sie nicht zugestehen, Doktor, daß dies alles sonderbar klingt?«
Doktor Viret zögerte; sein kluges Gesicht sprach von ernsthaftem, scharfem Nachdenken. »Wenn wir die Anwesenheit einer solchen Person in der That annehmen wollen,« gestand er zu, »dann würde dies jedenfalls eigentümliche Verhältnisse voraussetzen. Doch, sind wir dessen sicher? Sie besitzen nur das Zeugnis eines einfältigen Mädchens, und selbst wenn wir dieses als giltig hinstellen, wo bleibt der Beweis eines Zusammenhangs der unbekannten Frau mit Owen Fairford?«
»Darin, daß er sich gestern deutlich verriet; Florence bemerkte es gerade so gut, wie ich. Kaum begann sie Lisas Erlebnis zu erzählen, so wurde der Mann bleich wie ein Gespenst. Kein Zweifel, er weiß alles über die seltsame Frau!«
»Wohl möglich,« meinte Doktor Viret, »doch berechtigt uns dies noch immer nicht zu dem Schlusse, sie könnte uns irgend welche Angaben über Herrn Derwent machen. Wäre sie imstande, dies zu thun, so hätte sie längst ohne Scheu gesprochen. Ich muß den Gedanken, sie mit einem Verbrechen in Verbindung zu bringen, zurückweisen – diese Frau hatte entschieden keine Ursache, Ihrem Oheim ein Leid zuzufügen.«
Arnold steckte die Hände in die Taschen und sah Doktor Viret herausfordernd ins Gesicht. »Haben Sie nie von einem Morde gehört, der auch ohne leitenden Beweggrund verübt wurde?« fragte er vorwitzig.
»Arnold!« rief Florence, »wie kannst du solchen Vermutungen Raum geben?«
»Höre, Flora!« fuhr Arnold fort, »ich habe dir schon einmal gesagt, ich versuche eine Wahrscheinlichkeits-Berechnung aufzustellen. – Sie, Herr Doktor, sind gewiß über die Manie des Menschenmordes weit besser unterrichtet als ich. Nehmen wir an, dieses Weib sei wahnsinnig.«
»In diesem Falle würde sie zweifellos unter ärztlicher Beobachtung stehen.«
»So sollte es sein, doch wir wissen nicht, ob diese nötige Vorsicht angewendet wird. Nehmen wir an, sie sei Fairfords Gattin und periodischen Wahnsinns-Anfällen unterworfen – Ihnen, als Arzt, sind derartige Fälle gewiß vorgekommen; könnten wir daher nicht mit Recht vermuten, daß sie in einer bestimmten Nacht, in derselben, während welcher Onkel Roderich verschwand, von einem heftigen Anfalle ergriffen wurde?«
»Unmöglich! lächerlich!« rief Doktor Viret. »Nie in meinem Leben hörte ich eine widersinnigere Annahme! Ein Weib in diesem Zustande würde den Körper an der Stelle liegen lassen, wo sie das Verbrechen verübte.«
Während er sprach, fiel sein Blick auf Florencens erblassendes Gesicht – so unmöglich die aufgestellte Vermutung klang, schon die Erwähnung derselben mußte sie auf das schmerzlichste berühren. Arnolds lebhaftes, systematisches Vorgehen lieh seinem Gedankengange einen Schimmer von Wahrscheinlichkeit, auch hatte niemand, Inspektor Holt ausgenommen, überhaupt bisher eine Theorie aufgestellt.
»Nicht so eilig, nicht so eilig!« wehrte Arnold eifrig ab. »Manche dieser Wahnsinnigen sind zugleich verteufelt schlau. Wenn die Frau nicht geistesgestört wäre, wie könnte man ihre Lebensweise, das ganze verwünschte Geheimnis erklären? Was ist sie, wenn nicht krank?«
Doktor Viret betonte nochmals ausdrücklich, er könne dieser Anschauung nicht beipflichten, und begab sich, des weiteren Streites müde, nach seinem Laboratorium zurück. Arnold fuhr fort, seine Ueberzeugung zu verteidigen, und wiewohl Florence ihn bald verließ, um ihren Platz am Krankenbette Annens einzunehmen, war sie doch genötigt, während der Mahlzeiten stets von neuem seinen Auseinandersetzungen Gehör zu schenken.
»Halte dir vor Augen, Flora,« sagte er am selben Abend nach dem Essen, »daß ich ebenso für dich arbeite, wie für mich – es liegt mir ferne, weder gegen die bewußte Frau, noch gegen Fairford einen ehrenrührigen Verdacht auszusprechen – beide können nicht minder unschuldig sein, als ich selbst, und doppelt würde es mich freuen, wenn mir gleichzeitig mit der Entdeckung des wahren Sachverhalts, der Nachweis ihrer Schuldlosigkeit gelänge.«
»Wie hoffst du solches zu bewerkstelligen, Arnold?«
»Das will noch überlegt sein,« erwiderte er, »ich werde die dunkle Angelegenheit bei so mancher Pfeife Tabak gründlich überdenken. Vorläufig ist mir nur eines klar: ich darf keinen Kreuzer von Onkel Roderichs Vermögen anrühren, ehe ich seinen Tod nicht bewiesen habe. Doch wollen wir dabei nicht stehen bleiben, – ohne dich schiene mir das alte Haus öde und verlassen! Auch du hast ja die früheren Zeiten nicht vergessen – sie waren schön, und wie oft gedachte ich ihrer, während ich mich in der Fremde herumtrieb.«
»Auch auf Teneriffa, Arnold?«
»Bah!« rief er mit heiterem Lachen, »was fällt dir ein! Du magst es glauben oder nicht, unzählige Male wanderten meine Gedanken zu dir zurück, wie du als kleines Mädchen mich in den Wald locktest, um Schlüsselblumen zu pflücken – erinnerst du dich noch des Tages, an dem ich die Fasaneneier einsteckte, worauf sie sämtlich in meiner Tasche zerbrachen? Weißt du, Flora, wie es mit mir steht? Wenn du mir helfen wolltest, so würde ich alle Kraft daran setzen, ein ganzer Mann zu werden; wenn du mich aber aufgibst, gehe ich geradeswegs zum Teufel! Ohne dich bin ich die Unvollkommenheit selbst, mit dir –«
»Würdest du vollkommen sein!« ergänzte Florence, während ein trauriges, müdes Lächeln ihren lieblichen Mund umspielte.
»Jedenfalls bin ich nicht schlechter, als die meisten Burschen meiner Art,« erwiderte Arnold. »Freilich, Gedichte zu machen, wie Onkel Roderich, würde mir niemals gelingen – für derartigen Plunder fehlt mir jedes Talent; dafür habe ich während des letzten Semesters zwanzigmal im Ringkampfe gesiegt, und meiner Fechtkunst brauche ich mich wahrlich nicht erst zu rühmen. Dein Wort, Flora, wäre mir Gesetz, und wenn du klug bist, so kannst du mich jederzeit um den Finger wickeln.«
Florence fand genug Stoff zur Ueberlegung, nachdem sie diese Rede ihres Vetters angehört hatte. Sollte sie wirklich so großen Einfluß besitzen, und würde es zum Guten führen, falls sie denselben benützte, um Arnold von seinem Vorhaben abzubringen, Owens Geheimnis an das Tageslicht zu ziehen? Sie war überzeugt, daß diese Entdeckung nur Unglück im Gefolge haben könnte – welcher Art? – Das vermochte sie sich freilich nicht vorzustellen, aber sie fühlte, wie lebhaft in ihr selbst die Begier erwacht war, zu erfahren, ob die Frau, die man in der ›Waldaussicht‹ verborgen glaubte, in Wahrheit Owens Gattin sei.
Zur selben Stunde, als Florence sich für die Nacht in Annens Zimmer zurückzog, stand Joseph Bodger am Fenster seiner Schlafkammer und bewunderte den Mond, der, im Untergehen begriffen, dicht über den Baumwipfeln schwebte. Das Haus lag bereits in tiefer Dunkelheit, doch war die Nacht ausnehmend schön, so daß Joseph vermutete, die Person, an deren Gebahren er den regsten Anteil nahm, könne sich zu einem ihrer seltenen Ausflüge verleiten lassen. Obwohl er ihr jedesmal, so oft er gesehen hatte, daß sie das Haus verließ, vorsichtig gefolgt war und ihr auch in der Nacht, als Lisa vor der unheimlichen Erscheinung entfloh, so knapp auf den Fersen war, daß er sich rechtzeitig verbergen mußte, um nicht überrascht zu werden, hatte er dennoch niemals ein bestimmtes Ziel ihrer Wanderung zu entdecken vermocht. Sie verfolgte zumeist die gleiche Richtung und kehrte auf demselben Wege wieder heim; hätte Joseph auch monatelang dieses Spiel fortgesetzt, er wäre darum nicht um ein Haar klüger geworden.
So stand er auch heute an seinem Fenster, starrte nach dem sinkenden Monde und beklagte die Erfolglosigkeit seiner Bemühungen, als er plötzlich auf dem vorher dunkeln Gartenbeete einen Lichtschein gewahrte, der ihn auf die Vermutung führte, es sei jemand in der Küche und hätte dort ein Feuer angefacht.
Wie konnte Joseph ungesehen in die Nähe des ihm wohlbekannten Raumes gelangen? Nach kurzer Ueberlegung war sein Plan gefaßt; er steckte einige nützliche Werkzeuge zu sich und schritt sofort an die Ausführung.
An der Rückseite des Hauses befand sich das Fenster der Spülküche im Erdgeschoß und davor ein trockner Graben. Dort stellte sich Joseph auf, bemerkte jedoch, daß das Fenster nicht nur geschlossen, sondern überdies durch den herabgelassenen, grünen Wollvorhang verdeckt war. Anderen Falles hätte er von seinem Standpunkte aus die Küche übersehen können, da die Thür zwischen dieser und der Spülkammer daneben meist offen stand. Das Fenster zu öffnen wagte er nicht – er fürchtete, das unvermeidliche Geräusch werde ihn verraten. Er nahm daher einen Meißel aus der Tasche, fuhr mit demselben gewandt längs des Randes der Scheibe hin, schnitt auf drei Seiten tief in den Kitt und hielt das Glas mit den ausgebreiteten Fingern fest, während er auch die vierte Seite aus ihrer Fassung löste. Dann erst nahm er die Glasscheibe heraus, legte sie behutsam auf den Rand des Grabens und holte ein Rasiermesser hervor. Er hielt den Atem an, als er den Vorhang mit der scharfen Schneide berührte. Wie leicht konnte das Rauschen des Stoffes Verdacht erregen, oder Fairford in demselben Augenblick nach dem Fenster schauen, in dem die Klinge in den Vorhang eindrang, denn Joseph zweifelte nicht daran, daß es Owen war, der sich in der Küche befand. Schon schlug das Knistern der Flamme an sein Ohr – zu welchem Zerstörungswerk war sie bestimmt? Ein Schnitt nach unten, nicht länger als ein Zoll, zwei im rechten Winkel, und die Klappe war fertig, die Bodger ungesäumt zurückschlug, um sein rechtes Auge unmittelbar an das hiedurch entstandene Guckloch zu legen.
Er konnte die Hälfte der Küche vollständig überblicken. Neben dem Herde stand Owen, die Arme über der Brust gekreuzt, das Antlitz vom Feuerscheine beleuchtet. Unwillen und Ekel zugleich prägten sich in seinen Zügen aus.
Nachdem er auf eine kurze Weile verschwunden war, tauchte er mit einem in braunes Papier gewickelten Bündel wieder in Josephs Gesichtskreise auf, warf den Pack in die Flamme und drückte ihn mittelst einer Zange tief in die lodernde Glut. Nochmals verschwand er, um mit einer Flasche zurückzukehren, deren Inhalt er in das Feuer goß und hierauf rasch nach rückwärts sprang, während die Flammen mit großer Heftigkeit in die Höhe schlugen.
Klar zeichnete sich Owens Profil von dem dunklen Hintergründe ab, als er sich nun auf die Ecke des Küchentisches setzte, die Arme gekreuzt, die Lippen fest aufeinander gepreßt und bewegungslos zusah, wie das Feuer sich langsam verzehrte, der letzte Glutschein geisterhaft über Wand und Decke huschte, die Flamme allmählich niedersank und schließlich knisternd erstarb.
Nachdem Owen die Küche verlassen hatte, öffnete Joseph gemächlich das Fenster und kroch hinein. Wiewohl er eine Kerze anzündete und die Asche sorgfältig durchstöberte, konnte er keinen Bestandteil entdecken, der ihm verraten hätte, welcher Gegenstand hier verbrannt worden war. Als er nach einer Stunde wieder herauskam, hatte er ebensowenig eine Erklärung dieses letzten Schauspiels gefunden, wie für alles seither Beobachtete. Er versäumte nicht, die Glasscheibe, die er am Rande des Grabens hingelegt hatte, mit dem Fuße zu zertreten – vielleicht vermutete Frau Cawdrey, sie sei zufällig herausgefallen, jedenfalls würde sie, bei aller Wachsamkeit, kaum auf den Gedanken kommen, daß Bodger der Urheber ihrer Zerstörung gewesen war.