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Die große und die kleine Menschenliebe

Es war einmal ein weiser Mann, der hatte drei Schüler, und mehr wollte er nicht haben. Aber auch nicht weniger. Denn er pflegte zu sagen: »Ein Schüler –kein Schüler, zwei Schüler –halbe Schüler, drei Schüler –ganze Schüler, –vier Schüler –kein Lehrer.« Diese drei Schüler nun liebte er von ganzem Herzen und von ganzer Seele und widmete ihnen nicht nur seine Lehre, sondern sein volles Leben. Er hatte sie schon als Knaben zu sich genommen, lebte mit ihnen in seinem alten, hohen Hause und verbrachte in der edelsten und liebevollsten Gemeinschaft mit ihnen seine Tage.

Die Schüler dieses weisen Mannes aber waren ihrer Natur und Art nach ganz verschieden. Gabriel, der älteste, war ein feuriger Jüngling, der leicht mit beiden Händen nach den Sternen griff. Der zweite, Uriel, ein versonnener und suchender Mensch, in sich gekehrt, aber freilich auch nie fertig mit sich selbst. Von Rafael, dem dritten, aber konnte man nicht recht sagen, was er eigentlich war. Deutlich war nur, daß er im Denken und Lernen nicht Schritt hielt mit den andern beiden und oftmals, wenn Meister und Schüler sich in den erhabensten Regionen des Lebens und der Lehre bewegten, wie aus einer anderen Welt in diese Erhabenheit herüberzustarren schien. Was nicht hinderte, daß der Meister ihn mit gleicher Liebe umfing wie die anderen beiden und mit um so größerer Geduld. Denn sein Herz war gut, sein Auge klar, und sein Leib von wohlgefälligem und geradem Wuchse.

So vergingen die Jahre. Da kam ein Krieg ins Land, der mehrere Jahre währte und die halbe Welt erschütterte. Mißwachs schuf Hunger, Hunger schuf Seuche, sodaß, was nicht vom Schwerte fiel, durch den Hunger und allerlei Krankheiten hingerafft wurde. Bei all dem Jammer aber war das Schlimmste, daß das ganze Leben im Lande wie aus den Angeln gerissen schien. Alles Glück und alle Freudigkeit war von den Leuten gewichen, an jedem Herde saß das Leid und würzte die schmale Kost mit Bitterkeit, über dem Leide aber erhob sich der Haß mit seinen drei Trabanten, Selbstsucht, Wucher und Gewalt und behauptete breit und frech das Feld mit letztem Worte.

In dieser großen Not berief eines Morgens früh der Meist eiserne drei Jünger um sich und sprach zu ihnen vor der Türe seines Hauses wie folgt: »Wer von euch, meine Söhne, versteht noch die Weh? Ich verstehe sie nicht mehr. Warum hassen sich die Leute? Warum sind sie so dumm, sich zu hassen, da sie sich doch ebenso gut lieben könnten. Warum so töricht, zu wuchern, zu stehlen und zu rauben, da sie doch alle bekennen, daß sie dabei unglücklich sind? Wenn sie nicht so gut sind, um gut zu sein, warum sind sie nicht so klug, es zu sein, warum nicht so schlau? Wahrhaftig, ich verstehe die Welt nicht mehr. Aber eins verstehe ich nun: daß der weise König Salomo recht hatte, wenn er meinte, es gäbe eine Zeit zum Reden, und es gäbe eine Zeit zum Schweigen. Heute, meine Söhne, ist die Zeit zum Reden gekommen. So viele Jahre leben wir nun zusammen einträchtig lernend und lehrend, und selbst der Krieg hat der liebevollen Stille unseres Lebens nichts anhaben können. Ich war euer Meister, ihr meine Schüler. Die Zeit ist gekommen, da ihr versuchen solltet, selber Meister zu sein. Denn seht, die Welt braucht Führer, um sich zurückzufinden zu sich selbst. Ferne sei es von mir, euch wie der Kuckuck seine Jungen aus dem Neste zu werfen, ohne vorher mit euch einen Flug über die Zweige versucht zu haben. So zieht denn heute einmal aus und predigt den Leuten und bessert sie, wenn ihr könnt. Seid liebevoll zu ihnen, denn nichts als die Liebe fehlt der Welt. Seht, dort steigt herrlich und groß die Sonne über den Wald. Wenn sie sinkt, erwarte ich euch. Vielleicht, daß wir mit der sinkenden Sonne die Welt besser verstehen als jetzt. Vielleicht nur wenig, aber wenig ist viel in einer Zeit, meine Söhne, wo viel so wenig ist. Lebt wohl!«

Mit diesen Worten segnete und entließ der weise Mann seine Schüler, die nun sehen mochten, was mit des Meisters Worten anzufangen war. Eine Weile standen sie noch da und blickten halb verwundert über die plötzliche Anrede, die sie soeben erfahren, halb glücklich über den lebendig empfundenen Wechsel in ihrem Leben dem Meister nach, der ernst und still die Türe seines alten Hauses hinter sich geschlossen hatte. Dann stürmte Gabriel voraus, ihm folgte kopfschüttelnd Uriel, Rafael brach sich erst noch einen grünen Zweig vom Busch, den er mit einiger Umständlichkeit an seinem Hute befestigte und begann dann ebenso, wie die anderen seine Probefahrt ins Leben hinein.

Kaum Mittag war es geworden, da kehrte Gabriel, der älteste, schon heim und betrat stürmisch des Meisters Gemach. »Meister,« rief er, »Meister! Ich habe das Leben nicht gekannt, aber nun kenne ich es! Die Welt war mir verschlossen, aber nun sind mir ihre Tore aufgesprungen! Meister, die Menschen sind gut!«

Der Meister ließ die stürmische Anrede über sich ergehen. Dann begann er zu fragen und nach mannigfachen Versuchen hinter die Wahrheit zu kommen, was bei den sich überstürzenden Äußerungen des Jünglings nicht ganz einfach war, erfuhr er schließlich die Erlebnisse Gabriels. Gabriel war auf den Marktplatz der Stadt gegangen und hatte dort einfach zu reden angefangen. Leute hatten sich um ihn gesammelt, die seinen Worten lauschten, und da mit den Worten ihm der Worte Leidenschaft gekommen war, so hatten Hörer sich zu Hörern gesellt, und schließlich war eine unübersehbare Menschenmenge der Gewalt seiner Rede erlegen.

»Sie haben geweint, Meister, sie haben alle geweint! Sie haben mir die Hände geküßt, sie haben mich auf den Schultern getragen! Meister, sie haben mich auf den Schultern getragen!«

»Und was sagtest du ihnen?« fragte der Meister.

»Der Mensch ist gut!« rief ich in die Menge hinein und rief es immer wieder: »Der Mensch ist gut! Und dieser Krieg ist eine Lüge, ein Traum, ein Schlaf, ein Alpdruck der schlafenden Menschheit! Wacht auf zur Güte, Menschen, wacht zum Menschen auf! Menschheit zur Menschlichkeit!«

»Und dann, was sagtest du dann?« fragte der Meister.

»Und dann? Hörst du denn nicht, was ich sage? Ich rief die Menschheit zur Menschheit zurück. Ich schlug den Haß mit der Rute der Menschenliebe, der ewigen, großen, herrlichen Menschenliebe! Meister! Derselben Menschenliebe, die du uns gelehrt!«

»Wohl,« sagte der Meister, »ich verstehe dich und bewundere die Kraft deiner Rede, die die Menschen bezwang, woran ich nicht zweifele. Sie werden noch lange von dir reden, Gabriel.«

»Sie haben mir die Hände geküßt, Meister, und mich auf den Schultern getragen.«

»Du bist begeistert, wie du begeistert hast. Ruhe dich aus, Gabriel«, sprach der Meister.

Gabriel ging. Als er zur Tür hinauswollte, öffnete sie sich leise, und herein trat Uriel. Er kam nicht allein. Eine Anzahl Jünglinge und Männer in ärmlicher Kleidung folgten ihm und hielten sich in scheuer Entfernung.

»Nun, Uriel?« fragte der Meister.

Uriel lächelte, und der Meister bemerkte, daß er glücklich, wenn auch ein bißchen müde aussah. Er begann zu reden, und seine Stimme war voll sanfter Entsagung.

»Ich ging über den Markt, Meister, und durch alle Gassen. Ich sah in die Heimstätten der Menschen hinein und lauschte ihren Reden unter dem Tore. Aber wohin ich kam, trat mir Selbstsucht entgegen, ich sah, wie die Großen die Kleinen drückten, und sah im Auge aller den Haß gegen alle. Die Großen waren klein und noch kleiner die Kleinen. Keiner traute keinem, und alle wucherten mit allem. Nicht nur Geld wollten sie, sondern auch ihr Wort, ihre Miene, ihr Lächeln, ihr Ja und Nein sollte ihnen Zinsen tragen. Ich wollte reden, aber ich vermochte es nicht. Die Lippen waren mir wie versiegelt. Wahrlich, Meister, ich bin nicht geschaffen, um zur Buße zu rufen, aber ein Leben in Liebe zu leben, dazu bin ich geschaffen. Ich suchte nach Augen, die mein Auge suchten, und ich fand die Augen der Suchenden, und der Sehnenden Atem mischte sich mit meinem. Meister, laß mich diese lieblose Welt verlassen und mit den Freunden, die ich fand, die Einsamkeit suchen. Wir wollen die Liebe verwirklichen im Stillen und das Menschliche im Frieden der Wälder.«

Uriel schwieg.

»Wo bleibt Rafael?« fragte der Meister. Die Sonne sank, Rafael kam nicht. Gabriel wollte hinaus, ihn zu suchen, Uriel drängte es, mit seinen Jüngern Abschied zu nehmen. Der Meister hielt beide zurück: »Wartet,« sagte er, »er ist stets der Langsamsten einer gewesen, ich wußte, daß er der letzte von euch sein würde. Darum habt Geduld, denn Geduld ist Liebe, und um der Liebe willen habe ich euch gesandt.«

Als aber die Dämmerung gekommen war und Rafael immer noch ausblieb, machte sich der Meister selber auf, ihn zu suchen. Die Schüler schlössen sich ihm an. Und auch Uriels Jünger folgten ihm nach. Sie wanderten durch die dunklen Gassen und fanden ihn schließlich an einem Brunnen bei einem Mädchen stehen, dem er lächelnde Worte sagte.

»Rafael!« rief der Meister. Der Angerufene fuhr herum und stand rot übergössen vor seinem Meister, während das Mädchen scheu entwich.

»Hast du die Zeit vergessen? Wo bleibst du so lang?«

»Oh, Meister,« sprach Rafael, und seine Augen glänzten, »oh, Meister, wie schön ist die Welt, in die du mich sandtest!«

»Ist sie wirklich so schön?« fragte der Meister. »Wohlan, setzen wir uns auf den Brunnenrand, und erzähle du uns, was du erlebt.«

»Ich habe nichts erlebt, Meister.«

»Du zogst doch aber aus, um zu erleben, Rafael?«

»Meister, ich hatte keine Zeit.«

»Keine Zeit? Wie verstehe ich das?«

»Ja, Meister, ich ging in die Stadt hinab, und wie ich so ging, dachte ich: Warst lange nicht bei deinen alten Eltern, Rafael. Sag' ihnen »Guten Tag«, ehe du dein Tagewerk tust! Wie ich aber in die Hütte trat, war die Mutter krank, und der Alte mühte sich, ihr am Herd eine Suppe zu kochen. »Laß mich, Alter«, sagte ich und nahm ihm die Mühe ab und kochte die Suppe. Dann plauderte ich einige Zeit; schließlich ging ich meines Weges und dachte nach, wie sich wohl die arge Welt bessern ließe. Meister, es ist viel Störung in der Welt. Sieh, als ich so ging, kam ich an einem Sandhaufen vorbei, auf dem Kinder spielten. Die Kinder stritten sich, denn sie spielten im Sande Kuchenbacken und stritten sich um die hölzernen Formen, mit denen sie spielten. Da mußte ich denn Frieden stiften und den Größeren sagen, daß sie den Kleinen das Vorrecht ließen.«

»Und dann?« fragte der Meister ernst.

»Es ist wirklich viel Störung in der Welt,« sagte Rafael, »du glaubst nicht, wie viel! Als ich nämlich weiterging und auf den Markt kam –ich dachte nämlich, auf dem Markte ließe sich am besten zu den Leuten reden –, da sah ich, wie einer alten Hökerfrau der Korb mit den Äpfeln hingefallen war. Da mußte ich doch helfen, das Obst einzusammeln, über das die Gassenbuben schon hergefallen waren.«

»Das ist dieselbe Frau, Meister, die all die schlimmen Jahre, als die Leute nichts zu essen hatten, mit ihren Äpfeln wucherte, und dem armen Volke noch nicht den Blick darauf gönnte!« rief Gabriel dazwischen.

»Die Frau jammerte aber, das weiß ich genau,« erwiderte Rafael, »was sollte ich tun? –Damit war es aber schon wieder Mittag geworden. Ich hatte meinen Alten versprochen, einmal wieder zu Hause zu essen, und so aß ich zu Hause und versorgte die kranke Mutter.«

»Rafael, Rafael!« sagte mit ernstem Kopfschütteln der Meister.

»Nein, Meister, ich weiß, was du sagen willst. Aber es ist nicht so, ich hatte wirklich keine Zeit. Auch am Nachmittage –ich hatte mir vorgenommen, auf dem Markte mein Heil mit den Leuten zu versuchen –wurde ich aufgehalten. Ich hörte plötzlich aus einem Hause lautes Geschrei, und sah durch das offene Fenster, wie ein Arbeitsmann seine Frau schlug. Recht unbarmherzig schlug, Meister. Es tat mir weh um das Weib, wiewohl sie es an dem schuldigen Gehorsam wohl mochte haben fehlen lassen. Da lehnte ich mich ins Fenster, tat, als wenn ich nichts gesehen und gehört hätte, und fragte den Mann, ob er mir wohl einen guten Schuster sagen könnte. Zuerst wandte er sich grimmig nach mir um, aber als ich so ganz ahnungslos tat und sachte ein Wort zum anderen fügte, das Weib auch die Gelegenheit benutzt hatte, um aus der Stube zu laufen, beruhigte er sich sichtlich. Als ich das sah, bat ich ihn sofort, mir gegen eine Belohnung den Weg zu zeigen, was er auch tat. Auf dem Wege kam ich vom Reden ins Scherzen; als er aber lachte, schickte ich ihn nach Hause, denn ich wußte, nun würde er seiner Frau nichts mehr tun.«

»Laß mich gehen, Meister!« Uriel erhob sich vom Brunnenrand: »Laß uns gehen! Er redet und redet und kommt nicht zum Ende!«

»Still, Uriel! Noch eine letzte Frage an ihn, dann gehe auch ich!« Der Meister erhob sich und schaute Rafael mit einem Blicke in die Augen, von dem man nicht wußte, war er streng oder was war er? »Rafael,« sagte er, »du meinst, daß es Störungen gebe im Leben. Rechnest du zu diesen Störungen auch, daß man am Abend schäkernd mit einem Mädchen am Brunnen stehen muß?«

Rafael wurde blutrot im Gesicht. Dann sagte er leise: »Meister, du hast nicht gesehen, wie häßlich und alternd das Mädchen war!«

»Meister,« sprang Gabriel auf, »dieser Schwätzer ist nie dein Schüler gewesen, »gehen wir heim, denn die Nacht ist da!«

»Nein, Gabriel, sondern die Sonne geht auf!« Mit leuchtenden Augen trat der Meister auf Rafael zu, schloß ihn in die Arme, küßte ihm Augen, Stirn und Mund und segnete ihn unter den Sternen der Nacht. Als aber Gabriel und Uriel mürrisch dreinsahen, sprach der Meister ein letztes Wort: »Drei Jünger der Menschenliebe zogt ihr aus in den leuchtenden Tag. Was bist du hinausgestürmt, Gabriel, und kehrtest wieder, trunken und selig? Und du, Uriel? Düsterer, ewig Suchender, was fliehst du die Welt? Geht hin und tut, wie er getan! Denn wißt: Groß ist die Menschheit, aber der Mensch ist klein! Ewig die Liebe, aber das Leben eng und kurz! Findet im Kleinen das Große und übt es im Kleinen! Blickt euch um, wer neben euch steht: Vater, Mutter, Schwester, Bruder und ein häßliches Mädchen unter dem Baum! Seht, da habt ihr die ganze Menschheit. Narr, der die Welt umarmen will und geht an dem Mädchen vorbei! Narr, wer die Welt verlassen will und läßt Vater und Mutter zurück! Und wär's nur ein Narr! Aber in Wahrheit ist es Sünde, meine Söhne! Denn mag das hohe Lied der Liebe erklingen in ewigen Harmonien, mag Prophetenwort der Liebe Verheißung verkünden in unsterblichem Wort, Menschheit träumt fern, und nur der Mensch ist wach und nah, und die nächste Liebe, sie allein ist die wahre Nächstenliebe, und er hat sie heute geübt.«

 

Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig

 


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