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Syrakus ist schön, Alexandria ist schöner. Ist das aber auch wahr? Kann man die beiden Städte miteinander vergleichen? Mag Syrakus in erlöschende Erinnerung zurücktauchen! Alexandria ist unvorstellbar schön und eigenartig. Es ist so anders, daß es schon das andere selbst ist.«

Archimedes lehnte an der zierlichen Marmorbalustrade auf der hohen Plattform des Paneions, während die gleichen Satzinhalte, vielfach in andre Form gegossen, wie fremde, äffende Laute ihn durchdrangen. Er hätte schauen sollen, nur schauen. Und er schaute. Aber die fremde Stimme äffte und spukte weiter: »Alexandria ist das andere. Ja, das andere. Das ist nicht solch eine Stadt wie Syrakus.« »Nun, bei allen Göttern, ist denn Syrakus ein Dorf?« schrie Archimedes in seine innere Stimme, die ihn quälte, hinein. »Ist es nicht größer, lichter, harmonischer als Alexandria? Ist es nicht ein Wunder? Eine vielfache Übersteigerung seiner Mutterstadt Korinth, mächtig, sieghaft, raumverschwendend, die größte Stadt der Erde?« »Aber dieses Brausen, dieses wilde Brausen, hast du das zu Syrakus je gehört, Archimedes?« »Du hast recht, ich habe es noch nie gehört.«

Archimedes erwachte plötzlich aus den Gefühls- und Gedankenstürmen, die ihn beunruhigten. Wie ein Kind begann er sich vorzusagen, wie alles in Wahrheit beschaffen sei. Vielleicht würde dann die äffende Stimme schweigen, die er schon in zahllosen Lebenslagen und Augenblicken großer Bedeutung mit der Ruhe des bauenden Geistes vertrieben hatte:

»Du bist vor wenigen Stunden dort im Norden mit deinem Schiff in Alexandria gelandet, mein Freund. Kein Wunder, daß du noch verwirrt bist. Am Hafen war viel Geschrei und noch mehr Fremdartigkeit. Dann hast du gehört, daß es dieses Paneion da gäbe. Hast deine nicht allzu kostbaren Habseligkeiten in der Obhut der Schiffspatrone gelassen und bist gewandert. Für zwei kleine Münzen hat dich ein schmutziger, zerlumpter Junge durch ein riesiges Tor geführt, das die Mauer der Stadt mächtig durchbricht. Tor des Mondes nennen sie es. Und dann bist du, Bürger der größten Stadt der Erde, selbst wie ein Junge in den Strudel des Unerhörten geraten. Ist Alexandria schöner als Syrakus? Schweig, Widersacher! So kommen wir nicht weiter. Ja, ich bin aber weitergekommen. Der zerlumpte Knabe hat mich beim Zipfel des Gewandes gefaßt und durch das Getöse gelotst. Lassen wir das. Es war beschämend. Wir kamen also an den Fuß des Paneions, dessen riesiger Umriß schon von fern sich gegen den Himmel abzeichnete. Was ist das? Ist es ein Fels, ein Turm, ein Tempel? Nein, es ist eine Schnecke. Aufeinandergeschichtete unbehauene Felsblöcke, ein Chaos von Trümmern. Sie sagen, es sei in ganz ungewisser Zeit von Sklaven aufgetürmt worden. Dann aber hatte man seine Entstehung anscheinend vergessen. Man tat so, als ob es ein gewachsener Fels wäre und meißelte säuberlich in Schneckenwindungen bis zur Spitze einen Weg in das Blockwerk. Legte Galerien an und schloß sie durch Rechen zarter Marmorsäulen. Der Platz um dieses sonderbare Bauwerk herum war fast leer. Der zerlumpte Junge grinste, wies zur Spitze hinauf und grinste noch einmal. Dann trottete er ohne Gruß davon. Ich aber stieg den Schneckengang empor. Kein Mensch tat denselben Weg. Ich begegnete keinem, niemandes Schritt hinter mir knirschte auf den bunten Fliesen, mit denen der Boden dieses Schneckenweges belegt war. Ich starrte vor mich in die ansteigenden Kurven. Ich wollte nichts sehen. Vorläufig wollte ich nichts sehen. Oben würde ich ja alles sehen. Vielleicht enträtselt das Ganze das Geheimnis, das mir der Teil nicht zu deuten vermochte. Und jetzt bin ich oben. Wo ist das Ganze?«

»Vor dir, überall, heiße endlich den Geist schweigen, Archimedes!«

Wer hatte die letzten Worte gerufen? Sie waren dunkel, befehlend, unwidersprechlich. Gleichviel, wer sie gerufen hatte. Der Geist schwieg, die Augen öffneten sich und Alexandria drang durch sie in die Seele, während das nicht zur Ruhe kommende Brausen wie eine geheimnisvolle Musik das Bild verstärkte und ihm oberstes Leben gab.

Buchstäblich lag ganz Alexandria zu Füßen des Archimedes. Im Norden ragte in einsamer Wucht der Leuchtturm Pharos. Er stand in blendender Weiße vor gelbgrauen Dunstbänken, die das dunkelblaue Meer begrenzten, über dem rote Streifen lagen. Acht kreisrunde Säulenstockwerke übereinander, jedes Stockwerk höher, als der größte Mastbaum hoch ist. Die linke Seite des Pharos war von zartem Rot überhaucht, weil die Sonne sich anschickte, den Saum des Meeres zu berühren. Auch durch die Nebel und Dünste streckten sich jetzt purpurne Bänder. Nichts war mehr zu fassen, nichts auszuschöpfen. Wälder von Masten und Segeln in den beiden Häfen. Wirrsal von Häusern und Straßen. Manchmal licht stehend und von Palmenhainen unterbrochen, manchmal zu unentwirrbaren Blöcken zusammenfließend. Wie aber Offiziere auf mächtigen Pferden dem fernen Betrachter den Verlauf der Schlachtordnung eines Riesenheeres zeigen, so wiesen ragende Bauten übergroß und wuchtig den Weg, den die Kanopische Straße nahm. Schnurgerade durchschnitt sie die Stadt der Länge nach und hälftete sie in zwei Teile. Er hatte sie gequert, als er hierherkam. Sie war mehr als vierzig Schritte breit und schien nach beiden Richtungen ins Unendliche zu laufen.

Überall funkelte es von Gold und Farben auf. Geheimnisvolle Hieroglyphen an ägyptischen Tempeln, Obeliske, dazwischen hellenische Säulenbauten, fünfmal größer als in der Heimat, prunkvoller, verschnörkelter, überladener. Und das Oval von Rennbahnen, der ansteigende Halbkreis von Theatern. Ein Kanal, der alles durchlief, weit draußen Wüstensand, Küstenlinien, und im Süden die glasigstille Fläche des Mareotissees, über dessen Schilfdickichten Myriaden von Vögeln schwirrten. In den Straßen unten aber liefen Ibisse zwischen Menschen, ratternden Wagen und prächtigen Reitern, und das Brausen nahm kein Ende.

Archimedes blickte gegen die zunehmende Röte des Sonnenunterganges. Die Sonne verschwamm bereits im Dunst und war eine blutige, glanzlose Scheibe, die sich langsam in die Breite zu verzerren schien.

Da stiegen wieder die Gedanken empor. Und wieder äffte es eigensinnig in ihm und Syrakus und Alexandria begannen um Vorrang zu streiten.

Warum hatte er die Vaterstadt verlassen? Aus Lust, die Fremde zu erforschen? Nein, das war es nicht. War Alexandria die Fremde? War es nicht der steingewordene Gedanke des Mächtigsten aller Hellenen? Man hatte auf wüsten Inseln, so ging die Sage, vor kaum hundert Jahren mit weißer Erde die Grenzen dieser Stadt festgelegt, hatte sie geplant, Linien abgesteckt, hatte sie aus dem Nichts gezaubert. Ein einziger Baumeister hatte diese Stadt gebaut, was das Wesentliche anging. Wie Pallas Athene war sie aus dem Haupt des Schöpfers gesprungen. Vollendet, mächtig, riesengroß. Was nachkam, war Ausfüllung, Einzelheit. War das überhaupt noch eine Stadt? War nicht deshalb so viel Brausen und Summen in ihr, weil niemand in seiner Heimat war? Ein Bienenschwarm, der sich irgendwo niedergelassen hat.

Und doch waren es Hellenen, vorwiegend Hellenen, die hier auch den Gipfel des Geistigen stürmen wollten. Dieses Gesumme war die Stätte reinsten Wissens, klarster Gedanken, mächtigster Zusammenballung alles Wesentlichen, alles Abgründigen und Lichten. Hier hatte Euklid seinen geistigen Pharos angezündet, seine Elemente der Geometrie aufeinandergetürmt, ein endgültiger, unumstößlicher Leuchtturm für alle Zeiten.

Deshalb war Archimedes hierhergekommen, deshalb. Vielleicht war Syrakus der eine Brennpunkt der Ellipse des Hellenentums, Alexandria der andere. Wenn nicht gar Alexandria der Mittelpunkt des Kreises war.

Würde er gleich Euklid hier haftenbleiben bis an sein Ende? Wozu solche Fragen? Es war ja noch kein Anfang geschehen, der ein Ende bestimmen konnte.

Es lag Staub in der Luft oberhalb der Kanopischen Straße. Ein langer Streifen flirrenden Staubes. Und die Luft war weich, drückend, beengend, und es schwirrten sonderbare Düfte durcheinander, wenn ab und zu ein warmer, streichelnder Windhauch irgendwoher wehte.

Archimedes schrak zusammen, daß ein kühler Schauer über seine Glieder rann. Denn plötzlich hatte eine unsäglich wohllautende Stimme sein Ohr erreicht. Diesmal nicht mehr ein Äffen eigener Dämonen, nein, eine tiefe, verwehende Frauenstimme:

»Es ist alles ein Traum, was du da siehst. Weniger als ein Traum. Es ist eines der Trugbilder, die verdürstende Wanderer in der Wüste schauen und die zerrinnen, wenn man näher kommt.«

Archimedes fuhr herum. Kaum einen Schritt entfernt lehnte ein hochgewachsenes Mädchen an der Brüstung der Marmorbalustrade und blickte in die Weite, so daß er nur ihr Profil sah. Unzweifelhaft eine Hellenin. Das braunblonde Haar war in sorgfältige Knoten geschürzt, die zartgebogene Nase zitterte mit feinem Flügel und der üppige Mund lächelte leicht.

»Du bist ein Fremder hier«, sagte sie weiter, ohne ihre Haltung zu ändern. »Woher kommst du?«

»Aus Syrakus«, murmelte Archimedes. »Bist du eine Alexandrinerin?« Er hatte die letzten Worte beinahe wider Willen hervorgepreßt. Er wollte am liebsten gehen. Woher nahm dieses Mädchen das Recht, ihn zu stören und anzusprechen? Eine Buhlerin?

»Ich wohne hier. Meine Heimat war Milet. Dann lebte ich in Athen. Das alles tut nichts zur Sache. Nichts ist so wichtig, als daß man hier weiß, daß alles nur ein Traum sein kann.« Sie machte eine verächtliche Geste mit der Hand.

Archimedes blickte wieder hinaus. Plötzlich hatte er seine widerstrebenden Gedanken vergessen. Die Stimme bannte ihn. War auch dieses Mädchen nur ein Traum? Er hatte ihre Augen noch nicht gesehen. Konnte man aber nicht auch Augen träumen?

»Wer bist du?« fragte er, ohne es zu wissen.

»Auch das ist gleichgültig«, kam es zurück. Dann zeigte sie sehr unvermittelt gegen Nordosten und setzte betont fort: »Dort ist das Museion, Fremdling. Dein Museion! Der Mittelpunkt des Mittelpunktes, sonach der Traum des Traumes. Besteige wieder dein Schiff und fahre zurück nach Syrakus, bevor dich der Traum zerstört hat.«

Archimedes durchschauerte es zum zweiten Male. Er starrte die Erscheinung an, die wußte, daß er des Museions wegen nach Alexandria gekommen war. Wandelten hier noch Göttinnen auf der Erde? War sie eine Göttin? Sie sah kaum anders aus, als sie – wie eine Skulptur des Phidias – mit erhobenem Arm an der Brüstung stand. Die untergehende Sonne hatte um ihr Antlitz und die Falten ihres Gewandes bronzeroten Schimmer gelegt.

Ohne Übergang sah er ihre Augen. Sie blickte ihm mit großen, strahlenden Augen voll ins Gesicht. Und erschien dadurch noch schöner und noch unglaubwürdiger. Aber sie lächelte spöttisch und ihr Busen atmete unter ihrem hauchzarten Kleid. Und fremdartige Ohrgehänge umrahmten das Antlitz.

»Wer bist du?« wiederholte Archimedes seine Frage.

»Ich habe dich nicht mit Fragen bedrängt«, erwiderte sie leise, und ihr Lächeln wurde plötzlich traurig. »Ich warnte dich bloß. Aber, wie du willst.« Sie wandte sich wieder ab und schwieg einige Herzschläge lang. Dann sagte sie betont: »Ich bin die Wirklichkeit. Nicht mehr und nicht weniger.«

»Die Wirklichkeit?« Archimedes wiederholte diese Worte, als ob er sie nicht verstanden hätte.

»Ja, die Wirklichkeit«, erwiderte sie. Dann wurde ihr Ton plötzlich leicht und ungezwungen, beinahe wegwerfend. »Ich dachte, du wolltest ins Museion. Erwartet man dich dort? Ich selbst werde dich hinführen. Dort unten in den Straßen feiern sie wieder einmal Feste. Es ist vielleicht gut, wenn ein Fremder geführt wird. Träume sind unberechenbar und verworren. Wie darf ich dich nennen?«

»Ich heiße Archimedes.«

»Archi-Medes?« Sie lachte auf. »Der Erz-Grübler? Ist es nicht schön und von glücklicher Vorbedeutung, wenn ein Erzgrübler an der Hand der Wirklichkeit einen Traum durchwandert? Fürchte nichts. Ich verlasse dich vor dem Museion und du sollst mich nie wiedersehen. Obgleich ich dir sehr gerne nützen möchte. Komm jetzt!« Sie ging voran, als ob es selbstverständlich wäre, daß sich alle Ereignisse nach ihrem Willen abspielen müßten.

Die beiden wandelten in der Kanopischen Straße gegen Osten. Es war betäubender, als wenn ein Mensch, der noch eben auf hoher, windumsauster Klippe gestanden war, in den Strudel der gischtigen Wellen gesprungen ist und nun erst wahrnimmt, was es bedeutet, unten zu sein und jeden Überblick zu verlieren. Er war jetzt unten. Denn, so weit das Auge reichte, brandete die lebendigste Straße der lebendigsten Stadt des Erdkreises an einem besonders lebhaften Abend. Trümmer von Bildern, Haltungen, Gesten erreichten sein Auge, um sofort durch grellere Bilderfolgen wieder weggeschwemmt zu werden. Dazu das Getöse ganz nahe und ein erdrückendes Wirrsal von Farben, das nur durch das Flirren des Staubes gedämpft wurde. Aber gerade wieder der Staub, auf dessen Pünktchen Düfte und winzige Lichter zu reiten schienen, peitschte die Sinne an, deutlicher zu fühlen, zu schauen, zu hören.

Das Mädchen sprach nicht ein kleines Wort. Das Gedränge der zahllosen Menschen brachte es mit sich, daß sie sich an ihn schmiegen mußte, ihre Hand auf seinen Arm legte, oder mit ihren Fingern sein Gewand hielt, um nicht gewaltsam von ihm getrennt zu werden. So fühlte er mehr als einmal die straffe Weiche ihres Leibes, die pulsende Wärme ihres Lebendigseins und einen berauschenden Duft, der sich aus erlesenen Aromen und dem Geruch ihres Haares zusammensetzte.

Sie war eine tüchtige Schwimmerin in diesem Menschenbranden. Und ihr Schritt war hochgemut und selbstbewußt. Nein, keine Buhlerin, kein Weib aus den Tiefen. Das wußte er, bevor noch ehrfürchtige Grüße und Blicke die beiden erreichten, die nur ihr gelten konnten. Es schien ihm manchmal, daß man ihr, so gut es eben ging, freie Bahn ließ.

Jetzt jubelte es um sie herum auf und eigenartige Musik von Pfeifen und Sistren entrückte den letzten Wirklichkeitsgehalt ihres Schreitens.

Plötzlich kroch Schamgefühl und Ernüchterung in Archimedes empor. Vielleicht, weil er einsah, wie recht sie gehabt hatte, als sie sich zur Führerin anbot. Wie wäre er durch dieses Chaos von Wagen, Reitern, von orgiastischen Hellenen, mumienstarren Ägyptern, Mazedoniern, Juden, Negern, von begehrlichem und frechem Pöbel, von herausfordernden Söldnern, geschminkten, kreischenden Dirnen, Seeleuten, die eher Seeräubern glichen, von zudringlichen Verkäufern, die rechts und links der Fahrbahn ihre Waren ausgelegt hatten und die Vorbeigehenden mit List und Gewalt am Vorbeigehen hinderten, bis zum Museion vorgedrungen? Wo war das Museion? War es einer jener Prunkbauten, die zur Linken aufragten? Das waren doch Tempel. Einer nach dem andern. Vorspringend bis in die Straße und zurückfliehend, daß sich die Straße plötzlich zu Plätzen ausweitete.

Unter betäubendem Geschrei und zügellosem Beifall durchschritt ein langer Zug von Masken und herausstaffierten Mimen die Menge. Lachen gröhlte auf, schrie, überschlug sich. Man verhöhnte anscheinend einen alten Brauch. Welchen aber? Vielleicht höhnte man etwas, das noch vor hundert Jahren heilig war und fromme Schauer ausgelöst hätte. Die unkeusch glotzenden Augen und feuchten verzerrten Münder der Johlenden verrieten Geheimnisse von schamloser Blasphemie.

Die Göttin von der Spitze des Paneions hatte recht behalten. Der Erzgrübler durchschritt den wüsten Traum an der Hand der Wirklichkeit. Denn ihr Gesicht blieb glatt in all dem Toben, blieb kühl, unbewegt und herrschend. Sie schien nicht zu bemerken, was um sie vorging. Der rettende Delphin, der Arion im Tosen der Wellen zu sich nahm, um mit ihm den Blicken der Räuber zu entgleiten, die ihn ins Meer gestoßen hatten. Dem Lande, der Stille, der Geborgenheit zu.

War er aber ein Arion, daß die Götter ihm Delphine zur Rettung sandten?

Er war, darüber half nichts hinweg, kein Jüngling mehr, der durch äußere Ereignisse derart aus der Fassung gebracht werden durfte. Er war mehr als dreißig Jahre alt und hatte schon Dinge erdacht, von denen ganz Hellas sprach. Gleichwohl waren es Dinge, die nicht so sehr die Liebe der Götter erregten wie der Gesang Arions. Denn er schritt Wege, die manchen Göttern verhaßt sein konnten und verhaßt sein mußten. Das wußte er. Er konnte es aber nicht ändern. Denn wieder andere Götter riefen ihn zu diesen Dingen.

Das Mädchen Wirklichkeit war stehengeblieben und er fühlte einen sanften Druck ihrer Finger auf seinem Arm. Eben entfernte sich der blasphemische Masken- und Satyrzug, so daß sich das Geschrei nach Westen zog, wo jetzt letzte grelle Röte lag.

»Sieh dort hin!« sagte sie nahe an seinem Ohre, wobei wieder ihr Körper sich unwillkürlich zu seinem drängte. »Dort, wo die Menschen sich zu einem Knäuel knoten. Es ist der serapische Tempel.«

Er folgte ihrem weisenden Arm mit den Augen. Mächtige Pylonen, auf deren grauem Quadergrund das Weiß, Gelb, Rot und Blau riesiger Hieroglyphen leuchtete, standen vor dem purpurnen und braunen Himmel.

Sie ließ ihm keine Zeit, sich in den Anblick des Bildes zu vertiefen, sondern schritt bereits weiter, auf das Menschenknäuel zu. Man drängte sich dort um eine Art von steinernem Podium, das von Sphinxen flankiert war. Die Menschen hatten Krüge, Vasen, Flaschenkürbisse in der Hand und schwenkten sie in sichtlicher Freude und Begeisterung.

»Es wird dort oben heiliges Wasser des noch heiligeren Nilstroms, das zudem mehrfach geweiht ist, feilgehalten«, sagte sie mit einem deutlichen Ton von Spott in der Stimme. Sofort aber blickte sie ihn voll an und tiefer Ernst strahlte aus ihren Augen. »Ich zeige dir dies nicht des Urgrunds wegen. Der ist sicherlich schön und ehrwürdig, auch wenn er uns Hellenen fremd ist oder fremd sein sollte. Aber der äußere Vorgang des Verkaufes gab mir manches zu denken. Und auch dich wird er nachdenklich machen.«

Damit zog sie ihn mitten unter die Menschen, die in beängstigendem Gedränge alles vorwärts preßten, was sich unter sie mengte.

Archimedes war verwundert, daß diese Masse anscheinend alle Gesichter und Trachten vereinigte, die er bisher schon, gesehen hatte. Vom Bettler bis zum Stutzer, von zerlumpten Dirnen bis zu geputzten Frauen, von Soldaten bis zu Würdenträgern war hier alles zusammengeballt, was Alexandria beherbergte. Alle Haar- und Augenfarben, alle Gerüche vom Fischmarkt bis zum edelsten Salböl.

Er hätte die lange Zeit, in der sie um Haaresbreiten vorgeschoben wurden, nicht ertragen, wenn die unmittelbare Nähe der »Wirklichkeit« ihn nicht zur Zeitlosigkeit gebannt hätte. Nicht etwa, daß er zu ihr etwas allgemeinmenschlich Körperliches fühlte. Es war mehr und weniger. Und ward stets wieder durch rasende Gedankenläufe und tiefe Abgründe von Ernüchterungsgefühlen unterbrochen, die ihm die Sinnlosigkeit, ja Schwächlichkeit des Erlebnisses grell und heischend nahelegten. In solchen Augenblicken wäre er fortgelaufen, wenn er es gekonnt hätte. Dann aber war sie wieder wie eine Mutter und Göttin um ihn. Wie das Wesen, das etwas wußte und ausdrückte, das er noch nicht verstand, von dem jedoch mehr als das Leben abhing. Und deren Hand ihn sofort beruhigte, wenn er sie fühlte.

Endlich entwirrte sich das Knäuel knapp vor dem Podium zu einem Menschenfaden. Eine enge, beiderseits durch Steingeländer flankierte Treppe zwang dazu. Und dann ging es schneller. Sie standen oben, wo auf einem Quaderblock ein länglicher Kasten ruhte, an dessen einer Stirnseite wie bei einem Brunnen ein nach unten gebogenes Rohr herausragte. In der Oberfläche des Kastens aber befand sich ein Schlitz, und jeder der Menschen, die vorbeischritten, langte nach diesem Schlitz, worauf ein metallisches Klappern ertönte und das Brunnenrohr für kurze Zeit Wasser spie. Dieses Wasser aber fingen einige mit Krügen und Vasen auf, andere faßten es in hohle Hände und gössen es über Gesicht und Kopf oder besprengten damit ihre Füße. Alle aber eilten hochbefriedigt auf der gegenüberliegenden Treppe wieder ins Gewühl des Volkes hinunter.

Archimedes hatte keine Zeit mehr, sich das Rätselhafte zu deuten, denn sie standen schon vor dem Wunder. Das Mädchen Wirklichkeit aber hielt eine Kupfermünze in der Hand, ließ sie in den Schlitz fallen und ging ernst und ruhig zum Wasserspeier. Mit anmutiger Bewegung fing sie die Handvoll Wasser auf und sprengte sie über das bestaubte Reisegewand des Archimedes. Dann reichte sie ihm eine zweite Kupfermünze und deutete auf die Oberfläche des Kastens.

Er schüttelte den Kopf. Nicht aber, weil er widersprechen wollte, sondern weil er noch nicht voll begriff. Er warf das Geldstück auch sogleich in den Schlitz. Dann aber horchte er und verfolgte jedes Geräusch mit gespanntester Aufmerksamkeit. Fast hätte er versäumt, das Wasser aufzufangen, das gehorsam nach einigen Herzschlägen wie die Notwendigkeit selbst dem Rohr entströmte. Er hielt es in hohlen Händen und starrte es an. Dann trank er es, da eine wilde Erregung seine Kehle dörrte.

Als die beiden über die Stufen hinunterstiegen, sagte sie vor sich hin:

»Der göttliche Platon hat recht gehabt, wenn er gegen die Techniten wetterte, die alle Mathematik aus dem herrlichen, eben eroberten Reich des Unkörperlichen wieder ins Reich des Körperhaften zurückführen. Du bist erstaunt, daß dir die Wirklichkeit solche Worte sagt. Sie sagt sie aber nur dort, wo sich die Techniten in heilige Dinge mengen. Dort, nur dort beginnt der Fluch der Wirklichkeit. Heiliges Wasser, Geld und Maschinen, besser Geld, das durch Maschinen heilige Kräfte liefert, verderben selbst der Wirklichkeit ihre Freude an sich selbst. Das wollte ich dir zum Bewußtsein bringen.« Und sie lachte kurz auf. Dann schritt sie in der leerer werdenden Straße schnell voran und wandte sich halb um. »Wir nähern uns dem Tempel der entfesselten Unwirklichkeit. Deinem Museion, mein Freund.«

Nach einiger Zeit, in der sich nichts Neues ereignete und in der Archimedes seine wirbelnden Gedanken kaum mehr bändigen konnte, in der aber gleichwohl ein wehes Gefühl auf dem Grund seiner Seele lag, ein Gefühl, als ob plötzlich ein schützendes Heim zerstört worden wäre, begann zu ihrer Linken eine hohe kahle Mauer, hinter der Bäume und Palmen standen. Sie gingen dieser Mauer entlang, bis sie in einem Säulenportikus, einer Art von Propyläen, endete, deren Stil ein merkwürdiges Gemisch von Ionik und orientalischem Prunk war. Zwischen den Säulen standen Makedonier, schwergerüstet, mit endlos langen Lanzen.

»Der Eingang zum Museion«, sagte sie kalt. »Meine Aufgabe ist erfüllt. Leb wohl!« Sie winkte ihm hoheitsvoll zu und wollte schon in die Richtung gehen, aus der sie gekommen waren, als einer der Makedonier Archimedes ins Auge faßte und ihm den Weg vertrat.

»Hier kommt heute keine Maus herein«, sagte er barsch, da er bemerkt hatte, Archimedes wolle eintreten. »Was führt dich hierher?«

»Ich soll mich bei Eratosthenes melden«, erwiderte Archimedes.

Da lachte der Makedonier grob auf:

»Warum nicht gleich beim König?« Er bog sich vor Lachen.

Bevor Archimedes noch antworten konnte, stand das Mädchen Wirklichkeit knapp neben dem Wächter. Sie war verwandelt. Denn ihre Gestalt hatte sich gestrafft und ihre Augen funkelten. Sie zischte den Söldner an:

»Hol sofort den Hauptmann Nenon, du Tölpel, oder, falls er betrunken ist, seinen Stellvertreter. Aber schnell! Sonst sitzt du morgen bereits im Hafenkerker auf Pharos. Das schwöre ich dir beim Styx und bei dem Namen des großen Alexander. Also vorwärts!«

Der Soldat wollte aufmucken, obgleich er sichtlich befangen wurde. Wer wußte, wofür er morgen im Kerker sitzen würde? Weil er dieser Frau gehorchte oder weil er ihr Widerstand leistete? In Alexandria wußte man nie, woher das Verderben kam. Verfluchte Stadt! Wozu stand man Wache vor diesem Tollhaus von Philosophen? Was sollte man ihnen stehlen? Aber es war heute doppelt strenge Bereitschaft. Auch der Pöbel von Alexandria bestand aus Narren. Er mischte sich in die Philosophie. Und auch die Weiber mischten sich schon in diesen Blödsinn.

Einige andere Soldaten waren herangetreten, was wieder einen Offizier veranlaßte, sich den Grund des kleinen Auflaufes anzusehen.

Kaum hatte er jedoch das Mädchen erblickt, als er mit allen Zeichen von Ehrfurcht den militärischen Gruß leistete. Sie beachtete ihn kaum.

»Sorge dafür, Kallikles, daß Archimedes aus Syrakus sofort zu Eratosthenes geleitet wird. Deine Soldaten sind Eseltreiber, wenn sie nicht selbst Maultiere sind.« Sie wartete nicht ab, was weiter folgen würde, da sie es anscheinend wußte. Sie schritt schnell zurück und war sogleich in der Menge verschwunden.

Aber auch Archimedes kam nicht zum Bewußtsein oder zu einer Frage. Denn eben der Soldat, der ihn angehalten hatte, schrie überlaut:

»Ich weiß genau, wo der erhabene Eratosthenes eben anzutreffen ist. Ich werde den edlen Fremden hinführen.«

Da den Offizier die ganze Angelegenheit nicht weiter interessierte, weil sie anscheinend keine weiteren Ungelegenheiten nach sich ziehen würde, winkte er gewährend mit der Hand und sah auf die Straße, auf der es jetzt infolge der einbrechenden Dunkelheit stets turbulenter zuging. Er wußte, daß die Wache vor dem Museion mittelbar die Bewachung der Palaststadt des Königs bildete und daß der kleinste Fehler seinen Tod bedeuten konnte. Die Ptolemäer verstanden in allem, was ihre eigene Sicherheit und die Sicherheit ihres geliebten Museions betraf, durchaus keinen Spaß.

Als Archimedes die Propyläen durchquert und an der Seite des äußerst dienstfertigen Soldaten den Vorgarten betreten hatte, ging in ihm eine große Wandlung vor. Alles in ihm schloß sich zusammen, alle Erinnerung versank und er war nur mehr Gegenwart und Zukunft. Was ging ihn noch Alexandria an, was das Brausen und Dröhnen, was die »Wirklichkeit«. Ein Fürst hatte das ureigenste Reich betreten, den Traum des Traumes.

Es war auch ein Traum. Einsamkeit nach allen Seiten. Sie schritten auf einem breiten, schnurgeraden, glatten Mosaikweg gegen säulengetragene Fronten von weiten, mächtigen Gebäuden zu. Die Wiesenflächen aber, die rechts und links vom Wege sich ins Unbestimmte dehnten, waren von unzähligen Beeten mit leuchtenden Blumen durchsetzt. Dazwischen ragten Bäume und Palmen eigenartiger Form, deren Blattwerk und Gefieder sich in allen Formen vom violettroten Dämmerungshimmel abhob und wie schwarzer Lack glänzte.

Der Soldat wagte nicht zu sprechen. Nicht einmal, als Archimedes eine nebensächliche Frage an ihn richtete, war mehr als eine kurze scharfe Antwort aus ihm herauszubringen. So kam es, daß sich Archimedes zunehmend von einem Zauberbann umfangen fühlte, der auch nicht wich, als sie neuerlich durch eine Eingangshalle, an deren Seiten ebenfalls Makedonier standen, schritten und nach deren Durchquerung ziemlich unvermittelt in einer Galerie oder Wandelhalle standen, die in Hufeisenform einen weiten Hof umschloß. In diesem Hof aber gurgelten Springbrunnen zwischen Bäumen, die noch edler und noch üppiger ragten als in den Vorgärten.

In der Wandelhalle brannten bereits mächtige Öllampen und warfen ihre roten Lichtgarben über die Riesengemälde, über Statuen und Marmorbänke bis hinauf zu den verschwenderisch mit Gold und Mosaiken verzierten Decken.

Auch hier war kein Mensch zu sehen, was den Eindruck üppiger Großartigkeit noch bedeutend erhöhte. Doch hörte man durch das Sausen der Springbrunnen gedämpfte Stimmen aus dem inneren Hofe.

Der Soldat querte beinahe ängstlich das Heiligtum der Wandelhalle. Er hob sich auf die Zehenspitzen, was um so grotesker wirkte, als dadurch sein Panzer wie ein Bündel von Blechtöpfen zu klappern anhub. Dies veranlaßte ihn jedoch zu noch größerer Eile und er stieg schnell die wenigen Stufen in den Hof hinab.

Sie waren nach wenigen Schritten bei einer Gruppe von Marmorbänken, die einen Springbrunnen umgaben. Auf einer der Bänke saß zurückgelehnt ein Mann in fließendem weißem Gewand aus ägyptischer Baumwolle, dessen Augen sich sofort auf Archimedes richteten. Diese Augen hatten jenes bannend Endgültige, das so selten ist. Sie standen irgendwie allein im Raum, beherrschten und entzauberten ihn, sandten Lichtkegel von Gedanken aus, ohne zu forschen oder zu stechen. Sie waren so stark, daß man das Gesicht, die hohe Stirn, die schmale Nase, das vorgebaute Kinn vergaß. Und daß man nicht suchte, ob andere Menschen in der Nähe weilten. Kein Zweifel. Sie weilten in der Nähe. Denn es wurde in gedämpftem Tone, gleichwohl jedoch in rasender Hast und schärfster Betonung weitergesprochen. Und die Gesprächspartner des Sitzenden waren ein würdiger, etwas gebeugter Greis und ein eitler Mensch, der sich bei jedem Satz drehte, den Kopf wiegte, Gesten in die Luft schnitt und ab und zu schrill auflachte.

Plötzlich unterbrach der Sitzende mit einer einzigen kleinen Handbewegung das Gespräch und stand auf.

»Was für einen Gefangenen bringst du uns da, Soldat?« fragte er mit voller, gelangweilter Stimme. »Ich hoffe nicht, daß man dich beauftragte, uns zu stören.«

Der Soldat war um den Rest seiner Fassung gekommen. Er knickte beinahe ein und bemühte sich bloß noch, militärische Stellung zu bewahren.

»Ich weiß es nicht, hoher Herr Beta«, stotterte er.

»Du weißt es nicht?« Der Mann im fließenden Gewande lächelte und schüttelte den Kopf. »Aber vielleicht besitzt der Fremde die Gabe der Sprache und sagt es uns selbst, wieso er hierherkommt.«

Erst durch die letzten Worte erwachte Archimedes aus seiner sinnlosen Verträumtheit und eine Welle von Blut schoß in sein Gesicht. Wie betrug er sich hier? Der Name »Beta« hatte ihm deutlich genug verraten, wem er gegenüberstand. Herr Beta war Eratosthenes selbst, war der Geistesriese, dessentwillen er Syrakus verlassen hatte und hierhergefahren war. Vielleicht für immer. Wer wußte es. Warum aber nannte ihn die ganze Welt Beta? Weil er in allen Wissenschaften und Künsten der zweite war? Und weil man aus heiliger Scheu das Alpha, den Erstrang jeder Kunst, den großen Toten, einem Homer, Pythagoras, Platon, Hesiod, Euripides vorbehielt? Dann war Eratosthenes gleichwohl der Erste der lebenden Menschen.

»Ich bin Archimedes aus Syrakus, erhabener Beta!« erwiderte er mitten in sein eigenes Gedankenstürmen hinein. »Jener Archimedes, dem du in einem ehrenvollen Briefe selbst gestattetest, an der Größe des Museions teilzuhaben. Hier ist dein eigener Brief.« Und er zog einen Papyros hervor.

Der Greis wendete sich nun ebenfalls herum, während der dritte Mann ohne ersichtlichen Anlaß meckernd auflachte.

Eratosthenes aber sagte voll und freundlich:

»Eine unsagbar angenehme Überraschung, Archimedes. Du verzeihst, daß ich überrascht bin. Ich habe aber nicht bloß mit dir Briefe gewechselt.« Er wandte sich an den Soldaten: »Ich danke dir, Makedonier! Hier hast du Geld. Kauf dir einige Krüge Wein. Es ist heute nicht eben kühl an der Kanopischen Straße. Dein Gefangener ist uns sehr wertvoll.« Der Soldat war erlöst. Wein statt Kerker. Herrliches Ereignis! Aber verrückt sind sie alle. Wenn er nur schon aus dieser verfluchten Stadt draußen wäre und in den Heimatbergen auf Räuber jagen könnte. Und er verschwand, so lautlos er es vermochte. Eratosthenes aber sprach schon zu Archimedes weiter: »Mein König Philadelphos hat mit deinem König Hiero unter meiner Beihilfe ebenfalls Briefe über dich getauscht. Da erfuhren wir, daß du zwar alles berechnen kannst, niemand aber dich zu berechnen wagt. Und da wagten wir es auch nicht, selbst Konon nicht, der neben dir steht und dich ebenso herzlich begrüßen will wie unser scharfsinnigster Grammatiker Sosibios aus Lakedaimon, der wahrscheinlich aus Freude über deine Anwesenheit sein homerisches Gelächter anschlug.«

Archimedes war trotz der Freundlichkeit des großen Beta verwirrt. Es lag über diesem Museion irgendwie die Starrheit ägyptischen Glases. Man sah durch und durch, alles war klar und unverschleiert, gleichwohl aber stand eine harte Wand zwischen Auge und Geschehen. Man hörte, schaute, ahnte, konnte jedoch nicht greifen wie in der hellen Heimat Syrakus, wo selbst der ihm so vertraute Königshof weniger Würde und Unnahbarkeit atmete als diese drei »Fürsten« des Museions. Nein, er hatte sich getäuscht, als er eintrat. Er selbst war nichts weniger als ein Fürst des Museions. Er war ein hilfloser Fremdling, ein gnädig empfangener Bittsteller.

Und der Greis war Konon? Der Lieblingsschüler Euklids? Der zweite, dessentwegen er gekommen war?

»Wir werden Zeit haben, über alles zu sprechen, Archimedes«, entschied Eratosthenes, der die Befangenheit des Gastes bemerkte. »Zeit haben ist das Geheimnis des Museions, Zeit ausfüllen seine Aufgabe. Wir lieben aber auch das Gegebene und Seiende. Du bist hier. Das ist schon ein Beginn, auf den sich bauen läßt. Und alles, vom Eingang, an dem dich der Soldat aufhielt, bis hinten zur Mauer des Königspalastes gehört dir. Mehr als das. Es wurde deinetwegen gebaut. Und darüber hinaus dient deinen Wünschen das ganze Reich des Ptolemäers bis nach Äthiopien und die anderen Reiche, der bewohnten Erde durch seine Gesandten. Ich sehe aber, daß mich Sosibios, der Grammatiker, schon höhnisch anblinzelt. Er haßt das Pathos. Nun, wie er will. Wir werden ihn dann bei Tisch fragen, ob seine Angelegenheit bereits in Ordnung ist. Zur Strafe. Daraus aber ergibt sich nach der Logik des Aristoteles und ebensowohl grammatisch, daß wir nur fragen können, wenn wir zu Tisch gehen. Darf ich dich, Archimedes, mit einem Widerspruch im Beisatze bitten, unser Gast an deinem eigenen Tisch zu sein? Wir haben Hunger und ›der Weitgereiste verlangt nach duftender Speise‹, wie ein Homeride einmal gesagt haben soll.«

»Ich werde deine Bosheiten bei nächster Gelegenheit erwidern, einziger Beta!« sagte der Grammatiker mit gespielter Gekränktheit. Dann setzte er mit flötender Stimme fort: »Vorläufig begnüge ich mich mit einem Spruch des Sokrates: Du ziehst ein bleiernes Schwert aus elfenbeinerner Scheide, Eratosthenes.« Und er kicherte auf.

Auch Eratosthenes lachte und wandte sich an Archimedes und Konon.

»Das nennt er verschobene Rache. Er hat den Vordersatz unterdrückt. Die Stelle lautet vollständig: ›Als Sokrates einen schönen Jüngling Ungeziemendes schwatzen hörte, sagte er: Schämst du dich nicht, aus einer elfenbeinernen Scheide‹ und so weiter. Liebenswürdig von Sosibios, daß er mich für einen schönen Jüngling ausgibt. Weniger liebenswürdig, daß er mich ungeziemenden Geschwätzes bezichtigt. Aber das ist die Kehrseite unserer Bemühungen, Archimedes. Es soll Tiere geben, die zur Übung beißen, damit sie im Ernstfall geschliffene Zähne und elastische Kaumuskeln haben. Wir werden ihn bei Tisch trotz allem nach dem Stand seiner Kontroverse mit dem König fragen. Gehen wir jetzt.«

Auf dem kurzen Weg, der durch die Wandelhallen und durch einige Gänge zu den großen Speisehallen führte, faßte Konon den Archimedes freundschaftlich beim Arm.

»Wenn es dir paßt, Archimedes, und dich die Reise nicht zu sehr ermüdet hat, will ich dir um Mitternacht auf unseren Dächern einiges zeigen. Ein Wunder des Himmels und ein Wunder der Erde. Auch Beta will dabei sein. Du versäumst aber auch nichts, wenn du schläfst. Der Himmel wird morgen ebenso klar sein wie heute und übermorgen wie morgen. Diese Ruhe schafft unsre Werke und Euklids Elemente sind das Heldenepos unsrer Zeitlosigkeit. Was Aristoteles den großen Alexander lehrte, haben Alexander und seine Diadochen hier geschaffen. Hier ist zum erstenmal auf der Welt aus allem Geschehen lauterste Form geworden. Du wirst das später verstehen. Eben du, der du irgendwo ein bacchantischer Nachläufer des dunklen Herakleitos bist. Nimm es nicht als Angriff, was ich da spreche, nicht als Tadel. Du kamst freiwillig, und wir wollen dir zeigen, wie wir über alle Dinge des geistigen Kosmos denken. Wir sind zu freiester Auseinandersetzung verpflichtet.«

Archimedes schrak zusammen. Er verstand genau, was Konon meinte. Besser, es war jetzt schon ausgesprochen worden als später. So war er kein Spion, kein Einschleicher, sondern ein erkannter Gegner. War er ein Gegner? Wollte er nicht ebenso wie jeder Hellene die Form, die reinste, klarste, durchsichtigste Harmonie? Was konnte er dafür, daß ihm die Götter ein wildes Herz gegeben hatten? Mehr noch, ein wildes Auge, das die letzten Teile der Erscheinungen zerteilen, und ein wildes Ohr, das selbst der Disharmonie lauschen wollte? Warum spielte man draußen auf der Kanopischen Straße mit Pfeifen und Sistren? Warum nicht mit der Zither oder der Hirtenflöte?

»Ich werde mich bemühen, ein aufmerksamer Schüler zu sein, Konon«, erwiderte er bescheiden. »Und der Geist Euklids, mit deinem Geist durchtränkt, wird mich vielleicht läutern und auf andere Wege führen. Vielleicht. Mehr kann ich nicht versprechen.«

»Auch der Wille allein ist ein Verdienst. Das Erreichbare haben bisher stets die Götter bestimmt, die gerade in unserer Zeit so allmächtig geworden sind, daß niemand mehr an sie glaubt; weil die Schwäche und Unstetigkeit der Menschen in allem riesigen Schicksal nur mehr das Walten des Zufalls sieht«, sagte Konon leise vor sich hin.

Archimedes hatte keine Gelegenheit, Konon zu fragen, was der tiefste Sinn dieser letzten Sätze sei. Er ahnte zwar, daß der Mathematiker auf die Philosophie des Straton anspielte und daß er darüber hinaus die Götter für besonders mächtig erklärte, weil eben die Gegenwart so riesenhaftes Geschehen zeitigte, das die Menschen wieder, gleich dem trostlosen Alexandriner Straton, für Zufall hielten, anstatt die Ursachen und die Zusammenhänge solchen Schicksals zu ergründen – wobei sie wahrscheinlich zuletzt auf Göttliches gestoßen wären. Aber er hatte auch zu dieser Überlegung kaum mehr Muße. Denn eine grundlegende Verwandlung hatte plötzlich sowohl Eratosthenes als Sosibios als Konon zu heiteren Privatleuten gemacht. Das Museion des Denkens und Forschens war weggewischt, als sie den Speisesaal betraten, und das andere Museion des zeitlosen Lebens und Genießens war an dessen Stelle emporgetaucht.

Auch Archimedes war sogleich im Banne dieses Speisesaales, ohne daß ein weiteres Wort einer Erklärung nötig gewesen wäre. Es war nicht die verschwenderische Pracht der königlichen, säulengetragenen Halle mit all den Standbildern, dem Goldzierat, den dunkelroten Wänden, auf deren Grund farbensatte Gemälde doppelt hell leuchteten. Es waren auch nicht die Edelholztische mit den kunstreichen Bronzefüßen. Nichts Äußerliches war es. Den Eindruck schuf vielmehr der Rhythmus der Menschen, die schon bei den Tischen saßen oder aus hohen Portalen in allen Wänden des Saales hereinkamen. Fürstliche Unbeschwertheit über jedem Schritt, Freude am Gestern, am Heute, am Morgen. Höchste Weltherrschaftsgefühle, das Gefühl, Herren zu sein des geistigen Kosmos aller Länder und aller Zeiten. Endlich den Sieg erstritten zu haben für das geistige Reich, das fast stets bisher ein Reich der Armut oder der Machtlosigkeit gewesen war. Platonische Gastmahlserinnerungen zu Märchenträumen überhöht.

Es waren Männer aller Altersstufen anwesend. Und Jünglinge hinab bis zum Knabenalter.

Eine Tafel in der Mitte des Saales stand noch leer. Dorthin führte Eratosthenes den neuen Gast, indessen auch Konon und Sosibios Platz nahmen. Sogleich lösten sich aus Gruppen, die noch an der Wand gestanden waren, einige der Plaudernden und ergänzten die Gesellschaft am Ehrentische des »Bibliothekars«, des Herrn Beta, so daß, ehe noch Archimedes hatte prüfend umherblicken können, bereits die Gespräche eines vollbesetzten Tisches hin und wider schwirrten und jene räumliche Abgeschlossenheit erzeugten, wie sie einem zur Einheit gewordenen Tische eigentümlich ist.

Diener waren sogleich zur Stelle, die Tafel baute sich auch rein materiell auf und schon wurden die Becher aus mächtigen Mischkrügen mit goldig funkelnden edlen Weinen gefüllt, während zartes Geflügel und ägyptisches Kalbfleisch auf riesigen Schüsseln zwischen Weißbrot, Feigen und Äpfeln lockend duftete.

Eratosthenes hatte eben seinem Nachbarn, einem untersetzten, schwarzhaarigen, äußerst kräftigen Mann, etwas zugeflüstert, worauf dieser grinsend die breite Reihe seiner blitzenden Zähne zeigte und mit großer Sicherheit sagte:

»Beta hat mich gefragt, ob du bei dieser Kost schließlich verhungern kannst, Sosibios, auch wenn du kein Gehalt mehr bekommst. Ich habe als Leiter der Alexandrinischen Ärzteschule mit einem entschiedenen Nein geantwortet. Du dürftest uns also erhalten bleiben.«

Der ganze Tisch mit Ausnahme von Archimedes, der die Anspielung nicht verstand, lachte laut auf. Sosibios selbst versuchte, mit einem kreischenden Gemecker die anderen noch zu übertönen.

In diesem Augenblick trat ein etwa vierzehnjähriger Knabe geröteten Antlitzes zum Tisch und drängte sich zu Konon. Er starrte die Lacher beinahe böse an.

Alle schwiegen verdutzt, nur Sosibios meckerte weiter.

»Seht mir den kleinen Apollonios aus Pergä an!« krähte er heraus. »Der findet unser Gehaben schon wieder unwissenschaftlich. Nein, Apollonios, beruhige dich! Mit vierzehn Jahren kann man noch Tag und Nacht grübeln. Mit zwanzig beginnt man bereits, bei den Mahlzeiten auf die Speisen zu achten, und mit fünfzig denkt man nur mehr an den Festtagen an die Weisheit.«

»Ich habe mich um das, was meine Lehrer für gut halten, nicht zu kümmern«, erwiderte der kleine Apollonios. »Noch weniger habe ich es zu kritisieren. Ich darf aber neugierig sein, wer der neue Schüler meines Lehrers Konon ist.« Damit setzte sich der Knabe auf die Kline des Konon und schlug die Augen nieder.

»Woher weißt du, daß Archimedes mein Schüler ist?« Konon strich dem Knaben über den Kopf.

Dieser aber schüttelte die Berührung trotzig ab und keuchte:

»Archimedes? Der neue Mann ist Archimedes? Das ist für mich mehr als eine große Überraschung!« Dabei blitzte er Archimedes mit einem Blick derart abgründigen Hasses an, daß niemand im Zweifel sein konnte, welcher Art seine Überraschung war.

Eratosthenes jedoch machte gegen den Knaben eine Geste, die wie ein Zauberstab sofort seinen Kopf senkte. Er griff mit zitternden Händen nach den Speisen und murmelte:

»Ich habe dich im Gang erwartet, Konon. Du bist mit Archimedes knapp an mir vorbeigegangen. Ich hörte, was ihr spracht.«

Sosibios hatte sich inzwischen ein mächtiges Bratenstück zugelegt und sagte überlaut:

»Eure Scherze sind seit wenigen Stunden überflüssig. Ob ihr nun daran erstickt oder nicht. Mein Gehalt wurde mir heute nachmittags unter vielen Entschuldigungen der Verwalter bereits ausbezahlt.«

»Auf meine eigene Veranlassung, lieber Sosibios«, erwiderte Eratosthenes. Dann wandte er sich zu Archimedes: »Damit du einen weiteren Aufschluß über das Museion erhältst. Du weißt sicherlich, daß wir hier Grammatiker zu den unsren zählen, wie sie an Scharfsinn und Fleiß nicht ihresgleichen hatten und haben. Ein einziges Wort Homers, Hesiods, Pindars wird oft Streitgegenstand für zehn Grammatiker und für zwei Jahre. Wir nennen diese Akribie des Ausdeutens, besser, die Vertreter dieser Kunst, Eustatiker oder Lytiker, je nachdem sie scharfsinnigste Fragen stellen oder lösen. Sosibios ist beides. Und hat eine dunkle Homer-Stelle durch eine Wortauswechslung gelöst. So behauptet er wenigstens. Unser König Philadelphos, der sich manchmal an unseren Studien beteiligt, hörte von dieser Tat. Mir steht dem König gegenüber keinerlei Recht zu, die Gründe seiner Handlungsweise zu erforschen. Jedenfalls erhielt Sosibios plötzlich kein Gehalt. Als er sich beschwerte, hieß es, der König selbst habe es befohlen und wolle Sosibios Rede stehen. Unser armer Sosibios, der auch schon an fünfzig ist, den daher neben der Wissenschaft auch das Gehalt lebhaft interessiert, rannte zum König. Dieser schüttelte den Kopf, ließ den Buchhalter kommen und erklärte, er könne als Grammatiker beweisen, daß Sosibios das Gehalt bekommen habe. Denn unter den Quittungen seien alle Silben von Sosibios vertreten. Quittiert aber hätte die Silbe So durch Soter, die Silbe si durch Sosigenes, die Silbe bi durch Bion und die Silbe os durch Apollonios. Da der König bei dieser Auseinandersetzung den tiefen Ernst des erfolgreichen Grammatikers mimte, blieb Sosibios nichts übrig, als der eigenen Kunst zu fluchen. Den Göttern sei aber Dank, daß uns der König heute schreiben ließ, es gäbe noch eine zweite grammatische Ansicht, die behaupte, auf einer Quittung müßten alle Silben in der Reihe, ohne Hinzufügung anderer Silben, stehen. Obgleich ihm selbst nun die erste Ansicht besser gefalle, habe er sich zur zweiten bekehrt, da im Zweifel der Vorteil des Gelehrten der Erkenntnis vorgehe. Auf jeden Fall freut uns die feine und anregende Art, mit der unser Stifter und Erhalter die Wissenschaften bewacht.«

Sosibios biß sich auf die Lippen. Er wußte genau, daß diese »feine und anregende Art« des dämonisch klugen Königs eine deutliche Rüge bedeutete, die sich gegen die allzu weit getriebene Spitzfindigkeit richtete. Er ärgerte sich maßlos, um so mehr, als er einsah, daß Philadelphos ihn mit den eigenen Waffen geschlagen hatte. Denn er hatte ihn ja weiter nicht geschädigt. Aber, bei sämtlichen Hunden und anderen Haustieren, er würde es dem König, dem Herrn Beta und allen anderen schon einmal heimzahlen! Es war ja Zeit, Zeit und noch einmal Zeit. Und wo anders ging es den Grammatikern noch schlechter. Natürlich, der Fürst der Ärzte, dieser Herophilos von Chalkedon, der noch immer grinste und das breite Raubtiergebiß zeigte, der konnte leicht lachen. Den rief der König mit Schmeicheln und Lockungen, wenn er Leibschmerzen hatte, und sah ihm jeden Wunsch von den Augen ab, wenn eine seiner königlichen Buhlerinnen jammerte.

Archimedes war ein wenig verwirrt. Die Vielfalt der schnellen Gedanken, die durch den Raum schwangen, befeuerte und lähmte ihn gleichzeitig. Er war als Verwandter und Freund des Königs von Syrakus zwar gewohnt, auch bei prunkvollen Festen in die Bereiche tiefster Weisheit gezogen zu werden. Am Hofe von Syrakus war solches gebräuchlich, seit der göttliche Platon dem Tyrannen Dionysios zur Seite gestanden war. Aber die Art dieser Gespräche, ihr Zweck, ihre Umgebung waren dort weltenweit anders als hier.

Eratosthenes sah alles. Sah auch die verbissene Wut des Sosibios. Er konnte ihm nicht helfen. Besser, er hatte ihm sehr wesentlich geholfen. Denn König Philadelphos hatte durch seinen Scherz mit dem Unfug der grammatischen Rätselwut und wolkenkuckucksheimartigen Spitzfindigkeit selbst um den Preis Schluß machen wollen, daß Sosibios Alexandria verließ. Der Entzug des Gehaltes war ernst gemeint gewesen. Und nur die Fürbitte des großen Beta hatte es vermocht, noch einmal Gnade walten zu lassen. Eratosthenes aber hatte wieder den König vor dem Vorwurf despotischer Laune, die so ein giftiger Grammatiker leicht in die Welt oder die Nachwelt hinausschrie, decken wollen und eben deshalb das Privatleben, das Abendessen, zur Stätte der Erledigung gewählt.

Sosibios schien den Sachverhalt langsam zu begreifen. Denn er zwang sich sehr unvermittelt wieder gute Laune ab und erging sich in allerlei Wortspielereien, um die Gesellschaft auf andere Gedanken zu bringen.

Inzwischen hatten die Diener neue Speisen, milesische Honigkuchen und anderes Backwerk gebracht, und auch ein dicker, dunkelroter Wein wurde sorgfältig mit der richtigen Menge Wassers gemischt.

Um diese Zeit erschienen noch zwei Tischgenossen. Offensichtlich ein Lehrer mit seinem Schüler. Es waren, wie man Archimedes zuflüsterte, der düstere Philosoph Hegesias mit seinem Schüler Laertes. Der Philosoph war vornehm, fast verschwenderisch angezogen. Sein dunkelbraunes Haar war sorgfältig gekräuselt und gesalbt, und er trug einen Kranz von violetten Rosen auf dem Haupt. Sein Gesicht aber war fahl, und schwere, fingerbreite Schatten lagen unter müden, lauernden Augen. Seine Mundwinkel zogen sich abwärts, während die Nasenflügel und die Wangen bei jedem Herzschlag leicht vibrierten. Gleichwohl lag über der ganzen Erscheinung eine zwingende Starre. Der Schüler Laertes überragte ihn um Kopfeslänge. Schmal, vorgeneigt und sehr hellblond mit wasserblauen Augen blickte er ins Unbestimmte, während eine ungreifbare Haltlosigkeit den Eindruck erweckte, der Jüngling habe bereits ein Wissen um alle Dinge, so daß ihm jedes Wort nur Spott oder mitleidiges Lächeln abnötigen könne.

Konon war sichtlich unangenehm berührt, als sich Hegesias und Laertes in seiner Nähe niederließen. Er versuchte auch, den Knaben Apollonios so sehr abzulenken, daß er mit den beiden nicht in Fühlung käme. Es war übrigens wenig Gefahr für solch eine Verbindung. Denn der Philosoph unterhielt sich mit dem großen Arzt und kümmerte sich vorläufig sehr wenig um alle anderen.

Das währte indessen nicht allzulange. Ganz unvermittelt packte er den Zipfel eines belanglosen Gespräches und riß die Unterhaltung des Tisches an sich. Nicht laut oder aufdringlich. Nein, im Gegenteil. Er flüsterte fast, legte aber solche Kraft und Eindringlichkeit in jedes Wort, daß alle unwillkürlich zu lauschen begannen. Dabei fühlte sich jeder von diesen Augen gepackt, die inmitten eines bewegten Mienenspieles starr, traurig und in sich versunken blieben und zum Schluß wie winzige weiße Punkte innerhalb einer dunklen Scheibe erschienen.

Dabei stellte es sich heraus, daß er seine Worte an Archimedes richtete, obgleich er ein Einzelgespräch geflissentlich vermied. Er wanderte vielmehr mit seinen chaotisch durcheinandergestreuten Worten, faßte sie aber stets erst zur Ganzheit zusammen, wenn seine Wanderung bei Archimedes haltmachte.

Er hatte bereits in unauffälliger, dennoch aber wunderbar gegliederter Art über Philosophen und Philosophie geplaudert. Hatte den Stammbaum der Schule von Kyrene dargelegt und mit beinahe hämischen Glossen begleitet, obgleich er sich wieder stolz als Kyrenaiker bekannte. Plötzlich wurde er gegenständlich und schien vom Thema weit abzuschweifen. Er sagte so nebenhin:

»Lassen wir das alles. Ich menge mich jetzt in die Aufgabe der Grammatiker späterer Jahrhunderte. Eigentlich wollte ich von anderem erzählen. Mein Schüler Laertes und ich sind seit mehreren Stunden unterwegs. Wir waren überall in Alexandria, waren beim Pharos, schlenderten über das Heptastadion, durchwanderten die Kanopische Straße. Ganz Alexandria ist heute wieder einmal ein einziges Fest. Wie der Arzt sich für Kranke interessiert, so interessiert sich der hedonistische Philosoph für solche Zusammenballungen von Lust und Freude. Bevor ich aber fragen kann, was das Weltprinzip der Lust ist, das der Gründer meiner Schule, der große Aristippos, bekanntlich als den Mittelpunkt seiner Philosophie hinstellte, muß ich wohl fragen, was Philosophie bedeutet. Laertes und ich fragten einander wechselweise. Aber nicht in leeren Zonen des Gedachten, sondern unmittelbar im Angesicht des Lebendigen. Was, so fragte ich, hat dieser Tempel dort, diese Farbe, dieser Sonnenuntergang, dieser Duft mit der Philosophie zu schaffen? Gewiß, er hat etwas mit ihr zu schaffen, wenn man will. Ist das alles ein Sein, ist es ein Werden, ist es ein Schein, ist es ein Traum? Bin gar ich nur der Schöpfer dieser äußeren Dinge? Aber, so fragte ich weiter, muß man philosophisches Denken wollen? Nein, man muß es nicht wollen, durchaus nicht. Es entfernt uns von den Dingen, zerfasert und zersetzt die Dinge, ist eine Krankheit, ist die Angst eines Kindes, das überall Gespenster sieht, obgleich es keine Gespenster gibt. Was wieder heißt es, daß es etwas nicht gibt? Der gesunde Mensch weiß das im tiefsten Inneren. Der kranke Mensch, also der Philosoph, grübelt wieder, ob es nicht doch alles gibt, was man zu sehen glaubt. Nirgends also mehr ein Halt, wenn man einmal begann zu zersetzen. Man hat den herrlichen Salzkristall der Wirklichkeit ins Wasser der Philosophie geworfen und jammert, daß er ins Unförmliche zerrinnt, daß er selbst angefressen und getrübt bleibt, wenn man ihn noch im letzten Augenblick aus dem Wasser fischt. Lassen wir also die Philosophie, sagte ich zu Laertes. Nehmen wir an, es gäbe eine solche und sie sei nützlich. Wir nehmen ja noch unbewiesenere Dinge stündlich an, um überhaupt über die nächsten Stunden hinüberzukommen. Und suchen wir, sagte ich, unsre Grundsätze zu festigen und zu zergliedern. Wir schreiten durch ein Fest. Ein Fest ist die Zusammenballung von Lust. Wir sind also mitten in den Gegenständen, die unsre Schule von anderen Weisheitsschulen unterscheidet. Lust muß gegenwärtig sein, muß körperlich sein und muß ein positiver Zustand sein, hat unser erhabener Gründer Aristippos gelehrt. Sie gleicht nicht der Windstille, nicht dem Sturm, sondern dem lauen Wellengekräusel in satter Mittagsglut. Laertes und ich blickten in Tausende von Antlitzen. Wir sahen da manches auf diesem Feste. Und wir sahen einander an und sahen in uns hinein, so tief wir konnten. Wir erblickten viel Sturm, viel Windstille und wenig laues Wellengekräusel. Wir bemerkten viel Erinnerung an die Vergangenheit, Hoffnung auf Zukunft, doch wenig Gegenwart. Allein das Körperliche der Lust schien zu stimmen. Was aber ist körperliche Lust? Wenn man nur kurze Zeit mit einem unsrer großen Ärzte spricht, dann ist das ganze Leben nichts als ein Kampf gegen Zehntausende von Gefahren und Gebrechen. Die Seele aber wird von den Kümmernissen des Körpers umhergerissen und verzehrt sich in Sorge, es könnten neue Gebrechen entstehen. Soll man darüber glücklich sein, daß das Schicksal viel Gehofftes vereitelt? Wir geben uns gar nicht ordentlich Rechenschaft darüber, wie wenig sich von dem erfüllt, was wir hoffen. Wir schämen uns nur, es einzugestehen. Auch das sahen wir an den Gesichtern beim Fest. Am Nachmittag hatten sie sich alle herausgeputzt, und die Augen strahlten vor Erwartung. Als die Sonne sank, waren sie schon müde, zerknittert und fahl, und aus ihren Augen flackerte die Enttäuschung. Soll man also das Leben wählen, weil es vielleicht einmal Unverhofftes bringt? Oder wäre das Unverhoffte gar nur das Selbstverständliche und wir preisen es als Lust, wie Bettler den Tag preisen, an dem sie endlich den Hunger stillen können? Stille aber täglich deinen Hunger, Götterliebling Mensch. Wo ist dann die Lust? Ist Sättigung nicht wieder Windstille? Und Übersättigung geradezu Unlust? Ist da der Reiche glücklicher als der Arme? Ist der Sklave unglücklicher als der Freie? Der von Leidenschaften gepeitschte Jüngling glücklicher als der abgeklärte Greis? Sind hohe Geburt und Ehre nicht manchmal größere Lasten als niederer Stand und Schande? Will überhaupt nicht jeder das, was der andre hat? Oder aber, wenn der andere eindeutig im Unglück sitzt und von den Göttern schuldhaft oder eher noch unschuldig gepeinigt wird, bringt dann nicht den Guten, Mitleidigen dieser Anblick um die Freude, den Hartherzigen, Schlechten aber in Angst, es könne ihm genau so ergehen? Nein, der Weise kann das Leben nicht als Quelle von Lust anstreben, bejahen oder gar wünschen. Er ist hineingeworfen in diese Mühle, es nützt ihm nichts, wenn er, das Weizenkorn, darüber philosophiert, wie gut es wäre, kein Weizenkorn zu sein. Aber er ist doch nicht bloß ein Weizenkorn. Er wird versuchen, aus dem Sack zu schlüpfen, bevor dieser in die Mühle geschüttelt wird. Er wird Leid abwehren, dem Leid ausweichen, das Leid vermeiden, auch wenn er dadurch unendlich viel Lust verliert. Denn die Götter haben in ihrem Neid das Leben derart eingerichtet, daß fast jede Menschenlust unweigerlich schon im Keime späteres Menschenleid enthält. Ob wir nun diesen dunkelroten Wein trinken oder eine der geschminkten Buhlerinnen umarmen. Sättigung, Übersättigung, Ekel, Leid und Ende. Anders geht es nicht. Denn Mäßigkeit ist wohl nichts anderes als gegenwärtige Unlust, um auch in der Zukunft, vielleicht noch verschärft, vor demselben Problem des Sichbescheidenmüssens zu stehen. Unmäßigkeit aber ist noch nähergerückt Unlust, wobei den halbwegs wachen Menschen die Spinne der Ernüchterung bereits mitten im Genuß über die Blüten des Genusses kriecht.«

Hegesias machte eine kurze Pause und stürzte wie unabsichtlich einen großen Becher ungemischten Weines hinunter. Er lächelte verzerrt und blickte für einen Herzschlag auf den Schüler, dessen Gesicht noch haltloser und müder schien als vorher. Unvermittelt sagte er mit einer wegwerfenden Handbewegung:

»Verzeiht mir alle, daß ich euch Dinge erzähle, die ihr bald besser, reicher, zusammenhängender werdet lesen können. Mein Dialog, ›Apokarteron‹, meine Darstellung des Menschen, der es einfach nicht mehr aushält, ist in Vollendung begriffen. Ich drücke mich nicht – wie selbst der göttliche Platon – um die Entscheidung. Sie ist. klar und wird von meinem Helden entgegen allen Lockungen des besorgten Freundes vollzogen. Wenn nämlich die oberste aller Möglichkeiten die Schmerzlosigkeit ist, und wenn diese rein negative Lust, diese stillste aller Windstillen, das Äußerste ist, was man erreichen kann, dann gibt es nur einen Weg, sie mit Sicherheit zu erzwingen. Indem man sich so lange der Speise enthält, bis man sie erreicht hat.« Mit einem Ruck erhob sich Hegesias und lachte ein einziges Mal hohl und unheimlich auf. Dann schloß er: »Alle Ärzte Alexandrias, jeder ein Sisyphos der Wissenschaft, unter deren Händen stets wieder der tückische Marmor der Gesundheit, den sie hinaufwälzen, jämmerlich herunterpoltert, werden zugeben müssen, daß man sich in dieser Weise keine Krankheit des Magens zuziehen kann. Komm jetzt, Laertes! Wir wollen schlafen gehen. Der Schlaf, der Bruder des Todes, wird unsere herrliche Lust, unser olympisches Leben im Licht ein wenig unterbrechen. So lange, bis ein bleischwerer Morgen mit unangenehmen grellen Farben uns wieder zum Einerlei, zur Tretmühle des Tages, ruft. Oder, noch wahrscheinlicher, uns aus Träumen emporscheucht, die wir verlassen müssen, weil sie uns lieb sind, oder die wir verlassen wollen, weil sie uns Angstschweiß auf die Glieder getrieben haben. Freuet euch alle, wie wir Hellenen in richtigster Erkenntnis des obersten Weltprinzips als Gruß sagen.« Und er lachte noch einmal hämisch auf und entfernte sich. Laertes aber wankte angewidert hinter ihm her.

Kaum war Hegesias außer Hörweite, als der Knabe Apollonios murmelte:

»Ich will hinauf zu den Sternen, Konon. Die Sterne sprechen eine andere Sprache als die Menschen. Du hast es mir versprochen, daß wir hinaufgehen.«

»Gewiß habe ich es dir versprochen«, erwiderte Konon und sah den Knaben forschend an, dessen Lippen zuckten, als verhalte er nur mühsam die Tränen.

»Man nennt ihn nicht ohne Grund Hegesias Peisithanatos«, sagte jetzt Eratosthenes zu Archimedes. »Hegesias, der ›In-den-Tod-Schmeichler‹. Er hat irgendwo recht, das ist das Grausige an seinen Reden. Noch grausiger ist es, daß er die Stimmung einer ganzen Zeit verkörpert. Man könnte ihn leicht widerlegen. Du wirst es auch tun, Archimedes, wie wir es alle tun. Aber die Stimmung ist damit nicht widerlegt, deren Verkünder er ist. Vielleicht ist er zu aufrichtig. Vielleicht hat Philosophie an manchem Punkt die Pflicht zur Lüge. Oder zur Umdeutung, um es sanfter zu sagen. Der kleine Apollonios hat recht. Gehen wir zu den Sternen.«

»Archimedes kommt mit?« Apollonios keuchte es erschrocken hervor.

»Ich hoffe, daß der Weltraum für dich und Archimedes Platz hat«, antwortete Eratosthenes kalt und verweisend. »Es steht dir übrigens auch als Schüler frei, ihm im Angesicht der Sterne zu sagen, was dir an seinen Gedanken mißfällt. Von Sokrates war hier niemals die Rede, nur von der Wahrheit.«

Trotz dieser unmißverständlichen Rüge nahm Eratosthenes auf die Eifersucht und den glühenden Eifer des Knaben Rücksicht. Er ließ ihn mit Konon vorangehen und machte keinerlei Miene, die Tafel aufzuheben. Archimedes war damit durchaus zufrieden. Er wollte vorläufig keine neuen Eindrücke. Denn die Rede des Hegesias lag ihm noch in allen Gliedern, wenn man so sagen darf. Das bemerkte aber sogleich wieder das geübte Auge des großen Arztes Herophilos, der Archimedes halb spöttisch, halb mitleidig anlächelte und dabei sein breites glänzendes Gebiß zeigte.

»Alle werden den Tod wählen«, warf er kaustisch hin. »Alle, wenn ihnen der lockende Sirenenklang des Peisithanatos noch lange um die Ohren säuselt. Kinder schläfert man dadurch ein, daß man ihnen die Geborgenheit des Schlafes vorredet und in eindringlichen Worten schildert. Erwachsene aber zieht man unmerklich in die Gefilde des Todes, wenn man ihnen die Schönheit der Asphodelen, die Schmerzlosigkeit des Nichterwachens und die Unrast des Lebens vorgaukelt. Einer wird nicht den Freitod wählen. Dieser einzige wird Hegesias selbst sein. Ich habe den beklemmenden Verdacht, daß er nur ein Versucher in des Wortes doppelter Bedeutung ist. Er versucht die Menschen, um zu versuchen, wie sie sich verhalten. Ob man ihm das Handwerk legen soll, ist eine Frage, die letzte Dinge der Wissenschaft angeht. Vielleicht werden Spätere auch aus erfolgreichen Versuchen dieses Anti-Hedonikers Nutzen ziehen. Vielleicht. Er aber, Hegesias selbst, leidet nicht im geringsten. Er spricht sich seine üble Laune so lange vor, bis sie fort ist. Dann sucht er neue Schüler, um sie als Abfallgefäß der Griesgrämigkeit zu benützen. Das ist meine Diagnose. Ich will aber jetzt trotz aller Warnungen des unkonsequenten Kyrenaikers dem Gründer seiner Schule, dem unvergleichlichen Aristippos, folgen und gegenwärtige, körperliche und bejahende Lust genießen, indem ich ungemischten Wein trinke. Evoe, Archimedes! Dann aber werde ich auf die Kanopische Straße hinauswandern und mir die ebenso gefährlichen Buhlerinnen betrachten. Nach dem Grundsatz desselben Aristippos, der die größte und schönste Hetäre aller Zeiten, die herrliche Lais hier in unsrer Stadt, liebte und dabei enttäuschungslos glücklich war, weil er besaß, ohne besessen zu werden. Morgen aber werde ich dann meine Kranken vornehmen und werde versuchen, den Sisyphosblock oben am Anfang anzuketten, damit die Geheilten sich in absehbarer Zeit ebenso schlecht und selbstgefährdend betragen können, wie ihr Arzt sich heute beträgt. Noch einmal Evoe, Archimedes!« Und er trank schnell einige Becher blutroten Weines, lächelte überlegen und stand ohne Hast und ohne weiteren Abschiedsgruß auf und ging langsam gegen die Tür, die in den Vorgarten führte.

»Er ist der unheimlichste und sicherste aller Anatomen und Chirurgen«, sagte Eratosthenes zu Archimedes. »Noch nie hat seine Hand gezittert, noch nie sein Messer an falscher Stelle geschnitten. Selbst die ägyptischen Augenärzte sind außer sich vor Erstaunen, wenn sie einen seiner ans Wunderhafte streifenden Eingriffe sehen. Ob er dem Ausspruche des Hippokrates, nur ein guter Mensch könne ein guter Arzt sein, genügt, will ich nicht entscheiden. Er selbst hat einmal hier beim Symposion behauptet, nur ein schlechter Mensch sei ein guter Arzt. Aber lassen wir das. Du wirst alles aus eigenem Augenschein erfahren. Gehen wir jetzt hinauf.«

Sie schritten nach kurzer Zeit über die weiten flachen Dächer des Gebäudes. Blauschwarze Nacht lag über ihnen. Nur die Sterne schienen wie grelle Ampeln tiefer zu hängen als der Hintergrund der Himmelshohlkugel. Bald sahen sie vor sich die blanken ehernen Kreise und gitterartig durchbrochenen Beobachtungsgeräte funkeln, vor denen Konon und der Knabe Apollonios standen und sich mit gedämpfter Stimme miteinander unterhielten.

Eratosthenes legte den Arm auf eine riesige Nachbildung der Himmelskugel, die sich unter dem Druck seiner Hand lautlos um ihre schräggestellte Achse zu drehen anhub.

»Ich bin erst vor wenigen Monaten aus dem fernen Süden zurückgekehrt, Archimedes«, sagte Eratosthenes fast wegwerfend. »Ich kam bis Syene, bis an die Grenzen Äthiopiens. Es gelang mir, die erste Gradmessung und damit die erste Umfangsbestimmung des Erdballes durchzuführen. Der König und fast alle Gelehrten, die bisher davon hörten, behaupteten, ich hätte mir damit den Rang des größten Geographen und Astronomen aller Zeiten erworben. Ich fühle gar nichts dergleichen. Es war vielleicht ein guter Einfall und ich ersann vielleicht eine gute Methode. Alles nur vielleicht. Zudem hätte ein Privatmann weder Einfall noch Methode verwerten können. Dazu bedurfte es der Macht und des Weitblickes eines Ptolemaios Philadelphos, der mir seine Länder öffnete, mir Soldaten, Sklaven und Tragtiere in unerschöpflicher Anzahl zur Verfügung stellte und mich gleichsam zum geistigen Statthalter eines Weges von fünftausend Stadien ernannte. Wie klein ist aber dennoch dieser Abstand, den ich maß, gegenüber dem ganzen Erdumfang, den ich mit zweihundertundzweiundfünfzigtausend Stadien feststellte. Dabei aber, und darum sage ich dies alles, traf ich auf eine Schande der Geometrie. Kein einziger unsrer großen Mathematiker von Thales bis Euklid und seit Euklid kann angeben, wie groß der Rauminhalt einer Kugel ist, wenn man Umfang oder Halbmesser kennt. Ich selbst erfand das Sieb der Primzahlen, erfand eine neue Lösung der delischen Aufgabe der Würfelverdopplung, aber der harmonischeste, ebenmäßigste aller Körper, die Kugel, ist meinem grübelnden Verstand so ungreifbar wie die Glätte ihrer Oberfläche. Ihre allerorts vorhandene Krümmung läßt meine Gedanken hilflos abgleiten. Für dich, Archimedes, der du dich bisher schon als Meister mancher Kurve zeigtest, wäre die Lösung dieses Problems eine große und ehrenvolle Aufgabe. Ich weiß seit meiner an sich jämmerlich banalen Gradausmessung, wie schön es ist, etwas als erster erkannt und gefunden zu haben.«

»Archimedes soll diese Aufgabe lösen?« Die Stimme des Knaben Apollonios überschlug sich fast in erregter Heiserkeit. Plötzlich wurde sie hell und kalt, als er sich umwandte. »Du darfst nicht denken, Archimedes, daß ich ins Leere spreche oder ins Leere hasse. Ja, ich hasse dich. Aber nicht dich als Menschen. Den Menschen Archimedes kenne ich nicht. Er ist mir auch gleichgültig. Hier im Museion ist nicht von Sokrates die Rede, sondern von der Wahrheit, haben wir vorhin gehört. Gewiß, ich bin ein Knabe. Ich verstehe nichts von der Welt. Nichts von der Lust und von der Unlust, nichts davon, ob es besser ist, zu leben oder freiwillig zu verhungern. Was ich aber verstehen muß, weil es untrüglich vor mir liegt, ist das Spiel der Linien, Flächen, Körper und Formen. Eine Lösung der Mathematik ist ebenso wahr, wenn sie von einem Knaben stammt, wie wenn ein silberhaariger Greis sie findet. Das hat uns schon Platon gezeigt, als er in der stumpfen Seele des Sklaven die Grundsätze der Geometrie durch das Wiedererinnern, die Anamnesis, vor den erstaunten Augen der Zuseher erwachen ließ. Ich habe alles, was du bisher schriebst, gelesen, Archimedes. Habe alle Beweise durchgegangen, alle Figuren nachgezeichnet. Und ich sage dir, daß du ein Zerstörer bist. Du denkst nie an Linien, wenn du rechnest, nie an Flächen, nie an die Harmonie der Sphären. Du denkst an greifbare, grobmaterielle Dinge, an Inhalte, kurz, an die Wirklichkeit. Vielleicht wirst du uns sagen, wie schwer die Erde ist, wo der Schwerpunkt dieser Erde sich befindet, wenn sie in einem Ozean geschmolzenen Goldes schwimmt, nie aber wirst du vorher darüber grübeln, warum das Spiel der Linien einen Rauminhalt, eine Kubatur, ergibt und notwendig aus sich selbst hervorruft. Du kennst nicht einmal das wahre Wesen der Kegelschnitte, Archimedes, die Unzahl der Beziehungen, die alle Kegelschnitte untereinander verknüpft. Du weißt ja nicht einmal, daß alle Kegelschnitte …… aber nein, Archimedes, das werde ich nicht verraten. Such es selbst. Es ist wirklich schön, etwas auf dieser Erde als erster und einziger zu wissen. Auch ich weiß etwas Derartiges. Und es ist kein Traum, keine Blendnis. Es ist eine Erkenntnis, aus der stromgleich andere folgen und zum Ozean des Wissens werden. Es wird aber noch Jahre, vielleicht Jahrzehnte währen, bis alles die endgültige Form hat. Ewig ist nur die Reinheit der Form, nie der Inhalt. Das hat mich Konon gelehrt, der zu Füßen Euklids saß. Darum auch hasse ich die Geometrie des Archimedes, weil sie wie ein Vulkan das Innerste der Mathematik glühend und ohne Zusammenhang ausspeit, wenn sie sich auch nachträglich noch so sehr Mühe gibt, die Lavaströme zu glätten und dort Kristalle vorzutäuschen, wo die Ungestalt der Vater war.«

Archimedes, der durch die Sternennacht die starr auf ihn gerichteten Augen des Epheben blitzen sah, hatte sich während der Rede des Knaben, die nur so hervorsprudelte, ganz dem tiefen Eindruck hingegeben. Konon wollte sich schon vermittelnd an Archimedes wenden. Da sagte dieser kopfschüttelnd:

»Als Mensch, Apollonios, bist du der Vulkan. Deine Worte hatten sicherlich weniger Form als Inhalt. Das soll aber keine billige Widerlegung oder gar eine Verhöhnung sein. Du magst recht behalten, magst alles, was bisher Geometrie hieß, auf deiner Seite als Bundesgenossen kämpfend hinter dir haben. Du siehst aber bloß die Welt des Seins, nicht die des Werdens. Die Welt der Eleaten und der Platoniker im Gegensatz zur Welt Heraklits. Du heißt nicht ohne tieferen Sinn Apollonios. Es ist die Welt Apollos, die du vertrittst. Ich sehe aber darüber hinaus noch die Welt des ebenso göttlichen Dionysos, und es ist ebenso ein Sinnbild, daß ich von den syrakusischen Königen gleichen Namens stamme, die wieder mit Platon die Welt neu aufbauen wollten. Rätsel über Rätsel. Oder nur grammatisches Spiel, wie es Sosibios treibt? Wo ist ein Ende, wo ein Anfang? Unser großer Freund Eratosthenes hat die Geoikuméne, die bewohnte, bewohnbare Erde, den Menschenzielen angewiesen. Darüber hinaus, im Unbegrenzten, beginnt das Reich der Götter. Wer dorthin strebt, ist ein Frevler. Oder ist er nur ein Mensch, der glaubt, daß auf der bewohnten Erde das Niegesehene, umwälzende Neue nicht mehr zu finden ist? Du wähltest die letzten Geheimnisse des Kegels, Knabe, weil dort noch gerade Linien laufen, die du greifen kannst. Ich weiß jetzt schon, daß ich das Geheimnis der Kugel lösen werde. Weil es ein jenseitiges, ein irrationales, alogisches Geheimnis ist und weil ich zu Dingen geboren bin, die du, wunderbarer Knabe, fälschlich für Inhalt hältst und bis an dein Lebensende für grobe Inhalte ansehen wirst, obwohl sie letzte, allerletzte Formoffenbarungen sind. So ist es auf der Welt und so wird es bleiben. Menschen der sogenannten reinen Form, Apollonios, werden Menschen des rasenden Ausdrucks stets als minderwertig, als Überschreiter, als Gottesfrevler mißachten. Ich aber werde dich niemals hassen, ich werde dich ehren, lieben, bewundern, manchmal mich sogar nach deiner Welt wie nach dem verlorenen goldenen Zeitalter zurücksehnen. Denn deine Welt ist in mir, Apollonios. Sie ist das mittagsatte Wellengekräusel der wahren Lust. Bei mir ist aber daneben noch Windstille und Sturm.«

Apollonios hielt sich die Ohren zu. So verharrte er einige Herzschläge. Dann erwiderte er eisig:

»Das alles ist Hochmut. Furchtbarer Hochmut eines Ungeduldigen, der im tiefsten Grund das Chaos will und behauptet, den Kosmos als Teil in sich zu tragen. Ich habe mich nicht getäuscht. Nur habe ich dich für weit harmloser gehalten, als du es bist. Diese Nacht heute wird mir unvergeßlich sein. Dafür aber danke ich dir, daß du mich endgültig überzeugtest, daß mit solchen Gegnern ein Waffenstillstand Verbrechen ist. Größe und furchtbares Wissen erkenne ich bei dir an, Archimedes. Aber je stärker der Feind, desto wilder Kampf und Haß. Nicht für mich. Für das heiligste Gut der Hellenen, für die Mathematik, die Euklid beinahe vollendete, damit du das göttliche Gebäude zur Schmach für alle Zeiten herostratisch anzündest und noch die letzten Trümmer zusammenschmeißest.« Damit drehte er sich ab und ging unaufhaltsam den Weg zurück, den sie alle heraufgekommen waren.

»Ich werde nie wieder mit dem Knaben sprechen«, sagte Archimedes in dumpfer Wehmut.

»Ich wollte dich darum bitten«, erwiderte Konon.

»Du hattest recht, Konon, er ist ein Wunder und er wird ein Stolz der Hellenen werden, weil er das Wesentliche sieht, wenn es auch nach meiner Meinung nicht das tiefste Geheimnis ist. Das aber ist meine vereinzelte Meinung, für die ich werde leiden müssen. Apollonios wird glücklich werden.« Archimedes machte eine kurze Pause. Dann lenkte er ab: »Jetzt aber zu den Wundern des Himmels, die du mir außerdem versprachst, Konon.«

Konon lächelte, dann sagte er rasch:

»Bei diesen Wundern wirst du zwei Meister haben, die dich führen. Eratosthenes und mich. Wir werden die Geräte einstellen.« Und er wandte sich zu den funkelnden Instrumenten.

Sicherlich waren Stunden verronnen, zeitlose Stunden, in denen der Umschwung der Gestirne sich mit den Herzen und Seelen der hingegebenen Betrachter so sehr verwoben hatte, daß in ihnen jener unaussprechlich gewaltige und doch so urweltstille Klang der Sphären rauschte; in den geistigen Riesenräumen dieser drei begnadeten Mathematiker, deren Anschauungskraft zudem noch so ungeheuer war, daß sie es auch vermochte, das verschnörkeltste Geflecht von Mond- und Planetenläufen auseinanderzulegen, zu glätten und zu unabhängig vom allgemeinen Sternenzug kreisenden Bahnen umzudeuten. Was beschwerten diese Männer schräge Achsen, Kugeldreiecke, Überschneidungen oder scheinbare Rückläufigkeiten? Sie schauten und sahen, fragten und antworteten, horchten und hörten, planten und bauten. Und sie konnten, beinahe zu gleicher Zeit, gemäß der Lehre des Aristarch von Samos, den ganzen bewegten Kosmos als Umschwung um die Sonne, jedoch auch gemäß der herrschenden geozentrischen Lehre als Umlauf um die Erde denken und in allen Folgerungen betrachten.

Wenn schon Konon und Eratosthenes Wunder der Rechenkunst waren, übertraf die beiden Archimedes noch um unvorstellbare Maße. Sein Mund murmelte die Ergebnisse fast gleichzeitig mit der Problemstellung, und jede Größenordnung von Zahlen schien vor seinem Blick nicht schwieriger zu sein als die Anfangsgründe der Rechenkunst, wie sie die Knaben in der untersten Schule lernten.

Diese Stunden waren im wahrsten Sinn eine Reise durch alle Sphären der Erde und des Himmels. Und sie gebaren dazu noch, gleichsam im munteren Ballspiele, neue Ergebnisse und neue Ausblicke, die vorher noch niemand erdacht oder erschaut hatte.

Bis endlich Eratosthenes leise auflachte und sagte:

»Wir sind gleichwohl Menschen, liebe Freunde, wenn wir auch auf goldenen Wagen durch die obersten Bereiche sausen. Eben dieselben Gestirne, aus denen ich plötzlich auf die Erde zurückfiel, haben mir mitgeteilt, daß der Morgen nicht mehr allzufern ist. Es ist gut so. Wir haben in unsrer Weise das große Fest, dessen Lärm noch herüberweht, mitgefeiert. Aber ein kurzer Schlaf ist besser als gar keiner. Und der müde Wanderer Archimedes soll jetzt sehen, daß das Museion auch das kurze Vergessen des wahren Lebens schätzt.«

Sie stiegen also die Treppen hinab in die Wandelhalle und verabschiedeten sich dort von Konon, dessen Wohnung in einem anderen Gebäude lag.

Eratosthenes führte Archimedes über zwei kleinere Höfe, die dem großen glichen und ebenso von zerstäubtem Wasser und Blüten dufteten, in eine Säulenhalle, die ebenfalls durch Öllampen erleuchtet war und von Gemälden schimmerte. Nur reihte sich hier eine Türe an die andere. Nach wenigen Schritten öffnete der große Beta eine dieser Bronzetüren und sie traten in einen Vorraum, in dem ein Diener auf einem Löwenfell schlief, bei ihrem Eintreten jedoch sogleich aufsprang. Es war ein untersetzter Bursche in kurzem, weißem Kittel. Sein Gesicht war rund und glatt und seine Haare waren kurz geschoren.

»Ein Ägypter, Archimedes. Er ist dir zugeteilt. Du wirst erst in einigen Tagen voll ermessen, wie nützlich er ist. Er wird dir beim Bad behilflich sein, er ist ein geschickter Handwerker, der dir alles anfertigt, was du brauchst; er versteht es, in der Bibliothek Schriften aufzustöbern und ist zudem ein äußerst flinker Schreiber. Er kennt auch Stadt und Leute in Alexandria. Du wirst zufrieden sein.«

Der Diener lächelte still vor sich hin und wartete auf Befehle.

»Schlaf wohl, Archimedes«, sagte Eratosthenes, »wir werden gleich am Morgen den größten Schatz des Museions besichtigen.« Damit entfernte er sich ebenso liebenswürdig und langsam, wie es hier alle taten. Es war Zeit, alles nachzuholen, was man etwa vergessen hatte zu sagen oder zu tun.

Der Diener, der die letzten Reste von Schlaftrunkenheit verloren hatte, schien äußerst erfreut, daß die weitere Führung nunmehr ihm anvertraut war. Er hob die Öllampe aus der Erzpfanne und öffnete eine Türe, die in ein großes, auffallend kühles Gemach leitete. Dieses Gemach war ungemein vornehm und prächtig ausgestattet. Nichts fehlte. Alles war vorhanden: ein im wahrsten Sinne schwellendes Lager, ein Tisch, auf dem Schüsseln mit Obst, Backwerk und Karaffen voll Wein standen, ein Arbeitstisch nahe dem Fenster. Wiederum Gemälde und Plastiken. Schwere Vorhänge vor dem Fenster. Ein breiter Lehnstuhl. Schreibgeräte. Metallspiegel.

Es war noch nicht genug, was das Museion schon in diesem Raum seinen Bewohnern bot. Ein Vorhang schob sich unter der Hand des Dieners zur Seite und in einem kleineren Zimmer glitzerte das Wasser eines in die Fliesen eingelassenen Badebeckens, an dessen Rand auf einem Tischchen Salben, Essenzen und Tücher lagen.

»Es ist laues Wasser, Herr«, sagte der Diener. »Es kommt aus den Springbrunnen und ich ließ es ein, als die Sonne noch hoch stand. Willst du jedoch kaltes, dann lasse ich es abströmen und du wirst das Wasser haben, das nur die Sterne bestrahlten.«

Archimedes warf die Kleider ab. Eine Gier nach Entspannung war über ihn gekommen. Windstille, Wellengekräusel, Sturm. Peisithanatos. Was ist Lust, was Form, was Freitod? Ist die bewohnte Erde ein Frevel, sind es die Sterne? Oder der Rauminhalt der glatten, ungreifbaren, irrationalen Kugel? Oder ist alles nur ein Traum? Der Traum eines Traumes?

Sein Herz hämmerte, die Schläfen pochten, an tausend Stellen stach es in seiner Haut wie mit Nadeln.

Nein, keine Unrast, keine Eile! Im Museion steht die Zeit still. Hier ist es Pflicht, alles zu tun, um das Werkzeug Mensch zu höchster Schärfe zu schleifen. Alles ist hier selbstverständlich. Und doch liegt ein leiser Hauch von Windstille, von Übersättigung in allem.

Am Rande seiner Gedanken stand plötzlich das Mädchen Wirklichkeit, als ihn die lauen Wasser umspielten. Hinweg, Mädchen Wirklichkeit! Du selbst warst der tiefste Traum, den ich in den wenigen Stunden hier träumte. Ich werde dich nie wiedersehen. Was man hier schaut, zerrinnt zwischen den Händen wie dieses duftende, schäumende Smegma, diese weißen Wolken, die mir der Diener auf den Schultern verreibt, daß sie das Wasser trüben.

Alles scheint hier einmalig zu sein. Auch einen Apollonios werde ich nie wieder sprechen, nie wieder die Qualen seiner Eifersucht erblicken, nie wieder den starren Blick seines Hasses und die kalten Worte, in denen der heilige Zorn ihn um Jahrzehnte reifen ließ, fühlen. Vielleicht auch nie wieder dieses Bad, wie es mich heute umkräuselt. Ist das der letzte Sinn der Sattheit dieser Stadt, daß sie alles nur einmal erleben läßt, obgleich sie es täglich, stündlich bietet? Daß sie unsre Sehnsucht steigert, je vollkommener sie Erfüllung gibt? Poros und Penia, Überfluß und Mangel als die Eltern des Eros. So hat es der göttliche Platon gesehen. Hier aber erzeugt der Überfluß den Mangel, der zum unauslöschlichen Eros wird.

Die Schläfen pochten nicht mehr, als der Diener ihn mit kräuterduftenden Essenzen rieb und mit weichrauhen Tüchern trocknete. Eine beruhigende Hand hatte sich auf sein Denken gelegt. Es begann abzuebben und sich der Windstille zu nähern. Und er streckte sich auf das kühle Lager und hörte schon in weiten Fernen die leisen Tritte des Dieners, der sich in den Vorraum zurückzog.

 

Archimedes hatte nicht geahnt, welche Fülle von Farben und Lichtern das Museion durchglühte, wenn die volle Morgensonne es traf.

Er saß mit Eratosthenes in der Wandelhalle, in der es von zahlreichen Angehörigen des Museions lebendig war. Diskutierende Gelehrte, lehrende Meister mit einem Schwärm von Schülern, sinnende Philosophen, Lesende, Schreibende, alles in buntem und doch gemessenem und lärmlosem Wirrwarr. Ärzte, die mit verbissenen Mündern rasch die Gruppen durchschritten, um zu den Kranken zu eilen. Diener, die allerlei für ihre Herren herbeischleppten. Sogar Frauen und Mädchen, die den Wissenschaften oder bloß der Neugierde oder auch der Liebe nachhingen. Es gab im Museion nur ein Gesetz. Und dieses hieß: Beförderung und Auftrieb des Geistes und der Weisheit. Das Mittel zu diesem Ziele blieb in vollster Freiheit jedem überlassen, sofern es nicht andere physisch störte.

Eratosthenes und Archimedes aßen nach der uralten Vorschrift der Pharaonen, wie Beta scherzend sagte, Milch, Weißbrot und frische Feigen.

Sie erhoben sich, als ihr Hunger gestillt war, und wiederum ging es durch zahlreiche Höfe. Diesmal jedoch bis ans Ende des Gebäudekomplexes, der die Speisesäle und Wohnstätten umfaßte. Nach Durchschreiten des letzten Gebäudes lag eine breite und lose mit Bäumen bestandene Wiese vor ihnen, an deren jenseitiger Begrenzung ein langgestreckter, riesiger Bau wuchtete, der alle weitere Sicht versperrte.

»Mein Palast«, sagte Eratosthenes lächelnd. »Es ist die einzigartige Bibliothek, der ich vorstehe.«

In Archimedes zitterte plötzlich Erregung. Gut, Bücher. Man hatte sich bisher bei den Hellenen schon manchmal um Bücher gekümmert. Hatte sie gesucht, gefunden, gekauft, besessen. War stolz, einige Schriften sein eigen zu nennen. Schon Peisistratos hatte in Athen die Gesänge Homers aufschreiben lassen, als das lebendige Gedächtnis des Volkes und die Kunst der Rhapsoden nachließ. Aber die Anhäufung allen Wissens hatte erst der unheimliche Sammler Aristoteles begonnen, hatte diesen Trieb dem großen Alexander eingepflanzt, der ihn dann den Diadochen vererbte, insbesondere den Ptolemäern, die noch dazu durch ägyptische Sitten in diesem Hang bestärkt wurden. Ist das nicht alles Angst? Greisenhafte Gier, die Klänge der Jugend zu retten? Oder aber, wie es die Alexandriner fühlen, doch ein neues, größeres, vollertönendes Instrument? Oder gar der Zusammenklang zahlloser Instrumente, der Neues, Ungehörtes offenbaren soll?

»Wir haben hier nahe an sechzigtausend Rollen«, erläuterte Eratosthenes. »Drüben im Serapistempel fast noch einmal dieselbe Anzahl. Die Ausgaben und verschiedenen Lesarten Homers allein umfassen mehr als tausend Rollen. Aber wozu Zahlen? Du wirst bald sehen.«

Auf dem Weg, der die Wiese durchschnitt, war ein eifriges Gehen und Kommen, und es wurde noch dichter, als sie in die Vorhalle des Riesengebäudes eintraten. Mächtige offene Türen ließen zu beiden Seiten eine Flucht von Sälen durchblicken, deren Boden mit grünem, spiegelndem Marmor belegt war und deren Decken ein glattes, stumpfes Weiß zeigten. Kein Bild, keine Verzierung. In der Mitte der Säle lange glatte Tische und an den Wänden Regale, auf denen in gedrängten Reihen die zylindrischen Kapseln der Papyrosrollen standen. An den Tischen standen und saßen Lesende und Schreibende, und Diener und Bibliothekare eilten um die gewünschten Kapseln, wobei sie manchmal hohe Treppen zu Hilfe nehmen mußten.

»Wir sind nicht bloß Bibliothek«, sagte Eratosthenes, »wir sind mehr als das. Du wirst es gleich sehen. Wirst auch in den Mittelpunkt einer Riesenschlacht des Geistes geraten, in einen Umsturz der Wissenschaft, wie ihn die Welt bisher noch nicht sah. Dieses Schlachtfeld allerdings ist selbst den Gelehrten des Museions verschlossen. Aber einmal darfst du einen Blick hinter die Bühne tun.«

Und er ging auf eine verschlossene Tür zu, vor der vier Makedonier Posten standen, die beim Anblick des Leiters der Bibliothek die Flügel, militärisch grüßend, öffneten, sie jedoch gleich wieder unerbittlich hinter den beiden schlossen. Durch einige Korridore gelangten sie in eine neue Flucht von Sälen, in denen es von Arbeit geradezu summte und schwirrte. Viele Hunderte von Schreibern pinselten mit unwahrscheinlicher Geschicklichkeit nach Vorlagen Zeile um Zeile, Kolumne auf Kolumne, und stets neue Stapel von Papyrosrollen wurden hereingeschafft. Die fertigen Schriften aber wanderten sofort in Werkstätten, in denen die Begrenzungsstäbe der Rollen gedrechselt, mit Knöpfen versehen und an die Enden der Rollen geklebt wurden. Vergolder verzierten Knöpfe und Stäbe und versahen auch die Behälter, die wieder in anderen Werkstätten geschaffen wurden, mit Aufschriften.

Einige Beamte der Werkstätten kamen auf Eratosthenes zu. Der eine trug ein Bündel von milchweißen harten Blättern, ein anderer hatte einige beschriebene Blätter in der Hand. Alle aber waren im höchsten Maße erregt.

»Das Rätsel von Pergamon ist gelöst«, sagte der erste Beamte und warf die Blätter auf einen Tisch, daß es hörbar klatschte.

»Sieh nur, großer Beta, sie beschreiben die Blätter auf beiden Seiten und heften sie aneinander. Der Stoff ist vollkommen undurchsichtig. Und verträgt Feuchtigkeit, Fett und Biegung.«

Eratosthenes nahm eines der Blätter prüfend in die Hand. Dann sagte er zu Archimedes:

»Unser König hörte, daß Eumenes von Pergamon die Absicht habe, unser Museion und unsere Bibliothek nachzuahmen. Philadelphos ist nicht neidisch, aber er fürchtete, daß eine Zersplitterung manche Gelehrte abziehen könnte und dadurch gerade den Grundgedanken und die größte Stärke des Museions, die Zusammenballung aller Geisteskräfte der Erde, vernichten würde. Da nur wir hier in Ägypten nennenswerte Mengen von Papyros haben, erließ er ein Ausfuhrverbot. Wir hörten lange nichts von Pergamon. Bis endlich die Kunde kam, der Attalide ließe besseren, dauerhafteren und schöneren Schreibstoff aus Tierhäuten herstellen und habe dadurch sogar dem Buch, ja sogar der Bibliothek, eine neue Form geschaffen, da das neue pergamenische Buch viel weniger Raum beanspruche. Hier der Beweis. Ich schenke dir zwei solche pergamenische Blätter, Archimedes.« Und er reichte dem Archimedes zwei Tafeln, die an den Rändern wellig gezackt waren, deren Fläche jedoch beinahe glasige Glätte aufwies. »Gleichwohl fürchte ich nicht für unser Museion. So schnell wird Eumenes nicht mehr als hunderttausend Bücher auf diesem teuren Stoff herstellen. Wir haben mehr als hundert Jahre Vorsprung.«

Archimedes bog die Blätter und betrachtete sie voll von Erstaunen. Dabei aber durchzuckte ihn ein Gedanke, der sich weitete und ihn zunehmend erregte, so daß er den Gang durch die Bibliothek selbst zwar als Ereignis empfand, dem einzelnen jedoch nicht mehr die gleiche Aufmerksamkeit schenkte wie vorher. Dies änderte sich jedoch sofort, als sie zu den Schriften der Mathematiker gelangten.

Schon rein äußerlich bildete dieser Saal der Mathematiker eine Besonderheit. Auch hier der spiegelglatte, grüne Marmorfußboden. Auch hier die stumpfweiße, zieratlose Decke. Auch hier schließlich die Regale mit den zahllosen Kapseln der Papyri. Aber es waren noch andere Regale da, auf deren Brettern, sorgfältig geordnet, alles lag, was sich der anspruchsvollste Mensch als Zeichenbehelf ersinnen konnte. Zirkel aller Größen, Lineale, Maßstäbe, Stöße von Papyrosrollen und dazu jene sonderbaren und umstürzenden Geräte zur Darstellung von Kegelschnitten, Muschel- und Epheukurven, die zur rein zeichnerischen Lösung der großen Probleme der Würfelverdoppelung und Winkeldreiteilung von den Zeitgenossen Platons ersonnen worden waren.

Archimedes erblickte mitten im Getriebe der Arbeitenden den großen Konon und für einen Herzschlag auch den kleinen Apollonios, der sich jedoch sofort abkehrte und mit geröteten Wangen auf seinen Arbeitstisch starrte.

Diese Arbeitstische vervollständigten die Bequemlichkeit der Einrichtung. Jeder der Tische war geteilt. Während aber die eine Hälfte gleichsam eine offene Schublade war, in der feiner angefeuchteter Sand es erlaubte, mit einem Elfenbeingriffel flüchtige Skizzen zu zeichnen, die man mit einer breiten Spachtel glättend wieder fortwischte, war die zweite Hälfte der Tische eine Art von Reißbrett, auf dem die endgültigen Zeichnungen auf den Papyros aufgetragen wurden. Und es war dafür gesorgt, daß reichlich Licht durch hohe Fenster einströmte.

Konon kam sofort auf Archimedes und Eratosthenes zu. Er lächelte leicht, als er den Fieberblick wahrnahm, mit dem Archimedes diese mathematische Werkstätte musterte.

»Hast du Verlangen nach irgendeiner mathematischen Schrift?« fragte Konon scherzend. »Auch deine bisherigen Schriften stehen dort oben. Aber es wäre ja möglich, daß du in Syrakus noch nicht alles dir beschaffen konntest, was dich brennend interessiert. Befiehl, Archimedes. Wir werden versuchen, zu zaubern.«

Wieder überkam Archimedes eine quälende Unrast und ein traumartiger Zustand. Warum wunderte er sich im Angesichte der Tatsachen über Dinge, die er doch gewußt hatte, bevor er in Syrakus das Schiff bestieg? Derentwegen er ja hierher gereist war? Plötzlich bildete er sich ein, in diesen Kapseln auf den Regalen wäre nichts oder nur Unwesentliches enthalten. Er wollte eine Probe machen, an deren Gelingen er zweifelte. Hatte er doch nach diesen Büchern seit Jahren vergeblich gefahndet, ohne mehr zu erreichen als kärgliche Auszüge. Man konnte sie also auch hier nicht besitzen.

»Verschaffe mir die Bücher des Eudoxos, mein lächelnder Konon«, erwiderte er schnell. »Dann werde ich an die Zauberei glauben.«

»Sonst willst du nichts?« fiel Eratosthenes ein. »Wir haben davon, soviel ich weiß, mehrere Abschriften. Du kannst sie also ruhig auf dein Zimmer nehmen.« Und er winkte einem Gehilfen, der sofort in eine entfernte Ecke des Saales eilte, dort eine Leiter bestieg und nach kürzester Zeit mit zwei Behältnissen erschien.

Konon warf einen prüfenden Blick auf die Aufschriften.

»Es ist alles, was Eudoxos geschrieben hat. Bist du zufrieden, Archimedes? Da du wahrscheinlich in deinem Zimmer arbeiten willst, wirst du es nachher dort finden. Es muß bloß eingetragen und verbucht werden. Wir senden außerdem noch Papyros zum Zeichnen und Zeichengeräte mit. Die magst du dir ebenfalls auswählen.«

»Und mich wirst du jetzt entschuldigen«, ergänzte Eratosthenes. »Ich wollte dir bloß noch eröffnen, daß du dir in den Kanzleien dein Gehalt beheben kannst. Man wird dich hinführen.«

Archimedes sah ihn fassungslos an.

»Was für ein Gehalt? Ich bin doch Schüler.«

Da lachte Eratosthenes auf.

»Das mußt du wohl dem Urteil unsres Königs und unsrem Urteil überlassen, als was wir dich hier ansehen. Schüler sind wir schließlich alle bis ans Ende. Sonst wären wir nicht richtige Mitglieder des Museions. Der König hat es so gewünscht. Er dürfte wissen warum. Jetzt aber leb wohl, Archimedes! Wenn es dir paßt, sehen wir uns bei Tisch. Wenn nicht, wird niemand fragen, wo du bist. Alexandria ist schön und groß und die Muse ist auch anderswo zu treffen als im Museion, was Sosibios als Paradoxon bezeichnen würde.« Mit diesen Worten kehrte sich der große Beta ab und erteilte sofort Weisungen an Beamte, die ihm nachgegangen waren und ihm geschäftig Aktenstücke entgegenhielten.

Archimedes aber stand noch immer angewurzelt da und sah nicht einmal die lächelnden Blicke Konons, der sich an seinem entrückten Gesicht weidete.

Der Traum eines Traumes? Wer hatte das gesagt? Gleichgültig, wer es gesagt hatte. Würde dieser Traum ein Ende nehmen? Wohin waren die Bücher des Eudoxos verschwunden? Er würde sie nachher auf dem Zimmer finden. Und entrollen. Und alles würde er leiblich vor Augen haben, was er seit Jahren suchte. Er wußte genau, warum er gerade nach Eudoxos fahndete. Bei Eudoxos war die erste Spur, die Wurzel, aus der sein Riesenbaum sich entfalten sollte. Dieser unheimliche Baum, dessen Früchte der kleine Apollonios wahrscheinlich für giftig hielt.

Er ertrug es plötzlich nicht mehr, mitten in diesem Saal zu stehen. Alle, die da zirkelten und rechneten, lasen und kritzelten, schienen ihm Widerspruch entgegensetzen zu wollen. Es war die Schule Euklids, er fühlte den kalten Schatten des Riesen fast körperlich. Nein, nein, nein! Man sollte ihn nicht einfangen, nicht mit Gewalt bestechen, zu nichts zwingen. Er mußte fliehen, bevor es zu spät war. Es gab eine Freiheit, die tödlicher war als der wildeste Zwang. Warum lächelt Konon in einem fort? Warum flüstert Apollonios jetzt mit einem grauhaarigen Mathematiker?

»Ich sehe, du willst zu deinem Eudoxos«, sagte unvermittelt Konon. »Du hast recht. Er ist ein Geist, der dir verwandt ist. Wir sehen uns wieder, wenn du mich brauchst.« Und er winkte mit der Hand und ging zu seinem Arbeitstisch zurück.

Archimedes aber, der die Worte nur halb verstanden hatte, wanderte wie im Traum den Weg zurück, den er mit Beta gekommen war.

Er war so erregt, daß es ihn nicht verwunderte, als er irgendwo im Hof des Wohngebäudes seinen Diener traf, der ihn wortlos in die Kanzlei führte, da man angeblich bereits zu ihm geschickt habe. Man zahlte ihm eine Summe aus, deren Höhe ihn schwindlig machte, und fragte ihn, ob er etwa Vorschuß nehmen wolle. Er schüttelte den Kopf, quittierte, bedankte sich bei dem erstaunten Kanzleischreiber, der vor Unterwürfigkeit nicht wußte, was er darauf erwidern sollte, und eilte davon. Der Diener lief voran, damit der Herr den Weg nicht verfehle.

Als Archimedes in sein Zimmer stürmte, galt sein erster Blick dem Tisch, auf dem bereits die Werke des Eudoxos standen.

»Rück mir den Lehnstuhl zum Fenster«, sagte er vor sich hin, und als der Diener blitzschnell gehorchte, warf er sich in den Sessel und ergriff mit zitternden Fingern die erste Rolle des Eudoxos.

Ja, da war es! Alles war da. Alles, von dem er bisher nur armselige Bruchstücke gekannt hatte. Wie ein weites sattes Land lag es vor ihm. Satz um Satz, Beweis um Beweis. Und unvermittelt schrak er zusammen. Wie, wenn Eudoxos schon alles geleistet hatte, nach dem er selbst strebte? Hatte er so sichere Nachricht, da er nur Auszüge und Bruchstücke bisher kannte?

Seine Augen flogen über die Kolumnen, die zitternden Finger entrollten und spannten den Papyros. Jetzt mußte es kommen. Jetzt und jetzt. Hier war der Weg, den er selbst gehen wollte. Nein. Die Gedanken rissen ab, liefen in andre Richtung. Aber hier wieder. Es mußte jetzt kommen. Die Mathematik war doch ein zwingendes Geleise, das zum bestimmten Ziel führen mußte, wenn man sich in den Beginn des Geleises begeben hatte. Nein, wieder nicht. Trotz herrlichster Anfänge ein andrer Weg. Es lagen Jahrhunderte zwischen Eudoxos und dem heutigen Tag. Von Neuentdeckung erfüllte Jahrhunderte. Und eben diese Neuentdeckungen waren weitere Bausteine, die sich erst mit den Vorläufergedanken des Eudoxos verschwistern mußten, um dorthin zu führen, wo er selbst die Ziele sah. Wozu auch die Kugel gehörte, die glatte Kugel, an der bisher die Gedanken von Jahrtausenden abgeglitten waren.

War er noch ein Gefangener des Museions? Wer störte ihn? Lebte er nicht körperlich im lichten Ideenreiche Platons? In einem Elysion, das schöner war als die begeisterten Schilderungen der Dichter?

Und er raste weiter und er wußte nichts mehr von irgendeiner Wirklichkeit, während eine Rolle nach der anderen, durchdrungen und durchforscht, neben ihm auf den Estrich sank, wo sie aber auch wieder ins Nichts verschwand, da der Diener sie auflas und sie lautlos zurückrollte und einordnete.

Plötzlich begannen sich die Schriftzüge, Zeichnungen und Buchstaben vor seinem Auge zu verwischen. Und eine mehrfach wiederholte Botschaft traf sein Ohr.

Da erwachte er aus seiner Entrücktheit. Kein Wunder, daß seine Augen den Dienst versagten. Es dämmerte bereits. Was aber bedeutete das Gemurmel im Vorraum, das durchaus keine Sinnestäuschung gewesen war, da es unentwegt weiterging. Ohne Zweifel eine fremde Sprache. Eine härtere und schärfere Sprache als das Hellenische. Wahrscheinlich ägyptisch. Ach, sein Diener war ja ein Ägypter. Und er unterhielt sich offenbar mit anderen Leuten des Gesindes.

Das Gemurmel war verstummt. Der Diener stand unvermittelt vor Archimedes und beobachtete, ob er noch in die Weisheit vertieft sei. Als er sich davon überzeugt hatte, daß der Herr nicht mehr las, meldete er leise:

»Herr, ein Brief. Ein Sklave hat ihn abgegeben, ohne daß es mir gelang, herauszubringen, wer der Absender sei.«

Archimedes blickte erstaunt auf den gefalteten und gesiegelten Papyros. Schreibstoff solcher Feinheit und Farbe hatte er noch nie gesehen. Dabei duftete das Schreiben eigentümlich. Wie nach fremdesten Blumen. Hatte er diesen Duft nicht schon gespürt?

»Geh, ich werde dich rufen, wenn ich etwas brauche«, sagte er leise. Als der Diener verschwand, öffnete er den Brief, wobei ihn schon mächtige vordrängende Erinnerungsbilder umgaukelten. Er wußte schon einen Teil des Geheimnisses. Der Duft hatte deutlicher gesprochen, als je Buchstaben sprechen können.

Da stand es außerdem in schönen, energischen griechischen Worten:

»Die Wirklichkeit sendet Archimedes von Syrakus ihren Gruß! Du bist in tiefe Träume verstrickt, mein Freund. Ich weiß es. Trotzdem rufe ich Dich zu mir.

›Rolle, o Kreisel, und zieh ins Haus mir wieder den Jüngling.‹ Diesen Vers sang Dein herrlicher bukolischer Landsmann Theokrit, durch dessen Worte sich die Wälder wieder mit Göttern belebten, die – wie der große Pan – schon tot waren. Lies die Idylle ›Die Zauberin‹, damit Du verstehst, was ich meine. Wenn Du es aber verstanden hast, dann nimm es wieder nicht zu ernst, auf daß Du keine Enttäuschung erlebst. Für mich aber wäre es wunderschön, wenn Du heute bei mir speistest und Dich von tiefem Denken erholtest.

›Rolle, o Kreisel, und zieh ins Haus mir wieder den Jüngling.‹ Den Kreisel treibt mein Sklave, der Dich vor dem Museion auf der Kanopischen Straße erwartet. Auf Wiedersehen, mein Freund!«

Als Archimedes die Zeilen überflogen hatte, wußte er, daß ›die Wirklichkeit‹ ihm seit gestern unablässig nahe gewesen war. Andere Eindrücke, unerhört Neues hatten ihr Bild verdrängt, wie der wehende Wind das Spiegelbild im Wasser zu Farbenstreifen zerwogt, aber die Farbenstreifen waren vor ihm gewesen. Jeden Herzschlag hatte er sie gesehen. Es gab kein Leugnen. Wer aber war diese Wirklichkeit? Was konnte sie wollen? Laune? Zweck? Wirkliche geistige Anteilnahme? In Alexandria interessierte sich ja angeblich sogar der Pöbel für das Museion.

Er rief nach dem Diener.

»Ist die Bibliothek noch geöffnet?« fragte er heiser vor Erregung, die er nicht ganz verstand.

»Sie ist Tag und Nacht zugänglich, o Herr.«

»Verstehst du, ein Buch zu holen?«

»Es wird sofort zur Stelle sein, o Herr. Schreib deinen Wunsch auf dieses Blättchen. Es ist zu diesem Zweck hier.«

Archimedes kritzelte schnell »Idyllen des Theokrit« auf den Papyros. Er kannte die Gedichte des großen Landsmannes nicht. Der Diener war sofort verschwunden, nachdem er den Zettel in Empfang genommen hatte.

Archimedes sprang auf und durchmaß das Zimmer in schnellen Schritten. Auf und ab. Gut, er hatte bisher gelebt wie jeder Jüngling in Hellas. Auch Frauen waren schon oft in sein Erleben eingetreten. Auch Dirnen, auch Knaben. Aber heute war das kein bukolisches Idyll, kein Schäfergetändel. Auch keine Liebe. Es war mehr und weniger. Es war ein beinahe unheimliches Geschehen, so gewöhnlich die Außenseite erschien. Er sollte nicht ernst nehmen, was er las. Das war es eben. In diesem Ausgleiten lag die Überlegenheit der »Wirklichkeit«. Wenn er nun aber doch eine Buhlerin traf, die wußte, daß neu angekommene Gelehrte im Museion sofort das große, für sie fast überflüssige Gehalt einzogen? Da lag die Gefahr. Solche Enttäuschung war tödlich. Warum wagte er jedoch das Abenteuer? Jetzt verstand er erst. Sie warnte ihn ja selbst. Daß er es nicht gleich bemerkt hatte. Er solle es eben nicht ernst nehmen, wenn ihn eine Hetäre rief. Die »Wirklichkeit« war ehrlich. Er durfte nachher nicht klagen.

Der Diener stellte den Bücherbehälter auf den Tisch. Archimedes fand die Schnelligkeit, mit der sein Wunsch in Erfüllung gegangen war, bereits selbstverständlich. Er entrollte das erste Buch. Gut, gleich die zweite Idylle. »Die Zauberin.«

Er las stehend beim Fenster.

»Auf, wo hast du den Trank? Wo, Thestylis, hast du die Lorbeeren?
Komm und wind um den Becher die purpurne Blume des Schlafes;
daß ich den Liebsten beschwöre, den Grausamen, der mich zu Tod quält!«

So begann es. Und er flog die Verse durch, die vom liebeswunden Mädchen in stets steigender Erregung gesprochen wurden, das sich nicht anders zu helfen wußte, als zur Zauberin zu laufen und alle avernischen Mächte zu beschwören. Und wie ein Aufschrei stets wieder der Kehrvers:

»Rolle, o Kreisel, und zieh ins Haus mir wieder den Jüngling.«

Plötzlich aber schweigt der Haß und die Zauberei und ein noch größerer Zauber beginnt zu wirken: die Erinnerung. Wieder der Kehrvers, in dem die anderen Verse eingebettet liegen und durch ihn stets neuen Sinn erhalten:

»Sieh, o Göttin Selene, woher mir die Liebe gekommen.«

Bis sich die Erinnerung an genossenen Liebesrausch wieder bis zu Haßausbrüchen steigert:

»Hat er nicht anderswo Süßes entdeckt und meiner vergessen?
Jetzt mit Liebeszauber beschwör‹ ich ihn; aber wofern er länger mich kränkt – bei den Moiren! – an Hades' Tor soll er klopfen!
Solch ein tödliches Gift ihm bewahr‹ ich hier in dem Kästchen;
Ein assyrischer Gast, o Königin, lehrt‹ es mich mischen.«

Endlich der resignierte Schluß:

»Lebe nun wohl, und hinab zum Okeanos lenke die Rosse,
Himmlische! Meinen Kummer, den werde ich fürder noch tragen.
Schimmernde Göttin, gehabe dich wohl! Fahrt wohl auch ihr anderen
Sterne, so viele der ruhigen Nacht den Wagen begleiten!«

Archimedes warf die Rolle auf den Tisch. Der dionysische Inhalt des Gedichtes, die mehrschichtige Harmonie des Aufbaues mit den Kehrversen hatte ihn übermächtig erschüttert. Zugleich standen die Berge und Wälder seiner Heimat und Alexandria vor ihm. Zugleich die Geometrie und die Wirklichkeit.

»Melde Eratosthenes, daß ich heute abends nicht in den Speisesälen sein werde. Zuvor aber begleite mich hinaus zur Straße. Vielleicht habe ich dir noch Weisungen zu geben.« Und er eilte davon, als ob ihm ein Luftbild entschwinden könnte.

Sein Diener zeigte ihm am Tor den Sklaven, der geduldig vor einer von zwei anderen Sklaven getragenen Sänfte stand.

Die Sklaven neigten sich tief vor Archimedes, als er einstieg. Dann aber begannen sie, die Kanopische Straße entlang zu laufen, die heute zwar auch belebt war, im Verhältnis zu gestern aber in ihrer Breite fast leer wirkte.

Archimedes bemerkte erst jetzt, daß die Dämmerung noch nicht weit fortgeschritten war. Es war ein klarer, nicht allzu heißer Spätnachmittag, an dem sich das Treiben eben erst zu entfalten begann.

Die Sklaven liefen in die Richtung, aus der er gestern zum Museion gekommen war. Sie machten aber vor dem Paneion nicht halt, sondern bogen erst ein gutes Stück westlicher gegen Süden ab. Das Stadtviertel, in das die Querstraße jetzt vordrang, wurde zusehends reicher und vornehmer. Hinter Mauern und Gittern funkelten inmitten feucht duftender Gärten prächtige Landhäuser, die manchmal sogar Palästen glichen. Bis sich endlich vor ihnen wuchtig die südliche Stadtmauer erhob. Hier bogen die Sklaven neuerlich gegen Westen und hasteten auf einem schmalen Pfad zwischen zwei Gärten, der plötzlich nicht weiterführte, da ihn ein hohes Bronzetor abschloß. Sie stellten die Sänfte behutsam auf das Pflaster, und einer von ihnen lief voran und öffnete mit einem mächtigen Schlüssel das Tor.

Nach Durchquerung des Tores wurde das Ziel des Weges jedoch durchaus nicht deutlicher, da dieser Weg in einigen Windungen sich zwischen hohen Gebüschen durchschlängelte.

Unvermittelt bog er nach Süden ab und sie standen am Fuße der riesigen Stadtmauer, auf deren Höhe eine Holzrampe hinaufführte, der man es ansah, daß sie im Notfall sofort entfernt werden konnte.

Archimedes wußte nicht mehr, was man mit ihm vorhatte. Was waren das für seltsame Umwege und Winkel? Wollte man ihn gar in eine Falle locken? Auf der Mauer oder außerhalb der Mauer konnte »die Wirklichkeit« doch nicht wohnen?

Geduldig schleppten ihn die Sklaven die Rampe hinauf, ohne ihren Lauf wesentlich zu verlangsamen. Auf der Höhe der Mauer stellten sie die Sänfte nieder, und der Begleiter, der bisher vorangelaufen war, trat zu Archimedes:

»Die Herrin läßt dich bitten«, sagte er nach tiefer Verbeugung, »du mögest hier ein wenig aussteigen und dir ihren Wohnsitz von oben betrachten.«

Archimedes hatte die Worte kaum verstanden, jedoch kam er unwillkürlich der Aufforderung nach. Als er aber an den südlichen Rand der Stadtmauer getreten war, stockte ihm fast der Atem. Links von ihm lag der mächtige »Sumpfhafen«, der alle Schiffe barg, die vom Nil aus Ägypten, Arabien oder Indien herüberkamen. Oder von noch weiter her. Der Hafen aber war durch eine Mole abgeschlossen, nach deren Einmündung in die Stadtmauer diese senkrecht in den See Mareotis abfiel, so daß die Wellen des Sees ihren Fuß netzten. Unmittelbar nun unter ihrem Standpunkt lagerte sich vor die Stadtmauer, in den See hinein, eine kleine Halbinsel, auf der inmitten herrlicher üppigster Gärten ein Palast stand, dessen Vorderseite ihnen zugekehrt war. Sein Baustil war ein Gemenge ägyptischer, hellenischer und fremdartiger Architektur, und Goldmosaiken und Malereien flirrten an seiner pylonenartig gestalteten Fassade in der tiefstehenden Sonne. Vor dieser Fassade, unmittelbar unter ihnen, aber dehnte sich ein buntgepflasterter Vorhof.

»Der Tempel der Wirklichkeit, soll ich dir sagen, o Herr, wenn du zum erstenmal hinabsiehst, hat mir die große Herrin befohlen«, murmelte der Sklave. »Jetzt aber darf ich dich bitten, wieder die Sänfte zu besteigen. Wir sind sofort am Ziele.«

Tempel der Wirklichkeit? klang es in Archimedes nach, als schon die Sklaven, diesmal auf einer flachen Treppe, die ebenfalls an der Stadtmauer klebte, hinunterstiegen. Tempel der Wirklichkeit? Es gab kaum Unwirklicheres als das Bild, das er von oben gesehen hatte. Der weite, schilfdurchsetzte See, die zahllosen Sumpfvögel, die Schiffe im Hafen und nicht zuletzt die Halbinsel. War alles ein Kult und die »Wirklichkeit« eine Priesterin dieses Heiligtums? Rätsel über Rätsel.

Es wurde aber noch unwahrscheinlicher, als sich vor ihnen die Torflügel des Palastes öffneten und die Sänfte durch eine Einfahrt in eine verschwenderisch prächtige Säulenvorhalle gelangte.

Die Sklaven baten Archimedes auszusteigen und verneigten sich wiederum tief. Plötzlich standen zwei in Goldstoff gekleidete Knaben vor ihm. Auch die Knaben verneigten sich und ersuchten Archimedes, ihnen zu folgen.

Es ging durch die Säulenvorhalle, einige Treppen hinan, hierauf durch zwei verhältnismäßig niedrige Säle ägyptischen Stiles in einen dritten Saal, dessen Wände teils in ägyptischer, teils in hellenischer Art bemalt waren, wie auch Standbilder und Möbel das Antlitz beider Völker trugen.

Von einem Lager aus Edelholz aber erhob sich lächelnd das Mädchen Wirklichkeit und kam ungeziert und natürlich auf Archimedes zu.

»Es freut mich, daß du mir vertrautest«, sagte sie sicher und freundlich. »Du wirst einsehen lernen, daß die Wirklichkeit all das ist, was nun einmal auf der Erde Dasein hat. Die Wirklichkeit schaut man, und man braucht nicht zu fragen, ob sie vorhanden ist. Man kann sie sogar durch Fragen zerstören.« Plötzlich änderte sich ihre Stimme. »Es ist heute ein prächtiger Abend. Du brauchst die Stille, und auch ich brauche sie. Wir werden am Ufer unser kleines Mahl einnehmen.« Sie winkte die Knaben fort und faßte Archimedes an der Hand wie ein kleines Kind.

Archimedes war so benommen, daß er sich kaum Rechenschaft gab, wie sie beide durch Gänge, über Höfe und durch Säulenhallen in einen Zaubergarten hinauskamen. Es war ein lichter Hain unmittelbar am Ufer des Mareotissees, dessen Schilf den Garten begrenzte. Flamingos standen im Schilf, Hunderte und Hunderte anderer Vögel huschten und flatterten umher. Ganz nahe am Ufer aber war ein mosaikbelegter Platz mit hohen Kandelabern herum, in dessen Mitte ein Tisch und zwei Klinen standen. Auf dem Tisch aber waren, mit feinsten Schleiern bedeckt, allerlei Speisen und Getränke vorbereitet.

Jetzt erst blickte Archimedes ›die Wirklichkeit‹ an. Sie war heute weltenweit anders gekleidet als gestern. Irisierende Seide, durchsichtiger Byssos, ein schwerer goldener Juwelengürtel, Juwelenringe um die bloßen Arme und eine Haartracht, die durch einen Goldreifen zusammengehalten war. Nur der Duft fremdartiger Blumen war derselbe. Auch hatte sie heute eine dunklere Gesichtsfarbe und grellrote Lippen. Die Nägel ihrer sprechenden, beweglichen Hände aber waren matt vergoldet.

Als sie sich gesetzt hatten, zog sie die Schleier vom Tisch und knüllte sie achtlos zusammen, bevor sie sie auf den Boden gleiten ließ.

»Weißt du Neues vom pergamenischen Schreibstoff?« fragte sie unvermittelt und brach einen Granatapfel auf.

»Woher weißt du davon?« fragte Archimedes erschrocken zurück.

»Es ist das Geringste, was ich weiß. Aber ich sehe, daß dich Eratosthenes schon eingeweiht hat. Er war unhöflich und hat mich heute ohne Nachricht gelassen.«

»Dazu also?« stieß Archimedes geärgert hervor, da ihn plötzlich Enttäuschung überkroch.

»Nein, durchaus nicht!« lachte sie. »Das hätte ich einfacher haben können. Ich bin aber nun einmal eine alberne Person und liebe das Versteckenspielen. Der Wirklichkeit ist nie etwas genug. Ihr genügen nicht einmal Paläste. Sie will alles haben. Auch Geheimnisse. Auch rollende Kreisel, die Jünglinge herbeizaubern.« Sie biß in die roten Kerne des Granatapfels und warf sie dann den Vögeln hin, die mit gierigen Stelzschritten darauf zuschössen. Plötzlich wurde sie sehr ernst und sah ihn mit einem Blick an, dessen Tiefe und Schönheit er trotz all ihrem Liebreiz noch nicht geahnt hatte. »Ich bin gleichwohl irgendwie mit den Göttern befreundet«, setzte sie fort. »Ich rief dich um sehr, sehr ernster Dinge willen. Und bin dir dankbar, daß du kamst. Viel von dem, was ich dir sagen will, kann ich heute nicht zureichend erklären. Ich muß es dir zeigen. Ich wollte aber heute ein wenig mit dir beisammen sein, um die Fremdheit zu verscheuchen. Hier in meinem Hause. Und ich bitte dich, in vier Tagen dich meiner Führung anzuvertrauen. Es gibt da drüben sonderbare Dinge.« Und sie zeigte mit der Hand in unbeschreiblicher Anmut über den See nach Südosten. Dann blickte sie zu Boden und schloß: »Eratosthenes wird dir sagen, wer ich bin. Frag ihn nach der Wirklichkeit. Aber, bitte, verschmäh jetzt die Speisen nicht, die ich mit großer Sorgfalt für dich bereiten ließ.«

Archimedes schwieg. Ein Wirbel von Gedanken erfaßte ihn. War sie eine Königin? Ihr Haus? Dieser Palast, dieses Reich gehörte ihr? Und die Speisen? Es waren Krebse, Fische und Dinge, die er überhaupt nicht kannte. Alles in goldenen Schüsseln mit ägyptischer Glasur. Dunkler, schwerer Wein, helle Fruchtsäfte und süße Mete.

»Sieh, Archimedes«, sprach sie weiter, »du weißt, daß ich eine Milesierin bin, daß ich in Athen weilte. Das habe ich dir bereits gesagt. Auch die Mathematik ist mir nicht fremd. Ich kenne das Reich der Formen und das Reich der Zahlen. Ein wenig kann ich beurteilen, wer du bist. Ich hörte, daß du aus Syrakus hierherkommen würdest. Ich höre alles. Meine Leute haben am Hafen erfahren, daß du eintrafst. Ein Eilbote hat mich davon verständigt und einige andere haben mir fortlaufend berichtet, wohin du gingst. Unser Zusammentreffen auf der Spitze des Paneions war kein Zufall. Ich suchte dich. Als ich dich aber sah, kam zu meiner Neugierde noch anderes hinzu. Nennen wir es Freundschaft. Kurz, ich will zum Ruhm und zur Größe des Hellenentums so viel beitragen, als ich kann. Und du sollst auch nicht glauben, daß in Alexandrien nur Narren und Buhlerinnen wohnen. Richtiger gesagt, ist es so. Ich will aber nicht, daß dich diese Atmosphäre von dem abzieht, wozu du bestimmt bist. Und da war ich gestern eine Göttin, heute bin ich eine Königin, in einigen Tagen werde ich wieder anderes sein. Stets aber die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist ein Mädchen, Archimedes. Oder eine Frau. Aber auch das darfst du nicht falsch verstehen. Ich habe die Weihen des großen Dionysos, Archimedes. Ich kenne auch die Abgründe des Wirklichen.« Unvermittelt lenkte sie ab: »Sieh, wie die Vögel plötzlich erschrocken auseinanderfahren! Sie erschrecken über das Geräusch ihres eigenen Flügelschlages.«

Archimedes fühlte sich durch ihre Worte stets mehr und mehr gebannt. Er hatte es schon längst aufgegeben, ihr Rätsel zu ergründen. Gab es da überhaupt ein ergründbares Rätsel? Wer sie war, wie sie hieß, ihren Rang, Reichtum, all das würde er von Eratosthenes erfahren. Dadurch auch wahrscheinlich ihre Absichten. Was bedeutete das aber? Wie konnte das die Ruhe, den Auftrieb erklären, den sie ihm gab. Er sah sich genau. Sah sich wie einen schüchtern blöden Epheben vor ihr sitzen, der ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Entschiedenheit nicht einmal ein Wort hervorbrachte. Trotzdem war es keine Lähmung, keine Befangenheit. Er wollte gar nicht sprechen, wollte sich ihr hingeben, sich von »der Wirklichkeit« einhüllen lassen, fühlte stets wieder das letzte Geheimnis der »Urmütter«, das sie ausstrahlte. Sie stand mit dem geheimnisvollen »Ort der Entstehung«, dem Urgrund, sichtbar in Verbindung. Deshalb auch wußte er, warum er nicht sprach. Es war ihre Aufgabe, ihn schweigen zu lassen, ihn zu vereinigen, ihm letzte Ruhe zu schenken. Oder war sie doch nur ein liebendes Mädchen, das in einer vergänglichen Laune sich den Spaß leistete, einen Weisen des Museions zu verwirren? Sie hatte es jetzt schon in der Hand. Das fühlte er an seiner Angst, die sofort in ihm emporstieg, wenn er solche Gedanken auch nur ein wenig erwog.

»Du spielst mit mir«, sagte er plötzlich vor sich hin. »Die Wirklichkeit ist eine große Gefahr für Menschen, denen die Götter einen unabänderlichen Weg vorgeschrieben haben. Vielleicht sollen sie eben deshalb der Wirklichkeit ausweichen.«

Sie schüttelte fast traurig den Kopf.

»Ich spiele nicht mit dir, Archimedes«, antwortete sie weich und gleichwohl fest. »Ich will es eben verhindern, daß du die Wirklichkeit dort begegnest, wo sie dir schadet. Dein Wille auszuweichen ist ein frevelhafter Wille. Er ist die Ansicht dieses gespenstischen Museions, das du erst kennenlernen wirst, bis es dich nicht mehr blendet. Nein, bei mir ist sicherlich nicht von mir, auch nicht von Archimedes die Rede, sondern von Hellas, wenn ich das Wort Platons abwandeln darf. Du ahnst jetzt schon, daß ich fast alles könnte, was ich wollte. Als Göttin, als Königin, als das, was du noch erfahren wirst. Aber ich will Beschränktes, Klares, Großes. Wenn du es Spielerei nennst, dann widerspreche ich nicht. Vor den Göttern ist alle Menschentat irgendwie Spielerei. Ich werde nur das nicht tun, was bei den Menschen mit Recht als Verspieltheit bezeichnet wird. Darf ich dir jetzt von der Stadt der Städte, von diesem Alexandrien, erzählen, wie ich es sehe? Von dieser Stadt, die ich so wenig liebe, daß ich mir das Haus außerhalb der Stadtmauer baute? Ich halte meine Tat nicht einmal für gefährlich. Alexandrien hat keine möglichen äußeren Feinde. Ich bin hier geschützter als innerhalb der Mauer. Denn solche Träume wie Alexandrien verwirren sich nur in sich selbst.« Sie bot ihm Speisen an und schenkte seinen Becher voll.

Dann erzählte sie eigentümliche und ungeahnte Dinge von dieser Stadt, die sie anscheinend bis in die letzten Zuckungen ihres Pulsschlages kannte.

Längst waren die letzten purpurroten und violetten Farben, die auflodernd wie eine riesige Kuppel über dem See Mareotis und über der mächtigen Linie der Stadtmauer, über Schiffen, Schilf und Wasservögeln gestanden waren, einem kalten Perlmuttergrau gewichen. Auch dieses zerfloß in milchiges Nichts und verwehte schließlich, so daß nur Dunkelheit überall lag. Lautlose Sklaven hatten die Kandelaber entzündet. Und die beiden saßen plötzlich in einem kleinen abgegrenzten Lichtkreis, der nach allen Seiten verschattende rote Zungen aussandte.

Durch all diesen Wechsel aber klang weich und eindringlich der schmiegsame ionische Dialekt der Milesierin, doppelt melodisch den Ohren des korinthischen Syrakusers.

Es gibt Stunden, in denen Menschenlaute an unsere Ohren dringen, deren keiner uns ganz bekannt und ganz unbekannt ist. Wiederholte Träume, Rückerinnerung an ferne, ferne Zeiten, die vielleicht vor unsre Geburt reichen. Keiner dieser Laute, kein Gedanke, kein Gefühl aber ist uns innerhalb dieser Offenbarungswelt zuwider.

So erging es Archimedes. Nach kurzer Zeit begann er zu antworten, begann sein Dorisch in ihr Ionisch zu flechten. Und es gab kein Geheimnis, kein Tasten, kein Berechnen da, obgleich alles, von außen gesehen, voll von Rätseln und Unausgesprochensein war.

Harmonisch wie alles andre war der Abschied. Sie wanderten schweigend zurück durch den Garten, leise knirschte der Kies unter ihrem Schreiten, und er wußte es im eigentlichen Sinn des Wortes erst in der beleuchteten Pracht der Säulenhallen, als sie mit leicht gesenktem Kopf und nachlächelndem Mund neben ihm einherging, daß noch im Urraum tiefsten Dunkels vor dem Tore ein kurzer, gleichwohl aber verlöschender und wahnsinnsnaher Kuß auf seinen Lippen gebrannt hatte.

Unheimlich dazu wie das Siegel Salomos, von dem er heute vormittags in der Wandelhalle des Museions gehört hatte.

Sie sprach halblaut, als fürchtete sie sich, die Urgewalt dieses riesigen Geschehens, das für einige zuckende Herzschläge in jedem der beiden und doch wie ein ganzer Kosmos außerhalb von ihnen sich ereignet hatte, zu profanieren oder in das Gegenteil furchtbarer Fremdheit zu verkehren. Sie wies nur ab und zu auf Bilder und Bronzen, um das Urgöttliche durch den Mittler der Kunst leise zum klaren Dasein heruntergleiten zu lassen. Und sie brachte es auch zustande, daß sie beide bereits unabsichtlich und unbefangen miteinander über gleichgültigere Dinge sprachen, als die ersten anderen Menschen, die Diener im Palaste, ihren Weg kreuzten.

Kurz und freundlich erteilte sie Befehle, verabschiedete sich mitten in der Flucht ihrer Säle von Archimedes und überließ ihn der geräuschlosen Obhut der Sklaven, die ihn durch eine flackernde Sternennacht, durch zunehmenden Staub und durch das noch wache, rücksichtslose Leben der Weltstadt ins Museion zurückgeleiteten.

Am Tische des großen Beta wurde der kaum mehr erwartete Gast mit Jubel begrüßt. Man fragte nicht, beachtete nicht, daß Archimedes schwieg. Man diskutierte weiter und prüfte aneinander die Schärfe der Gedanken und Formulierungen. Aus dem gestrigen Kreise waren außer Eratosthenes nur der unvermeidliche Grammatiker Sosibios und der Chirurg anwesend. Die anderen waren Philosophen, Geographen und Historiker, da die Tischgesellschaften sich jeweilig gemäß dem eben diskutierten Thema zusammenfanden.

Archimedes hörte nur Bruchstücke der Unterhaltung und bemerkte zu seinem Schrecken, daß die erste Voraussage der Wirklichkeit bereits in Erfüllung gegangen war: ihn vermochte der Zauber des Museions nicht mehr zu bannen. Im Gegenteil, vieles, was ihn umgab, erschien ihm hart, kalt und erklügelt. Es klang hohl, hatte den Ton, der aufstöhnt, wenn man zerbrochene Tongefäße mit einem Holzstab anschlägt.

Doch war es durchaus kein Abrücken vom Geist, was ihn zu dieser Haltung drängte. Auch nicht der krankheitsnahe Nebel rauschgeborener Verliebtheit, der monomanisch alle Sinne abschließt und nur den einzigen Gedanken, die einzige Erinnerung als bunten Kreisel um die Achse dieser Leidenschaft herumdreht. Im Gegenteil. Wie ein brausender und doch wieder beruhigender Unterton begleitete ihn die Wirklichkeit. Nicht als Einzelwesen, sondern als Kraft. Oberhalb dieser Begleitung aber zeichnete sich stets klarer sein eigenstes Reich mit neuen, noch nie geschauten Wundergestalten, Zielen und Verwirklichungsmöglichkeiten ab.

Sie waren schon längere Zeit beisammengesessen, Archimedes hatte auch ab und zu getrunken, als er bemerkte, wie das Auge des Arztes Herophilos forschend auf ihm ruhte und sich seine weißen Zähne zusammenpreßten.

Archimedes hatte das feste Gefühl, der Anatom wisse um seine Seele Bescheid, zergliedere sie säuberlich mit dem Messer der Gedanken. Wozu Verlegenheit oder Umschweife? Man mußte dem Wähnen trotzen, dadurch, daß man es zum Wissen erweiterte; weil manchmal Wahrheit verwirrender ist als Andeutung oder gar Ableugnung.

Er sagte also, als eine Gesprächspause eintrat:

»Ich soll dir Vorwürfe machen, Eratosthenes, daß du einer Frau, die ich unter dem sonderbaren Namen der Wirklichkeit kennenlernte, heute noch nichts über die pergamenischen Blätter mitteiltest.«

Die Wirkung dieser knappen Worte war eine unerwartete. Alle kehrten sich ihm zu und die Augen des Herophilos weiteten sich beinahe hassend.

»Ich danke dir für die Botschaft«, antwortete Eratosthenes. »Ich werde das Versäumte nachholen. Besser, ich muß es. Denn der Wille und die Laune dieser Frau war in Alexandrien noch stets ein Befehl. Ich wundere mich bloß, woher du sie kennst, da sie meines Wissens noch niemals in Syrakus war.«

»Ich lernte sie auf dem Paneion kennen, kurz nachdem ich hier landete. Sie führte mich durch das Fest hierher«, sagte Archimedes kühl, da ihn die Angriffslust der Blicke ärgerte und er unwillkürlich sein Erleben nicht trüben lassen wollte.

»Ja, wir unterschätzen sie noch«, krähte Sosibios auf. »Jetzt fängt sie uns schon die Philosophen vor der Ankunft ab, um sie gegen das Museion aufzuwiegeln. Übrigens eine lächerliche Posse, sich stets die Wirklichkeit zu nennen. Sie heißt einfach Aletheia, da sie verrückte Eltern hatte, die wahrscheinlich unter Aletheia etwas anderes verstanden als wir, wenn sie zur Täuschung den Artikel vorsetzt. Jeder würde sonst bloß Aletheia hören und sich am Klang freuen. Bei Xanthippe denkt man auch nicht an braune Pferde und bei Artemidoros nicht an das Geschenk der Artemis. Durch den Artikel aber zwingt sie uns den Begriff ihres Namens auf. Dazu tut sie dann noch recht geheimnisvoll, so daß schon manche Neulinge auf Grund ihres Gehabens und ihrer stets wechselnden Kostümierung gemeint haben, es wandelten noch selige Götter oder zumindest Charitinnen durch den Staub der Kanopischen Straße. Gut, sie ist nicht gerade ungebildet und hat in Athen Philosophie studiert. Aber das ist ihr zu wenig. Sie will womöglich mehr sein als die Hetäre Diotima in Platons Gastmahl. Sie ist so weise und so launenhaft, daß sie schon manch einem von uns die Lust an der Arbeit gründlich genommen hat.«

Sosibios dämmte seinen Redefluß ein, da ihm der Arzt die Hand beschwörend entgegenhielt.

»Ich bin zwar durchaus nicht ihr Freund, Archimedes«, sagte er gewichtig, »durchaus nicht. Ich will aber trotzdem die Schmähungen des Sosibios, die wahrscheinlich aus gekränkter Liebe ……«

»Ich liebe sie nicht einmal für Bezahlung«, fuhr Sosibios dazwischen.

»Jetzt, nach der Gehaltsregelung«, lachte Herophilos. »Vorher hättest du dich vielleicht erweichen lassen.«

Sosibios meckerte hämisch auf, doch schnitt er sofort mit wilder Abwehrgeste eine beleidigte Grimasse.

»Lassen wir Herophilos auch einige Worte sprechen«, sagte Eratosthenes ruhig, aber in deutlichem Befehlston.

Sosibios jappte noch einmal auf. Er machte eine wegwerfende Handbewegung und goß ungemischten Samier in seinen Becher.

Herophilos aber setzte fort:

»Sie ist irgendwie unsre Todfeindin, Archimedes. Aus dem Gefühl heraus, daß die Wirklichkeit nur im Weiberdienst besteht oder in allen materiellen Beschäftigungen. Uns hält sie für Gespenster. Das hat sie dir sicher schon gesagt. Du kennst aber noch nicht die Grundlage ihrer Macht, die es uns überhaupt erst wichtig macht, was sie über Dinge denkt, die sie im Grunde nichts angehen. Sie kam vor einigen Jahren hierher, heiratete einen der reichsten Kaufleute Alexandriens, der sie wie toll liebte, und bewog ihn, ihr alle Wünsche zu erfüllen. Der Palast vor der Mauer ist eine dieser Launen. Nun starb der Gatte an einem Leberleiden. Er war, nebenbei bemerkt, nicht der Jüngste gewesen. Und es geschah das weitere Wunder, daß die Milesierin auf Grund der Fähigkeiten Milets sich im Handel noch tüchtiger erwies als der tote Gatte. Kurz, sie ist die reichste Frau Alexandriens. Reihen von Häusern, riesige Ländereien im Delta, der ganze Papyroshandel liegen in ihrer Hand. Sie besitzt Schiffe, Wagen, Herden, Bergwerke. Ihr Einfluß reicht bis Arabien und Indien. Und sie verwaltet einen Teil der Vermögenschaften, aus denen unser Museion erhalten wird. Und liefert uns den Papyros. Daß sie beim König aus und ein geht wie eine Prinzessin, ist klar. Vollkommen unklar aber ist es, daß man ihr keine Laster nachsagen kann. Sie ist wohltätig und freundlich und scheint bloß von einer einzigen Idee besessen, die echt weiblich ist. Sie will gleichzeitig das Museion fördern und es zerstören. Wir sind ihr zu wenig ›wirklich‹. Mit Ausnahme der Ärzte. Die sind ihr wieder zu wirklich. Habe ich die Wahrheit über die Wirklichkeit gesprochen, großer Beta?«

In deiner Art, Herophilos«, lächelte Eratosthenes. »Die Tatsachen sind richtig. Nur bleiben sie zum Teil noch hinter der Wirklichkeit zurück. Man behauptet ja sogar, daß sie eine geheime Privatarmee unterhält, um Entwicklungen in Alexandrien zu unterdrücken, die ihr nicht passen. Trotzdem verschmäht sie jeden persönlichen Schutz. Das ist es auch, was ihr Philadelphos hoch anrechnet. Er hat Angst um sie, nicht Angst vor ihr. Leider hat sie uns schon durch ihre Ansichten einige zukunftsreiche Köpfe von hier vertrieben. Sei dessen eingedenk, Archimedes! Das ist alles, was ich dich im Namen des Museions bitte. Es soll deine Freiheit nicht antasten. Am Eros aber stirbt ein Hellene nicht. In welcher Form er auch an ihn herantritt. Es lebe die neueste Bundesgenossenschaft Archimedes-Aletheia, Wissenschaft und Wirklichkeit! Gut, daß der kleine Apollonios nicht anwesend ist! Der liebt den Einbruch der Wirklichkeit in die Wissenschaft nicht. Noch einmal, die Götter mögen diese sonderbare Freundschaft segnen!«

Der Zutrunk des Eratosthenes war an alle Tischgenossen eine zwar sanfte, aber eindringliche Mahnung, den Hauptgrundsatz des Museions, den höchster Freiheit, zu achten. Auch auf die Gefahr hin, daß sich diese Freiheit gegen das Museion selbst kehrte.

So wurden die Becher erhoben und bald wendete sich das Gespräch wieder der Weisheit und dem Allgemeinen zu, und Archimedes nahm, zuerst noch ein wenig nachdenklich und zerstreut, daran einigen Anteil.

Es wäre falsch zu glauben, daß er sich etwa in diesem hochgeistigen Kreise heute unwohl gefühlt hätte. Er konnte dies nicht, da jeder Augenblick neue Gesichtspunkte entschleierte. Trotzdem war der heutige Abend bloß ein schwacher Abglanz des gestrigen. Hatte sich doch inzwischen die Welt der »Wirklichkeit« vor dem »Traum« des Museions geschoben, der zudem heute Sowohl inhaltlich als durch die Wiederholung und das Fehlen des Neuheitsprickels ungleich blasser wirken mußte.

Archimedes erhob sich auch noch mitten im Gelage der anderen und betrat mit einer gewissen Stille im Herzen seine Gemächer, in denen ihn der Diener freudig und mit sichtbarer Neugier empfing. Da Archimedes den Namen heute noch einmal nennen wollte, gab er dem Diener kurz Bescheid, woher der Bote gekommen sei, was dem Ägypter maßloses Staunen abzwang.

Im großen Zimmer fiel der Blick des Archimedes auf die Pergamenttafeln. Er merkte sofort, wie alles, was er tat, mit der »Wirklichkeit« verbunden war.

»Du wirst eines dieser Blätter mit einem Brief, den ich heute noch schreibe, der erhabenen Aletheia überbringen. Morgen früh. Weißt du den Palast?«

»Wer sollte ihn nicht kennen?« erwiderte der Diener leise.

Träume merkwürdiger Färbung durchdrangen den Schlaf des Archimedes, die ihn erschreckten und entzückten. Ein Wirrsal aus Reise, Heimat, Geometrie, Märchen und dem Abend am See Mareotis.

Als sein Geist sich aber langsam aus dem Schlafe löste, da begann er die Träume in die Ordnung des Wachseins zu übersetzen. Die Nacht hatte einen großen Gewissenszweifel endgültig entschieden und einen klaren Plan geboren.

Der Diener meldete, er habe den Brief bereits bestellt und als Gegengabe einen Strauß fremdartiger Blumen für den Herrn erhalten. Die Herrin aber lasse sagen, daß sie sein Versprechen nicht vergessen habe, ihr in einigen Tagen wieder Gesellschaft zu leisten. Sie freue sich, daß er ihr dann auch schon von neuen Entdeckungen erzählen werde.

Das also war der Sinn der viertägigen Pause? Seine Seele schäumte fast über in Dank zu der Befruchterin. Woher wußte sie so genau, was in ihm vorging? Sie sollte nicht enttäuscht sein. Sie führte ihn traumsicher zu sich selbst, um dann dieses erhöhte Selbst lächelnd in Empfang zu nehmen und neue Wege zu ersinnen, es zu stärken und zu befeuern. Und es war trotz solcher jubelnder Freude nur natürlich, daß sich gleichzeitig die Angst meldete, das Wunder zu verlieren. Das war aber wieder nicht wesentlich: denn, wenn er sich ganz besitzen ließ, verlor er gerade das, um was er am meisten bangte. Sie wollte den eigentlichsten Archimedes und nicht einen Hellenen aus Syrakus, einen durch Schönere, Stärkere und Liebenswertere vertretbaren Mann.

Er ließ die dunkel gefleckten, betäubend duftenden Orchideen in eine Vase stellen, verlangte, daß ihm das Frühmahl ins Zimmer gebracht werde und fragte den Diener, ob er ihm eine Waage beschaffen könne. Jedoch eine möglichst feine und empfindliche. Der Diener nickte und entschwand.

Archimedes aber riß sich endgültig von den Blumen und von den durch sie erweckten Gefühlen los. Und setzte sich in einer eigentümlich fiebrigen und aufgelockerten Stimmung zum Arbeitstisch. Sein Plan war gefaßt. Er wollte gewissen Geheimnissen durch Versuche an den Leib rücken.

Die folgenden Stunden sahen ihn in scheinbar konfuser Geschäftigkeit. Er zeichnete, zirkelte, maß, trank dazwischen Milch, schritt im Zimmer auf und nieder, veranlaßte den Diener zu mancherlei Gängen und Arbeiten, worauf er wieder lange Berechnungen auf Blätter kritzelte.

Schließlich hatte er alles beisammen, was er brauchte. Er zeichnete auf das Pergament und schnitt daraus höchst sorgfältig Figuren. Zuerst überzeugte er sich durch Abwägen zweier kongruenter, aus dem Pergament geschnittener Figuren, daß es überall die gleiche Dicke hatte. Dann ging er weiter und untersuchte eine Säule aus kreisrunden Pergamentblättchen, die er mit einer gleich dicken Säule aus Holz verglich. Dann wieder kamen Figuren an die Reihe, die er irgendwo auf einer Nadelspitze schweben ließ, um den Schwerpunkt zu finden. Schließlich wurden verschiedene Parabelsegmente vorgenommen und mittels der Waage mit umbeschriebnen Rechtecken und Parallelogrammen ins Verhältnis gesetzt, wobei ihn schon ein Schauer überrieselte, da er trotz zahlreicher Wiederholungen stets wieder sehr abgerundete Quadraturergebnisse fand, die mit den hartnäckig irrationalen Ergebnissen der Kreisquadratur an Einfachheit nicht zu vergleichen waren.

Plötzlich, mitten in allen Arbeiten, durchzuckte ihn ein Gedanke. Ein scheinbar wahnsinniger Gedanke. Die Kugel war doch nichts anderes als ein Kegel, dessen Öffnungswinkel ein voller Kreis war? Wenn er also einmal die Größe der Kugeloberfläche entdeckte, konnte er auf dem Umweg über die bereits bekannten Kegelformeln den Inhalt der Kugel bestimmen, oder umgekehrt, aus dem Rauminhalt der Kugel ihre Oberfläche.

»Du mußt mir sofort einige Kugeln aus Holz oder aus Marmor verschaffen. Meinethalben aus Glas«, sagte er hastig zum Diener. »Aber schöne, glatte, durchwegs kreisrunde Kugeln. Ist das möglich?«

»Gewiß«, erwiderte der Diener. »Es gibt hier einen Drechsler, der dreht sie mit einem Messer, dessen Schneide ein hohler Halbkreis ist. Wieviel dürfen die Kugeln kosten und wie groß sollen sie sein?«

»Da er nicht so schnell neue Drehmesser erzeugen kann, soll er sie machen, so groß er will. Der Preis ist mir einerlei. Ich brauche keine Goldkugeln und keine Edelsteinkugeln.«

»Ich verstehe«, sagte der Diener, der mit wahrem Feuereifer jeden Handgriff des Archimedes verfolgte und zu verstehen suchte. »Ich werde sie besorgen, so rasch es angeht.« Und er huschte hinaus, nachdem ihm Archimedes eine reichliche Geldsumme eingehändigt hatte.

Archimedes rief ihn noch einmal zurück. In der Zeit weniger Herzschläge war ein neuer Gedanke, besser, das unlösbare Gemenge einer Idee, eines Bildes und einer traumschnellen Überlegung in ihm emporgezuckt, dessen Tragweite er noch durchaus nicht voll überblickte.

»Die eine der Kugeln soll aus zwei Halbkugeln bestehen«, sagte er zum Diener. »Verstehst du? Sie soll in zwei Halbkugeln zerschnitten sein. Aus demselben Material aber laß mir, so hoch wie diese Halbkugeln einzeln sind, einen Kegel und einen Zylinder drechseln. Der Grundkreis der Halbkugel aber soll der gleiche sein wie der des Kegels und des Zylinders. Ich gebe dir eine Zeichnung, damit kein Mißverständnis entsteht.« Und er nahm ein Stück Papyros und skizzierte, was er eben gefordert hatte. »Und jetzt geh und bring mir alles, so schnell du kannst.«

Archimedes saß, ohne sich weiter um den Diener zu kümmern, bereits beim Arbeitstisch. Die Überlegungen folgten einander so rasend, so überstürzend, daß er sie mit dem Aufgebot aller Kräfte kaum zu klaren Folgen und Schlüssen ordnen konnte.

Ich rücke, sprach es in ihm, der ungreifbaren Glätte der Kugel näher, sie wird plötzlich anders, wenn ich sie anders denke. Sie ist vollständig im Banne des Kreises, die Kugel. Nur im Banne des Kreises. Eudoxos und noch frühere haben die Gesetze des hellenischen Denkens und Schauens in ähnlich frevelhafter Art überschritten, wie ich es jetzt eben tue. Ich zerschneide die Kugel in zwei Halbkugeln. Eine davon betrachte ich weiter: zuerst hat sie einen Grundkreis, den Äquator, der ein größter Kreis der Kugel ist. Nehmen wir an, dieser Kreis sei eine unsäglich dünne Scheibe aus Papyros oder pergamenischem Schreibstoff. Wie sieht der nächsthöhere Schnitt aus? Er muß kleiner sein, ist aber wieder eine Kreisscheibe. Ebenso der nächste, der vierte, fünfte, sechste, siebente, hundertste, tausendste. Kreisscheiben, nichts als Kreisscheiben, deren jede kleiner ist als die vorhergegangene. Schließlich aber werden die Kreise so klein, daß sie ins Unsichtbare verschwinden, und am Schluß gibt es einen Kreis, der ein Punkt ist. Also ein Nichts. Das ist der Pol. Da aber die halbe Kugel, also auch die ganze Kugel, aus lauter Kreisscheiben besteht, muß der Rauminhalt der Kugel mit dem Flächeninhalt des Kreises zusammenhängen. Denn selbst wenn ich alle die zusammensetzenden Kreisscheiben als unsäglich niedere Zylinder betrachte, kommt ja nur noch der linienhafte Faktor der Höhe hinzu. Alle Höhen dieser Scheiben zusammen sind aber nichts als der Halbmesser der Kugel für die Halbkugel und der Durchmesser für die ganze Kugel. Nun kann man sich Zylinder und Kegel ebenso aus Kreisscheiben aufgebaut denken. Beim Zylinder sind es lauter gleich große Scheiben, beim Kegel stets kleiner werdende, die bei der Kegelspitze ebenfalls zum Punkt einschrumpfen. Aber das Gesetz des Kleinerwerdens ist beim Kegel ein anderes als bei der Kugel. Beim Kegel werden die Scheiben gleichmäßig, bei der Kugel zunehmend kleiner. Gleich wie es Reihen von Bruchzahlen gibt, die gleichförmig, und solche, die zunehmend sich in den einzelnen Gliedern verkleinern.

Nun weiß ich aber, wie groß der Rauminhalt des Kegels und der des Zylinders ist. Gesucht bleibt der Kugel- oder der Halbkugelinhalt. Ich kann jedoch die drei Körper sehr gut vergleichen, wenn sie alle die gleiche Basisfläche und die gleiche Höhe haben. Der Zylinder ist dann größer, der Kegel bestimmt kleiner als die Halbkugel. Schneide ich die drei Körper senkrecht in der Achse, dann wird aus der Halbkugel ein Halbkreis, aus dem Zylinder ein diesem Halbkreis umgeschriebenes Rechteck, dessen Grundlinie der Kugeldurchmesser und dessen Höhe der Halbmesser ist. Der Kegelschnitt aber wird ein dem Halbkreis eingeschriebenes gleichschenkeliges Dreieck mit dem Durchmesser als Basis und dem Halbmesser als Höhe.

Lassen wir diesen senkrechten Schnitt. Ich weiß, daß er mir dereinst unabsehbare Dienste leisten wird. Jetzt aber verwirrt er nur alles. Bleiben wir bei den Kreisscheiben. Wenn sich also alle drei Körper aus Kreisscheiben zusammensetzen, dann steckt in allen drei Körpern Schicht für Schicht der Kreis. Und nichts als der Kreis. Es gibt ja keinen anderen zusammensetzenden Bestandteil als den Kreis. Daher muß im ganzen Körper die Eigenschaft des Kreises enthalten sein, und zwar in allen Grundflächen der als unsäglich niedere Zylinder gedachten Kreisscheiben. Da alle drei Körper die gleiche Höhe haben, die die Summe aller Scheibenhöhen ist, fällt sie bei einem Vergleich der drei Körper heraus. Aber es fällt auch die Kreiseigenschaft heraus. Übrig bleibt dann lediglich eine Vergleichszahl, die ich mit der Waage als Gewicht feststellen kann, wenn alle drei Körper aus dem gleichen Stoff bestehen. Dann aber kann ich sofort wieder aus dieser Verhältniszahl und der mir ja schon bekannten Inhaltsformel des Kegels oder des Zylinders die Kugelinhaltsformel gewinnen, wobei ich für die Höhe schließlich den Halbmesser einsetze, die sich mit dem Halbmesserquadrat der Grundfläche zu einem Kubus gestalten muß. Die Formel für den Kugelrauminhalt lautet also Kubus des Kugelhalbmessers mal der Kreiseigenschaft mal irgendeiner Verhältniszahl zum Zylinder oder zum Kegel. Zylinder und Kegel stehen ja untereinander wieder im Raumverhältnis eins zu drei, wenn sie die gleiche Höhe haben und auf demselben Basiskreis ruhen.

Es bleibt also eigentlich nur mehr die Aufgabe übrig, die Kreiseigenschaft möglichst genau zu berechnen, damit ich in die Lage komme, auch wirkliche Inhaltsberechnungen durchzuführen.

Für die Kugeloberfläche aber habe ich schon früher den Weg gefunden. Sie ist die gedachte Grundfläche eines Kegels, dessen Höhe der Halbmesser ist. Eigentlich ist die Kugel eine Unzahl winziger Kegel, die ihre Grundflächen in der Kugelfläche und den Scheitel im Kugelmittelpunkt haben. Sie schließen aneinander wie unzählbar viele Tüten oder Wespenwaben. Nun weiß ich schon vieles. Fast alles. Denn die Kugeloberfläche mal dem Halbmesser, der ja die Höhe aller Kleinkegel bildet, mal einem Drittel, das ja aus der Kegelformel bekannt ist, muß gleich sein dem Kubus des Halbmessers mal der Kreiseigenschaft mal der durch die Waage festzustellenden Verhältniszahl zum Kegel, der die Basis des Größtkreises und die Höhe des Halbmessers hat. Daraus aber folgt zwingend, daß die Kugeloberfläche irgendein Vielfaches dieses Größtkreises sein muß.

Ich werde jetzt die Kreiseigenschaft, die unzugängliche Zahl der Zahlen, jenes irrationale Gespenst, aufsuchen oder mich an seine Ungreifbarkeit nach der Methode des Eudoxos heranpürschen. Dann habe ich die Kugel ebenso überwunden, wie wir bisher schon den Kreis überwanden oder wenigstens ahnend erforschten. Die Kreiszahl gibt erst allen Formeln des Kegels, des Zylinders und der Kugel die Wirklichkeit.

Archimedes sank mit dem Kopf vor Erschöpfung schweißüberströmt auf die Blätter, die bereits mit zahllosen Zeichnungen und Formeln bedeckt waren. Seine Schläfen hämmerten, sein Puls jagte. Und das Wort Wirklichkeit, das seine Gedankenflucht abgeschlossen hatte, traf ihn als zweite, überschwemmende Gefühlswoge.

War es noch Vormittag oder schon Nachmittag? Er wußte es nicht. Wußte nur, daß er so schwach, so ausgehöhlt, so zerwühlt von Geistes- und Gefühlskatarakten war, daß er die Wirklichkeit herbeisehnte, die ihn in die Katarakte geworfen hatte. Sie würde seine Sehnsucht stillen, um sie ins Ungemessene zu steigern. Windstille und Sturm. Wo ist das helle, blaue, weißgesprenkelte Wellengekräusel in Mittagssonnenglut? Wo ist die Erfüllungslust des Aristippos?

Er wußte nicht, wie lange sein Kopf auf schmerzenden Armen ruhte, er fühlte nur, wie kitzelnde Schweißperlen über sein Gesicht liefen, die er zu willenlos war fortzuwischen. Und er erwachte erst, als er das unverkennbar melodische Klappern harten, trockenen Holzes hörte.

Da sprang er auf, und alle Müdigkeit war plötzlich verweht. Denn es nahte die Entscheidung.

Er sah, wie der Diener die frisch gedrehten Holzmodelle auf den zweiten Tisch legte. Und er fürchtete nur noch, der Ägypter könne etwas vergessen haben. Nein, er hatte nichts vergessen. Die Kugel war da, die sich in zwei Halbkugeln spalten ließ, der Zylinder, der eher einem plumpen Klotz glich, und der Kegel war da. Und noch andere Kugeln verschiedener Größe.

»Du wirst mir jetzt helfen«, sagte Archimedes heiser vor Erregung und nahm die Waage, während er die Gewichte der Größe nach auf den Tisch reihte. »Leg zuerst einmal den Kegel auf die Waage.« Während er noch sprach, lief er mit der Waage in der Hand wieder zurück zum Arbeitstisch und holte sich Papyrosblätter und Schreibstifte.

Der Ägypter lächelte vor Neugierde. So fein allerdings, daß man es kaum bemerkte. Ungeheuer behutsam stellte er den Holzkegel auf die eine Waagschale und richtete ihn sorgfältig aus.

»Diese erste Zahl ist eine Zahl, sonst nichts«, murmelte Archimedes vor sich hin. »Man kann sicherlich aus ihr die Kreiszahl gewinnen, wenn man sie dreifach nimmt und durch den Kubus des Halbmessers teilt. Allerdings ist dabei noch die Schwere des Holzes zu berücksichtigen.« Dabei legte er die Gewichte auf die andre Waagschale und vertauschte dann zur Vorsicht Kegel und Gewichte. Die Waage war äußerst genau. Ein merkbarer Unterschied der beiden Wägungen war nicht festzustellen.

Er hatte bei dieser Feinarbeit fast wieder das Ziel vergessen und schrieb die gefundene Gewichtsgröße auf den Papyros. Um so stärker begann sein Herz zu pochen, als er sich bewußt ward, daß durch die zweite Wägung das Problem schon in aller Größe aufgerollt war.

»Nun die Halbkugel. Oder, besser, wir prüfen zuerst, ob sie beide gleich schwer sind. Der Drechsler kann unregelmäßig gearbeitet haben oder das Holz kann ungleichmäßig schwer sein.«

Der Ägypter machte alle Handreichungen geduldig, geschickt und zart. Man sah sofort, daß der Drechsler richtig gearbeitet hatte und daß das Holz durchwegs gleichgewichtig war.

Nach einigen Proben notierte Archimedes den gefundenen Versuchswert und sah nicht auf den ersten des Kegels. Er nahm vielmehr in der gleichen Art den Zylinder vor.

Als auch dieses Gewicht bestimmt war, schickte er den Diener hinaus. Er wollte allein sein mit seiner Entdeckung oder mit seiner Enttäuschung.

Als er sich zum Arbeitstisch gesetzt hatte, begann die unfehlbare Rechen- und Denkmaschine in seinem Inneren sofort zu arbeiten. Es muß, sagte diese Maschine, zuerst das Gewicht des Kegels durch drei geteilt werden. Wenn ich dann das Kugelgewicht durch diese so gefundene Größe dividiere, erhalte ich den Zähler eines Bruches, dessen Nenner ebenfalls drei ist. Dieser Bruch aber ist die von mir gesuchte Vervielfältigungszahl, mit der ich den Kubus des Halbmessers der Kugel und dazu die Kreiszahl vervielfachen muß, um die Inhaltsformel der Halbkugel zu besitzen. Noch einmal verdoppelt ergibt das die Kugelinhaltsformel.

Er sah auf das Blatt und seine Knie zitterten. War es möglich? Eine einfache, klare, rationale Lösung? Die gesuchte Zahl war zwei. Und sofort weiter die Zahl für den Zylinder drei. Es verhielt sich also Kegel, Halbkugel und Zylinder unter den von ihm geforderten Voraussetzungen wie eins zu zwei zu drei. Und die Kugelformel lautete vier Drittel mal der Kreiszahl mal dem Kubus des Halbmessers.

Er hatte als erster auf dieser Erde den Inhalt der bisher unzugänglichen Kugel entdeckt. Wenn der Versuch nicht trog. Doch es gab sofort eine weitere Prüfungsmöglichkeit.

Die folgenden Stunden waren ausgefüllt von angespanntestem Ringen und toller Angst, ob nicht doch alles am Ende nur Täuschung sei. Es war zu einfach, zu harmonisch, zu von Gott geschaffen, was sich zeigte. Er maß auf verschiedenste Arten die anderen Holzkugeln, rechnete nach der neuen Formel am Inhalt, wobei er das Gewicht der ersten Kugel mit den Gewichten der anderen Kugeln verglich. Da er die Kreiszahl nicht genau kannte, arbeitete er mit Proportionen.

Alles stimmte, kein Widerspruch zeigte sich. Und es löste sich ebenso alles vor seinen Blicken zu seltsamster Beziehung, als er die Kugeloberfläche mit dem Maß von vier Kugelgrößtkreisen fand. Diese Tatsache erschütterte ihn am meisten. War sie nicht ein Wunder? Hatte wirklich ein Kugelviertel die Oberfläche eines Größtkreises? Woher kam diese rätseldurchsetzte Launenhaftigkeit der krummen Linien und Flächen, daß sie einmal in hoffnungslose Irrationalität lockten, das andere Mal wieder geradezu unwahrscheinlich einfache Proportionen lieferten? Warum war das Parabelsegment rational quadrierbar, das Kreissegment als die regelmäßigere Figur dagegen nicht?

Der Diener brachte, ohne zu fragen, ein Abendbrot. Archimedes sah es plötzlich, aß ein wenig Obst und arbeitete weiter. Er bemerkte nicht einmal, daß bereits die Lampen brannten.

Was nützte ihm alles? Er hatte sich bisher ja bloß in das Geheimnis hineingeschwindelt. Was fehlte, war das Wesentliche, ohne das er weder den Hellenen noch der Nachwelt unter die Augen treten konnte. Es fehlte der strenge geometrische Beweis der Kugelformeln und es fehlte die Kenntnis der Kreiszahl. Was würde der kleine Apollonios sagen, wenn er wüßte, daß der große Archimedes mit der Waage Mathematik trieb? Würde er lachen oder gar bloß vor ihm ausspeien?

Nein, Apollonios, so einfach ist das alles nicht, wie du denkst! Es handelt sich da wieder einmal um den letzten Sinn der Wirklichkeit. Und Archimedes hat etwas gefunden, ein herakleitisches, ein dionysisches, ein Mysteriengeheimnis, das vielleicht nur Eingeweihte verstehen: Alles fließt ineinander. So heißt das Geheimnis. Aus dem pergamenischen Blatt, das vor mir liegt, kann ich mit einem Schabmesser eine stets dünnere Fläche machen. Dünner und dünner, bis sie schließlich nicht mehr vorhanden ist. Aber den Begriff, die Idee der Fläche und ihrer Beziehungen, ja sogar die Gesamtheit ihrer Schwerpunktseigenschaften kann ich mit dem Schabmesser nicht tilgen. Die Form bleibt, und es bleibt der Schwerpunkt auch dann richtig und deutlich, wenn die Fläche die Schwere verloren hat. Das aber ist das Wunder. Und man kann sagen, daß es zwei Wirklichkeiten gibt, die einander überfließen. Die Wirklichkeit der Form und die Wirklichkeit des Greifbaren. Hier aber beginnt die neue Wissenschaft, die weder Mathematik noch reines Probieren ist. Es ist die Statik, die Wissenschaft vom Gleichgewicht, die ich auch in paradoxester Art am Gewichtslosen erforschen kann. Ja, ich erzwinge mir sogar meinen Eintritt in dieses Wissensgebiet aus der schwerelosen Zone der Ideen, Beziehungen und Formverschwisterungen.

Die Erregung des Archimedes wuchs von Stunde zu Stunde. Eine neue Welt türmte sich über die andere, ein Problem gebar zehn neue. Bis sein Blick wieder auf die Kugel fiel.

Zurück, ihr Korybantenzüge der Erstgedanken! Zurück, ihr ungeborenen Reiche neuen Weltwissens! Türme kann man nicht von den Spitzen nach unten bauen. Auch der Pharos wurde Stein auf Stein hinaufgetürmt, bis erst am Schluß die helle, rettende, weisende Flamme auf seinem Kulm aufleuchtete.

Ich habe heute die Kreiszahl zu finden. Ich will sie heute noch finden, zumindest muß ich heute den Weg wissen. Die Wirklichkeit verlangt die Kreiszahl und nicht die bloße Feststellung einer Proportion durch die Waage. Die Wirklichkeit begnügt sich nicht mit sich selbst. Sie verlangt, daß wir aus dem Immateriellen das Materielle erzeugen können.

Am vierten Tage war Archimedes im Besitz aller Geheimnisse. Fast ohne Speise und Schlaf, in Fiebern und in übermenschlicher Rechenarbeit hatte er mit Hilfe des einbeschriebenen und des umbeschriebenen Sechsundneunzigecks die Kreiszahl als einen Zahlenwert bestimmt, der zwischen 3 10/71 und 3 10/70 lag, und der sich bei allen Proben als hinreichend genau erwies, sämtliche Kreis- und Kugelaufgaben zu behandeln, ohne daß ein merkbarer Fehler entstand. Aber es war ihm noch mehr gelungen, viel mehr. In unsagbar harmonischer und klarer Art hatte er den Beweis für das Verhältnis von Kegel, Halbkugel und Zylinder, die auf derselben Grundfläche standen und dieselbe Höhe hatten, geleistet, ein Beweis, der so durchsichtig war, daß für alle Zukunft jeder Schüler ihn überprüfen konnte.

Die letzten Aufzeichnungen hatte er am Vormittag des vierten Tages vollendet. Dann badete er mit freudiger, aber leerer Seele und warf sich auf sein Lager, wo ihn sofort ein Schlaf überfiel, dessen Beginn ihn in einen tiefen Abgrund der Betäubung schleuderte, aus dem ihn der Diener auch am Frühnachmittag kaum erwecken konnte.

Archimedes fand sich nicht sehr schnell zurecht. Wo war er? Was war geschehen? Welche Zeit des Tages hatte er verschlafen?

»Die Herrin hat dir die Sänfte geschickt«, murmelte der Diener einige Male, bis Archimedes verstand.

Dann aber wurde ihm zugleich alles klar und er schrie, ohne daß er es wußte, auf:

»Sie hat mir nicht die Sänfte, sie hat mir den Inhalt der Kugel und die Kreiszahl gesandt! Zuviel ist das. Dafür soll sie mich nicht noch belohnen.«

Der Ägypter senkte den Kopf. Er war entsetzt, obwohl er es vorausgeahnt hatte, was kommen mußte. Der Herr redete irre. Es hatte sich im Museion schon einmal ereignet, daß ein Philosoph durch Überanstrengung wahnsinnig geworden und in hohes Fieber verfallen war, das ihm schließlich das Leben kostete.

»Ich werde dir, o Herr, nasse Tücher um den Kopf legen. Und werde den großen Herophilos holen«, sagte er bestürzt.

Da begann Archimedes zu lachen. Zum erstenmal seit langer Zeit.

»Nein, guter Freund«, erwiderte er, »mir ist sehr wohl zumute. Das verstehst du nicht. Sieh lieber zu, daß meine besten Kleider sofort zur Stelle sind! Du aber mach dir mit diesem Geld auch einmal einen vergnügten Tag.« Und er schob ihm eine Summe hin, vor der dem Ägypter schwindelte und die er fast wieder als Beweis der geistigen Erkrankung seines Herrn wertete.

Als er aber sah, daß Archimedes blühend gefärbt war und weiterlächelte, beruhigte er sich und half dem Herrn beim Ankleiden.

Alexandria war ein Traum und legte Kreise von anderen Träumen um sich, auch wenn man es verließ.

Die Prunkbarke glitt über den See Mareotis. Lautlos tauchten die Ruder der ägyptischen Ruderer in das abendlaue Wasser, daß kleine Trichterwirbel nach allen Seiten liefen und das Farbenspiel der kupferroten und gelben Oberfläche des Sees um kaltes Bleigrau bereicherten.

Die Barke war groß und breit. Vorne ragte ein dicker Mast mit einem dreieckigen Segel, in das sich jedoch kein Hauch der Abendstille verfing. Es hing schlaff und rot beglänzt wie eine Tüte. Das Holz der Barke aber war schieferfarben bemalt und über und über bedeckt von Zieraten und Hieroglyphen.

Unter einem Baldachin ruhten in der Mitte des Bordes auf breiten Lagern Archimedes und Aletheia. Vor ihnen eine Räucherpfanne, deren sanft aufquirlender Rauch die Insekten vertreiben sollte. Und dieser Rauch stieg schräg und legte sich dann über das Wasser.

Noch war Alexandria nicht allzu ferne. Archimedes sprach nicht, fragte nicht und schaute: wie ein feiner Strich die Stadtmauer in ihrer erstaunlichen Länge. Darüber aber das Wirrsal von Giebeln und Dächern, Statuen und Säulen. Und alles überragend die Schnecke des Paneions und in der Weite die durchscheinend weiße Spitze des Pharos, auf dem schon die Leuchtfeuer entzündet waren. Vor den Mauern aber der Inselhafen, dessen geballter Schiffsreichtum nur der Sammelpunkt unterbrechungslosen Gehens und Kommens war. Denn die Barke durchfuhr nicht einsam den See mit seinen Dickichten und Vogelschwärmen. Zu ihren beiden Seiten, vor und hinter ihnen, zog es in dichter Folge. Große Kauffahrer, Fischerboote, Kriegsschiffe, auf denen Waffen aufblitzten, und überdies noch die Mückenschwärme von Lustbarken.

Die nachklingende Unrast des Schaffens war von Archimedes gewichen. Er gewann die Kraft, seine Ergebnisse und Entdeckungen zurückzuschieben. Sie waren unverlierbar aufgezeichnet. Nicht nur in seinem vergänglichen Hirn. Nein, auf gelblichem Papyros und weißen pergamenischen Blättern. Darum durfte er, schwerelos wie ein gedachter geometrischer Körper, den einzigartigen Duft fühlen, sich von diesem Duft umhüllen lassen, den nur die Wirklichkeit ausströmte, und durfte schweigen. Denn die Wirklichkeit hatte heute kaum noch ein Wort gesprochen.

Er sah verstohlen zu ihr hinüber. Sie schien nichts um sich herum zu bemerken. Ihre weit geöffneten Augen blickten ins Leere. Oder aber nach innen. Denn sie hatten einen sonderbaren entrückten Schimmer. Wieder war sie in einer Art gekleidet, die keinem Volk zuzugehören schien. Ein schwerer Reif um die Stirne, ein langes fließendes Gewand aus schimmernden, regenbogenartig gefärbten Stoffen, die Archimedes noch nie gesehen hatte. Und leuchtend rote Sandalen.

So glitt die Barke über die Seefläche, und der letzte Rest Alexandrias begann in Dunst und Glast zu versinken.

Es wurde einsamer rings um sie herum. Der Bug der Barke stand gegen Süden, und immer seltener kreuzte ein anderes Fahrzeug ihren Kurs.

»Wir nehmen einen Umweg«, sagte Aletheia unvermittelt mit voller Stimme, die über die Weiten schwang. »Der Abend ist lau, die Luft angenehm und wir haben jetzt Zeit. So viel Zeit!« Dabei blickte sie Archimedes an, und ihr Mund begann zu lächeln, während die Augen noch entrückt waren. Da Archimedes schwieg, setzte sie fort: »Wir müssen noch durch viele und verworrene Träume, bis ich dir das sagen kann, was ich dir sagen will und sagen muß. Alles ist einfach und klar, denken wir manchmal, aber die Formel dafür zu finden bedarf weiter und labyrinthischer Umwege. Es ist so wie bei deinen Kurven, Archimedes.« Sie senkte den Kopf und schwieg. Wie schillernde, zärtliche Schlangen bewegten sich ihre Finger zur Hand des Archimedes und umschlossen sie mit hauchfeinem Druck.

Wieder antwortete er nicht. Es war nichts zu antworten. Es war alles nur zu erfahren, wenn er nicht plump in die riesengroße Harmonie ihres Versuches hineintappte, ihm Dinge zu vermitteln, die sie für wichtig genug hielt, ihre ganze Person, den ganzen Umkreis ihres Lebens dafür einzusetzen. Liebe? Laune? Theatralisches Geltungsstreben? Nein, dreimal nein! Sie hatte etwas gesehen, was für sie endgültig und entscheidend war und das sie jetzt auszudrücken versuchte. Die »Wirklichkeit« in der Fülle ihrer Macht als Frau und als ungekrönte Königin Alexandrias benötigte aber sicherlich nicht derartig geheimnisvolle Zurüstungen, um etwas mitzuteilen, wozu ein Brief genügt hätte oder eine kurze, klare und harte Aussprache.

Die Barke hatte im Süden eine Wand von Papyrosstauden und riesigen ägyptischen Bohnen erreicht, deren Blüten betäubend dufteten und in vielfältigen Farben durch das letzte Licht der Dämmerung gleißten. Kurze Zeit fuhren sie dieser Wand entlang. Dann stieß die Barke in das Dickicht und war sofort von einem Zauberwald wuchernder Gewächse umgeben, die geheimnisvoll an den Bordwänden raschelten, ihre Blüten und Früchte auf die Barke warfen und ab und zu klatschend zerrissen. Auch umgaben sie viele aufgescheuchte Vogelstimmen, und von fernher tönte das dumpfe Gequake von Fröschen und Unken.

Nachdem sie schon geraume Zeit durch diese strotzenden Dämmerungen geglitten waren, fühlte Archimedes einen verstärkten Druck ihrer Hand. Fast im gleichen Augenblick sagte sie unvermittelt:

»Du weißt, wer ich bin, Archimedes? Zumindest, soweit es das Äußerliche betrifft?«

»Man hat mir einige Auskünfte erteilt«, erwiderte er zögernd.

»Einige Auskünfte?« lachte sie auf. Dann setzte sie fort: »Auch mir hat man Auskünfte erteilt. Über die Angelegenheit des pergamenischen Schreibstoffes. Auch über dich. Sosibios hat es sich nicht nehmen lassen, zu mir zu laufen und mir alles zu erzählen, was er über dich wußte oder zu wissen glaubte. Auch Herophilos sah nach meiner kostbaren Gesundheit, um zu erforschen, was ich mit dir vorhabe. Sie sind alle unsäglich simpel, diese Spitzen des Weltgeistes. Ein häßlicher Fliegenschwarm, der wie toll umhersummt, wenn man nur ein wenig zu nahe kommt.«

»Was sollten sie dir erzählt haben?« Archimedes wußte nicht recht, ob sie ihm die Wahrheit sagte oder ihn nur gegen das Museion aufbringen wollte.

»Ja, was sollten sie mir gesagt haben«, antwortete sie mit müder Stimme. »Nichts natürlich. Das heißt, nichts, was mir Aufschlüsse gab.« Plötzlich packte sie ihn mit den Augen, die einen Glanz erhielten, den er bei ihr noch nicht gesehen hatte: »Darf ich dich selbst fragen?«

»Du darfst es.« Jetzt lächelte Archimedes. Was wollte sie wissen? Was konnte einer Frau ihrer Macht und ihrer Möglichkeiten derart wissenswert sein, daß ihre Augen beinahe gierig funkelten und dunkle Färbung erhielten?

»Ich darf es?« Sie ließ seine Hand los und richtete sich auf, ohne ihren Blick von ihm abzuwenden. Dann fuhr sie langsam fort: »Archimedes, du darfst es glauben, daß mich die Zänkereien des Museions, seine Gierigkeiten und kleinlichen Feindschaften vollkommen kühl lassen. Für mich – wenn ich mich noch einmal die Wirklichkeit nennen darf – also für die Wirklichkeit ist es wichtig, was dieses Museion leistet und leisten wird. Hier aber wiederum nicht aus beschränkter Neugier oder Spielfreude, auch nicht aus einer verzeihlichen, für mich aber unverzeihlichen geistigen Prunksucht, sondern ausschließlich aus Angst für Hellas. Du weißt, daß ich die Welt kenne, weißt, daß die Netze meiner Handels- und Vermögensbeziehungen bis in die Winkel der bekannten Erde reichen. Ich sehe diese Welt anders als ein Milesier, Athener, Syrakusaner, meinetwegen auch als ein Alexandriner. Wir Hellenen sind äußerlich schwächer, als wir das je glaubten. Innerlich aber sind wir ungeheuer stark. Und es käme alles darauf an, daß unser Inneres sich nach dem Außen wenden würde. Ich bin sicherlich keine Banausin, weiß aus eigener Erfahrung, was Weisheit um ihrer selbst willen heißt. Hier in Alexandria aber wurde es mir klar, daß die Weisheit dereinst nur mehr aus Papyrosrollen bestehen wird, die niemand mehr lesen kann, weil mit dem aussterbenden Volk die Sprache in Vergessenheit gerät. Gut, ich nehme noch die Unsitten, die Überheblichkeit, die menschliche Beschränktheit der Gelehrten hin. Es mag sein, daß gerade auf Düngerhaufen die schönsten Melonen wachsen. Was ich aber nicht mehr hinnehme, ist die Ahnungslosigkeit der Hellenen um ihre Zukunft. Anstatt ihre letzte Geisteskraft für Verteidigungsziele einzusetzen, wenn schon nach dem großen Alexander die Zeit der Eroberungen vorbei sein sollte, erschöpfen sie sich in ängstlicher Bemühung, ihre Geistestaten nur ja nicht der Wirklichkeit nutzbar zu machen. Du aber, Archimedes, bist anders. Bist ein Hellene und doch keiner. Darum will ich dir Dinge zeigen, die man nicht sagen kann.« Sie senkte den Kopf und schwieg.

Archimedes aber, den ihre Worte seltsam erschüttert hatten, den diese Worte an die Grundpfeiler der eigenen Zweifel und inneren Widersprüche, an seinen Zwist mit Apollonios von Pergä und noch an viel anderes erinnerten, zwang die Gedanken nieder, die ihn zu durchbrausen anhuben und sagte kopfschüttelnd:

»Du hast mich nicht gefragt, Aletheia. Darum kann ich dir nicht antworten.«

»Ich habe dich nicht gefragt?« Aletheia blickte wieder auf. Diesmal aber lächelte sie in leisem Selbsthohn. »Siehst du, Archimedes, so ist die Wirklichkeit. Sprunghaft und verworren. Wenn ich aber nicht an die Frage gedacht hätte, wäre mir nichts von alldem eingefallen, was ich sprach. Wenn ich sie jedoch gestellt hätte, wäre es mir wieder unmöglich gewesen, dir diese Dinge, die so nah zu meiner Frage gehören, mitzuteilen. Kurz, mein Freund, ich wollte fragen, ob in dir die Ergebnisse schon gereift sind, denen du nachspürtest.«

Archimedes schwieg einige Herzschläge lang. Sollte er ihr geraden Weges Dinge preisgeben, von denen niemand noch auf dieser Erde wußte? Durfte er ihr aber wieder Mißtrauen zeigen, wo er nicht zweifelte, daß ihre Kraft und ihre innere Hilfe ihn zu den Entdeckungen befeuert hatte?

Sie las seine Kämpfe von seinen Augen ab.

»Ich frage nicht, was du fandest, sondern, ob du fandest, Archimedes. Du hast recht, daß dir die Auskünfte deiner Museionsgefährten nicht genügend erscheinen, mir voll zu vertrauen. Du wirst aber, das schwöre ich dir, alle erdenkliche Gelegenheit haben, mich so gründlich kennenzulernen, als ein Mensch den anderen kennenlernen kann. Ich brauche dich, Archimedes. Ich brauche dich für mich, und was wichtiger ist, für Hellas. Du bist einer der ganz wenigen, die wissen, was notwendig ist, ohne es allerdings mit allerletzter Klarheit zu wissen. Jetzt aber wollen wir wieder anderes sprechen. Der Abend ist so schön und wir haben Zeit, so viel Zeit.« Und sie langte zart und behutsam wieder nach seiner Hand, die sie warm umschloß. Und erzählte in verändertem, weichem Tone von dem, was der Augenblick um sie herum brachte und glitt unmerklich über in Märchen und Geheimnisse ferner Länder. Archimedes aber erwiderte ihr mit zauberhaften Dingen, an denen seine sizilische Heimat nicht ärmer war als Ionien, Ägypten und Indien.

So waren sie längere Zeit durch die stets mehr in Dunkelheit sich hüllenden Dickichte gefahren, als zwischen den Schäften des Papyros und dem Wirrsal von Schilf und ägyptischen Bohnen plötzlich eine lange Reihe von Lichtern auftauchte, die sich zu ihrer Linken nach beiden Seiten ins Endlose zu erstrecken schien. Eilfertige, unsichtbare Sklavenhände entflammten sofort am Bug und am Heck ihrer Barke abgedämpfte Lichter, die die nächste Umgebung mit gespensterhaften rötlichen Streifen aufhellten.

Archimedes brauchte auf die volle Enthüllung des Rätsels nicht lange zu warten. Denn nach kurzer Zeit verließ die Barke den Schilfgürtel und lief in den Kanopischen Kanal ein, der an dieser Stelle des Sees Mareotis nach Osten verließ. Auf dem Spiegel des Kanals aber bewegte sich wie auf einer belebten Straße in beiden Richtungen eine unterbrechungslose Folge von Schiffen und Barken, deren Lichter sie früher schon erblickt hatten.

Die Barken aber, das hatte Aletheia ihm schon erzählt, waren einer der Blutströme, die das Herz Alexandria, unablässig pulsend, nach Osten entsandte. Sie umschlossen eine Üppigkeit sondergleichen. Liebespaare, Familien, ganze Gesellschaften von Zechern, Buhlerinnen, alles, was Alexandria in Überzahl beherbergte, war auf diesen Barken versammelt. Man trank, lachte, schrie, sang, tanzte an Bord. Und Flöten, Sistren, Zithern spielten auf, daß Tausende von Melodien durcheinanderklangen. Und Edelsteine funkelten, geschminkte Gesichter leuchteten und alle Buntheit, die der Reichtum der Riesenstadt an Kleidern hergeben konnte, wurde von vielfarbigen Laternen aus der Schwärze der jetzt vollkommen eingebrochenen Nacht herausgehoben. Über ihnen aber flirrten in unwahrscheinlicher Leuchtkraft die Sterne.

Aletheia war, als sie einmal im Strom des Lebendigen trieben, wie verwandelt. Eine andere Wirklichkeit hatte von ihr Besitz ergriffen. Sie war plötzlich unvermittelt eine überlegene Weltstädterin, die in allem und jedem Bescheid wußte und mit beißender Ironie, gestützt auf genaueste Kenntnis der Dinge und der Personen, über das, was eben in ihren Gesichtskreis trat, ihre Bemerkungen machte.

Archimedes war wie berauscht. Er lehnte ihren Ton durchaus nicht ab. Auch nicht innerlich. Ja, es ergab sich sogar, daß er, je mehr sie sich von den Bereichen seiner eigentlichsten Art entfernte, ihr Wesen um so heftiger empfand und begehrte und an ihrer Weltsicherheit erst fühlte, daß sie irgendwie doch eine von den seligen Göttinnen war, die sich zu ihm herabgeneigt hatte und die er deshalb jeden Augenblick verlieren konnte. Was konnte er ihr bieten, um sie festzuhalten? Er hatte ihr auf ihre bescheidene Frage bisher noch nicht einmal geantwortet. Sollte er jetzt antworten?

Mitten in eine Gesprächspause hinein sagte er wie zu sich selbst:

»Ich habe in den letzten vier Tagen derart Neues gefunden, daß ich selbst erschüttert bin. Über die Beziehungen in der Wirklichkeit bin ich erschüttert. Über die Geheimnisse des Regelmäßigen und des Unregelmäßigen. Du wirst mit mir zufrieden sein, Aletheia.«

Wieder fühlte er einen schnellen, pressenden Druck ihrer glatten, trockenen Hand. Dann lachte sie hell und wohlklingend. Mit einem kleinen Unterton von Spott sogar.

»Zufrieden?« Sie dehnte das Wort. »Wann ist die Wirklichkeit jemals zufrieden? Nein, nicht böse sein, Archimedes! Du hast recht. Anstatt, daß ein dummes milesisches Mädchen darüber jubelt, wenn ihr einer der größten Hellenen das Geschenk ungeheurer Entdeckungen zu Füßen legt und dabei nicht mehr will als Zufriedenheit, lacht dieses alberne Geschöpf und verstimmt ihn. Ich hoffe trotzdem, den erzürnten Gott wieder versöhnen zu können.« Und sie sah ihn dabei mit solch kindlich treuen Augen an, daß er überzeugt sein mußte, sie habe plötzlich wirklich Reichtum, Glanz, Schönheit und alles, was ihre Macht bildete, vergessen und werte ihre Stellung nur mehr im geistigen Kosmos.

Sie sprachen nicht weiter. Denn vor ihnen begannen Lichter aufzutauchen, die den Kanal gewaltig überhöhten, und es zeichneten sich stets deutlicher hohe Obelisken, Pylonen und Fassaden ab, über deren Glätte der Schein von Fackeln und Leuchtpfannen irrlichterte und starre bunte Hieroglyphen hervortreten ließ.

Die Deltastadt Canopus, in die sie kurz darauf einliefen, übertraf Alexandria womöglich noch an Trubel und Lärm. Irgendeine verschämte Schamlosigkeit oder schamlose Verschämtheit trieb die Alexandriner, in diesen Ort hinüberzufahren und hier in zahllosen Schenken, Tanzstätten und Herbergshäusern all die Zügellosigkeiten auszuführen, zu denen man in Alexandria selbst nicht den Mut oder die Atmosphäre fand. Die Sinnlosigkeit dieses Gehabens fühlte niemand, wo man doch hier gerade die Menschen traf, denen man nicht begegnen hatte wollen und die man in Alexandria sicherer vermieden hätte als in Canopus.

Vielleicht waren es auch die Tempel, die Buntheit und Kleinheit der Stadt, die Fahrt durch die Dickichte und Kanäle und die Lust an Abwechslung, die solche Erscheinungen erzeugten.

Archimedes überlegte dies alles und empfand leise Angst, daß seine Gastgeberin ihn in solch eine Gaststätte führen könnte, aus deren grellbeleuchteten Fenstern allzu geballtes Leben und wirrer Lärm herausdrang. Aletheia aber schien seine Zweifel zu bemerken, denn sie sagte freundlich:

»Ich will dir hier bloß etwas zeigen, um dann besser ausdrücken zu können, was ich meine. Es ist eine ägyptische Orakelstätte sonderbarer Art, zu der nur Eingeweihte Zutritt haben. Worin die Weihe besteht, wirst du später erfahren.«

Eine halbe Stunde danach standen sie vor den Pylonen eines kleinen Tempels. Er lag abseits vom Lärm und war nur spärlich erleuchtet. Aletheia hatte Archimedes, wie seinerzeit durch Alexandria, so auch durch Canopus geführt. Kalt, überlegen und beschützend,

Sie wechselte mit den Pförtnern einige Worte, die Archimedes nicht verstand, da sie anscheinend ägyptisch waren. Das Tor öffnete sich, und man geleitete sie durch den Tempelhof. Dann ging es durch eine seitliche Türe über zahllose Treppenstufen hinab, bis sie in einem mächtigen unterirdischen Raum standen, dessen Hintergrund durch einen Vorhang verdeckt war.

Archimedes war erstaunt. Was bereitete sich hier vor? Die Wände des Raumes glitzerten in polierter Glätte und waren durch keinerlei Relief oder Malerei imstande, dem Auge einen Ruhepunkt zu bieten. Auch der Vorhang war glatt und einfarbig blau.

Ihr Begleiter, ein ägyptischer Priester niederen Ranges, stand maskenstarr neben ihnen und schwang, ohne daß man seine Bewegung merkte, ein Weihrauchfaß, das betäubende Dämpfe und Schwaden durch den Raum sandte. Als diese Dämpfe die klare Sicht abzuschatten begannen, öffnete sich plötzlich der Vorhang und gab den Blick auf ein Bild frei, von dem man im ersten Augenblick nicht sagen konnte, ob es Wirklichkeit, Malerei, Skulptur oder Sinnentrug war.

Da der Vorhang den Raum nur höchstens einen Schritt tief abgedeckt hatte, erstreckte sich dieses Bild unmittelbar vor der Wand. Hinter ihr und zu ihren Seiten aber standen Figuren in Lebensgröße. Götterbilder mit starr-steifem Bewegungsrhythmus, bunt und farbig, mit rotbrauner Haut, Hundeköpfen und funkelnden Diademen. Und eine blaßgelbe, nackte, schlanke Göttin, aus deren Stirnreif die Uräusschlange hervorragte.

»Das Totengericht«, sagte Aletheia leise zu Archimedes, der überhaupt nicht mehr versuchte, sich das Geschehene zu deuten. Ja, es begann in ihm ein leiser Zweifel aufzusteigen, ob er nicht, ohne es zu wissen, bereits die Gefilde der Lebendigen verlassen habe und plötzlich im Jenseits stehe. Wer von den Sterblichen kennt die Übergänge vom Leben zum Tode? Wer wußte, ob ihn nicht irgendwo bewußtheitslöschend die Vernichtung getroffen hatte, bis er hier wieder erwacht war? Wußte er wirklich über jeden Schritt, jeden Herzschlag so genau Bescheid, seit sie aus der Barke gestiegen und den Boden von Canopus betreten hatten? Oder waren sie draußen im See ertrunken? Oder waren es nur diese Nebel, die seine Sinne verwirrten?

Unvermittelt trat der Priester zur Waage vor, die sich von gewöhnlichen Waagen sehr wesentlich unterschied. Der Waagebalken, der armdick war, steckte in einer Hülse, und auf einer Seite war er sehr kurz. Dort aber hing an Ketten bis nahe zum Boden eine mächtige Schale, die gut drei Ellen Durchmesser hatte. Der andere Teil des Balkens aber war vielfach länger, und nur eine kleine Schale baumelte hier an Goldschnüren.

Der Priester legte über die abwärtsragende Zunge der Waage einen Bügel und stellte ihn dadurch samt dem Waagebalken fest. Im selben Augenblick begannen sich die Figuren zu bewegen und ergriffen an verschiedenen Stellen die Ketten und den Balken. Die nackte Göttin aber stieg hinter der Waage auf einen Schemel und rückte den Waagebalken mit großer Anstrengung durch die Hülse, wobei die Muskeln an ihrem gelbgefärbten Körper wie Stränge hervortraten und ihre Brust sich schweratmend hob und senkte.

Es war kein Plan in diesem Verrücken des Balkens. Er glitt in der Hülse hin und her und blieb schließlich an einer Stelle stehen, die man nicht so leicht wiederfinden konnte, da der Balken vollkommen gleichmäßig glatt war. Man konnte nur bemerken, daß der Teil, an dem die größere Schale hing, noch immer um ein Vielfaches kürzer blieb als der andere Teil.

Die Göttin stieg langsam vom Schemel und stellte sich wieder starr in ihre ursprüngliche Pose. Der hundsköpfige Gott aber wählte aus einer mächtigen Truhe eine Reihe hieroglyphenbedeckter, glitzernder Bronzefiguren aus, die selbst die Form von kleinen Göttern hatten.

»Ich werde jetzt das sonderbare Orakel befragen«, lächelte Aletheia und ging leichten Schrittes zur größeren Waagschale. Sie faßte die Kette mit der Hand und stieg auf die Schale, die ein wenig zu schwingen anhub, sich jedoch bald in die Ruhelage einstellte, als der Priester eine andere der Ketten ergriff.

Was nun weiter folgte, bannte Archimedes hauptsächlich deshalb, weil es einen edlen sakralen Rhythmus hatte. Das nackte Mädchen ging mit abgezirkelten Schritten hinter die Gewichtsschale und blieb dort unbeweglich stehen. Der Hundsköpfige aber legte sofort eine der Gewichtsfiguren auf die kleinere Waagschale, worauf der Priester den Bügel an der Zunge löste. Die Gewichtsfigur war anscheinend zu schwer, da sie zu sinken begann. Gleichzeitig aber verstärkten sich wieder die Weihrauchdämpfe, die sich bereits förmlich um das ganze Bild ringelten und Aletheia manchmal überdeckten. Und aus den Wänden heraus ertönte hohes klimperndes Harfenspiel in getragenen, mystischen Tonfolgen.

Der Versuch, die Waage ins Gleichgewicht zu stellen, wiederholte sich noch einige Male. Endlich hatte der Hundsköpfige das richtige Figürchen gefunden, das allen Bedingungen entsprach. Er trat an die Waagezunge und zeigte pantomimisch dadurch, daß er an sie die Hand legte, die Vollendung der Zeremonie. Kurz darauf aber schlug der Priester schon wieder den Bügel über die Zunge, Aletheia stieg von der Schale herunter und nahm aus den Händen des knienden nackten Mädchens den Bronzegott, das Gewicht, in Empfang, der über und über mit eingeritzten Hieroglyphen bedeckt war. Sofort aber stieg das Mädchen wieder auf den Schemel, um den Waagebalken neuerlich in seiner Hülse zu verschieben.

Aletheia kam lächelnd auf Archimedes zu. Sie faßte ihn am Arm und sagte tonlos leise:

»Du sollst auch auf die Waage des Gerichtes steigen, mein Freund.«

Archimedes fuhr wie aus einem Traum empor. Er verstand überhaupt nichts mehr. Sah aber aus manchem, was sich da begab, Dinge, die auf ganz anderen Ebenen des Geschehens und des inneren Wesens lagen, als auf den Gebieten der Religion und Wahrsagerei.

»Du wirst alles später ausführlich erfahren. Tu mir jetzt den kleinen Gefallen!« raunte Aletheia bittend.

Archimedes aber schob sofort die Wirrsale zurück, die in seinem Geist aufzudrängen begannen, und gehorchte, ohne zu wissen, daß er es tat. Sein niemals blickloses Auge hatte noch beim letzten Herzschlag vor dem Besteigen der Schale bemerkt, daß der kleinere Teil des Waagebalkens diesmal noch viel kürzer war als früher.

Es wiederholte sich alles genau in der gleichen Reihenfolge, wie er es schon bei der Prüfung Aletheias gesehen hatte. Als ihm jedoch das nackte Mädchen kniend seinen Bronzegott überreichte, durchzuckte es ihn wie ein rätselhafte Schlag von vorgeeilter Erkenntnis: die Figur war unzweifelhaft kleiner als die, aus der sich das Gewicht Aletheias ergeben hatte.

Archimedes war gesenkten Hauptes zu seiner Gastgeberin zurückgekehrt. Noch einmal schwelten dicke Dämpfe Weihrauchs auf, noch einmal ertönte die Musik in volleren, jetzt auch von Sistren und Flöten durchsetzten Akkorden. Dann war plötzlich alles zu Ende, denn der blaue Vorhang hatte sich fast unmerklich verdeckend vor das Bild geschoben.

Aletheia drehte sich von der Orakelstätte ab und ging voran. Archimedes folgte ihr, und der Priester schloß sich den beiden an.

Vor dem Tempelausgang geleitete der Priester Aletheia noch in ein kleines Pförtnergelaß, in dem an hölzernen Tischen einige Schreiber hockten. Archimedes, der in der Türe stehengeblieben war, sah, wie Aletheia unter dem Gemurmel des Priesters und der Schreiber eine erkleckliche Anzahl von Goldstücken auf den Tisch zählte, worauf sich alle vor ihr verneigten und den Betrag dann vorsorglich einkassierten und anscheinend sofort verbuchten.

Die beiden Gewichtsgötter aber hatte ihr einer der Schreiber mit großer Flinkheit in ein bemaltes Holzkästchen verpackt und überreichte es ihr mit allerlei Gemurmel.

»Wir werden jetzt zur Barke zurückwandern, Archimedes«, lächelte Aletheia, als sie wieder neben Archimedes stand. »Ich denke, wir können dann um Mitternacht am Ziele sein.«

»In Alexandria?« fragte er ohne eigentliche Neugierde.

»Vielleicht anderswo, Archimedes. Muß du es wissen? Vielleicht auch ist es für dich kein Ziel. Du wirst es mir aufrichtig sagen. Hast du Hunger, mein Freund?«

Er hatte Hunger, ihr Ton aber war so seltsam gewesen, daß er das, was weiter geschehen sollte und was auch geschehen würde, nicht stören wollte. So schwieg er. Sie aber schien schon wieder mit ihren Plänen weit in der Zukunft zu sein, da sie sein Schweigen für Verneinung nahm und mit schnellen Schritten den Tempel verließ.

Die Lichter und Fassaden, die Obelisken und Pylonen von Canopus verglommen und verschatteten im Westen, als ihre Barke durch das tintenschwarze Wasser eines breiten Kanals, von schnellen Ruderschlägen angetrieben, gegen Osten glitt.

Mehr als eine Stunde war schon vergangen, seit sie den Tempel verlassen hatten, und am Himmelssaume stieg eben der Mond empor.

Wieder nach einer Weile schoß die Barke plötzlich in einen breiten Strom hinaus und drehte nach Süden, nachdem sie mächtige Quaderböschungen, Schleusen und die klotzigen Silhouetten von langgestreckten Lagerhäusern passiert hatte. Es war kein Zweifel. Sie fuhren jetzt bereits auf dem Rücken der kanopischen Mündung des heiligen Nilstromes.

Leichter Nordwind sprang auf, das Gekräusel der Stromwellen glitzerte auf einer Seite im Lichte des höhergestiegenen Mondes, und an den Ufern traten die Umrisse von Bäumen, Hainen, Landhäusern und Dörfern deutlich hervor.

Aletheia hatte schon manches mit Archimedes gesprochen, ihr Gespräch war seit dem Verlassen des Tempels kaum zum Stillstand gekommen. Es hatte sich aber bisher ausschließlich auf eben wahrgenommene Dinge und Menschen, auf nebensächliche Fragen und auf das Museion bezogen. Und war sowohl an den tieferen Regionen seiner Entdeckungen als an der Ausdeutung des Orakelerlebnisses in unausgesprochenem Einverständnis vorübergehuscht, obwohl mehr als einmal eine Beziehung zu beiden Themen aufgetaucht war.

Jetzt aber, in der mondglitzernden Kühle der Nilfahrt, schien Aletheia nicht mehr ausweichen zu wollen. Denn sie sagte, unvermittelt, wie es ihre Art war:

»Du dürftest aus der Weihe, ich meine aus der Barzahlung des Mysterienschauspieles entnommen haben, um welche Art von Gottesdienst es sich da handelt. Ich kenne die alte Religion der Ägypter. Sie war tief und schön, groß und stark. Und eine der schönsten Züge dieses Kultes war das Totengericht.« Nach einer Pause fuhr sie fort: »Wo nun, glaubst du, Archimedes, steht ein Volk, ich meine, wie sehr muß es herabgekommen und entartet sein, wenn es derart letzte Dinge in dieser Weise preisgibt? Es ist ein schändliches Gemisch von Aberglauben und Unfug, dieses Orakel. Noch mehr Unfug als der Weihwasserspeier, den wir am ersten Tage unserer Freundschaft sahen. Der tiefste Sinn all dieser Zurüstungen ist natürlich nichts anderes als die Sucht der Priester, Einnahmen herauszuschlagen, weil die Könige sich ihrem Einfluß und ihrer Gier entzogen haben. Deshalb wenden sie sich unmittelbar ans Volk. Wie hoch sie aber den Geist und die Gläubigkeit dieses Volkes einschätzen, siehst du an den Einrichtungen.« Wieder macht sie eine längere Pause. Dann sagte sie sehr kalt und wegwerfend:

»Ich habe es, als wir da unten standen, von deinen Augen abgelesen, Archimedes, daß auch ein Mensch deiner Größe sich den Zaubereien nicht restlos entziehen kann. Gut, es ist das Fremde, Niegesehene, Niegehörte, das auf dich Eindruck machte. Und der Umstand, daß du bis jetzt noch nicht weißt, was das alles bedeutet. Darum will ich es dir erklären. Die Waage wird dort unten für viel Geld und gute Worte – denn man muß sogar Empfehlungen haben, um überhaupt Zutritt zu erhalten – die Waage wird also so lange in Verwirrung gebracht, bis kein Mensch mehr wissen kann, welcher Gewichtsgott bei der Wägung das Gleichgewicht herstellt. Nun hat jeder dieser Götter eine Prophezeiung eingeritzt. Wir werden sie heute nachts noch entziffern lassen. Außerdem ist aber das Schauspiel an und für sich sehenswert. Insbesondere die Göttin der Wahrheit, das nackte, gelbgeschminkte Mädchen. Hat sie dir nicht gefallen? Ich vermute sehr stark, daß du dich sogar diesem Mädchen auch nach der Kulthandlung auf andere Weise nähern kannst, wenn du dem Tempel noch eine Handvoll Goldstücke spendest. Wie gesagt, das weiß ich nicht. Ich vermute es aber aus anderen Erscheinungen, etwa im Isiskult. Dort gelang es mir wirklich erst im letzten Augenblick, mich den eindeutigen Belästigungen des allzu menschenähnlichen ›Gottes‹ zu entziehen. Aus alldem aber für dich und für ganz Hellas wichtige Schlußfolgerungen zu ziehen, behalte ich mir für später vor. Wir haben ja so viel Zeit.«

Archimedes, für den sich durch ihre Worte wenigstens die Oberfläche des Tempelerlebnisses klärte, war durch die letzten Worte neuerlich in ein Rätsel gestoßen worden. Warum wiederholte sie bis zum Überdruß den Satz: ›Wir haben ja so viel Zeit‹? Warum schnitt sie alle Überlegungen nur an, um ebenso unvermittelt abzubrechen, wie sie begonnen hatte? War das Verspieltheit? Oder unterschätzte er sie? Sollte er nicht endlich fragen? Denn es war kaum mehr zu leugnen, daß jede Führung bei der »Wirklichkeit« lag, während er fast schon die lächerliche Rolle eines Kindes spielte, das man von einem Märchen ins andre lockt, um es zu unterhalten oder zu verwirren.

»Du vertröstest mich stets auf später, wenn ich von dir Entscheidendes zu erfahren hoffe«, sagte er mit einiger Selbstüberwindung. »Vielleicht hast du recht. Vielleicht aber erregst du dadurch bei mir Gefühle, die mich vor mir selbst erröten lassen ……«

Er konnte nicht weiter sprechen, da sie seine Hand mit unerwarteter Heftigkeit umpreßte.

»Vertraust du mir so wenig?« erwiderte sie traurig und stockend. – »Nein, Archimedes, nein, nein, das wollte ich am wenigsten. Ich bin dumm, bin nicht fähig, sofort all das zu sagen, was ich zu wissen glaube. Und hier auf dem Strom ist vielleicht nicht die richtige Umgebung, das Tiefste zu erörtern. Ich hoffte, dich zu erhöhen, wenn ich dir versicherte, wir hätten Zeit. Hoffte, dir es zu ermöglichen, auch die Schönheit der Landschaft zu genießen. Ich selbst kenne ja dieses Land. Du aber sollst schauen und sollst nicht unablässig durch meine Reden abgelenkt werden. Willst du nicht noch eine kleine Stunde Vertrauen und Geduld einer Gefährtin schenken, die bei jedem Worte weiß, daß sie dir gegenüber ein unbedeutendes Nichts ist, das nur vielleicht vom Schicksal bestimmt wurde, dir und deinem Geist selbstlos zu dienen? Und die diesem Geiste, da es edelster Hellenengeist ist, freudig und ohne Fragen dient? Du hast dir und mir unrecht getan, Archimedes.«

Archimedes war erschüttert. War um so mehr von Eindrücken überwältigt, als plötzlich zwischen all dem Verwirrenden in ihm eine Frage aufstand, die noch verwirrender war als der hundsköpfige Gott, der Weihrauch und die Entartung des ägyptischen Volkes. Es war keine Frage nach Mysterien und Göttern. Es war ein kaltes, glitzerndes, klares Problem. Warum, so lautete die Frage, war es möglich, daß der Gewichtsgott, der mein Gewicht anzeigte, kleiner und leichter ist als der Gott Aletheias, wo sie doch offensichtlich schlank und zart neben mir ruht. Ihr Gewicht ist kleiner als meines. Und doch war ihr Gewichtsgott größer? Das, das allein ist der weltweite Gewinn dieser Schau. Für mich, für Hellas, für die Zukunft. Wieder halte ich den Beginn eines Geheimnisses in der Hand, aus dem ungeheure Erkenntniswelten klärend werden geboren werden. Der Waagebalken war ungleicharmig und wurde verschoben. Hier nun ist der Angelpunkt zu einer Reihe von Beziehungen und Proportionen. Denn wo man messen kann, beginnt das Zählen. Und wo man zählen kann, das Rechnen. Hinweg, ihr aufschäumenden Gedanken! Wo führt ihr mich hin? Was steigt hinter der Waage empor? Der Hundsaffe, umschwelt von Weihrauch? Ein gelbgeschminktes nacktes Mädchen, das die Wahrheit sein soll? Oder der sonderbare Tiergott? Hat das nicht alles geheimnisvolle jenseitige Macht, auch wenn es die Menschen herabziehen und entstellen? Darf man Heiliges rufen, ohne daß hinter der Erscheinung der Ort der Entstehungen sichtbar wird? Ansaugend und zerschmetternd zugleich, mit Schicksal und Wahnsinn drohend?

»Verzeih mir, Aletheia«, sagte er, ohne es zu wissen. »Du hast es selbst ausgesprochen, daß mich das Fremde überwältigt. Es beschämte mich nur, so viel zu nehmen, ohne wirklich geben zu dürfen.«

Einen Herzschlag lang blickte sie ihn mit großen, weichen und doch flammenden Augen an. Dann aber wischte sie alles mit einer königlichen Handbewegung fort und erwiderte:

»Wir werden jetzt essen, Archimedes.« Und sie schlug mit einem Stab auf eine Metallplatte, daß es durch die nächtlichen Weiten des mondbeglänzten Nildeltas hinausschwang.

Der Klang aber weckte als unwidersprechlicher Befehl das Leben auf der Barke, und in traumschneller Zeit huschten flinke Helfer herbei, um den Befehl der großen Herrin zu erfüllen.

Eine Stunde später richtete die Barke ihren Bug plötzlich gegen Osten und querte den an dieser Stelle sehr breiten Nilarm. Je näher sie dem Ufer kamen, desto deutlicher zeichnete sich ein Landsitz ab, der zwischen Bäumen auf einer kleinen Anhöhe lag. Es war auch ein kleiner Bootshafen an der Böschung, in den sie jetzt einliefen.

Aletheia bat Archimedes, mit ihr auszusteigen und führte ihn die Treppe hinan, die vom Bootshafen zwischen blühenden Sträuchern zum Haus emporleitete.

Man hatte das Einlaufen der Barke anscheinend bemerkt. Denn die Türen waren geöffnet, es brannten Lichter und kniende Dienerinnen erwarteten die Herrin an der Schwelle.

»Hier werden wir Ruhe und Muße haben, unsere Gespräche fortzusetzen«, sagte Aletheia im Eintreten. Dann fügte sie leise hinzu: »Wenn du aber müde bist, will ich dich nicht weiter in Anspruch nehmen.«

»Ich bin nicht müde«, erwiderte Archimedes. »Im Gegenteil. Die Fahrt hat mich mit mehr Wachsein erfüllt, als ich es glaubte. Ich könnte gar nicht schlafen, auch wenn ich wollte. Das aber soll wieder dich nicht belästigen.«

Sie durchschritten einen von Blumen erfüllten Hof, der so stark duftete, daß der Atem stockte. Dann kamen sie in stille Gemächer, bis Aletheia in einem kleineren Raum haltmachte, in dem sich außer einem prunkvollen Lager nur einige kleine Tischchen befanden.

Setz dich zu mir her aufs Lager, Archimedes«, sagte Aletheia, als die Dienerinnen den Raum verlassen hatten. »Ich habe dich aus Alexandria und aus dem Museion hierhergelockt und bin dir jetzt klarste Rechenschaft schuldig. Wir befinden uns – das dürftest du wissen – im Nildelta. Fern vom Brausen der Stadt, fern auch von spähenden Blicken und klatschenden Zungen. Ich habe dafür Sorge getragen, daß man nicht weiß, wo ich mich befinde. Ich bin, dem Museion gegenüber, geschäftlich nach Meroe gereist. Du aber hast die Möglichkeit, durch meine Barke in Alexandria morgen früh mitteilen zu lassen, wo du dich befindest. Ich glaube, du wählst die entgegengesetzte Richtung, obgleich es niemand angeht, was wir tun und lassen. Mir ist aber unsere Freundschaft zu heilig, als daß ich sie von einem Sosibios oder Herophilos beschwätzen lassen möchte. Das also wäre in Ordnung.«

Archimedes war ihrer Aufforderung gefolgt und hatte am Rand des Lagers, auf dem sie ruhte, Platz genommen. Sie hatte recht. Es mußte jetzt gesprochen werden. Denn die Rolle, die er spielte, war an die Grenze des Erträglichen gerückt. Gut, er hatte sie um Vergebung gebeten, hatte ihr versprochen, ihr zu vertrauen. Zu ungreifbaren Rätseln aber kann man kein Vertrauen haben, auch wenn sie noch so süß und berückend sind. Er war ja auch sicherlich nicht nach Alexandria gereist, um als Spielball undurchsichtiger Liebesabenteuer das Land zu durchqueren.

Trotzdem schwieg er, da sie ja selbst das, was sie Rechenschaft nannte, angekündigt hatte. Rechenschaft? Von ihrem Ufer aus betrachtet, war sie keine Rechenschaft schuldig. Sie hatte ihn freundlich eingeladen, versuchte ihm Schönes und Befruchtendes zu bieten, und er war dieser Einladung mehr als gutwillig gefolgt. Die »Rechenschaft« mußte sich also auf Weitergehendes beziehen als auf eine kurze Fahrt durch die Nacht.

»Du hast mich nicht entführt«, erwiderte er kopfschüttelnd. »Deine Gesellschaft ist mir wertvoll, und ich bin dir zu Dank verpflichtet. Aber gleichwohl habe auch ich das Gefühl, daß so viel Ungesprochenes zwischen uns liegt, daß es wie ein böser Geist der Unterwelt im Räume umherwandert und uns beide ängstigt. Und es mag sein, daß wir einander zu rasch nahegekommen sind, ohne einander noch wirklich nahe zu sein.«

»Glaubst du das, Archimedes?« sagte sie mit geschlossenen Augen. Hältst du mich für derart halbbewußt? Nun gut. Wir wollen die Wand durchstoßen. Und deshalb erkläre ich dir, daß ich vom Beginn an nichts für mich, sondern alles für Hellas wollte. Ich werde dir nicht zürnen, wenn du morgen wieder nach Alexandria zurückfährst. Ich würde dich sogar begleiten, wenn du es wünschtest. Wir können aber auch einige Tage hierbleiben. Du hast, ich weiß es, ungeheure Anstrengungen und Leistungen hinter dir. Darfst du dich da nicht ein wenig erholen?« Unvermittelt setzte sie sich auf und sah ihn mit einem undurchdringlichen Blick an: »Du bist ein Mann und ein Hellene, Archimedes. Ich verstehe alles. In diesem Landhause bedienen mich die schönsten Sklavinnen, die ich in der Weite unseres Reiches finden konnte. Du hast bereits einige von ihnen gesehen. Sie gehören dir und deinen Wünschen. Du kannst jetzt zur Ruhe gehen, Archimedes. Und ich werde sie dir senden.«

Archimedes erschrak über die verhaltene Wildheit, die aus ihren letzten Worten durchbrach. Er wußte, daß die Antwort, die er jetzt geben würde, über ihre Freundschaft entschied. Was aber sollte er antworten, das nicht plump, kalt oder störend klang. Er sprang vom Lager und ging im Zimmer auf und nieder. Wozu Überlegungen? Überlegungen nützen nichts mehr, wenn man fühlt, wie das Blut die Wangen durchpulst und die Schläfen zum Pochen bringt.

»Ich verstehe dich nicht«, erwiderte er heiser. »Verstehe nichts, was du sagst, noch weniger aber das, was du denkst. Ich bin so erfüllt von großen Dingen, daß mir alles näherliegt als der Wunsch nach solcher rein äußerer Lust. Wenn du aber glaubst, daß ich solange, als ich mit dir die größten Dinge des Geistes und des Hellenentums gemeinsam durchwandere, an Sklavinnen und deren eingelernte Künste denke, irrst du. Auch ich habe das Recht, unsere Freundschaft heilig zu empfinden.«

»Dann muß wohl ich selbst deine Sklavin sein«, sagte Aletheia ruhig und fein lächelnd. Sie sagte es mit solcher entschlossener Natürlichkeit, daß Archimedes zuerst den Sinn ihrer Worte überhaupt nicht begriff. Als er ihn aber begriff, war das Licht im Raum bereits erloschen, und er fühlte nichts mehr als einen geschmeidigen, duftenden Leib, der ihn heischend und doch wieder hingebend umhüllte.

Als Archimedes erwachte, war es noch früher Morgen. Das fühlte er an der Luft, an den Geräuschen und an den Vogelstimmen, die über seine ausklingenden Träume hereinströmten. Er fand sich nicht rasch zurecht. Als er sich jedoch aufsetzte, wurde ihm alles auf einmal zugleich bewußt. Aletheia lag in gelöstem Schlummer, den Arm zierlich unter dem Haupt, neben ihm und lächelte im Schlafe. Wunschlos, reuelos, erfüllt und wirklich. Seine Wirklichkeit.

Sie hatten noch vieles gesprochen. Nein, es war kein Schatten, kein Verdacht, kein Mißverstehen zwischen ihnen. Aber nicht etwa, weil urgesetzlich der Mann zum Weibe gefunden hatte. Das war nur ein Wegräumen von Unruhe und Mißverstehensmöglichkeit gewesen, so berauschend an und für sich diese Zone ihrer großen Liebe sein mochte. Denn gleich hinter dem Rausch war wieder das Endgültige, die Aufgabe emporgestiegen. Jetzt endlich wußte Archimedes in voller Klarheit, was sie plante und was sie meinte. Und jeder ihrer Sätze stand vor ihm, während der Frühmorgen weiter auf ihn eindrang und ihn selig umkoste.

Sie hatte alles schon durchlebt, was Hellas war und Hellas bieten konnte. Von dionysischen Mysterien Vorderasiens, in denen das Grauen eines für die Hellenen unverständlichen Weltteiles in die lichten Formregionen des Hellenentums einbrach und das Chaos überschäumend über alle Bemühung lichterer Menschen zu ergießen drohte. Vor den Gefahren der eigenen Vaterstadt Milet, vor jenen Rändern Asiens, die schwächeren Menschen als sündhafter Reiz erschienen, war sie in die Hallen der Philosophen nach Athen geflohen. Hier aber war sie neuerlich zutiefst erschrocken. Konnte die bloße reine kristallklare Formbenützung auf die Dauer die tosenden Inhalte des Menschengemütes glätten und bändigen? Brach nicht wieder in der Tragödie trotz reinster Form das Chaos durch, wenn hinter allem das Schicksal blind und unabänderlich drohte? War Leben und Leiden die Wirklichkeit oder war das Schaffen und die philosophische Erkenntnis die Erlösung? War überhaupt das Lebendige so eng, so klein, so unvermengt, daß man ein Entweder-Oder aufstellen durfte? Sie war in Athen zu Füßen der Platoniker und der Peripatetiker stets in tiefere Wirrnis geraten. In einen Zwiespalt, der sie schließlich an den Sitz letzter Wirklichkeit, nach Alexandrien, gezogen hatte, wo ihr ein ungewolltes Schicksal sofort alle Macht und alle Möglichkeiten vor die Füße legte. Hier aber war zu alldem eine weitere Vielfalt über sie hereingebrochen, die sie gar nicht in Rechnung gestellt hatte: der Anblick des von innen heraus verfaulenden vieltausendjährigen Riesenreiches der Ägypter. Diese Schau aber hatte ihr schließlich Klarheit geschenkt, eine einfachere, härtere Klarheit, als sie sie erwartet hatte. Sie hatte einsehen müssen, daß aller Geist, alles Werk, alles Recht nur dann weiterlebte, wenn sich der Träger dieser Blüten, der Stamm, auf dem die Blüten saßen, behauptete und mit seinen Wurzeln tief ins Erdreich wuchs. Die endgültige Wirklichkeit war das Volk. War das Ägyptertum, war der Kreis aller Hellenen. Jedes Volk aber wieder hatte seine nur ihm eigentümliche Art, sich zu äußern, zu wollen, zu lieben, zu hassen, zu genießen. Und jedes Volk hatte auch seine eigentümlichen Irrtümer und Versuchungen, seine eigenen Möglichkeiten zu entarten. Und ebenso wie sich die Ägypter in ihrem unablässigen Gedanken an Tod und Zauberei endlich so weit erschöpft hatten, daß sie jetzt Weihwasser durch Maschinen lieferten und das Totengericht als spielerisches Orakel benützten, so sei es die ärgste Versuchung des Hellenentums, der reinen Form alles zum Opfer zu bringen, bis die Wirklichkeit verschwunden sei. Das Wirkliche werde bespöttelt, verdächtigt, ja geradezu verfemt. Und der Stein gewordene Ausdruck dieser entfesselten Unwirklichkeit sei der höchste Stolz der Hellenen, das Museion. Jeder Schritt in Hellas werde halb getan, wo es heute und in der Zukunft um Ganzes gehe. Man bleibe bei der Erkenntnis stecken, ohne das Erkannte durchzuführen. Auf Erkanntes werde zu Erkennendes, auf dieses wieder neue Forschung getürmt, und man wisse am Ende so genau um die Krankheit Bescheid, daß man den Kranken sterben lasse, weil man vor Schrecken über das Erkannte den Kampf aufgebe. Er aber, Archimedes, sei ein anderer Mensch, ein anderer Geist, eine andere Welt. Durchaus nicht unhellenisch. Er sei nur jünger, ursprünglicher, kämpferischer als all die Gespenster des Museions. Und werde deshalb Neues finden, weil er die ausgetretenen Pfade des an sich beschränkten Geistesreiches verlasse und zur unermeßlichen reichen Wirklichkeit zurückfliehe, um ihr alle Geheimnisse zu entreißen.

Mag sein, hatte Aletheia geschlossen, daß ihre Ansichten nicht viel mehr seien als die wirren Träume eines geängstigten Mädchens. Die Gedanken drängten sich ihr aber mit derart unentrinnbarer Wucht auf, daß sie sich ihnen nicht entziehen könne. Und stets erhalte sie bei jedem Schritt neue Bestätigungen für ihre Ängste. Sie beuge sich aber nicht. Denn solange noch Hellenen lebten, solange Hellas neue Kraft und neuen Geist gebäre – und daß Hellas noch fruchtbar sei, unterliege keinem Zweifel –, so lange könne und dürfe man nicht tatenlos den Kampf aufgeben und zusehen, wie seit neuer Zeit in diesem chaotischen Zauberkessel Alexandria Nicht-Hellenen sich des hellenischen Werks zu bemächtigen begännen und es zur Spitze der Übertreibung drängten.

Archimedes war tief erschüttert gewesen über die Ausbrüche körperlicher und geistiger Leidenschaft, die auf ihn eingestürmt waren. Und wieder und wieder kroch in ihm der Zweifel empor, ob er nicht doch am Ende träume, ob nicht das furchtbare Dämonium, das ihn von innen heraus trieb und aufwühlte, sich nur in einem Wachtraum Gestalt geschaffen habe – und ob nicht die Wirklichkeit eine von den Göttinnen sei, die unerkannt zwischen den irrenden und hastenden Menschen wandle.

Zugleich aber mit solchen Zweifeln, die er gar nicht voll ausschöpfen konnte, meldete sich in ihm verwirrend und fragend sein eigenes Dämonium. Leise und behutsam glitt er vom Lager, kleidete sich an und verließ den Raum, um sich in anderen Räumen zu verirren. Er wollte ja auch kein Ziel, kein Ende, keine irdische Klarheit. Irgendwo ließ er sich auf eine Kline nieder, merkte es kaum, daß eine geräuschlose Dienerin ihn beobachtete und dann hinaushuschte, um kurze Zeit nachher Schüsseln mit Obst, Backwerk und Krüge voll Milch, Honig und Wein vor ihn hinzustellen. Er war nicht erstaunt, aß und trank und ließ die Fragen in seinem Inneren aufsteigen und an die Zonen hämmern, in denen die Antworten vielleicht schon bereitlagen.

Warum, so fragte es, war dein Gewichtsgott kleiner, obwohl du schwerer bist als Aletheia? Offensichtlich deshalb, weil die Teile des Waagebalkens zueinander in andrem Verhältnis standen als bei Aletheia. Es ist richtig, daß dies die Ursache sein muß. Es war ja auch deutlich zu bemerken. Bei mir war der Gewichtsarm verhältnismäßig noch weit länger als bei Aletheia. Wären wir beide mit der gleichen Waagestellung geprüft worden, dann hätte sich auch in den Gewichten das natürliche Verhältnis eingestellt. Es wurde durch die Verschiebung umgekehrt. Es ist auch klar und das weiß jeder, daß bei gleich langen Waagebalken Gewicht und gewogener Körper gleich schwer sind. Bei längerem Gewichtsarm wird jedoch das Gewicht kleiner. Sollten da auch klare einfache Proportionen herrschen? Oder werde ich wieder einmal bei Dingen, die einfach aussehen, an das Urreich des Irrationalen, des alogischen anprallen?

Plötzlich sprang Archimedes auf, da ein neuer Gedanke in seine Gedankenkreise hereingeschossen war, der ihn fast zersprengte:

Was aber, so schrie es in ihm fast körperlich, ergibt sich denn bereits aus dem, was ich sah? Warum bleiben die Ägypter bei ihrem Orakel stecken, ohne die ungeheuren Weiterungen zu erblicken? Gewicht und ziehende Kraft ist doch dasselbe. Auch hebende Kraft ist nichts anderes. Waage und Hebel sind doch nichts anderes als zwei Formen ein und desselben Gesetzes, ein und derselben Urmaschine. Ich hätte ja kein Gewicht aufzulegen brauchen, als Aletheia auf der Schale stand. Ich hätte den längeren Waagebalken auch mit der Hand fassen können, um sie zu heben. Und je länger der Balken wird, desto leichter kann ich die Last heben, die auf dem kürzeren Balkenteil ruht.

Archimedes setzte sich wieder. Allerdings ein wenig erschöpft. Er war aber ruhiger geworden, da das Denken und Schließen in ihm die Oberhand zu gewinnen begann. Und er wußte auch sofort, daß er nur Schritt für Schritt weiterschließen mußte, um von der Urmaschine auf verwickeltere und anders geformte Maschinen zu stoßen, die dieses Urgesetz des Hebels und der Waage, das er quantitativ vorläufig nur in gröbstem Umriß kannte, in sich trugen. War diese neue Welt der Maschinen vielleicht die Wirklichkeit, die bisher den Hellenen fehlte? Die sie reicher, größer, mächtiger machte? Zu der eben die Hellenen, die besten Mathematiker des Erdkreises, wahrscheinlich mehr Voraussetzungen mitbrachten als alle anderen Völker? Und die sie, umbrandet von stumpf verständnislosen oder kalt feindseligen Nachbarn, in den Stand setzte, sich trotz ihrer verhältnismäßig kleinen Volkszahl siegreich gegen die Umwelt zu behaupten? Ja, jetzt gewann erst die stolze hellenische Mathematik ihren wahren Sinn, wurde echtestes Volksgut, wurde der verlängerte Arm des ganzen Hellenentums. Nie aber wieder durfte ein rasender Knabe wie Apollonios reife Männer schmähen, weil sie die Wirklichkeit und die wahre Bestimmung der Mathematik besser durchschauten als all jene, die Mathematik mit Dichtung verwechselten, indem sie Reinheit des Formalen so sehr an die Spitze stellten, daß dabei die Wirklichkeit einem ganzen Volk entglitt und es damit an die Schärfe des Schwertes ungenialerer, aber wirklichkeitsnäherer Feinde lieferte. Nein, Apollonios, dreimal nein. Ich schäme mich nicht mehr vor dir. Ich verzeihe dir vielmehr deine Sünde gegen Hellas und die Wirklichkeit, die wiederum keine Sünde ist, solange noch Männer leben, die deine Erkenntnisse zur Wirklichkeit erwecken können. Denn das ist das tiefste Geheimnis der Mathematik. Ganz groß kann sie nur als Selbstzweck werden, als voreilende Form, zu der sich erst die Inhalte vielleicht nach Äonen finden werden. Hier hat der Hellene recht, der um die Reinheit der Form kämpft. Der prometheische Hellene aber muß dann den neidischen Göttern den Funken entreißen, um ihn für sein Volk zu leuchtender und wärmender Flamme zu entfachen.

Wieviel Zeit verstrichen war, seit sein Geist durch das Reich der Maschinen, durch jene Vielfalt von Metall, Holz, Rädern, Seilen und Schrauben gerast war, wußte Archimedes nicht. Er erschrak nur, als Aletheia in einem weißen Byssosgewand vor ihm stand und ihn freundlich-spöttisch anlächelte.

»Habe ich dich sehr gestört?« fragte sie und strich mit der Hand über seine Locken.

»Gestört?« Archimedes war aufgestanden. »Nein, Aletheia, du störst mich nie. Denn es ist gleichgültig, bei welchem Herzschlag mein mathematisches Leben aufhört und mein Leben als Mensch beginnt. Wie ein Geflecht liegen beide Lebenskreise übereinander und durcheinander und eben du hast es mich gelehrt, daß die beiden Kreise einander an vielen Stellen überschneiden und einander weiter, größer und erfüllter machen.«

»Schöneres konntest du mir nicht sagen. Jetzt bin ich königlich belohnt.« Ihr Ton war warm, fast von Tränen der Freude durchklungen. Sofort aber straffte sie sich zur Härte: »Es ist noch nicht heiß draußen, Archimedes. Ich möchte dir gerne ein Stück meines Reiches, die Felder und die Papyrospflanzungen zeigen.«

Jenseits des Gartens, der das Landhaus auf allen Seiten schattend umgab, dehnte sich unabsehbar die Ebene des Deltas, aus der nur wie ferne Inseln Dörfer, Heiligtümer und Landsitze hervorragten, die auf kleinen künstlichen Hügeln sockelten.

Eine Sänfte trug sie zwischen gelben reifenden Ähren, zwischen Blattpflanzen bis an eine Gruppe von sumpfigen Weihern, in die von allen Seiten Kanäle mündeten. Erst von hier, wo sie die Sänfte verließen und dem Rande der Teiche entlang schritten, sah man von einem erhöhten Punkt aus, daß das ganze Land mit einem Netz von Bewässerungsrinnen überzogen war. Einige Stadien nordwärts aber trafen sie wieder auf die Böschung des kanopischen Nilarmes, aus dem Schöpfräder knarrend das Wasser hoben, um es in die Rinnen zu ergießen. Die Räder aber wurden von Büffeln angetrieben, die stumpf und geduldig im Kreise schritten.

Archimedes stellte zahlreiche Fragen an Aletheia, die sie schnell und sicher beantwortete. Sie war nicht bloß kraft ihres Geldes Herrin dieser Weiten. Sie bekümmerte sich wirklich und sachbewußt um die Mehrung des Volksreichtums.

»Ich habe über die Probleme des Nils lange und eingehend mit König Philadelphos gesprochen«, sagte sie. »Und ich fand es unerträglich, daß Ägypten nicht, wie Herodot meint, ein Geschenk, sondern viel eher ein machtloser Sklave des Nils ist. Tut er uns einmal den Gefallen, bei den jährlichen Überschwemmungen um vierzehn Ellen zu steigen, dann blüht und gedeiht alles aufs schönste. Steigt er aber bloß um acht Ellen, dann stöhnt das Land in Hungersnot. Wenn man nicht durch Speicherung von Getreide vorsorgt. Es können aber auch lange Reihen von schlechten Jahren aufeinanderfolgen. Die jüdischen Gelehrten, die, wie du vielleicht weißt, in Alexandria soeben ihre heiligen Bücher ins Hellenische übertrugen, zeigten einmal dem König eine Stelle, wo von sieben mageren und sieben fetten Jahren die Rede ist. Wenn wir das vielleicht auch für übertrieben halten und wenn auch die Juden in Alexandria uns durch ihre sogenannte Geschäftstüchtigkeit und mangelnde Ehrlichkeit viel zu schaffen machen – sie pflanzen nämlich absichtlich wenig Datteln, um die Preise in die Höhe zu treiben und ähnliches – so könnte ein solcher Mißstand mit dem Nil gleichwohl eintreten. Dann aber helfen alle Lagerhäuser nichts. Ich bewog also Philadelphos, durch Elefantenjäger weit drunten im Süden die Ursache der Nilüberschwemmungen erkunden zu lassen. Vielleicht könnte man die Überschwemmungen, so hofften wir, an den Quellen beeinflussen. Es stellte sich jedoch heraus, daß die Überschwemmungen von den Regengüssen in Äthiopien und Nubien, und zwar von regelmäßig wiederkehrenden Regengüssen, abhängen, die nur durch die Götter zu beeinflussen wären. Stauwerke aber oder Wasserspeicher dort anzulegen, wo es noch erfolgversprechend wäre, dazu reicht wohl die Kraft und die Baukunst ganz Ägyptens nicht aus. Wir verbesserten also im Lande die von altersher bekannten Schöpfräder, ließen durch Sklaven und durch Soldaten das Netz der Kanäle ergänzen und ausbauen, verschafften uns so viel Büffel, als wir auftreiben konnten – aber das alles ist doch erst ein Beginn. Du siehst die Schöpfwerke vor dir, Archimedes. Die Kraft der Tiere wird durch sie nur recht unvollkommen ausgenützt und die Räder selbst zerfallen in unsrem Klima mit einer unerwünschten Schnelligkeit.« Sie lachte kurz auf und faßte seinen Arm. Dann schloß sie: »Auf die Gefahr hin, Archimedes, daß du alles Bisherige für den schlauen Überfall einer unbeschränkt geldgierigen Frau hältst, frage ich dich, ob es nicht eine deiner würdige Aufgabe wäre, unserem Lande bessere Bewässerungsanlagen zu verschaffen. Es gibt da sicher neue Wege, die ich ebensowenig ahne wie alle anderen. Und es geschähe doch irgendwie für das Hellenentum. Denn Ägypten wird niemals wieder ein selbständiger Staat werden. Ich hoffe im Gegenteil, daß es die Zuflucht und die Kornkammer des verstreuten und vielleicht einmal geeinten Hellas werden könnte. Eines Hellas, das die Wirklichkeit sehen wird und sehen soll.«

Sie erwartete keine Antwort von ihm, sondern wandte sich ab und sprach mit einigen Bauern, die herbeigeeilt waren, um sie zu begrüßen. Archimedes aber stieg die Böschung hinab zum Nil und begann, die Einrichtungen eines Schöpfwerkes genau zu überprüfen und jede Einzelheit mit der Handspanne auszumessen. Dabei prägte sich jede Zahl, jede Form und jeder Winkel unauslöschlich seinem Gedächtnis ein. Er sah noch durchaus nicht den Ausgangspunkt einer Möglichkeit, das Wasser des Nilarmes in besserer als der vorhandenen Art in die Rinnsale des Deltas zu heben. Aber er wollte vorläufig alle Bedingungen genau kennen, unter denen eine spätere allfällige Lösung irgend einen Erfolg versprach.

Inzwischen war die Sonne höher gestiegen und Aletheia mahnte zur Heimkehr, da bald fast unerträgliche Hitze auf die Ebene niederglühen würde. Am Rückweg zeigte sie ihm noch die Papyrospflanzungen und schilderte ihm die Vorteile und Nachteile der einzelnen Spielarten der höchst unansehnlichen Stengelstauden, die dazu bestimmt waren, ewige Gedanken dereinst in die Ewigkeit hinauszutragen.

Sowohl Aletheia als auch Archimedes schienen in ungesprochenem Einverständnis die Rückkehr nach Alexandria vergessen zu haben. Zumindest sprachen sie beide nicht davon und ließen sich auf der Barke ungetrübter Glückseligkeit und Ruhe durch die Zeit treiben. Es waren vielleicht fünf, vielleicht zehn Tage, vielleicht noch mehr, die sie mitsammen bereits im Landhause verbrachten. Eine andre, einzigartige Form des Museions hatte sich um Archimedes gelegt, in der nicht einmal die Bibliothek fehlte. Denn es gab im Landhause eine erstaunliche Fülle von Büchern aus allen Wissensgebieten, und auch an Schreibgerät war durchaus kein Mangel. Archimedes arbeitete auch ruhig und unablässig weiter und fand mehr als einmal Gelegenheit, Aletheia mit seinen Entdeckungen vertraut zu machen. Anfänglich war er überrascht über die kultische Hingabe, mit der sie das Neue aufnahm. Sie saß vor ihm wie ein beschenktes Kind, als er ihr die Entdeckungen über den Inhalt und die Oberfläche offenbarte, und blickte ihn mit weiten strahlenden Augen an. Noch mehr aber war er befeuert, als sie am nächsten Tage mit sauberen Zeichnungen und Rechnungen zu ihm kam und ihn schüchtern fragte, ob sie seine Beweisführungen auch richtig verstanden habe. Durch diese Tat tilgte sie bei ihm den letzten Rest von Mißtrauen. Denn sie hatte dadurch unwiderleglich festgestellt, daß nicht bloß spielerisches Interesse Und oberflächliche Neugier sie zu ihm und zu seinem Werk trieb, sondern daß sie vielmehr seine Welt auch in all ihrer schwierigen Untermauerung erkennen und umfassen wollte.

Eines Nachmittags, als eben wieder einmal die Barke aus Alexandria verschiedene Dinge, die zur Führung des Landsitzes notwendig waren, herübergebracht hatte, kam sie freudig in den Arbeitsraum des Archimedes und stellte eine etwa spannenhohe Alabasterfigur auf seinen Arbeitstisch.

»Zum Andenken an unser erstes Zusammentreffen«, sagte sie. »Der Bildhauer hat es sauber gearbeitet. Erkennst du es, Archimedes?«

Archimedes nahm die Figur in die Hand und lächelte. Es war eine zierliche Nachbildung des Paneions mit seinem spiralförmigen Aufstiegsweg und der Plattform, auf der er das erstemal aus ihrem Munde gehört hatte, daß sie die Wirklichkeit sei.

»Das Paneion«, erwiderte er, wobei ein Katarakt von Erinnerungen auf ihn einstürmte. Und er begann die Figur langsam in der Hand zu drehen. Da aber erblickte und fühlte er etwas, das ihn mit einem Schauer noch halbbewußter Erkenntnis erfüllte. Der Schraubengang wanderte, ohne daß sich die Schraubenspindel, die ganze Figur, von ihrer Stelle rührte. Und derselbe Schraubengang schob seine linke Hand, die mit einem Finger das Geländer des Aufstiegsweges zart berührte, mit unentrinnbarer Gewalt aufwärts. Er verkehrte sofort die Drehrichtung, hielt die linke Hand noch leichter, noch bewußter. Dann stellte er die Figur auf den Tisch, um das Spiel zu wiederholen. Plötzlich schoß ihm alles Blut in die Wangen und er sprang, ohne weiter auf die Umgebung zu achten, vom Sitz empor und lief hinaus: in den Garten, auf die Felder, an das Ufer des Nils. Dort kühlte er sich die Schläfen, die Arme, die Brust, indem er mit hohlen Händen Nilwasser schöpfte, und warf sich schließlich auf die Böschung.

Als er viele Stunden später heimkehrte, empfing ihn Aletheia traurig und nachdenklich, nicht jedoch erzürnt. Sie war um so erstaunter, als er sie gegen seine bisherige Gewohnheit mit Zärtlichkeit überschüttete und sich übermütig wie ein Ephebe betrug.

»Wenn ich nicht gewußt hätte, daß ich dir etwas geben kann, hätte ich dir in den letzten Stunden nicht den Frohsinn geraubt«, sagte er mit starker Stimme. »Jetzt aber brauche ich Zimmerleute, Werkleute, Baumeister, Erdarbeiter, Steinmetzen, Brunnenmacher, kurz, was du auftreiben kannst. Und für diese Nacht bitte ich um Urlaub. Ich weiß, du wirst mir die Leute schicken. Denn du bist die Wirklichkeit. Willst du mir helfen?«

Aletheia stand kopfschüttelnd auf.

»Wenn es sich nicht um Archimedes handelte, würde ich Ärzte holen lassen. So aber muß ich wohl deinen Willen erfüllen. Darin, daß ich dazu in der von dir befohlenen Zeit fähig bin, hast du dich nicht getäuscht.« Und sie verließ den Raum.

Archimedes aber raffte fieberhaft Papyrosblätter zusammen, auf denen er den Werkleuten die Zeichnungen hinwerfen würde, nach denen sie arbeiten sollten.

Die Leidenschaft und der Zielwille des Archimedes war der Durchführung seiner Pläne mächtig vorausgeeilt. Es währte fast fünf Tage und fünf Nächte, bis er das erreicht hatte, was er bereits in der ersten Nacht zu schaffen gehofft hatte. Dabei zwang ihn ein starrsinniger Aberglaube oder eine Art von Pietät gegen Aletheia, nichts von diesen werdenden Maschinen zu erproben. Sie wurden unter seiner nie rastenden Aufsicht ausgeführt, poliert, zusammengesetzt und schließlich mit großen Tüchern und Matten bedeckt.

Er war diese Tage und Nächte nur bei den Mahlzeiten und während der Stunden allergrößter Hitze im Landhause. Aletheia aber besaß Zartsinn und Beherrschung genug, ihn weder zu fragen noch durch Gespräche abzulenken, da selbst eine weniger seelenkundige Frau als sie gesehen hätte, welche harte und aufreibende Kämpfe in seinem Innern tobten. Sie vermied es auch, ihm irgendwie nachzuspüren, insbesondere, da er ihr das Betreten einer gewissen Zone ihrer Besitzungen lachend, aber unzweideutig, scharf verboten hatte.

Eines Morgens nun, knapp nach Sonnenaufgang, stürmte er ohne Rücksicht in ihren Schlafraum, den er die letzten Tage überhaupt gemieden hatte, und weckte sie. Dabei war sein Blick derart verklärt, daß die große Müdigkeit, die sich schon in seinen Zügen gezeigt hatte, wie weggewischt war. Sein von der Sonne tief braun gebranntes Antlitz leuchtete und strahlte förmlich Siegesgewißheit aus.

Aletheia verstand sofort, daß er an irgendeinem Ziel angelangt sein mußte. Sie ahnte sogar, daß es sich um die Bewässerungsanlagen handeln könne. Nur erschien ihr die Schnelligkeit, mit der offensichtlich dieses Ziel erreicht worden war, ein wenig unglaubwürdig.

Sie sprang zierlich vom Lager und lächelte ihn an. Und wußte, daß in solchen Augenblicken, in denen ein Mann der geliebten Frau das Ergebnis seiner Mühe zu Füßen legen will, jeder Herzschlag einer Verzögerung eine nicht wieder gutzumachende Kränkung bedeutete. Deshalb auch sagte sie schnell:

»Soll ich mit dir kommen, Archimedes?«

»Wenn es dir nicht ungelegen ist, würde es mich sehr, sehr freuen«, antwortete er, wobei ein roter Schimmer von Erregung sein Antlitz überhuschte.

»Ungelegen? Ich bin doch für dich da«, sagte sie leise.

»Nein, heute bin ich für dich da. Du wirst es sehen. Endlich kann ich dir deine große Freundschaft durch eine Tat der Wirklichkeit vergelten.«

»Vielleicht ist der Wunsch nach Vergeltung irgendwo versteckte Feindschaft. Nicht böse sein, Archimedes. Diese tiefe Weisheit erörtern wir zu gelegenerer Zeit. Laß jetzt, bitte, die Sänfte bereitstellen. Ich werde mich eilen. Denn ich bin ja selbst schon in großer Spannung und Erregung.«

Der Morgen war herrlich. Noch reicher und üppiger standen die goldgelben Saaten, noch frischer sangen die Vögel, und der Himmel war gesprenkelt mit winzigen Federwölkchen.

Archimedes hatte den Sänftenträgern schon bevor Aletheia zur Stelle war, den Weg beschrieben, den sie einschlagen sollten. So unterbrach kein Wort diese kurze Reise durchs Delta. Sie gelangten bald an die Böschung des Nilarmes, wo Archimedes Aletheia bat, auszusteigen.

Sie gingen die wenigen Schritte vom Weg bis zum Uferrand. Archimedes faßte ihre Hand und zeigte auf den Werkplatz, auf dem noch allenthalben halbbehauene Balken, Bretter, Eisenbänder, Späne, Nägel und Teerbehälter umherlagen. In einiger Entfernung dröhnte das Pochen von Hämmern und das Kreischen von Sägen. Vom Wasserspiegel des Nils herauf zum Böschungsrand zog sich jedoch eine vorläufig nicht näher erkennbare Vorrichtung, da sie mit breiten Tüchern und Matten bedeckt war. Nur ganz oben mündete diese Zurüstung in eine breite, tiefe Rinne, die zum nächsten Bewässerungskanal in sanfter Neigung hinleitete.

Archimedes winkte die Werkleute heran, die gelaufen kamen, als sie seiner ansichtig wurden. Er bedeutete ihnen, die Hüllen zu entfernen, drückte Aletheia noch einmal die Hand und faßte dann selbst mit an.

Was sollte das sein? Aletheia versuchte, sich über den Sinn und Zweck der Vorrichtung klarzuwerden. Sie hatte ein Schöpfrad neuer, verbesserter Art erwartet und erblickte jetzt ein vollständig neuartiges, mit nichts vergleichbares Ding, das jedem Erklärungsversuch trotzte.

Im Wasser selbst ruhte auf einer Art von Steg ein kleines Mühlrad, das allerdings augenblicklich so hoch aus dem Strom gehoben war, daß es stille stand. Von diesem Mühlwerk liefen Gestänge zur Achse einer langen, tonnenförmigen, mit Teer gestrichenen Walze, die mit einem Ende in das Wasser tauchte, während sie selbst der ganzen Länge nach der schrägen Uferböschung parallel lag. Das obere, offene Ende aber ruhte auf einem breiten Trog, an dem die Balken, die das Lager des oberen Achsenstummels trugen, festgemacht waren. Die gleiche Vorrichtung wiederholte sich noch einmal. Eine zweite Tonnenwalze tauchte in den Trog und reichte dann bis zu ihrem oberen Lager, das an der Kimm der Böschung eingerammt war. Die obere Öffnung der zweiten Tonne schließlich lag unmittelbar oberhalb der Rinne, die Aletheia gleich zu Beginn gesehen hatte. Das Sonderbarste dabei war, daß man in diese Tonnenwalzen, obgleich sie beiderseits offen waren, nicht hineinsehen konnte, da sie eine um die Mittelachse umlaufende, ebenfalls geteerte Lamelle hatten, die durch ihr allmähliches spiraliges Zurückfliehen ins Innere denselben Eindruck erweckte, den man hat, wenn man in das leere Haus einer Schnecke hineinblickt.

Archimedes befahl zwei Werkleute auf den Steg und bedeutete ihnen etwas, das Aletheia nicht verstand. Dann untersuchte er noch die Gestänge, goß aus einem Eimer Rindstalg über alle Lager und Zahnräder und kam dann, sonderbar bleich, zu Aletheia herauf. Seine Wangen waren unter der Gebräuntheit fast grau und fielen plötzlich ein, indessen seine Augen übernächtig flackerten.

»Jetzt wende keinen Blick mehr von dieser Maschine«, raunte er heiser Aletheia zu und preßte ihren Arm. »Während der nächsten Herzschläge muß es sich entscheiden, ob Archimedes die Wirklichkeit meistert. Es ist die erste Probe. Ich selbst werde mein Werk jetzt auch zum erstenmal in Gang sehen.« Und er hob mit einem Kommandoruf den rechten Arm steil zur Höhe.

Sofort senkten die Werkleute auf dem Steg das kleine Mühlenrad in seine eigentlichen Lager, so daß es durch die Strömung des Nilarmes sich langsam zu drehen begann. Anfänglich quietschten die Gestänge ächzend auf. Schon nach wenigen Augenblicken jedoch gerieten sie in gleichförmige Bewegung, und alle Übertragungen und Zahnräder gewannen ein rätselhaftes Leben. Als Aletheia den Blick vom Mühlenrad aufwärts wandern ließ, merkte sie, daß sich auch die beiden Tonnenwalzen um ihre Achsen drehten. Und zwar die obere im entgegengesetzten Sinn der unteren, was wahrscheinlich durch eine bloße einmalige Zahnradverkoppelung innerhalb des Troges zu erklären war.

Archimedes beugte sich vor und starrte erregt auf diesen Trog. Hier lag ja die Entscheidung, hier die Bestätigung oder die Widerlegung seiner Hoffnungen. Daher auch dehnten sich für ihn die Augenblicke des Wartens zu Stunden. Aber auch Aletheia begann zu begreifen, was sich ereignen sollte und was sich auch plötzlich, wie gottgewollt, leise und unabwendbar ereignete. Zuerst war es nur ein leichtes gurgelndes Plätschern, das wieder aussetzte. Plötzlich aber begann die obere Öffnung der unteren Tonnenwalze unaufhaltsam und stetig klares Wasser in den Trog zu schütten und machte nicht die geringste Anstalt, diese Tätigkeit zu ändern oder stillzulegen. Fingerbreite um Fingerbreite füllte sich der Trog, und man wähnte schon, er müsse plötzlich überfließen. Doch wie durch ein Wunder hob sich von einer gewissen Linie der Wasserspiegel nicht mehr. Dafür ertönte unmittelbar zu ihren Füßen in der zweiten Tonnenwalze ein gurgelndes Glucksen und Schlittern. Und beim nächsten Herzschlag schon sprühte der erste Schwall vor ihnen in die Bewässerungsrinne, dem kurz darauf der stetige Strom folgte, der die Wasserrinne fast bis zum Rand füllte und schäumend dem Bewässerungsgraben zustrebte.

Die Werkleute waren heraufgelaufen und umstanden mit weitgeöffneten Augen Archimedes und das von ihm vollbrachte Wunder. Plötzlich aber warfen sich einige vor ihm zur Erde und küßten den Saum seines Gewandes. Und einer rief:

»Du hast das heilige Land Kemi fruchtbar gemacht, großer Fremdling, von den Katarakten bis zum Meer. Gebannt hast du die Schrecken der Dürre und Hungersnot. Denn zehnmal so rasch und so reichlich fließt dein Zauberwerk als das beste Schöpfrad. Aber es werden dir auch dazu noch die Felder danken, denen du zahllose Büffel freigemacht hast, auf daß sie die Pflugschar und die Egge ziehen.«

Archimedes erwiderte einfach:

»Die Götter mögen euch recht geben, brave Werkleute! Und sie mögen euch segnen. Denn wenn eure Kunst, eure Kraft und euer Fleiß mir nicht geholfen hätten, dann wäre der Gedanke eines Mathematikers niemals hier, mitten zwischen den strotzenden Feldern, lebendige Wirklichkeit geworden.« Und er machte sich sanft los und schritt wieder hinunter zu den Maschinen, um alle Einzelheiten zu prüfen und nachzusehen, ob sich nicht noch manches verbessern ließe.

Aletheia aber stand, der Schau hingegeben, mit gesenktem Antlitz da und lächelte. Und jedesmal, wenn Archimedes hinaufblickte, traf sein Auge dieses hellstrahlende, beinahe mütterliche Lächeln des Dankes und der Erfülltheit.

Als Archimedes festgestellt hatte, daß die Verwirklichung all seiner Gedanken und Voraussetzungen restlos geglückt war, kam er wieder herauf zur Böschung und faßte die Hand Aletheias.

»Ich werde dir noch das Innere dieser braven Schneckengehäuse zeigen«, sagte er leise und führte sie der Böschung entlang bis zum Werkplatz.

Dort lag noch in weißer Glätte eine halbfertige Tonnenwalze. Um den Kern der Achse wand sich, gleich einem breiten Band, in Schraubenwindungen die Schnecke herum, die dann außen mit einer Art von Faßdauben bekleidet werden sollte. Aletheia war sich über das Wunder sofort im klaren. Wenn die Achse in der Längsrichtung nicht verschoben wurde, dann wanderte bei ihrer Umdrehung jeder Punkt der Spiralfläche unablässig bis zum Ende der Spirale. Und schob so das Wasser von einem Umschwung stetig zum anderen weiter.

»Es war unser Paneion, das mir das erste Licht brachte«, sagte Archimedes. »Dein freundliches Geschenk, das meine Hand vorwärts schob, als ich es herumdrehte, hat dir als Gegengabe das heilige Nilwasser für deine Felder gebracht. Ich bin sehr froh, Aletheia! Denn ich muß mich jetzt nicht mehr so sehr all dessen schämen, was ich dir verdanke.«

Aletheia aber erwiderte mit seltsam klarer und ruhiger Stimme:

»Du hast in den letzten Tagen die Arbeit von vielen Jahren vollbracht. Du sollst jetzt Neues sehen, um dein Inneres mit Bildern zu erfüllen. Meine Barke steht fahrtbereit. Wir wollen, wenn es dir paßt, heute am Abend das Delta verlassen und bis zu den südlichen Grenzen Ägyptens reisen. Vielleicht bringt dir diese Fahrt Klarheit über die Probleme des Hebels und der Waage.« Plötzlich lenkte sie ab: »Wir haben übrigens unsre Prophezeiungen, die wir in Canopus erhielten noch nicht entziffert.« Und sie lachte hell auf und wandte sich zum Gehen.

 


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