Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Aus Miß Halcombe's Tagebuche.

Blackwater Park in Hampshire.

Den 27. Juni. – Sechs Monate, die vergangen sind, sechs lange, einsame Monate, seit Laura und ich uns zuletzt gesehen!

Morgen, am Achtundzwanzigsten, kehren die Reisenden nach England zurück. Ich kann kaum an mein Glück glauben; ich kann mir kaum vorstellen, daß die nächsten vierundzwanzig Stunden die letzten meiner Trennung von Laura sein sollen!

Sie ist den ganzen Winter über mit ihrem Manne in Italien und darauf in Tirol gewesen. Sie kommen in Begleitung von Graf Fosco und seiner Frau zurück, die sich in der Umgegend von London niederzulassen beabsichtigen und versprochen haben, die Sommermonate in Blackwater Park zuzubringen, bis sie eine passende Wohnung gefunden haben.

Inzwischen bin ich hier in Blackwater Park etablirt – »dem alten und interessanten Landsitze« (wie die Grafschaftschronik mich freundlichst unterrichtet) »von Sir Percival Glyde, Baronet,« und zukünftigem Aufenthaltsorts (wie ich jetzt auf eigene Verantwortung hinzufügen kann) der einfachen Marianne Halcombe, augenblicklich in einem gemächlichen kleinen Wohnzimmer sitzend und um sich herum all ihr irdisches Hab und Gut, enthalten in drei Reisekoffern und einem Nachtsacke.

Ich verließ Limmeridge gestern Morgen, nachdem ich den Tag zuvor Lauras lieben, guten Brief aus Paris erhalten hatte. In diesem letzten Briefe sagte sie mir, daß Sir Percival in Southampton zu landen und von da gleich nach seinem Landsitze zu reisen beabsichtige. Er hat so viel Geld im Auslande ausgegeben, daß ihm nicht genug übrig bleibt, um den Rest der Saison in London zuzubringen, und hat sparsamerweise beschlossen, den Sommer und Herbst ruhig in Blackwater zu bleiben. Laura hat mehr als hinreichend Aufregung und Abwechslung gehabt und freut sich auf die ländliche Ruhe und Zurückgezogenheit.

Vorige Nacht schlief ich in London und wurde dort so lange durch allerlei Besuche und Geschäfte abgehalten, daß ich erst nach dem Dunkelwerden in Blackwater anlangte.

Nach meinen bis jetzt empfangenen unbestimmten Eindrücken zu urtheilen, ist es ganz das Gegentheil von Limmeridge. Das Haus steht auf einer ganz flachen Ebene und ist rings von Bäumen eingeschlossen. Ich habe noch Niemanden gesehen, als den Diener, der mir die Thür öffnete, und die Haushälterin, eine sehr aufmerksame, höfliche Frau, die mich auf mein Zimmer führte und mir meinen Thee brachte. Ich habe ein hübsches kleines Wohnzimmer mit Schlafgemach am Ende eines langen Korridors in der ersten Etage. Die Zimmer der Dienerschaft und noch einige Fremdenzimmer sind in der Zweiten Etage, und alle Wohnzimmer im Erdgeschoss.

Es hat soeben auf gespenstische, feierliche Weise von dem kleinen Thurme über dem Centrum des Hauses elf Uhr geschlagen. Dies hat einen großen Hund erweckt, der irgendwo um eine Ecke herum ganz jämmerlich heult und gähnt. Ich höre das Echo von hallenden Schritten in den Gängen unter mir und das Geräusch des Vorschiebens und Schließens von eisernen Riegeln und Stangen an der Hausthür. Die Dienerschaft ist augenscheinlich im Begriffe zu Bette zu gehen.

Mir ist, als ob ich im ganzen Leben die Augen nicht wieder schließen würde. Die bloße Erwartung, morgen das liebe Gesicht wiederzusehen und die bekannte Stimme wieder zu hören, erhält mich in fortwährender fieberhafter Aufregung.

Ich will sehen, ob ich mich nicht schläfrig schreiben kann. Ich habe mein Tagebuch seit einiger Zeit sehr vernachlässigt, was kann ich mir von den Personen, Ereignissen und Wechselfällen der letzten sechs Monats zurückrufen, dem langen, leeren Zeiträume seit Lauras Hochzeitstage?

Walter Hartright steht in meiner Erinnerung obenan. Ich erhielt ein paar Zeilen von ihm, die er gleich nach ihrer Landung in Honduras und etwas heiterer und hoffnungsvoller geschrieben hatte. Etwa einen Monat oder sechs Wochen später sah ich einen Auszug aus einer amerikanischen Zeitung, welcher das Aufbrechen der Abenteurer zu ihrer Reise landeinwärts beschrieb. Man sah sie zuletzt, als sie einen wilden Urwald betraten, Jeder mit seiner Flinte auf der Schulter und sein Gepäck hinter sich tragend. Seitdem hat man alle Spur von ihnen verloren.

Ueber Anna Catherick und ihrer Gefährtin Mrs. Clemens schwebt noch immer dasselbe undurchdringliche Dunkel. Man hat von keiner von Beiden je wieder etwas gehört. Ob sie im Lande sind oder in der Fremde, ob lebend oder todt, kein Mensch weiß es. Sogar Sir Percival's Advocat hat alle Hoffnung und zugleich alle ferneren Nachforschungen aufgegeben.

Unserem guten alten Freunde, Mr. Gilmore, ist ein trauriges Hindernis in seinem thätigen Berufsleben entgegengetreten. Zu Anfang des Frühlings hörten wir zu unserer Bestürzung, daß man ihn bewußtlos an seinem Pulte gefunden und die Aerzte erklärt haben, daß es ein Schlagflußanfall sei. Er hatte längst über Blutandrang und Eingenommenheit des Kopfes geklagt, und sein Arzt hatte ihn vor den Folgen gewarnt, die nicht ausbleiben könnten, falls er fortfahre, früh und spät zu arbeiten. Die Folge davon ist nun, daß ihm entschiedene Verordnungen ertheilt sind, auf wenigstens ein Jahr nicht wieder auf sein Bureau zu gehen und Erholung in gänzlich veränderter Lebensweise zu suchen. Das Geschäft wird demgemäß von seinem Kompagnon fortgesetzt, und er selbst ist augenblicklich in Deutschland, wo er Verwandte hat, die als Kaufleute ansässig sind. Auf diese Weise haben wir noch einen treuen, zuverlässigen Freund verloren, doch, wie ich hoffe, nur auf kurze Zeit.

Die gute Mrs. Vesey reiste bis London mit mir. Wir konnten sie unmöglich zu der Einsamkeit in Limmeridge verurtheilen, nachdem Laura und ich das Haus verlassen, und haben ausgemacht, daß sie bei einer unverheirateten Schwester, die eine Pensionsanstalt in Clapham hat, leben soll. Sie soll im Herbste zu Besuch herkommen. Ich begleitete die gute alte Dame, bis ich sie an ihrem Bestimmungsorte in Sicherheit sah, und überließ sie der Sorgfalt ihrer Schwester.

Was Mr. Fairlie betrifft, so glaube ich mich keiner Ungerechtigkeit schuldig zu machen, wenn ich sage, daß es ihm eine außerordentliche Erleichterung war, sein Haus von allen Frauenzimmern befreit zu sehen. Die Idee, daß er seine Nichte vermißt hätte, ist vollkommen widersinnig, er pflegte sie in früheren Zeiten monatelang nicht zu sehen, und was Mrs. Vesey und mich betrifft, so erlaube ich mir, seine Versicherung, daß ihm unsere Abreise das Herz breche, für das Bekenntnis seines innern Jubels, uns los zu werden, anzusehen.

So viel über die Personen und Ereignisse, die den vordersten Platz in meiner Erinnerung einnehmen. Was aber jetzt über die eine Person, die den ersten Platz in meinem Herzen füllt? Was weiß ich von Laura während der letzten sechs Monate, das ich in mein Tagebuch einschreiben könnte, ehe ich es für heute Abend schließe?

Ich habe nichts als ihre Briefe, und über den wichtigsten aller Gegenstände lassen sie mich alle ohne Ausnahme im Dunkeln.

Behandelt er sie mit Güte? Ist sie jetzt glücklicher, als da wir an ihrem Hochzeitstage von einander schieden? Alle meine Briefe haben diese beiden Fragen enthalten und alle sind sie in Bezug auf diesen Punkt unbeantwortet geblieben, oder so beantwortet, als ob meine Fragen sich bloß auf ihre Gesundheit bezogen hätten. Sie benachrichtigt mich zu wiederholten Malen, daß sie vollkommen wohl ist, daß das Reisen ihr wohl bekommt, aber nirgends finde ich ein Wort, das mir sagte, sie sei mit ihrer Heirat ausgesöhnt. Der Name ihres Mannes erscheint in ihren Briefen nur wie der eines Freundes, der sie auf der Reise begleitet und alle Anordnungen derselben übernommen hätte.

Ich kann nicht entdecken, daß seine Ansichten und Gewohnheiten die ihrigen in irgend einer Hinsicht verändert hätten. Die gewöhnliche moralische Umbildung, die fast unmerklich in einem jungen, frischen, gefühlvollen Weibe durch ihre Heirat bewirkt wird, scheint nicht mit Laura vorgegangen zu sein. Ich sehe nichts, was mir in irgend einer Beziehung eine zwischen ihnen bestehende Sympathie verriethe. Unter allem diesen liegt kein Ton der Klage verborgen, der mir verriethe, daß sie sich in ihrer Verheiratung geradezu unglücklich fühlte. Ich sehe nur, wenn ich sie mir ihren Briefen nach als junge Frau vergegenwärtige, eins traurige Erstarrung, eine unveränderliche Gleichgiltigkeit in ihr. Kurz, es hat während der letzten sechs Monate immer noch Laura Fairlei an mich geschrieben, und niemals Lady Glyde.

Dasselbe Schweigen, welche sie in Bezug auf ihres Mannes Charakter und Betragen beobachtet, trägt sie auch in ihren wenigen Hindeutungen auf Graf Fosco, mit derselben Entschlossenheit auf ihres Mannes Busenfreund über.

Aus irgend einem unerklärten Grunde scheinen der Graf und seine Gemahlin plötzlich im Herbste ihre Pläne geändert zu haben und nach Wien gegangen zu sein, anstatt, wie Sir Percival erwartet hatte, in Rom mit ihnen zusammenzutreffen. Sie verließen Wien erst im Frühling und reisten dann nach Tirol, von wo aus sie mit den jungen Eheleuten die Rückreise nach England antraten. Laura schreibt ausführlich genug über ihr Begegnen mit ihrer Tante und versichert mich, daß dieselbe sich sehr zu ihrem Vortheile verändert habe und als Frau viel ruhiger und vernünftiger geworden sei, als sie vor ihrer Heirat war. Aber in Bezug auf Graf Fosco ist sie zurückhaltend und schweigsam. Sie sagt weiter nichts, als daß er ihr ein Räthsel ist und daß sie mir ihre Eindrücke über ihn nicht sagen will, bis ich ihn selbst gesehen und meine eigene Meinung von ihm gefaßt habe. Dies sieht meiner Ansicht nach nicht günstig für den Grafen aus. Laura hat die feine Kindergabe, durch Instinct einen Freund zu erkennen, in weit vollkommenerem Grade bewahrt, als die meisten Leute, und wenn ich mich in meiner Vermuthung, daß ihr erster Eindruck vom Grafen ein ungünstiger war, nicht täusche, so bin ich in Gefahr, dem erlauchten Ausländer zu mißtrauen, ehe ich ihn noch mit einem Auge gesehen habe.

Es hat soeben zwölf geschlagen, und ich komme zurück, um diese Blätter zu schließen, nachdem ich einen Blick aus meinem offenen Fenster geworfen.

Es soll mich verlangen, wie Blackwater Park bei Tage aussieht. Ich kann nicht sagen, daß der Ort mir bei Nacht besonders gefiele.

Den 28. Juni. – Ein Tag der Nachforschungen und Entdeckungen – aus vielen Gründen ein weit interessanterer Tag, als ich zu erwarten gewagt hatte.

Ich begann natürlich mit den Sehenswürdigkeiten des Hauses.

Das Hauptgebäude stammt aus der Zeit jener unendlich überschätzten Frau, der Königin Elisabeth. Im Erdgeschosse sind zwei ungeheuer lange, niedrige Gallerien, die miteinander parallel laufen und durch scheußliche Familienporträts ein doppelt düsteres Aussehen erhalten. Die Zimmer, welche oberhalb dieser Gallerien liegen, sind in ziemlich gutem Stande gehalten, werden aber selten benützt. Die höfliche Haushälterin, die mich als Führerin begleitete, erbot sich, sie mir zu zeigen, fügte aber rücksichtsvoll hinzu, sie fürchte, ich werde sie etwas in Unordnung finden, ich schlug daher eine Entdeckungsreise in den höheren Regionen aus.

So viel also über das Hauptgebäude. An jedem Ende desselben ist ein Flügel angebaut. Der halb verfallene Flügel links war einst ein allein stehendes Wohngebäude und wurde im vierzehnten Jahrhundert erbaut. Eine von Sir Percival's mütterlichen Vorfahren ließ zur besagten Zeit der Königin Elisabeth das Hauptgebäude im rechten Winkel daranflicken. Die Haushälterin sagte mir, daß die Architektur des »alten Flügels« inwendig sowohl als auswendig von Sachverständigen für außerordentlich schon erklärt werde. Nach einer ferneren Untersuchung kam ich zu der Ueberzeugung, daß die Sachverständigen erst dieser Ansicht werden konnten, nachdem sie sich vorher aller Furcht vor Feuchtigkeit, Finsternis und Ratten entschlagen. Unter diesen Umständen gab ich ohne alles Zaudern zu, daß ich keine Sachverständige sei, und schlug vor, daß wir es mit dem »alten Flügel« machten, wie wir es schon mit den elisabethischen Schlafgemächern gemacht.

Wir gingen dann zum rechten Flügel über, der zur Zeit Georgs des Zweiten erbaut war. Dies ist der bewohnbare Theil des Hauses, welcher um Lauras willen inwendig ausgebessert und neu eingerichtet worden ist. Meine beiden Zimmer und alle die besten Schlafzimmer liegen in der ersten Etage und im Erdgeschosse: das Gesellschaftszimmer, Wohnzimmer, Eßzimmer, eine Bibliothek und ein hübsches kleines Boudoir für Laura, die alle sehr hübsch nach neuer Mode verziert und elegant mit all den herrlichen neuen Luxusgegenständen möblirt sind. Keine von den Stuben ist an Größe und Lustigkeit mit unseren Stuben in Limmeridge zu vergleichen.

Ich verbrachte den Morgen theils in den Zimmern des Erdgeschosses, theils außen in dem Quadrate, das von den drei Seiten des Hauses und dem hohen Eisengitter mit dem Chore gebildet wird. Ein großer Fischteich mit einem allegorischen Ungeheuer in der Mitte bildet den Mittelpunkt des Vierecks. Der Teich ist voller Gold- und Silberfischchen und von dem weichsten Rasengürtel eingefaßt. Ich zögerte hier auf der schattigen Seite ziemlich zufrieden bis zur Gabelfrühstücksstunde; nach derselben nahm ich meinen großen runden Hut und wanderte ohne Begleitung in den schönen warmen Sonnenschein hinaus, um mir die Parkanlagen anzusehen.

Indem ich mich vor dem Hause umschaute, bemerkte ich zu meiner Linken einen Blumengarten und ging darauf zu.

Der Garten erwies sich in der Nähe als klein, unbedeutend und schlecht gehalten. Ich ließ ihn hinter mir, trat durch ein kleines Pförtchen in der Hecke und befand mich in einer Tannenpflanzung. Ein hübscher, künstlicher Pfad schlängelte sich durch die Bäume, und ich schritt auf ihm weiter, wobei meine Erfahrungen im Norden mich belehrten, daß ich mich sandigem, heidigem Boden näherte. Nachdem ich wohl mehr als eins halbe (englische) Meile weit unter den Bäumen dahinspaziert war, machte der Pfad plötzlich eine scharfe Wendung; die Bäume hörten zu beiden Seiten auf, und ich sah mich am Rands einer großen offenen Ebene und auf den Blackwater See hinab, der dem Hause diesen Rahmen gibt.

Der Boden, der sich vor mir hin abwärts zog, war lauter Sand, einige heidige kleine Hügel ausgenommen, welche hie und da die Einförmigkeit unterbrachen. Der See war einst offenbar bis an die Stelle gekommen, an der ich stand, und war allmälig bis auf den dritten Theil seines ehemaligen Umfanges eingetrocknet. Ich sah, wie seine stillen, faulen Wasser etwa eine Viertelmeile von mir in einer Vertiefung von verschlungenem Schilfe, Rohre und von kleinen Erdhügeln in Sümpfe und Pfützen getheilt wurden. Auf dem mir gegenüberliegenden Ufer erhob sich Gebüsch, das die Aussicht verbarg und seine düsteren Schatten auf das träge, flache Wasser warf. Als ich zum See hinabging, sah ich, daß der Boden am entgegengesetzten Ende desselben feucht und sumpfig und mit üppigem Grase und Trauerweiden bewachsen war. Ich sah, halb aus den: Wasser herausragend, das verfaulte Wrack eines umgeworfenen alten Bootes liegen, und auf seine trockene Oberfläche fiel durch eine Lücke in den Räumen hindurch ein schwacher Fleck von Sonnenlicht, in dessen Mitte eine Natter, phantastisch zusammengerollt, verrätherisch still da lag. Ich wandte mich um und ging dem hoher gelegenen, heideartigen Boden und, von meinem früheren Pfade ein wenig abweichend, einem ärmlichen kleinen hölzernen Schuppen zu, der am äußersten Rande der Pflanzung stand.

Als ich mich dem Schuppen nahte, fand ich, daß es früher ein Boothaus gewesen war und daß dem Anscheine nach später ein Versuch gemacht worden, es zu einer Art rohen Lusthäuschens zu machen, in das man eine Bank von Tannenästen, ein paar Sessel und einen Tisch hineinstellte. Ich trat hinein, um mich ein wenig auszuruhen und wieder zu Athem zu kommen.

Ich war kaum eine Minute in dem Boothause gewesen, als ich gewahr wurde, daß meine schnellen Athemzüge seltsamerweise irgendwo unter nur ein Echo fanden. Ich horchte einen Augenblick mit gespannter Aufmerksamkeit und hörte ein leises Röcheln, das unter der Bank hervorzukommen schien, auf der ich saß. Meine Nerven werden nicht leicht durch Kleinigkeiten erschüttert, aber bei dieser Gelegenheit sprang ich erschrocken auf, rief, erhielt keine Antwort, sammelte meinen abhanden gekommenen Muth und blickte unter die Bank.

Da, im fernsten Winkel kauernd, lag die hilflose Ursache meines Schreckens in der Gestalt eines armen kleinen Hundes, ein kleiner schwarz und weißer Wachtelhund. Das Thierchen winselte matt, als ich es ansah und Zu mir lockte, rührte sich aber nicht. Ich rückte die Bank fort und blickte näher hin. Des armen Hündchens Augen umzogen sich schnell, und auf seinen weißen weichen waren Blutflecke. Ich nahm das arme Thier so zart, wie mir nur möglich war, vom Boden auf und legte es in eine Art improvisirter Hängematte, indem ich rund um es her die Falten meines Kleiderrockes aufnahm. Auf diese weise trug ich es nach dem Hause zurück.

Da ich Niemanden im Vorsaale fand, ging ich sofort auf mein Wohnzimmer, machte aus einem meiner alten Shawls ein Bett für das Thierchen und klingelte dann. Das größte und corpulenteste aller denkbaren Stubenmädchen erschien in einem Zustande munterer Einfältigkeit, die für die Geduld einer Heiligen zu viel gewesen wäre. Ihr dickes, formloses Gesicht dehnte sich zu einem breiten Grinsen aus, als sie das verwundete Thierchen erblickte.

»Was siehst du denn da zu lachen?« fragte ich aufgebracht, »weißt du, wem der Hund gehört?«

»Nein, Miß, das weiß ich nicht.« Sie bückte sich und sah die verwundete Seite des Thierchens an, dann erhellte sich ihr Gesicht plötzlich wie durch eine Eingebung, und mit einem Kichern der Zufriedenheit auf die Wunde deutend, sagte sie: »Das hat Baxter gethan, das.«

Ich war so entrüstet, daß ich sie hätte ohrfeigen können. »Baxter?« sagte ich, »wer ist das Thier, den du Baxter nennst?«

Das Mädchen grinste breiter denn je. »Mein Gott, Baxter ist der Holz- und Wildwärter, und wenn er hier fremde Hunde jagen findet, so geht er und schießt sie, ja. Das ist des Wildwärters Pflicht, Miß. Der Hund wird wohl sterben. Dies ist die Stelle, wo er geschossen worden ist, nicht wahr? Das hat Baxter gethan, Miß, und 's ist Baxter's Pflicht, ja.«

Ich war beinahe schlecht genug zu wünschen, Baxter hätte lieber das Stubenmädchen anstatt des Hundes angeschossen. – Da ich sah, daß es nutzlos sei, von diesem begriffslosen Frauenzimmer Hilfe für den kleinen Hund zu erwarten, ersuchte ich sie, die Haushälterin zu bitten, zu mir zu kommen. Sie ging, wie sie gekommen war, von einem Ohr bis zum anderen grinsend. Als sie die Thür schloß, sagte sie noch einmal leise vor sich hin: »Das hat Baxter gethan und es war Baxters Pflicht.«

Die Haushälterin, eine Person, die einige Erziehung und Intelligenz besitzt, brachte vorsorglicherweise etwas Milch und warmes Wasser mit herauf. Sowie sie den Hund am Boden erblickte, machte sie eine Bewegung und wechselte die Farbe.

»Du mein Gott!« rief sie aus, »daß muß Mrs. Catherick's Hund sein!«

»Wessen Hund?« fragte ich im höchsten Erstaunen.

»Mrs. Catherick's. Sie scheinen Mrs. Catherick zu kennen, Miß Halcombe?«

»Nicht persönlich. Aber ich habe von ihr gehört, wohnt sie hier. Hat sie Nachrichten von ihrer Tochter gehabt?«

»Nein, Miß Halcombe. Sie kam, um sich bei uns nach ihr zu erkundigen.«

»Wann?«

»Erst gestern. Sie sagte, sie habe gehört, daß Jemand eine Fremde, deren Beschreibung der ihrer Tochter entspräche, in dieser Umgegend gesehen habe, wir haben aber davon nichts gehört, noch wußte man im Dorfe etwas davon, als ich hinschickte und für Mrs. Catherick Erkundigungen einziehen ließ. Sie brachte jedenfalls diesen kleinen Hund mit sich, als sie kam, und ich sah ihn hinter ihr drein traben, als sie wieder fortging. Vermuthlich verirrte sich das kleine Thier in der Pflanzung und wurde geschossen, wo fanden sie es, Miß Halcombe?«

»In dem alten Schuppen am See.«

»Ach ja, das ist auf der Seite der Pflanzung, und das arme Thier schleppte sich an den nächsten geschützten Ort, wie die Hunde thun, um zu sterben.«

Mrs. Catherick! Der Name klang mir noch immer in den Ohren, als ob die Haushälterin mich soeben erst dadurch in Erstaunen gesetzt hätte, während wir uns mit der Wunde des Hundes beschäftigten, erinnerte ich mich Walter Hartright's warnender Worte: »Sollte Ihnen je auf Ihrem Pfade Anna Catherick begegnen, Miß Halcombe, da machen Sie besseren Gebrauch von Ihrer Gelegenheit, als ich von der meinigen gemacht habe.« Ich beschloß, die mir gebotene Gelegenheit auszubeuten und mir jegliche Auskunft zu verschaffen.

»Sagten Sie nicht, Mrs. Catherick wohne in der Nachbarschaft?« fragte ich.

»O nein,« sagte die Haushälterin. »Sie wohnt in Welmingham; ganz am anderen Ende der Grafschaft, volle fünfundzwanzig Meilen von hier.«

»Sie kennen Mrs. Catherick vermuthlich schon lange?«

»Im Gegentheil, Miß Halcombe; ich sah sie gestern zum ersten Male. Ich hatte natürlich von ihr gehört, da man nur von Sir Percivals Güte erzählt hatte, indem er ihrer Tochter ärztliche Aufsicht und Behandlung verschaffte. Mrs. Catherick ist in ihren Manieren etwas sonderbar, aber übrigens sieht sie recht anständig aus. Sie schien sehr betrübt darüber, als sie fand, daß an dem Gerüchte, ihre Tochter sei in dieser Gegend gesehen worden, nichts wahres sei – wenigstens soviel wir erfahren konnten.«

»Ich fühle einiges Interesse für Mrs. Catherick,« sagte ich. »Ich wollte, ich wäre gestern früh genug hier angelangt, um sie zu sehen. Blieb sie lange da?«

»Ja,« sagte die Haushälterin, »sie blieb eine ziemliche weile. Und ich denke mir, sie wäre noch länger geblieben, wäre ich nicht abgerufen worden, um mit einem fremden Herrn zu sprechen, der zu fragen kam, wann Sir Percival zurückerwartet werde. Mrs. Catherick stand sogleich auf und ging, als sie das Mädchen die Bestellung von dem Herrn bringen hörte. Beim Abschiede sagte sie, es sei unnöthig, Sir Percival etwas davon zu sagen, daß sie hier gewesen sei. Ich fand die Bemerkung etwas sonderbar, namentlich mir gegenüber in meiner verantwortlichen Stellung.«

Ich fand dies ebenfalls; denn Sir Percival hatte mich in Limmeridge glauben lassen, daß vollkommenes Zutrauen zwischen ihm und Mrs. Catherick bestehe, wenn dies aber der Fall war, warum wünschte sie ihm da ihren Besuch in Blackwater Park Zu verheimlichen?

»Vermuthlich,« sagte ich, da ich sah, daß die Haushälterin meine Meinung über Mrs. Catherick's Abschiedsworte zu hören erwartete, »vermuthlich dachte sie, die Nachricht ihres Besuches werde Sir Percival unnöthigerweise verdrießen, indem er ihn daran erinnerte, daß ihre verlorene Tochter noch immer nicht gefunden sei. Sprach sie viel über den Gegenstand?«

»Sehr wenig,« entgegnete die Haushälterin. »Es schien sie überhaupt mehr zu verdrießen als zu betrüben, daß sie keine Spur von ihrer Tochter entdecken konnte. ›Ich gebe sie auf,‹ waren die letzten Worte, die sie darüber sagte; ›ich gebe sie als verloren auf‹, und dann ging sie gleich zu ihren Fragen in Bezug auf Lady Glyde über; sie wollte wissen, ob sie eine schöne und liebenswürdige Dame, ob sie lieblich, gesund und jung – ach Gott! ich dachte mir wohl, daß es so enden werde. Sehen Sie, Miß Halcombe, das arme Thier hat's endlich überstanden!« Der Hund war todt. Er hatte etwas wie ein schwaches Röcheln ausgestoßen, und es hatte die Glieder ein kurzes Zucken durchlaufen, in einer Minute lag das kleine Thier leblos in unseren Händen.

Acht Uhr. Ich kehre soeben von meinem einsamen Staatsdiner Zurück. Der Sonnenuntergang glüht roth über der Wildnis von Bäumen, die ich von meinem Fenster aus sehe, und ich sitze wieder bei meinem Tagebuche.

Welmingham ist der Name des Ortes, wo Mrs. Catherick wohnt. Ihr Brief ist noch in meinem Besitze, jener Brief, welchen sie als Antwort auf den meinigen, den Sir Percival mich zu schreiben nöthigte, in Bezug auf ihre arme Tochter schrieb. Nächster Tage, wenn ich eine sichere Gelegenheit dazu finden kann, will ich diesen Brief als Empfehlungsschreiben mitnehmen und sehen, was ich in einer persönlichen Zusammenkunft aus Mrs. Catherick machen kann. Ich begreife ihren Wunsch, Sir Percival ihren Besuch in Blackwater zu verheimlichen, nicht und bin nicht halb so überzeugt davon, wie die Haushälterin zu sein scheint, daß ihre Tochter nicht doch am Ende in der Umgegend ist. was hätte Walter Hartright in diesem dringenden Falle gesagt? Armer, lieber Hartright! Ich fange schon an, seinen redlichen Rath und seine bereitwillige Hilfe zu vermissen.

Horch'! Gewiß, ich horte etwas? Ja! ich höre den Trab der Pferde, das Knirschen der Räder. Fort mit Tagebuch und Tinte! Die Reisenden sind zurück – mein Liebling, meine Laura ist endlich wieder da!

Den 1. Juli. – Die Verwirrung ihrer Ankunft hat Zeit gehabt, sich zu legen. Es sind zwei Tage seit der Ankunft der Reisenden vergangen. Ich darf jetzt mit einiger Aussicht, meine Berichte mit gewohnter Fassung fortzusetzen, zu meinem Tagebuche zurückkehren.

Ich finde Laura verändert.

Verändert im Aeußern und in einer Beziehung auch verändert im Charakter. Es ist mehr Farbe auf ihren Wangen, und die Umrisse ihres Gesichtes sind bestimmter und runder, ihre Gestalt scheint mehr ausgebildet, und ihre Bewegungen sicherer und unbefangener, als sie zu ihrer Mädchenzeit waren. Aber es fehlt mir etwas, wenn ich sie ansehe – etwas, das dem glücklichen, unschuldigen Leben Laura Fairlie's angehörte und das ich in Lady Glyde vergebens suche. Es lebte in alten Zeiten etwas so Frisches, Sanftes, immer Wechselndes in der zarten Schönheit ihres Gesichtes, dessen Zauber zu beschreiben unmöglich war. Das ist fort. Mir war, als sähe ich einen schwachen Widerschein davon, als sie am Abend ihrer Rückkehr bei der Gemüthsbewegung, die ihr unser plötzliches Begegnen verursachte, erbleichte; aber seitdem habe ich nichts wieder davon gesehen.

Die zweite Veränderung, die, welche ich in ihrem Charakter wahrgenommen habe, hatte mich nicht überrascht, da ich durch den Ton ihrer Briefs darauf vorbereitet war. Jetzt, da sie zu Hause ist, finde ich, daß sie ebenso ungern von ihrem Verhältnisse zu ihrem Manne spricht, als sie vorher darüber schrieb. Bei meiner ersten Anspielung auf diesen Gegenstand legte sie ihre Hand auf meine Lippen, und zwar mit einem Blicke und einer Bewegung, die mich auf schmerzhafte Weise an die glückliche Vergangenheit erinnerten, da wir keine Geheimnisse vor einander hatten.

»Wenn wir Beide zusammen sind, Marianne,« sagte sie, »werden wir glücklicher und unbefangener miteinander sein, wenn wir meine Heirat als das annehmen, was sie ist, und so wenig als möglich darüber sprechen und daran denken. Ich würde dir Alles erzählen, herzige Schwester, was mich selbst betrifft, wenn meine Mittheilungen da enden könnten. Aber das wäre nicht der Fall – sie würden zu Mittheilungen über meinen Mann führen, die ich jetzt, da ich einmal verheiratet bin, um seinetwillen, um deinetwillen und meinetwillen lieber vermeiden will. Ich will damit nicht sagen, daß sie dich betrüben würden – das wollte ich um die Welt nicht damit andeuten. Aber mich verlangt so danach, glücklich zu sein, jetzt, da ich dich wieder habe, und auch dich glücklich zu sehen –« sie unterbrach sich plötzlich und schaute sich rings im Zimmer um. »Ach!« rief sie, indem sie mit einem fröhlichen Lächeln des Erkennens die Hände zusammenschlug, »da finde ich schon wieder eine alte Bekanntschaft! Dein Bücherschrank, Marianne, dein lieber, alter, schäbiger, kleiner Bücherschrank – ich freue mich so, daß du ihn aus Limmeridge mitgebracht hast! Und dein Arbeitskästchen, gerade so unordentlich wie sonst! Und der abscheuliche, schwere Herren-Regenschirm, auf den du so versessen warst, wenn es regnete! Und vor Allem, dein eigenes, liebes, braunes, kluges Zigeunergesicht, das mich wieder wie sonst anblickt! Es ist so heimatlich hier! wie können wir es nur noch mehr so machen? Ich will meines Vaters Bild in deiner Stube aufhängen, anstatt in der meinigen, und alle meine kleinen Schätze aus Limmeridge hier aufstellen, und dann wollen wir viele Stunden des Tages zwischen diesen freundschaftlichen vier Wänden zusammen zubringen. O, Marianne!« sagte sie, sich plötzlich auf eine kleine Fußbank zu meinen Füßen setzend und mir ernst in's Gesicht sehend, »versprich mir, daß du dich nie verheiraten und mich verlassen willst. Es ist sehr egoistisch von mir, dies zu sagen, aber du bist unverheiratet so viel besser daran, wenn – wenn du deinen Mann nicht gerade sehr, sehr lieb hast – aber du wirst Niemanden als mich sehr, sehr lieb haben, wie, Marianne?« Sie hielt wieder inne, legte meine Hände auf meinem Schooße übereinander und ihr Gesicht auf sie. »Hast du kürzlich viele Briefe geschrieben und erhalten?« sagte sie mit leiser, plötzlich veränderter Stimme. Ich verstand, was sie meinte, aber ich hielt es für meine Pflicht, sie nicht darin zu bestärken, indem ich ihr auf halbem Wege entgegenkäme. »Hast du von ihm gehört?« fuhr sie fort, indem sie schmeichelnd meine Hände küßte, damit ich ihr diese noch directere Frage vergebe. »Ist er wohl und glücklich und geht es ihm gut in seinem Berufe? Hat er sich ganz beruhigt und hat er mich vergessen?

Sie hätte diese Fragen nicht thun sollen, aber ach! wo ist das Weib, den: es gelang, das Bild einer wahren Liebe je ganz aus ihrem Herzen zu tilgen?

Ich versuchte nicht, ihr Vorstellungen zu machen: vielleicht, weil ich die furchtlose Offenheit, die mir so unverhohlen das zeigte, was andere Frauen in ihrer Lage verbergen, aufrichtig zu schätzen wußte, vielleicht auch, weil ich in meinem eigenen Herzen und Gewissen fühlte, daß ich an ihrer Stelle dieselben Fragen gethan hätte. Das Rechtlichste, was ich thun konnte, war, ihr zu sagen, daß ich kürzlich nicht an ihn geschrieben, noch von ihm gehört habe, und dann das Gespräch auf andere Gegenstände zu leiten.

Um aber jetzt von ihr zu ihren Reisegefährten überzugehen, was habe ich seit seiner Rückkehr an Sir Percival wahrgenommen, das mir eine bessere Meinung von ihm gegeben hätte?

Ich kann's kaum sagen. Er scheint von kleinen Aergerlichkeiten belagert zu werden, seit er wieder heim ist, und unter solchen Umständen nimmt sich kein Mann sehr vortheilhaft aus. Mir scheint, er sieht magerer aus, als zur Zeit, wo er England verließ. Sein ermüdender Husten und seine ungemüthliche Unruhe haben jedenfalls zugenommen. Sein Wesen gegen mich ist viel kürzer angebunden, als es früher war. In seiner Begrüßung am Abend seiner Ankunft war wenig von der Höflichkeit früherer Zeit zu verspüren, nichts, als ein kurzer Händedruck und ein scharfes »Wie geht's, Miß Halcombe? freut mich, Sie wiederzusehen.«

Die meisten Leute zeigen in ihrem eigenen Hause das von ihrem Charakter, was sie anderswo zu verbergen wußten, und Sir Percival hat bereits eine Sucht nach Ordnung und Regelmäßigkeit entfaltet, wie sie mir nach meiner früheren Kenntnis seines Charakters eine wahre Offenbarung ist. Wenn ich ein Buch aus der Bibliothek nehme und es auf dem Tische liegen lasse, so folgt er mir und thut es wieder an seinen Platz; ebenso, wenn ich bloß von meinem Platz ausstehe und es dort liegen lasse. Er sammelt Blumenblättchen vom Teppich auf und brummt dabei, als ob es glühende Kohlen seien, die Löcher hineinbrennten; und wenn sich im Tischtuchs eine Falte sehen läßt oder ein Messer an der gewohnten Stelle fehlt, da zankt er die Diener so wüthend aus, als ob sie ihn persönlich beleidigt hätten.

Ich habe schon der kleinen Verdrießlichkeiten erwähnt, die ihn seit seiner Rückkehr gequält zu haben scheinen, und ihnen mag viel von der ungünstigen Veränderung zuzuschreiben sein, die ich an ihm bemerkt habe.

Am Abend seiner Ankunft folgte mir die Haushälterin in den Flur, um ihren Herrn, ihre Herrin und deren Gäste zu empfangen. Sowie er sie erblickte, frug Sir Percival sie, ob kürzlich Jemand dagewesen, der nach ihm gefragt habe. Die Haushälterin sagte ihm darauf, was sie schon mir erzählt hatte, daß nämlich ein Herr dagewesen, der sich erkundigt, wann sie ihren Herrn zurück erwarte. Er frug sie sofort nach dem Namen des Herrn. Er hatte seinen Namen nicht genannt. Des Herrn Anliegen oder Geschäft? er hatte nichts davon erwähnt, wie sah er aus? Die Haushälterin versuchte, ihn zu beschreiben, doch gelang es ihr nicht, den namenlosen Besucher mit irgend etwas Besonderem zu bezeichnen, woran ihr Herr ihn hätte erkennen können. Sir Percival runzelte die Stirn, stampfte ungeduldig mit dem Fuße und ging in's Haus, ohne irgend Jemanden weiter zu berücksichtigen, wie ihn eine solche Kleinigkeit in dem Grade außer Fassung bringen konnte, ist mir allerdings unbegreiflich, gewiß aber ist, daß sie ihn ernstlich verdroß.

Die beiden Gäste, der Graf und die Gräfin Fosco, sind in meinem Kataloge die nächsten. Ich will die Gräfin zuerst vornehmen.

Laura hat sich allerdings keine Übertreibung zu Schulden kommen lassen, indem sie mir schrieb, daß ich ihre Tante kaum wiedererkennen werde. Ich habe noch nie in meinem Leben eine solche Veränderung in einer Frau vorgehen sehen, wie bei der Gräfin Fosco stattgefunden hat. Als Eleonor Fairlie (im Alter von siebenunddreißig Jahren) schwatzte sie fortwährend den arrogantesten Unsinn und peinigte die unglücklichen Männer mit jeder Anmaßung, die nur ein eitles, albernes Weib zu erfinden im Stande ist. Als Gräfin Fosco (im Alter von dreiundvierzig Jahren) sitzt sie stundenlang, ohne ein Wort zu sagen. Die entsetzlich lächerlichen »Schmachtlocken«, die ihr zu beiden Seiten des Gesichtes herabzuhängen pflegten, sind jetzt zwei Reihen steifer, kleiner Locken gewichen, wie man sie auf altmodischen Perücken sieht. Eine einfache, ehrbare Haube bedeckt ihr Haupt. Kein Mensch (ihr Gemahl natürlich ausgenommen) erkennt in ihr jetzt, was früher Jedem sichtbar war, ich meine die Bauart eines weiblichen Skelets in der Gegend des Schlüsselbeins und der Schulterblätter. In gesetzten schwarzen oder grauen Kleidern, die hoch am Halse schließen – Kleider, über die sie früher gelacht hätte, – sitzt sie wortlos im Winkel; ihre trockenen weißen Hände sind fortwährend entweder mit irgend einer langweiligen Stickerei oder mit der Verfertigung kleiner Cigaretten für des Grafen besonderen Gebrauch beschäftigt. In den wenigen kurzen Augenblicken, wenn sie die kalten blauen Augen von ihrer Arbeit erhebt, sind dieselben meistens mit jener stummen, fragenden Unterwürfigkeit auf ihren Mann gerichtet, die uns Allen in den Augen treuer Hunde bekannt ist. Das einzige Wahrzeichen eines innerlichen Aufthauens, das ich bis jetzt unter der äußeren Eislage ihres gezwungenen Wesens habe entdecken können, hat sich ein paarmal in einer unterdrückten, aber wahrhaft tigerartigen Eifersucht auf jedes weibliche Wesen im Hause verrathen, mit dem der Graf spricht (die Stubenmädchen mit eingerechnet), oder das er mit der geringsten Aufmerksamkeit ansieht. Diesen einen Punkt ausgenommen, ist sie so kalt wie eine Statue und so unempfindlich wie der Stein, aus dem sie gehauen. Für die allgemeinen Zwecke des gesellschaftlichen Lebens ist diese Veränderung jedenfalls eins überaus günstige, denn sie ist dadurch in ein höfliches, anspruchsloses Frauenzimmer verwandelt, das Niemandem im Wege ist. Ob sie aber wirklich in ihrem geheimsten Innern sich gebessert oder verschlimmert hat, ist eine andere Frage. Ich habe den Ausdruck ihrer zusammengekniffenen Lippen ein paarmal sich plötzlich verändern sehen und den Ton ihrer ruhigen Stimme sich plötzlich verändern hören, und dies hat mich auf die Vermuthung geführt, daß ihr gegenwärtiger Zustand, in dem sie fortwährend etwas zu unterdrücken scheint, etwas Gefährliches in ihrer Natur verbirgt, das in der Freiheit ihres früheren Lebens harmlos zu verdunsten pflegte.

Und der Zauberer, der diese wunderbare Verwandlung hervorgebracht, der fremdländische Gemahl, der diese verdrehte Engländerin so gezähmt hat –der Graf selbst? Was von ihm sagen?

Mit einem Worte dies: er sieht aus wie ein Mensch, der zähmen könnte, was er nur immer wollte. Hätte er statt eines Weibes eine Tigerin geheiratet, so hätte er die Tigerin gezähmt. Hätte er mich geheiratet, so hätte ich ihm seine Cigaretten gemacht, gerade wie jetzt seine Frau sie macht, und hätte wie sie den Mund gehalten, sowie er mich nur angeblickt.

Der Mann interessirt mich, zieht mich an, zwingt mich, ihn gern zu haben. In zwei kurzen Tagen ist er geradewegs in meine Gunst hineinspaziert, und wie er das angefangen hat, ist mehr, als ich mir erklären kann.

Es erschreckt mich förmlich, wie deutlich ich ihn vor mir sehe, jetzt, da ich an ihn denke! Wie soll ich ihn beschreiben? Es sind in seiner persönlichen Erscheinung, in seinen Gewohnheiten und in seinen Vergnügungen Absonderlichkeiten, die ich auf das Strengste tadeln oder auf das Unbarmherzigste in's Lächerliche ziehen würde, wenn ich sie an irgend Jemand anders als ihm bemerkte, was ist es nur, das es mir unmöglich macht, sie an ihm zu tadeln oder lächerlich zu finden?

Er ist zum Beispiel enorm corpulent. Ehedem ist mir die corpulente Menschheit stets ein Greuel gewesen. Und trotz dieser Ansicht ist Graf Fosco, der so fett ist wie Heinrich der Achte selbst, durch seine abscheuliche Corpulenz ungehindert in meine Gunst hineingewandert. In der That wunderbar!

Ist es sein Gesicht, das ihn empfohlen? Dies mag sein. Es trägt die auffallendste Aehnlichkeit im vergrößerten Maßstabe mit dem Napoleons des Großen, seine Züge haben Napoleons erhabene Regelmäßigkeit. Ihr Ausdruck erinnert an die großartig ruhige, unerschütterliche Kraft des Gesichtes des großen Soldaten. Diese auffallende Aehnlichkeit machte gleich zu Anfang Eindruck auf mich; aber es ist noch außer dieser Aehnlichkeit etwas in ihm, was noch größeren Eindruck auf mich machte.

Ich glaube, daß der Einfluß, nach dem ich jetzt suche, durch seine Augen ausgeübt wird. Sie sind die unergründlichsten grauen Augen, die ich je gesehen, und funkeln zuzeiten so kalt, klar, schön und unwiderstehlich, daß es mich zwingt, ihn anzusehen, obgleich es mir zugleich eine Empfindung verursacht, die ich lieber nicht fühlen möchte. Seine Hautfarbe ist von einer sonderbaren fahlen Weiße, die so sehr von der dunklen Farbe seines Haares absticht, daß ich letzteres in dem verdachte habe, eine Perücke zu sein, und sein Gesicht, das vollkommen glatt rasirt, ist runzelfreier als meines, obgleich er (nach Sir Percivals Angabe) beinahe sechzig Jahre alt ist.

Sein Wesen und die Art und Weise, wie er unsere Sprache beherrscht, mag ebenfalls dazu beigetragen haben, ihm meine gute Meinung zu verschaffen, wenn er einer Dame zuhört, hat er jene ruhige Ehrerbietigkeit, jene Miene aufmerksamer Theilnahme, und wenn er zu ihr spricht, liegt in seiner Stimme eine geheime Sanftheit, der wir nicht widerstehen können. Auch hier hilft ihm seine ungewöhnliche Kenntnis der englischen Sprache. Ich hatte oft von der außerordentlichen Fähigkeit gehört, mit der viele Italiener unsere harte Aussprache bemustern, aber bis ich Graf Fosco sah, hatte ich es nicht für möglich gehalten, daß irgend ein Ausländer jemals Englisch sprechen könne, wie er es spricht. Es gibt Zeiten, wo es fast unmöglich wäre, ihn seiner Aussprache nach für etwas Anderes als einen Landsmann zu halten, und was den Redefluß betrifft, so gibt es wenig geborene Engländer, die so selten in ihrer Rede innehalten wie Graf Fosco. Er mag wohl hin und wieder fremdartige Satzbildung gebrauchen, aber ich habe noch nie gehört, daß er einen verkehrten Ausdruck gebraucht oder wegen der Wahl eines Wortes einen Moment gezögert hätte.

Alle die kleinsten Eigenthümlichkeiten dieses seltsamen Mannes haben etwas auffallend Originelles und verwirrend Widersprechendes an sich. So stark und bejahrt er auch ist, sind doch seine Bewegungen erstaunlich leicht und unbefangen. Er ist so geräuschlos im Zimmer, wie nur je eine von uns Frauen, und was noch mehr, er ist ungeachtet all seiner unverkennbaren geistigen Festigkeit und Kraft so nervös empfindlich wie die Schwächste von uns. Er fährt bei einem zufälligen Geräusche so heftig auf, wie Laura selbst. Er zuckte und schauderte gestern, als Sir Percival einen der Wachtelhunde schlug, so zusammen, daß ich mich meines Mangels an Gefühl im Vergleich mit dem Grafen schämte.

Dieser letztere Vorfall erinnert mich an eine seiner sonderbarsten Eigenschaften, nämlich seine außerordentliche Vorliebe für Lieblingsthierchen. Er hat einen Kakadu, zwei Kanarienvögel und eine ganze Familie von weißen Mäusen mit hieher gebracht. Er sieht persönlich nach allen Bedürfnissen dieser merkwürdigen kleinen Lieblinge und hat sie gelehrt, erstaunliches Zutrauen zu ihm zu haben. Der Kakadu, der gegen jeden Anderen im höchsten Grade boshaft und falsch ist, scheint ihn förmlich zu lieben, wenn er ihn aus seinem Käfig herausläßt, so hüpft er auf seine Knie, marschirt seinen großen Körper hinan und schmiegt seinen Federpoll auf das Zärtlichste an sein blasses Doppelkinn. Er braucht nur die Thürchen in den Bauern der Kanarienvögel zu öffnen und ihnen zurufen, und die niedlichen, wohlerzogenen kleinen Thierchen hüpfen ihm furchtlos auf die Hand, von einem der ausgestreckten dicken Finger auf den anderen, wenn er ihnen sagt, »die Treppe hinauf zu gehen«, und singen, wenn sie oben anlangen, als ob ihnen die Wonne die Brust zersprengte. Seine weißen Mäuse wohnen in einer kleinen Pagode von buntem Draht. Sie sind beinahe so zahm wie die Kanarienvögel und werden, wie diese, häufig herausgelassen. Sie laufen auf seinem ganzen Körper umher, kriechen in seinen Westentaschen aus und ein und sitzen in schneeweißen Pärchen auf seinen gewaltigen Schultern. Er scheint für seine Mäuse noch größere Zärtlichkeit zu fühlen als für seine anderen Lieblinge, lächelt ihnen zu, küßt sie und gibt ihnen alle möglichen Liebesnamen.

Es ist kaum glaublich, aber nichtsdestoweniger wahr, daß dieser selbe Mann, der die Liebe einer alten Jungfer für seinen Kakadu hegt und seine weißen Mäuse mit der Geschicklichkeit eines Savoyardenknaben regiert, mit einer kühnen Gedankenfreiheit, einer Kenntnis von Büchern in allen Sprachen und einer Erfahrenheit über die Gesellschaft in den meisten Hauptstädten Europas sprechen kann, die ihn in jeder Versammlung in der gebildeten Welt zu einer hervorragenden Persönlichkeit machen würde. Er ist (wie Sir Percival selbst mir erzählt hat) einer der bedeutendsten experimentirenden Chemiker unserer Zeit und hat unter anderen merkwürdigen Entdeckungen auch die gemacht, wie man einen Körper nach dem Tode so versteinert, daß er bis an's Ende aller Zeiten hart wie Marmor bleibt. Dieser Mann, dessen Nerven so zart sind, daß er bei einem zufälligen Geräusche auffährt, ging neulich in den Stallhof und legte seine Hand auf den Kopf eines Schweißhundes – eines so wüthenden Thieres, daß selbst der Reitknecht, der ihn füttert, sich aus seinem Bereiche hält. Seine Frau und ich waren zugegen, und ich werde sobald nicht den Auftritt vergessen, so kurz er auch war.

»Nehmen Sie sich vor dem Hunde in Acht, Sir,« sagte der Reitknecht; »er fährt auf alle Leute los!«

»Das thut er, mein Freund, weil sich alle Leute vor ihm fürchten,« sagte der Graf ruhig, »wir wollen sehen, ob er auf mich losfährt,« und so sprechend, legte er seine fetten gelbweißen Finger auf den Kopf der fürchterlichen Bestie und sah ihr gerade in die Augen. »Ihr großen Hunde seid Alle feig,« sagte er verachtungsvoll zu dem Thiere, während sein Gesicht keinen Zoll von dem des Hundes entfernt war. »Du könntest mich in diesem Augenblicke erwürgen, du erbärmlicher, niederträchtiger Eisenfresser, und wagst mir nicht einmal in's Gesicht zu sehen, weil ich nicht bange vor dir bin. Willst du dich eines Besseren besinnen und deine Zähne an meinem fetten Nacken versuchen? Puh! Du denkst nicht daran!« und er wandte sich, über das Erstaunen der Stallleute lachend, ab, während der Hund demüthig in seine Hundehütte zurückkroch.

»Ach! meine schöne Weste!« rief er pathetisch aus. »Es thut mir leid, daß ich herkam! Das Vieh hat meine hübsche reine Weste mit seinem Geifer besudelt.« Diese Worte deuten auf noch eine andere seiner unbegreiflichen Seltsamkeiten. Er hält auf schöne Kleider wie der größte Narr, den es geben kann, und ist bereits in den zwei Tagen seines Aufenthaltes hier in vier verschiedenen prachtvollen Westen aufgetreten, alle von hellen, bunten Farben und selbst für ihn unendlich viel zu groß.

Ich kann bereits wahrnehmen, daß er während seines Aufenthaltes hier mit uns Allen auf dem freundschaftlichsten Fuße zu leben beabsichtigt. Er hat offenbar entdeckt, daß Laura ihn nicht gern hat (sie hat mir dies bekannt), aber zu gleicher Zeit, daß sie eine unbeschreibliche Vorliebe für Blumen hat. Wann sie immer einen Strauß verlangen mag, er hat stets einen für sie bereit, und zwar von ihm selbst gepflückt und gebunden, und zu meiner großen Belustigung ist er immer schlauerweise mit einem zweiten versehen, um die Eifersucht seiner Frau zu besänftigen, ehe sie noch daran denken kann, sich verletzt zu fühlen. Seine Behandlung der Gräfin (vor den Leuten) ist ein sehenswerther Anblick. Er verneigt sich vor ihr, redet sie gewöhnlich mit »mein Engel« an, trägt seine Kanarienvögel auf seinen Fingern hin, um sie ihr kleine Besuche abstatten und ihr vorsingen zu lassen, küßt ihre Hand, wenn sie ihm seine Cigaretten gibt, und beschenkt sie aus Dankbarkeit für dieselben mit Bonbons, die er ihr scherzend in den Mund steckt. Die eiserne Ruthe, mit der er sie regiert, erscheint nie in Gesellschaft, sie ist eine Privatruthe und bleibt stets im Privatgemach.

Seine Art und weise, sich bei mir beliebt zu machen, ist gänzlich hievon verschieden. Er hat ausfindig gemacht (der Himmel mag wissen wodurch), daß gemachte Empfindsamkeit bei meiner prosaischen Natur weggeworfene Mühe ist, und er schmeichelt meiner Eitelkeit, indem er so ernst und verständig mit mir spricht, als ob ich ein Mann sei. Ja! ich durchschaue ihn, wenn ich nicht bei ihm bin. Er weiß mich zu nehmen, wie er seine Frau und Laura zu nehmen weiß, wie er den Hund im Hofe zu nehmen wußte und wie er Sir Percival selbst zu jeder Stunde des Tages zu nehmen weiß.

Das Interesse, welches ich wirklich nicht umhin kann, für diesen seltsamen Menschen zu fühlen, bewog mich, Sir Percival über sein früheres Leben zu befragen. Sir Percival weiß aber davon nur wenig oder will mir nur wenig darüber mittheilen. Er und der Graf trafen sich zuerst vor Jahren in Rom unter Umständen von drohender Gefahr, auf die ich schon früher hingedeutet. Seit jener Zeit sind sie fortwährend zusammen in London, Paris und Wien gewesen, aber nie wieder in Italien, und der Graf hat seltsamerweise seit Jahren nicht mehr die Grenzen seines Vaterlandes überschritten. Ist er vielleicht das Opfer politischer Verfolgung? Jedenfalls scheint er einen patriotischen Eifer zu fühlen, seine in England anwesenden Landsleute nicht aus den Augen zu verlieren. Jedenfalls steht er mit Leuten auf dem Festlande in brieflicher Verbindung, und die Briefe, welche er erhält, tragen alle Arten von sonderbaren Stempeln. So frei und sogar grob, wie Sir Percival auch zuweilen gegen seinen corpulenten Freund sein mag, so kann ich doch deutlich sehen, daß er sich fürchtet, den Grafen ernstlich zu beleidigen. Jedenfalls habe ich nie einen Menschen gekannt, den ich so ungern zum Feinde hätte wie ihn.

Den 2. Juli. – Heute ist, Laura und mir ganz unbewußt und von Sir Percival völlig unerwartet, ein Besuch angekommen.

Wir waren Alle unten beim Gabelfrühstück versammelt, da trat der Diener herein und kündigte uns den Besuch an.

»Mr. Merriman ist soeben angekommen, Sir Percival, und wünscht Sie sogleich zu sprechen.«

Sir Percival fuhr zusammen und blickte den Mann mit einem Ausdrucke zorniger Unruhe an.

»Mr. Merriman?« wiederholte er, als glaube er, seine Ohren müßten ihn getäuscht haben.

»Jawohl, Mr. Merriman aus London.«

»Wo ist er?«

»In der Bibliothek, Sir Percival.«

Er verließ den Tisch und eilte, ohne ein Wort zu irgend Jemandem von uns zu sprechen, aus dem Zimmer.

»Wer ist Mr. Merriman?« frug Laura, gegen mich gewendet.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung davon,« war Alles, was ich erwidern konnte.

»Mr. Merriman ist Sir Percivals Rechtsanwalt,« sagte der Graf ruhig.

Es war eine vollkommen unbefangene Antwort auf Lauras Frage, und dennoch war sie unter den Umständen nicht ausreichend, wenn ein Advocat von London nach Hampshire reist, ohne daß er dazu aufgefordert worden, und wenn seine Ankunft im Hause seines Klienten diesen ernstlich erschreckt, so darf man mit Zuversicht annehmen, daß der rechtsgelehrte Besucher Ueberbringer wichtiger Nachrichten ist, die entweder sehr guter oder sehr schlimmer, aber auf keinen Fall alltäglicher Natur sind.

Laura und ich blieben etwa noch eine Viertelstunde schweigend am Tische sitzen, in unbehaglichen Vermuthungen auf Sir Percivals baldige Rückkehr wartend. Doch ließ sich davon kein Zeichen vernehmen, und wir standen auf, um das Zimmer zu verlassen.

Der Graf kam aus der Ecke, in der er seinen Kakadu gefüttert hatte, und mit dem Thiere noch immer auf der Schulter und öffnete die Thür für uns. Laura und die Gräfin Fosco gingen zuerst hinaus. Gerade als ich im Begriffe war, ihnen zu folgen, machte er mir ein Zeichen mit der Hand und sprach auf höchst seltsame Weise zu mir.

»Ja,« sagte er ruhig, den unausgesprochenen Gedanken beantwortend, der mich in dem Augenblicke beschäftigte, als ob ich ihm denselben klar mit Worten ausgedrückt hätte – »ja, es ist in der That etwas vorgefallen.«

Am Fuße der Treppe holte ich Laura ein. Auch sie sagte mir im Geheimen, sie fürchte, daß etwas vorgefallen sein müsse.

Ungefähr zwei Stunden, nachdem Sir Percival vom Frühstückstische aufgestanden war, um seinen Advocaten, Mr. Merriman in der Bibliothek zu empfangen, verließ ich mein Zimmer, um allein einen Spaziergang in den Anlagen zu machen. Gerade als ich am Treppenende des Corridors anlangte, öffnete sich die Thür der Bibliothek und die beiden Herren traten heraus. Da ich es für das Beste hielt, sie nicht zu stören, beschloß ich, nicht eher die Treppe hinunter Zu gehen, als bis sie über den Flur gegangen seien. Obgleich sie ziemlich leise miteinander sprachen, äußerten sie ihre Worte doch mit hinreichender Deutlichkeit, um zu mir herauf zu dringen.

»Beruhigen Sie sich vollkommen, Sir Percival,« hörte ich den Advocaten sagen, »die Sache liegt durchaus in Lady Glyde's Händen.«

Ich hatte mich umgewandt, um auf ein paar Minuten in mein Zimmer zurückzukehren, aber Lauras Name von den Lippen eines Fremden ausgesprochen, ließ mich augenblicklich still stehen.

Ich lauschte und unter ähnlichen Umständen würde ich es wieder thun – ja! und zwar mit dem Ohre am Schlüsselloche, falls es mir nicht anders möglich wäre.

»Sie verstehen mich doch ganz, Sir Percival?« fuhr der Advocat fort. »Lady Glyde muß in Gegenwart eines Zeugen oder, falls Sie besonders vorsichtig zu sein wünschen, in Gegenwart von zwei Zeugen ihren Namen unterschreiben – dann ihren Finger auf das Siegel legen und sagen: ›Ich überliefere das als meine Acte und Urkunde.‹ Falls dies in der Zeit von einer Woche geschehen ist, wird dadurch unser Zweck vollkommen erreicht werden und alle Besorgnis beseitigt sein. Wo nicht –«

»Was wollen Sie mit Ihrem ›wo nicht‹ sagen?« frug Sir Percival aufgebracht, »wenn die Sache geschehen muß, so soll sie geschehen, das verspreche ich Ihnen, Merriman.«

»Ganz recht, Sir Percival, aber in allen Verhandlungen gibt es zwei Alternativen, und wir Advocaten sehen ihnen gern beiden kühn in's Gesicht. Falls durch irgend ein unvorhergesehenes Hindernis die Sache sich nicht machen ließe, da denke ich die betreffenden Parteien bewegen zu können, Wechsel auf drei Monate anzunehmen, wie wir aber das Geld aufnehmen sollen, wenn diese Wechsel fallen –«

»Der Teufel hol' die Wechsel! Das Geld ist nur auf eine Weise zu haben, und ich wiederhole Ihnen nochmals, daß es auf diese Weise geschafft werden soll. Ein Glas Wein, Merriman, ehe Sie gehen?«

»Danke, Sir Percival, ich habe keinen Augenblick zu verlieren, wenn ich noch zur rechten Zeit zum nächsten Zuge nach London ankommen will. Sie werden mich davon unterrichten, sobald die Uebereinkunft getroffen, und nicht die Vorsicht vergessen, die ich empfahl – «

»Natürlich nicht. Da ist das Jagdgig für Sie vor der Thür. Springen Sie hinauf. Mein Groom wird Sie im Handumdrehen nach der Station hinunterfahren. Benjamin, fahre wie toll! wenn Mr. Merriman zu spät für diesen Zug ankommt, jag' ich dich fort. Halten Sie sich fest, Merriman, und wenn Sie umgeworfen werden, vertrauen Sie dem Teufel, daß er sein Eigenthum retten wird.«

Mit diesem Abschiedssegen wandte Sir Percival sich um und ging in die Bibliothek zurück.

Das »Etwas«, was »vorgefallen« war, erschien mir nur zu klar als eine ernstliche Geldverlegenheit, und es sollte Laura obliegen, Sir Percival davon zu befreien. Die Aussicht, sie in ihres Mannes geheime Schwierigkeiten verwickelt zu sehen, erfüllte mich mit Angst. Anstatt meinen Spaziergang zu machen, ging ich sofort nach Lauras Zimmer und erzählte ihr, was ich gehört habe.

Sie nahm meine schlimme Nachricht mit einer Ruhe entgegen, die mich in Erstaunen setzte. Sie weiß offenbar mehr über ihres Mannes Verlegenheiten als ich bisher vermuthet habe.

»Ich fürchtete es,« sagte sie, »als ich von dem fremden Herrn hörte, der gekommen war und seinen Namen nicht hatte nennen wollen.«

»Wer glaubst du denn, daß dieser Herr war?« frug ich.

»Jemand, der große Forderungen an Sir Percival hat,« entgegnete sie, »und der die Ursache von Mr. Merriman's heutigem Besuche ist«.

»Du wirst doch nichts unterschreiben, Laura, das du nicht zuvor gelesen hast?«

»Gewiß nicht, Marianne, was ich nur immer redlicherweise thun kann, um ihm zu helfen, das will ich thun. Aber ich will nichts in Unwissenheit thun, dessen wir uns vielleicht später einmal zu schämen halten. Laß uns jetzt nicht weiter darüber sprechen. – Du hast deinen Hut auf, wollen wir den Nachmittag zusammen in den Anlagen verträumen –?«

Als wir das Haus verließen, gingen wir dem nächsten Schatten zu und an einer offenen Stelle zwischen den Bäumen vor dem Hause sahen wir den Grafen Fosco, der sich in der vollen Gluth des heißen Julinachmittags sonnte. Er hatte einen großen runden Strohhut auf. Eine blaue Blouse, die auf der Brust reich mit einer weißen Stickerei verziert war, umhüllte seinen umfangreichen Körper. Nankingbeinkleider und dunkelblaue Maroquinschuhe schmückten seine unteren Extremitäten. Er sang das berühmte Lied des Figaro im »Barbier von Sevilla« mit jener Stimmgeläufigkeit, die so ausschließlich dem italienischen Gesangsorgane eigen ist, und spielte die Begleitung auf der Concertina, wobei er entzückt mit den Armen um sich warf und anmuthig den Kopf hin und her drehte. » Figaro quà! Figaro là! Figaro sù! Figaro giuù!!« sang der Graf, indem er sich mit der Anmuth eines Figaro von zwanzig Jahren gegen uns verbeugte.

»Verlaß' dich drauf, Laura, dieser Mensch weiß etwas von Sir Percivals Verlegenheit,« sagte ich, als wir aus sicherer Entfernung des Grafen Gruß zurückgaben.

»Warum glaubst du das?«

»Wie hätte er sonst wissen sollen, daß Mr. Merriman Sir Percivals Rechtsanwalt ist?« entgegnete ich. »Und außerdem sagte er mir, ohne daß ich ein Wort der Frage an ihn gerichtet hätte, daß etwas vorgefallen sei. Verlaß' dich drauf, er weiß mehr als wir von der Sache.«

»Wenn auch – ziehe ihn nicht in unser Vertrauen!«

»Du scheinst sehr entschiedene Abneigung gegen ihn zu hegen, Laura. Was hat er gethan, um dieses Gefühl zu rechtfertigen?«

»Nichts, Marianne. Im Gegentheil, er war die Güte und Aufmerksamkeit selbst auf unserer Heimreise und bezwang Sir Percivals leidenschaftliche Ausbrüche mehrmals auf die rücksichtsvollste Weise gegen mich. Das Einzige, was ich gewiß weiß, ist, daß er mir zuwider ist.«

Der Rest des Tages und Abends verging ziemlich friedlich. Der Graf und ich spielten Schach. Sir Percival erwähnte des Besuches seines Advocaten nicht ein einziges Mal während des ganzen Abends. Er war gegen uns Alle so höflich und liebenswürdig, wie er es während seiner Probezeit in Limmeridge gewesen war, und erstaunlich aufmerksam und gütig gegen seine Frau, was hat dies zu bedeuten? Ich glaube, ich errathe es; ich fürchte, Laura kann es errathen, und ich bin überzeugt, daß Graf Fosco es weiß. Ich ertappte Sir Percival mehrere Male während des Abends darauf, daß er den Grafen ansah, als erwarte er in seinen Blicken Beifall zu lesen.

Den 3. Juli. – Ein Tag der Ereignisse. Ich hoffe und bete nur von ganzem Herzen, daß ich noch hinzuzufügen haben werde: und ein Tag des Unglücks.

Sir Percival war über die geheimnisvolle »Uebereinkunft« (wie der Advocat es genannt hatte), nächsten Morgens beim Frühstück ebenso zurückhaltend, wie er es gestern Abend gewesen war. Eine Stunde später aber trat er in das allgemeine Wohnzimmer, wo Laura und ich in unseren Hüten auf die Gräfin Fosco warteten, und frug nach dem Grafen.

»Wir erwarten ihn jeden Augenblick,« sagte ich.

»Die Sache ist die,« fuhr Sir Percival fort, indem er aufgeregt im Zimmer auf- und abging, »ich habe mit Fosco und seiner Frau wegen einer bloßen Geschäftsformalität in der Bibliothek zu sprechen und mit dir auch, Laura, auf eine Minute.« Er hielt inne und schien zum ersten Male zu bemerken, daß wir zum Spazierengehen gerüstet waren, »wollt ihr ausgeben?« frug er.

»Wir beabsichtigen heute Morgen nach dem See zu gehen,« sagte Laura, »wenn du aber etwas Anderes vorzuschlagen hast –«

»Nein, nein!« entgegnete er hastig, »was ich vorzuschlagen hatte, kann warten bis nach dem Gabelfrühstück, Ihr wollt Alle nach dem See gehen, wie? Ein guter Einfall; ich schließe mich der Gesellschaft an.«

Man konnte sein Wesen nicht mißverstehen, selbst wenn man sich über die mit seinem Charakter so vollkommen im Widerspruche stehende Bereitwilligkeit hätte täuschen können, mit der er seine eigenen Pläne der Bequemlichkeit Anderer unterordnete. Es war ihm offenbar eine Erleichterung, einen Vorwand zu finden, um die Geschäftsformalität aufzuschieben. Mir sank das Herz, als ich den unvermeidlichen Schluß hieraus zog.

Der Graf und seine Frau gesellten sich in diesem Augenblicke zu uns. Der Graf trug die Pagode mit seinen lieben kleinen weißen Mäusen und lächelte ihnen und uns mit einer wahrhaft unwiderstehlichen Liebenswürdigkeit zu.

»Mit Ihrer freundlichen Erlaubnis,« sagte er, »will ich meine kleine Familie auch mit auf den Spaziergang nehmen. Es sind Hunde im Hause, und soll ich meine verlassenen weißen Kinder der Barmherzigkeit von Hunden überlassen? O, niemals!«

Bei dem alten Boothause traf er wieder mit uns zusammen.

Das Boothaus war groß genug, um uns alle aufzunehmen, aber Sir Percival blieb draußen und hackte mit seinem kleinen Taschenbeile an einem vorher abgeschnittenen Stocke, wir drei Frauen fanden reichlich Platz auf der großen Bank. Der Graf nahm einen Sessel, der um ein Unendliches zu klein für ihn war. Er nahm die Pagode auf den Schooß und ließ die Mäuse heraus und über seine ganze Person hinkriechen.

Der Morgen war windig und der Himmel wolkig, und die schnellen Wechsel von Licht und Schatten auf der Fläche des Sees verliehen der Aussicht etwas doppelt Wildes und Geheimnisvolles.

»Das nennen nun einige Leute malerisch,« sagte Sir Percival, mit seinem halbfertigen Stocke auf die vor uns liegende Aussicht deutend, »ich nenne es dagegen eine Verunzierung auf dem Besitzthum eines Gentlemans. Zur Zeit meines Urgroßvaters kam der See bis hier heran – jetzt seht ihn an! er ist an der tiefsten Stelle kaum vier Fuß tief und besteht aus lauter Sümpfen und Pfützen. Ich wollte, ich hätte die Mittel, ihn auszutrocknen und die Stelle dann zu bepflanzen. Mein Inspector sagt (in seinem blödsinnigen Aberglauben), er sei überzeugt, daß auf dem See ein Fluch laste, was meinst du, Fosco? Sieht die Stelle nicht aus, wie für einen Mord gemacht, was?«

»Mein guter Percival!« sagte der Graf, »das Wasser ist viel zu flach, um den Leichnam zu verbergen und hat überall Sand, um die Spuren des Mörders zu zeigen. Die Stelle ist meiner Ansicht nach die allerungünstigste für einen Mord, die ich je gesehen habe.«

»Gewäsch!« sagte Sir Percival, wüthend auf seinen Stock einhackend. »Du weißt recht gut, was ich meine. Die düstere Gegend – die einsame Lage.«

»Wenn ein Narr einen Mord begehen wollte,« entgegnete der Graf, »da wäre dein See wahrscheinlich der erste Ort, den er sich dazu ausersehen würde. Wollte aber ein gescheiter Mann einen Mord begehen, so wäre es der allerletzte Ort dazu. Ist es das, was du sagen wolltest? Dann hast du also hiemit deine Erklärung.«

»Es thut mir leid, zu hören, wie man diese Seeansicht mit einer so schrecklichen Idee, wie der eines Mordes, in Verbindung bringt,« sagte Laura »und wenn der Graf Fosco Mörder classificiren will, so scheint er mir in der Wahl seiner Ausdrücke kein besonderes Glück gehabt zu haben. Mir scheint, daß wenn man sie als Narren bezeichnet, man eine Nachsicht gegen sie übt, zu der sie nicht berechtigt sind, und sie gescheite Leute zu nennen, scheint mir geradezu ein Widerspruch. Ich habe immer gehört, daß wahrhaft gescheite Menschen tiefen Abscheu gegen alles Verbrechen hegen.«

»Meine verehrte Dame,« sagte der Graf, »das sind herrliche Gefühle, und ich habe sie oft als Vorschriften in Schönschreibebüchern gesehen.« Er nahm eine der weißen Mäuschen und setzte sie auf seine Handfläche; dann hielt er ihr auf seine launige Weise eine kleine Rede. »Mein lieber, hübscher, glatter, kleiner Spitzbube,« sagte er, »hier ist eine Moral für dich. Eine wahrhaft gescheite Maus ist eine wahrhaft gute Maus. Sei so gütig und nage dein lebelang nicht wieder an den Stäben deines Käfigs.«

»Es ist eine Kleinigkeit, Alles in's Lächerliche zu Ziehen,« sagte Laura entschlossen; »aber Sie werden es nicht ganz so leicht finden, Graf Fosco, mir ein Beispiel von einem gescheiten Manne zu geben, der ein großer Verbrecher gewesen wäre.«

Der Graf zuckte mit den Achseln und lächelte Laura auf das Freundlichste an.

»Sehr wahr!« sagte er. »Des Narren Verbrechen ist dasjenige, welches entdeckt, und des gescheiten Mannes das, welches nicht entdeckt wird, wenn ich Ihnen ein Beispiel geben könnte, so wäre es nicht mehr das eines gescheiten Mannes. Liebe Lady Glyde, Ihr gesunder englischer Verstand hat mich geschlagen.«

»Laß dich nicht verblüffen, Laura,« spottete Sir Percival, der von der Thür aus zugehört hatte. »Sage ihm auch noch, daß Verbrechen durch eigenes Verschulden des Thäters entdeckt werden. Da hast du noch eine Schönschreibebuch-Moral Fosco. Verbrechen werden durch des Thäters eigenes Verschulden entdeckt. Welch verdammtes Gewäsch!«

Sir Percival lachte laut auf – so heftig, so übertrieben, daß er uns Alle erschreckte, den Grafen aber am meisten.

»Ich glaube dasselbe,« sagte ich, Laura zu Hilfe eilend.

Sir Percival, den die Bemerkung seiner Frau in so unbegreiflichem Grade belustigt hatte, war durch die meinige in demselben Grade erzürnt. Er stieß heftig mit dem neuen Spazierstocke auf den Boden und ging fort.

»Dieser gute Percival!« rief der Graf fröhlich, »er ist das Opfer englischen Spleens. Aber meine liebe Miß Halcombe, theuerste Lady Glyde, glauben Sie wirklich, daß Verbrechen durch des Thäters eigenes Verschulden entdeckt werden? Und du, mein Engel,« fuhr er zu seiner Gemahlin gewendet hinzu, welche noch kein Wort gesagt hatte, »glaubst du es auch?«

»Ich lasse mich belehren,« entgegnete die Gräfin in einem Tone eisigen Vorwurfes gegen Laura und mich gerichtet, »ehe ich mir anmaße, in Gegenwart wohlunterrichteter Männer zu urtheilen. wie denkst du über den Gegenstand, Graf?«

Der Graf streichelte eine seiner weißen Mäuse nachdenklich mit dem kleinen Finger, wobei er erwiderte:

»Es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch an's Licht der Sonnen« wie! Fragen Sie die Richter, Lady Glyde, welche in großen Städten bei Leichenschauen gegenwärtig sind, ob dies wahr sei. Lesen Sie die öffentlichen Blätter. Sind unter den wenigen Fällen, die ihren Weg in die Zeitungen finden, nicht Beispiele von erschlagen gefundenen Körpern, deren Mörder unentdeckt bleiben? Multipliciren Sie die Fälle, welche berichtet sind, mit denen, die unberichtet bleiben, und die Leichname, die gefunden werden, mit denen, die verborgen bleiben, Zu welchem Schlusse kommen Sie da? Zu folgendem: Daß es ungeschickte Verbrecher gibt, die entdeckt werden, und gescheite Verbrecher, die der Entdeckung entgehen, worin besteht das Verhehlen oder das Aufdecken eines Verbrechens? In Schlauheitversuchen der Polizei auf der einen und des Individuums auf der anderen Seite, wenn der Verbrecher ein brutaler, unwissender Narr ist, so siegt die Polizei in zehn Fällen neunmal; ist er aber ein entschlossener, gebildeter, in hohem Grade intelligenter Mensch, so verliert die Polizei in demselben Verhältnisse. Wenn die Polizei verliert, so hören Sie meistens kein Wort von der Geschichte. Und auf diese wackelige Grundlage bauen Sie Ihre gemüthliche moralische Maxime, daß Verbrechen durch des Thäters eigenes Verschulden entdeckt werden! Ja – alle Verbrechen, von denen Sie etwas wissen. Wie aber steht's mit den übrigen?«

»Verflucht wahr das und sehr gut dargethan,« rief eine Stimme am Eingange des Boothauses. Sir Percival war zurückgekehrt, während wir dem Grafen zuhörten.

»Es mag zum Theil wahr sein,« sagte ich. »Aber ich sehe nicht ein, warum Graf Fosco den Sieg des Verbrechers über die Gesellschaft mit solchem Frohlocken feiere, oder warum Sie, Sir Percival, ihm so enthusiastisch dafür applaudiren sollten.«

»Hörst du es, Fosco?« sagte Sir Percival spöttisch. »Nimm meinen Rath an und schließe Frieden mit deinen Zuhörern. Sage ihnen, daß es etwas Herrliches um die Tugend ist – das wird ihnen gefallen, kann ich dir versprechen.«

Der Graf lachte still in sich hinein, und zwei von den weißen Mäusen in seiner Weste stürzten, über das Erdbeben unter derselben entsetzlich erschrocken, heraus und eilten in ihren Käfig zurück.

»Die Damen«, sagte er, »sollen mir von der Tugend erzählen, mein guter Percival. Sie haben darüber ein besseres Urtheil als ich, denn sie wissen, was Tugend ist, und ich weiß es nicht. Ich habe in meinem Leben schon so viele verschiedene Arten von Tugend kennen gelernt, daß ich jetzt in meinen alten Tagen nicht im Stande bin, die rechte Sorte von der unrechten zu unterscheiden. Ach! meine süße kleine Maus! komm' und küsse mich. Wie denkst du über tugendhafte Leute, mein Mäuselinchen? Daß es Leute sind, die dich warm halten und dir reichlich zu speisen geben? Gar keine schlechte Idee und jedenfalls eine verständliche.«

»Einen Augenblick, Graf,« unterbrach ich ihn.

»Bitte, gestatten Sie dem Grafen, fortzufahren,« sagte die Gräfin mit strenger Höflichkeit, »Sie werden finden, daß er nie Etwas sagt, wofür er nicht die vortrefflichsten Gründe hätte.«

»Ich danke dir, mein Engel,« sagte der Graf, »welche von zwei verhungernden Nähjungfern kommt wohl am besten weg, die, welche der Versuchung widersteht und ehrlich bleibt, oder die, welche ihr weicht und stiehlt? Ihr wißt Alle recht gut, daß diese Person durch diesen Diebstahl ihr Glück macht, es ist eine Reclame für sie von einem Ende zum anderen des gutmüthigen, mildthätigen England und als Uebertreterin eines Gebotes wird ihr geholfen, während man sie hätte verhungern lassen, solange sie das Gebot gehalten. Komm' her, meine lustige kleine Maus! Hei! presto! flink! Ich verwandle dich für den Augenblick in eine respectable Dame. Bleib' hier in der Fläche meiner schrecklich großen Hand, mein Mäuschen, und höre mir zu. Du heiratest den armen Mann, den du liebst, Maus, und die eine Hälfte deiner Bekannten bemitleidet dich, während die andere dich tadelt. Jetzt aber verkaufst du dich im Gegentheil für Gold einem Manne, um den du dich keinen Pfifferling scherst, und alle deine Bekannten jubeln, und der Verwalter des öffentlichen Gottesdienstes weihet den schändlichsten aller menschlichen Handelsverträge und lächelt und grinst hernach an deinem Tische, wenn du so gütig gewesen bist, ihn zum Frühstück einzuladen. Hei! presto! flink! Sei wieder eins Maus und quikse, denn wenn du noch länger eine Dame bliebest, so würdest du mir zunächst sagen, daß die Gesellschaft das Verbrechen verabscheue, und dann, Maus, würde ich daran zweifeln, ob deine eigenen Augen und Ohren dir wirklich von geringstem Nutzen seien. Ach! ich bin ein schlechter Mann, Lady Glyde, nicht wahr? Ich spreche aus, was anders Leute bloß denken. Ich will mich auf meine großen Elephantenbeine erheben, ehe ich mir in Ihrer unschätzbaren Meinung noch mehr Schaden thue.«

Er stand auf, stellte den Käfig auf den Tisch und blieb einen Augenblick, um die Mäuse in demselben zu zählen. »Eins, zwei, drei, vier – ha!« rief er mit einem Blicke des Entsetzens, »wo, in's Himmels Namen, ist die fünfte – die jüngste, weißeste, liebenswürdigste von Allen – mein Mäuse-Benjamin?«

Weder Laura noch ich waren im Geringsten aufgelegt, belustigt zu sein, denn des Grafen schamloser Cynismus halte uns einen Einblick in seinen Charakter verschafft, vor dem wir Beide zurückbebten. Aber der komische Schmerz eines so umfangreichen Mannes über den Verlust einer so kleinen Maus war unwiderstehlich, wir lachten wider Willen, und als die Gräfin Fosco sich erhob und uns das Beispiel gab, das Boothaus zu räumen, damit der Graf in dessen entlegensten Winkeln Nachsuchung halten könne, standen wir ebenfalls auf, um demselben zu folgen.

Ehe wir noch drei Schritte gethan hatten, entdeckte des Grafen scharfes Auge schon die verlorene Maus unter dem Sitze, den wir eingenommen hatten. Er zog die Bank auf die Seite und nahm das kleine Thier in die Hand; plötzlich aber kniete er nieder und blickte aufmerksam auf einen Flecken am Boden dicht vor ihm.

Als er sich wieder aufrichtete, zitterte seine Hand so, daß er die Maus kaum in ihren Käfig zu setzen vermochte, und sein Gesicht war mit einer matten Blässe bedeckt.

»Percival!« rief er flüsternd, »Percival! Komm' her.« Sir Percival hatte während der letzten zehn Minuten uns nicht beachtet. Er war beschäftigt gewesen, Zahlen in den Sand zu malen und sie dann mit seinem Stocke wieder zu verwischen.

»Was ist jetzt los?« frug er.

»Siehst du dort nichts?« sagte der Graf, auf die Stelle deutend, neben welcher er die Maus wiedergefunden hatte.

»Ich sehe eine Menge trocknen Sandes,« entgegnete Sir Percival, »und mitten darin einen Kothflecken.«

»Kein Koth,« flüsterte der Graf, »Blut!«

Laura wandte sich mit einem Blick des Schreckens zu mir.

»Unsinn, mein Herz,« sagte ich. »Es ist nichts, als das Blut eines verlaufenen kleinen Hundes.«

»Woher wissen Sie das?« frug Sir Percival.

»Ich fand den Hund hier im Sterben an dem Tage, wo Sie Alle von der Reise ankamen,« erwiderte ich. »Das arme Thier hatte sich in die Anlagen verlaufen und wurde von Ihrem Wildwärter dafür erschossen.«

»Wessen Hund war es?« wiederholte Sir Percival etwas gereizt. »Einer von den meinigen?«

»Nein, keiner von den Ihrigen.«

»Wessen also? Wußte die Haushälterin es?«

In dem Augenblicke, wo er die Frage that, fiel mir ein, daß die Haushälterin gesagt hatte, Mrs. Catherick wünsche nicht, daß Sir Percival etwas von ihrem Besuch in Blackwater Park erfahre, und ich zweifelte halb an der Rathsamkeit, die Frage zu beantworten. Doch war ich in meiner Besorgnis, die allgemeine Unruhe zu beseitigen, unvorsichtigerweise zu weit gegangen, um zurückzutreten. Es blieb mir also nichts weiter übrig, als ohne alle Rücksichtnahme auf etwaige Folgen zu antworten.

»Ja,« sagte ich. »Die Haushälterin kannte ihn. Sie sagte mir, er gehöre Mrs. Catherick.«

Sir Percival war bisher mit dem Grafen innerhalb des Boothauses geblieben, während ich von der Thür aus Zu ihm sprach. Aber sowie ich Mrs. Catherick's Namen aussprach, drängte er sich ungehalten an dem Grafen vorbei und stellte sich mir dicht gegenüber.

»Wie kam die Haushälterin dazu, zu wissen, daß der Hund Mrs. Catherick gehöre?« frug er, indem er die Augen mit einer finsteren Aufmerksamkeit auf die meinigen heftete.

»Sie wußte es,« sagte ich gelassen, »weil Mrs. Catherick den Hund mitbrachte.«

»Ihn mitbrachte? Wohin brachte sie ihn mit?«

»In's Haus.«

»was, zum Teufel, hatte Mrs. Catherick im Hause zu thun?«

Die Art und Weise, in welcher er die Frage that, war fast noch beleidigender als die Ausdrücke, deren er sich bediente.

Ich gab ihm meinen Unwillen darüber zu verstehen, indem ich mich schweigend von ihm abwandte.

In demselben Augenblick legte der Graf ihm seine Hand auf die Schulter und sagte in überredendem Tone:

»Mein lieber Percival! – sachte! sachte!«

Sir Percival ging mir ein paar Schritte nach und machte mir zu meinem größten Erstaunen eine Entschuldigung.

»Ich bitte um Verzeihung, Miß Halcombe,« sagte er. »Mir ist in letzter Zeit nicht recht wohl gewesen und ich fürchte, es hat mich etwas reizbar gemacht. Aber ich möchte gern wissen, was in aller Welt Mrs. Catherick hier wollte, wann kam sie? war die Haushälterin die einzige Person, die sie sah?«

»Soviel ich weiß, war sie die einzige,« entgegnete ich.

Der Graf legte sich abermals dazwischen.

»In dem Falle würde ich die Haushälterin befragen,« sagte er.

»Ganz recht!« sagte Sir Percival. »Sehr dumm von mir, das nicht gleich zu sehen.« Mit diesen Worten verließ er uns augenblicklich, um zum Hause Zurückzukehren.

Des Grafen Beweggrund, den Vermittler zu machen, verrieth sich, sowie Sir Percival den Rücken gewandt hatte. Er hatte mir eine Masse Fragen über Mrs. Catherick und den Zweck ihres Besuches in Blackwater Park vorzulegen, die er in seines Freundes Gegenwart kaum hätte thun können. Ich machte meine Antworten so kurz, wie es die Höflichkeit zuließ – denn ich hatte bereits beschlossen, jeder Annäherung zu vertrauten Mittheilungen zwischen dem Grafen und mir von vornherein entgegenzutreten. Laura half ihm jedoch unbewußterweise, indem sie selbst mir Fragen vorlegte, die mir keine andere Wahl ließen, sie zu beantworten. Das Ende davon war, daß in ungefähr zehn Minuten der Graf ebensoviel über Mrs. Catherick und über die Ereignisse wußte, die uns auf so seltsame Weise mit ihrer Tochter Anna in Verbindung gebracht hatten, als ich selbst, und zwar von dem Augenblicke an, wo Walter Hartright ihr begegnete, bis auf diesen Tag.

Die Wirkung dieser meiner Auskunft auf ihn war in einer Beziehung ziemlich bemerkenswerth. So intim er auch mit Sir Percival ist und so gut er auch von dessen Privatangelegenheiten im Allgemeinen unterrichtet zu sein scheint, ist er doch offenbar ebenso weit entfernt wie ich, etwas von der wahren Geschichte von Anna Catherick zu wissen. Es war unmöglich, die eifrige Neugier des Grafen zu mißdeuten, als er begierig jedem Worte lauschte, das von meinen Lippen fiel. Ich weiß wohl, daß es viele verschiedene Arten von Neugier gibt, aber die einer vollkommenen Ueberraschung ist unverkennbar, und falls ich sie jemals sah, so war dies in dem Augenblicke im Gesichte des Grafen.

Zum Hause zurückgekehrt, war das Erste, was wir sahen, Sir Percivals Gig, das angespannt vor der Thür hielt, und der Groom, der in seiner Stalljacke das Pferd hielt. Nach diesen unerwarteten Erscheinungen hatte das Verhör der Haushälterin bereits wichtige Erfolge gehabt.

»Ein schönes Pferd, mein Freund,« sagte der Graf mit der bezauberndsten Vertraulichkeit zum Reitknecht. »Ihr wollt ausfahren?«

»Ich fahre nicht, Sir,« sagte der Mann, auf seine Stalljacke blickend, in sichtbarem Verwundern, ob der ausländische Herr sie wohl für seine Livree halte. »Mein Herr fährt sich selbst.«

»Aha?« sagte der Graf. »In der That? Mich wundert's, daß er sich die Mühe nimmt, da er doch Euch dazu hat. wird er das schöne blanke Pferd mit einer langen Fahrt ermüden?«

»Ich weiß nicht, Sir,« entgegnete der Groom. »'s ist das muthigste Thier, das wir im Stalle haben. Sie heißt die braune Molly, Sir, und geht, bis sie umfällt. Sir Percival nimmt Isak von York gewöhnlich für kurze Entfernungen.«

»Und Eure blanke, muthige, braune Molly für die langen?«

»Jawohl, Sir.«

»Der logische Schluß, Miß Halcombe,« sagte der Graf, sich schnell zu mir umwendend, »ist demnach, daß Sir Percival heute eine lange Fahrt vor hat.«

Ich erwiderte nichts. Ich zog meine eigenen Schlüsse, und es lag mir nicht daran, dieselben mit Graf Fosco zu theilen.

Als Sir Percival in Cumberland war, machte er einen langen Spaziergang, um die Familie zu Todd's Ecke über Anna auszufragen. Ist er etwa jetzt in Hampshire im Begriff, eine noch längere Spazierfahrt zu machen, um Nachfragen über Anna bei Mrs. Catherick zu Welmingham anzustellen?

Als wir über den Flur gingen, trat Sir Percival aus der Bibliothek uns entgegen, Er schien in Eile und sah blaß und sorgenvoll aus, war aber dessenungeachtet in seiner höflichsten Laune, als er uns anredete.

»Ich bedaure zu sagen, daß ich euch verlassen muß,« begann er – »ich habe eine lange Fahrt vor – eine Sache, die ich nicht gut verschieben kann. Ich werde morgen bei guter Zeit wieder da sein; ehe ich aber gehe, möchte ich die kleine Geschäftsformalität beseitigen, von der ich heute Morgen sagte. Laura, willst du in die Bibliothek kommen? Darf ich Sie ebenfalls bemühen, Gräfin? Ich wünsche bloß, daß ihr, du und die Gräfin, Zeugen einer Unterschrift seid, weiter nichts. Kommt gleich und macht die Sache ab.«

Er hielt die Thür der Bibliothek für sie offen, bis sie Alle eingetreten waren, folgte ihnen und schloß sie leise hinter sich.

Ich blieb einen Augenblick stehen, und schlimme Ahnungen schlichen sich bei mir ein. Dann stieg ich langsam hinauf nach meinem Zimmer.

Gerade als ich die Hand auf die Thürklinke gelegt, hörte ich Sir Percivals Stimme, die mir von unten zurief:

»Ich muß Sie bitten, herunter zu kommen,« sagte er. »Es ist Fosco's Schuld, nicht die meine, Miß Halcombe. Er hat irgend einen unsinnigen Einwand dagegen zu machen, daß seine Frau Zeugin ist, und mich daher genöthigt, Sie zu bitten, in die Bibliothek zu kommen.«

Ich trat sofort mit Sir Percival in's Zimmer. Laura stand wartend beim Schreibtische und drehte ihren Gartenhut unruhig in den Händen herum. Die Gräfin saß neben ihr in einem Lehnstuhle, in ihren Zügen malte sich unerschütterliche Bewunderung für ihren Gemahl, welcher am anderen Ende des Zimmers stand.

Sowie ich hereintrat, kam der Graf mir entgegen.

»Ich bitte tausendmal um Vergebung, Miß Halcombe,« sagte er, »Sie wissen, welchen Charakter man in England meinen Landsleuten beilegt? Wir Italiener sind nach des guten John Bull Dafürhalten Alle von Natur hinterlistig und argwöhnisch. Nehmen Sie gütigst an, daß ich um nichts besser bin als meine Landsleute. Nun gut! Es macht einen Theil meiner Hinterlist und meines Argwohns aus, etwas dawider zu haben, daß die Gräfin Zeugin von Lady Glyde's Unterschrift sei, wenn ich selbst ein Zeuge bin.«

»Es gibt auch nicht den Schatten eines Grundes für seine Weigerung,« sagte Sir Percival. »Ich habe es ihm erklärt, daß das englische Gesetz seiner Frau sowohl als ihm gestattet, Zeugen bei derselben Unterschrift zu sein.«

»Ich gebe es zu,« sagte der Graf, »Das Gesetz von England sagt Ja, aber Fosco's Gewissen sagt Nein. Was dies für ein Document sein mag, welches Lady Glyde zu unterzeichnen im Begriffe ist, weiß ich nicht, noch wünsche ich es zu erfahren. Ich sage bloß, daß zu irgend einer Zeit der Zukunft, die Umstände sich so gestalten können, daß Sir Percival sich genöthigt sehe, sich auf die beiden Zeugen zu berufen, in welchem Falle es sicherlich wünschenswerth ist, daß diese Zeugen zwei Ansichten verträten, die von einander völlig unabhängig wären. Dies kann nicht sein, wenn meine Frau mit mir unterzeichnet, denn zwischen uns Beiden gibt es nur eine Ansicht, und das ist die meinige. Ich will nicht, daß man jemals sagen könne, die Gräfin habe auf meinen Befehl gehandelt und sei demzufolge eigentlich gar kein Zeuge. Ich spreche in Percivals Interesse, wenn ich vorschlage, daß mein Name als der von Percivals nächstem Freunde erscheine und Miß Halcombe's Name als der von seiner Gemahlin nächststehenden Freundin. Ich hoffe, daß Sie mir aus Barmherzigkeit gegen meinen argwöhnischen italienischen Charakter willfahren werden.« Er verbeugte sich, trat ein paar Schritte von dem Tische zurück und entzog sein Gewissen unserer Gesellschaft so höflich, wie er es uns vorgestellt hatte.

Des Grafen Scrupel mochten rechtlich und vernünftig genug sein, aber in seiner Art und Weise, sie auszusprechen, lag etwas, das meinen Widerwillen, mit der Unterschrift irgendwie zu thun zu haben, noch vermehrte. Doch ein einziger Blick auf Lauras beunruhigte Züge bestimmte mich, lieber Alles zu riskiren, ehe ich sie verließe.

»Ich bin bereit, da zu bleiben,« sagte ich. »Und falls ich keine Gründe sehe, meinerseits Einwendungen zu machen, dürfen Sie auf mich als Zeugin rechnen.«

Die Gräfin sah sich nach Befehl von ihrem Gemahl um, erhielt ihn, sagte, sie ziehe es vor, uns unserem Geschäfte zu überlassen, und ging entschlossen hinaus. Der Graf zündete sich eine Cigarette an.

Unterdessen öffnete Sir Percival eine Schublade und nahm aus derselben ein Document, das vielmals der Länge nach zusammengefaltet lag. Er legte es auf den Tisch, öffnete bloß die letzte Falte und legte seine Hand auf das Uebrige. Auf dieser letzten Falte sah man ein Stück unbeschriebenen Papiers, auf das an gewissen Stellen Oblaten geklebt waren. Jede Zeile der Schrift war in dem Theile verborgen, den er mit der Hand bedeckt hielt. Laura und ich schauten einander an. Ihr Gesicht war bleich, doch zeigte es weder Unentschlossenheit noch Furcht.

Sir Percival tauchte eine Feder in's Tintenfaß und reichte sie seiner Frau.

»Schreibe deinen Namen hieher,« sagte er, auf eine Stelle deutend. »Sie und Fosco werden hernach Ihre Namen hier diesen Oblaten gegenüber niederzuschreiben haben, Miß Halcombe. Komm' her, Fosco!«

Der Graf trat zu uns an den Tisch, indem er unbekümmert seine Hände in seinen Gürtel steckte und seine Augen fest auf Sir Percivals Gesicht geheftet hielt. Laura, die auf ihres Mannes anderer Seite stand, hielt die Feder in der Hand und blickte ihn ebenfalls an. Er stand zwischen ihnen, indem er das Document fest mit der Hand niederdrückte und mich, die ich ihm gegenübersaß, mit einer solchen Mischung von Argwohn und Verwirrung anblickte, daß er mehr das Aussehen eines Gefangenen vor den Gerichtsschranken, als das eines Edelmannes in seinem eigenen Hause hatte.

»Unterschreibe hier,« wiederholte er, sich plötzlich Zu Laura wendend und nochmals auf die Stelle deutend.

»Was ist es, das ich unterschreiben soll?« frug sie ruhig.

»Ich habe keine Zeit, es dir auseinander zu setzen,« entgegnete er. »Das Gig ist vor der Thür, und ich muß fort. Es ist eine bloße Form – und voller technischer Advocatenausdrucks und dergleichen. Komm'! komm'! unterschreibe und laß uns mit der Sache zu Ende kommen, so schnell wir können.«

»Mir scheint, ich sollte doch wissen, was ich unterzeichne, Sir Percival, ehe ich meinen Namen unterschreibe?«

»Unsinn! was wissen Weiber von Geschäften? Du würdest es nicht verstehen.«

»Laß mich doch wenigstens den Versuch machen, es zu verstehen. Falls meine Unterschrift mich zu irgend etwas verpflichtet, so habs ich doch gewiß das Recht zu wissen, was diese Verpflichtung ist?« sagte sie.

Er nahm das Dokument und schlug zornig damit auf den Tisch.

»Nur heraus damit!« rief er, »sage nur gerade heraus, daß du mich beargwöhnst.«

Der Graf nahm eine Hand aus seinem Gürtel und legte sie Sir Percival auf die Schulter.

»Beherrsche deine unglückselige Heftigkeit, Percival,« sagte er. »Lady Glyde hat Recht.«

»Recht!« rief Sir Percival aus. »Eine Frau hat Recht, ihrem Manne zu mißtrauen?«

»Du bist ungerecht, mich des Mißtrauens gegen dich zu beschuldigen,« sagte Laura. »Frage Marianne, ob ich nicht Recht habe Zu verlangen, daß man mich mit dem Inhalte dieses Dokumentes bekannt mache, ehe ich es unterschreibe.«

»Ich will durchaus nicht, daß an Miß Halcombe appellirt werde,« erwiderte Sir Percival; »Miß Halcombe hat mit der Sache nichts zu thun.«

»Verzeihen Sie, Sir Percival,« sagte ich, »aber als eine der Zeugen der Unterschrift wage ich zu muthmaßen, daß ich allerdings etwas mit der Sache zu thun habe. Lauras Einwand scheint mir ein durchaus billiger, und was mich selbst betrifft, so kann ich nicht die Verantwortung einer Zeugenschaft übernehmen, wo sie nicht zuvor deutlich davon unterrichtet ist, was sie unterschreibt.«

»Eine trockene Erklärung, bei Gott!« rief Sir Percival aus. »wenn Sie sich wieder einmal zu eines Mannes Hause einladen, so rathe ich Ihnen, Miß Halcombe, daß Sie nicht die Partei seiner Frau gegen ihn nehmen in einer Angelegenheit, die Sie nichts angeht.«

Ich sprang auf, plötzlich – als ob er mich geschlagen hätte. Ware ich ein Mann gewesen, so hätte ich ihn an der Schwelle seines eigenen Hauses zu Boden geschlagen und dasselbe verlassen, um es nie wieder zu betreten. Aber ich war bloß ein Weib – und liebte seine Frau so sehr!

Und diese treue Liebe half mir, Gott sei Dank, so daß ich mich ohne ein Wort zu sagen wieder setzte. Sie wußte, was ich unterdrückte, und eilte mit überströmenden Augen zu mir heran. »O, Marianne!« flüsterte sie; »und wäre meine Mutter am Leben gewesen, sie hätte nicht mehr für mich thun können!«

»Komm' her und unterschreibe!« rief Sir Percival von der anderen Seite des Tisches.

»Soll ich?« frug sie flüsternd. »Ich will's thun, wenn du mir's sagst.«

»Nein,« entgegnete ich, »unterschreibe nichts, das du nicht zuvor gelesen hast.«

»Komme her und unterschreibe!« wiederholte er in seinem aufgebrachtesten Tone.

Der Graf, welcher Laura und mich mit schweigender Aufmerksamkeit beobachtet hatte, legte sich zum zweiten Male dazwischen.

»Percival!« sagte er, »ich bedenke, daß ich mich in der Gegenwart von Damen befinde. Sei so gut, dich auch daran zu erinnern.«

Sie blickten einander an. Sir Percival wandte langsam sein Gesicht von ihm ab, blickte eine Weile finster auf das Document, das auf dem Tische lag, und sprach dann mehr mit der verdrießlichen Unterwürfigkeit eines gezähmten Thieres, als der Ergebung eines überzeugten Mannes.

»Ich wünsche Niemanden zu beleidigen,« sagte er. »Aber die Hartnäckigkeit meiner Frau würde einen Heiligen um seine Geduld bringen. Ich habe ihr gesagt, daß dies Document eine bloße Form ist, und was will sie weiter. Noch einmal, und zwar zum letzten Male, Lady Glyde, wollen Sie unterzeichnen oder nicht?«

Laura kehrte an seine Seite zurück und nahm die Feder wieder auf.

»Ich will gern unterzeichnen,« sagte sie, »wenn du mich nur wie ein urteilsfähiges Wesen behandeln willst. Es ist nur einerlei, welches Opfer man von mir verlangt, solange es sonst Niemandem schaden oder schlimme Folgen haben –«

»Wer spricht von Opfern?« unterbrach er sie.

»Ich wollte nur sagen,« fuhr sie fort, »daß ich keine Zugeständnisse verweigern werde, die ich in Ehren machen kann, warum sollte es dich so heftig gegen mich aufbringen, wenn ich zögere, ein Document zu unterschreiben, über welches ich gar nichts weiß. Ich finde es ziemlich hart, daß du so viel mehr Rücksicht auf Graf Fosco's Scrupel nehmen solltest, als auf die meinigen.«

Diese Anspielung auf des Grafen merkwürdige Gewalt über ihren Gemahl ließ Sir Percivals Wuth wieder in hellen Flammen auflodern.

»Scrupel!« wiederholte er. » Deine Scrupel! Es ist etwas spät, damit jetzt anzufangen. Ich hätte gedacht, daß du mit all derlei Schwächen fertig gewesen wärest, als du aus der Notwendigkeit eine Tugend machtest, indem du mich heiratetest.«

Sowie er die Worte ausgesprochen, warf Laura die Feder hin, sah ihn mit einem Ausdrucke in ihren Augen an, den ich nie darin gesehen hatte, und wandte ihm den Rucken.

Es lag ohne Zweifel unter der bloßen oberflächlichen Grobheit der Worte ihres Mannes irgend eine lauernde Beleidigung, die ich nicht errathen konnte, die aber das Zeichen ihrer Entweihung so deutlich auf ihr Gesicht geprägt hatte, daß selbst ein Fremder es zu sehen vermocht hätte.

Der Graf sah es so deutlich wie ich. Als ich meinen Sessel verließ, um zu Laura zu treten, hörte ich, wie er Sir Percival »du Blödsinniger!« zuflüsterte.

»Du weigerst dich also entschieden, mir deine Unterschrift zu geben?« frug Sir Percival in dem veränderten Tone eines Mannes, der sich bewußt geworden, daß er sich durch seine ungezügelte Sprache ernstlichen Schaden zugefügt hat.

»Nach dem, was du gesagt hast,« sprach Laura mit fester Stimme, »verweigere ich meine Unterschrift, bis ich jedes Wort in jenem Documente von Anfang bis zu Ende desselben gelesen habe. Komm', Marianne, wir sind lange genug hier gewesen.«

»Einen Augenblick!« rief der Graf, »einen Augenblick, Lady Glyde, ich bitte Sie!«

Laura würde das Zimmer verlassen haben, ohne ihn zu beachten, doch hielt ich sie zurück.

»Mache dir den Grafen nicht zum Feinde!« flüsterte ich ihr zu.

Sie gab mir nach.

»Lady Glyde,« sagte der Graf, »bitte, verzeihen Sie mir, wenn ich es wage, einen Vorschlag zu machen, und glauben Sie mir, daß meine Hochachtung und aufrichtige Freundschaft für die Herrin dieses Hauses meine Worte dictirt.« Er wandte sich scharf zu Sir Percival. »Ist es durchaus nothwendig, daß dies Ding da heute unterschrieben werde, oder kann das Geschäft bis morgen verschoben werden – ja oder nein?«

»Ja – wenn du darauf bestehst.«

»Wozu vergeudest du da deine Zeit hier? Laß die Unterschrift bis morgen warten – bis du zurückkommst.«

Sir Percival blickte mit gerunzelter Stirn und einem Fluche in die Höhe.

»Du erlaubst dir einen Ton gegen mich,« sagte er, »den ich mir von keinem Manne gefallen lassen werde.«

»Ich rathe dir zu deinem Besten,« sagte der Graf mit einem Lächeln ruhiger Verachtung. »Mein Ton ist der Ton eines Mannes, der sich beherrschen kann, wie viele Dosen guten Rathes habe ich dir bereits eingegeben? Habe ich jemals Unrecht gehabt? Geh'! Fahr' aus. Die Unterschrift hat Zeit bis morgen. Laß sie warten und komme darauf zurück, wenn du wieder nach Hause kommst.«

Sir Percival zögerte und sah auf seine Uhr. Seine Besorgnis wegen der Reise, die er vorhatte, stritt offenbar mit seiner Besorgnis, Lauras Unterschrift zu erhalten. Er überlegte einen Augenblick und erhob sich dann von seinem Sessel.

»Ich will deinen Rath befolgen, Fosco, nicht weil ich ihn für gut halte, sondern weil ich hier nicht länger warten kann.« Er hielt inne und wandte sich mit einein finsteren Blicke zu seiner Frau, »wenn du mir nicht morgen, sobald ich zurückkomme, deine Unterschrift gibst –!« Das Uebrige wurde durch das Geräusch übertönt, mit dem er den Schrank öffnete und das Dokument wieder verschloß. Dann nahm er Hut und Handschuhe vom Tische und ging hinaus.

Der Graf trat zu uns heran.

»Sie haben Percival soeben in seinem allerungünstigsten Lichte gesehen, Miß Halcombe,« sagte er. »Als sein alter Freund schäme ich mich seiner. Als sein alter Freund aber verspreche ich Ihnen auch, daß er sich morgen nicht wieder auf so unwürdige Weise geberden soll, wie heute.«

Ich dankte dem Grafen höflich, denn ich fühlte, daß ich, nach Sir Percivals Benehmen gegen mich, ohne den Beistand, der in des Grafen Einfluß lag, nicht hier bleiben zu dürfen hoffen konnte. Sein Einfluß, den ich von allen am meisten fürchtete, war jetzt die einzige Macht, die mich in der Stunde ihrer größten Noth an Laura hielt!

Wir hörten das Knirschen der Räder des Gigs auf dem Kieswegs, als wir in den Flur traten. Sir Percival war fortgefahren.

»Wo fährt er hin, Marianne?« flüsterte Laura. »Alles, was er thut, scheint mich mit neuen Schrecken für die Zukunft zu erfüllen. Hast du irgend welchen Verdacht?«

Nach dem, was sie diesen Morgen bereits durchgemacht hatte, mochte ich ihr nichts von meinem Verdachte sagen.

»Wie sollte ich seine Geheimnisse kennen?« sagte ich ausweichend.

»Hörtest du nicht von der Haushälterin, daß es in der Umgegend geheißen habe, Anna Catherick sei hier gesehen worden? Glaubst du nicht, daß er vielleicht hingefahren ist, um sie zu suchen?«

»Ich möchte mich lieber beruhigen, Laura, indem ich gar nicht daran denke, und nach dem, was sich soeben zugetragen hat, wirst du wohl daran thun, meinem Beispiele zu folgen. Komm' mit in mein Zimmer, um dich zu erholen.«

Wir setzten uns zusammen dicht an's Fenster und ließen die frische Sommerluft unsere Wangen fächeln.

»Du hörtest, was er zu mir sagte?« begann Laura aufgeregt. »Du hörtest die Worte, aber du weißt nicht, was er damit sagen wollte – weißt nicht, warum ich die Feder hinwarf und ihm den Rücken zuwandte.«

Sie stand heftig bewegt auf und ging in dem Zimmer umher.

»Du hörtest, Marianne, wie er mich dafür verhöhnte, daß ich mir anmaße, Scrupel zu hegen; hörtest ihn sagen, ich habe aus der Notwendigkeit eine Tugend gemacht, da ich ihn heiratete. Ich kann dir jetzt nicht davon erzählen, ich müßte in Thränen ausbrechen, wenn ich es versuchte – später, Marianne, wenn ich gefaßter bin. O, hatten wir doch nur einen Freund, der uns rathen und helfen könnte! – einen Freund, dem wir wirklich vertrauen könnten!«

Sie seufzte bitterlich. Ich las es in ihrem Gesichts, daß sie an Walter Hartright dachte, und las es umso deutlicher, als ihre letzten Worte mich ebenfalls an ihn hatten denken lassen.

»Wir müssen versuchen, uns selbst zu helfen,« sagte ich. »Laß uns ruhig darüber sprechen, Laura – laß uns unser Möglichstes thun, um uns für das Beste zu entscheiden.«

Da wir das, was sie über ihres Mannes Geldverlegenheiten wußte und was ich von seiner Unterhaltung mit dem Advocaten gehört hatte, zusammenhielten, kamen wir notwendigerweise zu dem Schlusse, daß das Document, welches wir in der Bibliothek gesehen hatten, verfaßt war, um Geld zu borgen, und daß es nur durch Lauras Unterschrift für Sir Percivals Zwecke vollständig würde.

Die zweite Frage in Bezug auf die Beschaffenheit des gerichtlichen Contractes, durch welchen Geld verschafft werden sollte, und den Grad von Verantwortlichkeit, dem Laura sich unterzöge, falls sie ihn unterschriebe, faßte Berücksichtigungen in sich, die weit über die Kenntnis und Erfahrung hinauslagen, welche wir Beide von der Sache besaßen. Ich war meinestheils überzeugt, daß das Document eine Verhandlung der niedrigsten und betrügerischsten Art enthielt.

Es war nicht Sir Percivals Weigerung, die Schrift zu zeigen, gewesen, die mir diese Ueberzeugung aufdrang; denn diese Weigerung konnte ganz einfach die Folge seines widersetzlichen, herrschsüchtigen Charakters sein. Mein einziger Beweggrund, seiner Rechtlichkeit zu mißtrauen, entsprang aus der Veränderung seines ganzen Benehmens, seit ich ihn in Blackwater Park gesehen, eine Veränderung, die mich überzeugte, daß er während seiner ganzen Probezeit in Limmeridge House mit uns allen Komödie gespielt habe. Dies bestimmte mich, Laura, was auch die Folgen davon sein mochten, vom Unterzeichnen der Schrift abzuhalten, falls sie sich nicht vorher mit dem Inhalts derselben vertraut gemacht habe.

Unter diesen Umständen würde unsere einzige Zuflucht morgen darin liegen, daß wir uns mit einem Einwand versahen, der auf hinreichend festen Gründen ruhte, um Sir Percival vermuthen zu lassen, daß wir Frauen ganz so wohl unterrichtet seien von geschäftlichen Gesetzen und Verpflichtungen, wie er selbst.

Nach einiger Ueberlegung beschloß ich, an den einzigen redlichen Mann, dem wir in unserer verlassenen Lage vertrauen durften, zu schreiben. Dies war Mr. Gilmore's Kompagnon, der dessen Geschäfte leitete, wahrend unser Freund zur Pflege seiner Gesundheit von London abwesend war. Ich erklärte Laura, wie ich Mr. Gilmore als Gewährsmann dafür besitze, um in seines Kompagnons Rechtlichkeit das unumschränkteste Vertrauen setzen zu können, und nahm dann im vollständigen Einverständnis mit ihr sofort die Feder zur Hand, um den Brief zu schreiben.

Ich begann damit, daß ich ihm genau unsere Lage auseinandersetzte, und bat ihn dann um seinen Rath, um allen etwaigen gefährlichen Mißdeutungen oder Mißverständnissen vorzubeugen.

Gerade als ich im Begriff war, die Adresse auf das Couvert zu schreiben, fiel Laura ein Hindernis ein, an das ich in meinem Eifer gar nicht gedacht hatte.

»Wie sollen wir aber die Antwort zur rechten Zeit bekommen?« frug sie. »Dein Brief wird vor morgen Früh nicht in London abgegeben werden und dann die Antwort mit der Post erst übermorgen hier sein.«

Die einzige Art und Weise, diese Schwierigkeit zu beseitigen, bestand darin, daß man uns die Antwort durch einen Expressen direct vom Geschäftslocale Mr. Gilmore's überbringe. Ich schrieb eine Nachschrift dieses Inhaltes, indem ich den Boten mit dem um elf Uhr Morgens von dort weggehenden Zuge abzusenden bat, welcher ihn zwanzig Minuten nach ein Uhr an unsere Station bringen und ihn so in Stand setzen werde, spätestens um zwei Uhr in Blackwater Park einzutreffen. Er sollte nach mir fragen, keine Fragen von sonst irgend jemandem beantworten und seinen Brief nur in meine eigenen Hände geben.

»Sollte Sir Percival morgen schon vor zwei Uhr zurückkommen,« sagte ich zu Laura, »so wird das Rathsamste sein, daß du den ganzen Morgen draußen in den Anlagen bleibst, bis der Bote Zeit gehabt hat, mit dem Briefe anzulangen. Ich will ihn hier erwarten, um uns gegen Versehen oder unglückliche Zufälligkeiten zu sichern. Auf diese Weise hoffe ich, daß wir gegen Ueberraschung geschützt sein werden. Jetzt laß uns hinunter gehen. Es möchte Verdacht erregen, falls wir uns zu lange zusammen einschlössen.«

»Verdacht?« wiederholte sie, »wessen Verdacht könnte es erregen, jetzt, da Sir Percival das Haus verlassen? Meinst du Graf Fosco?«

»Vielleicht, Laura.«

»Fürchtest du ihn?«

»Vielleicht – ein wenig.«

»Was – nach seiner Vermittlung zu unseren Gunsten heute?«

»Ja. Ich fürchte mich mehr vor seiner Vermittlung, als von Sir Percivals Heftigkeit. Denke an das, was ich in der Bibliothek zu dir sagte, was du auch thust, Laura, mache dir den Grafen nicht zum Feinde!«

Wir gingen hinunter. Laura ging in's Gesellschaftszimmer, während ich über den Flur ging, um meinen Brief in die Posttasche zu stecken, welche an der gegenüberliegenden Wand hing.

Die Hausthür war offen, und als ich daran vorbei kam, sah ich den Grafen und seine Frau draußen auf den Stufen stehen, mit den Gesichtern mir zugewandt.

Die Gräfin kam ziemlich eilig in den Flur und frug mich, ob ich fünf Minuten übrig habe, um allein mit ihr zu sprechen. Etwas erstaunt über eine solche Frage von einer solchen Person that ich meinen Brief in die Postasche und erwiderte, daß ich ihr zu Diensten stehe. Sie nahm mit einer ungewohnten Freundschaftlichkeit meinen Arm und führte mich hinaus auf den Rasen, welcher den Fischteich umgab.

Der Graf ging dann sofort in's Haus, indem er die Hausthür hinter sich zuwarf, ohne sie jedoch ganz zu schließen.

Die Gräfin führte mich langsam um den Fischteich. Ich erwartete, zur Empfängerin einer wichtigen vertrauten Mittheilung gemacht zu werden, und war daher nicht wenig erstaunt, als ich gewahr wurde, daß der Gräfin Geheimnis einzig in ihrer Versicherung der aufrichtigsten Theilnahme nach dem, was sich heute Morgen in der Bibliothek zugetragen, bestand. Ihr Gemahl habe ihr alles erzählt, was vorgegangen sei und wie impertinent Sir Percival sich gegen mich benommen habe. Dies habe sie in dem Grade um Lauras und meinetwillen verletzt und betrübt, daß sie beschlossen, falls sich jemals wieder etwas der Art ereigne, Sir Percival ihren Unwillen über sein beleidigendes Betragen dadurch zu verstehen zu geben, daß sie augenblicklich das Haus verlasse.

Mir erschien dies als ein sehr auffallendes Verfahren, zumal nach dem Austausche spitzer Redensarten während unserer Unterhaltung im Boothause heute Morgen. Indessen war es offenbar meine Pflicht, ein höfliches Entgegenkommen mit Höflichkeit zu erwidern. Ich antwortete der Gräfin deshalb in diesem Geiste und versuchte dann, da es mir schien, daß alles über den Gegenstand gesagt war, in's Haus zurückzukehren.

Aber die Gräfin schien entschlossen, sich noch nicht von mir zu trennen. Nachdem sie sich bisher als die schweigsamste der Frauen gezeigt, verfolgte sie mich plötzlich mit den geläufigsten Gemeinplätzen über ein Dutzend Gegenstände, bis sie mich eine halbe Stunde aufgehalten hatte, um fortwährend mit ihr um den Fischteich herum zu spazieren. Ebenso plötzlich, wie sie ihre Vertraulichkeiten angefangen, hielt sie jetzt damit inne, blickte nach der Hausthür, nahm ihre gewohnte eisige Manier wieder an und ließ von selbst meinen Arm fallen.

Als ich die Thür öffnete und in den Flur trat, sah ich mich plötzlich wieder dem Grafen gegenüber. Er war gerade im Begriff, einen Brief in die Posttasche zu thun.

Nachdem er ihn hineingeworfen und die Tasche wieder verschlossen, fragte er mich, wo ich die Gräfin verlassen habe. Ich sagte es ihm, und er ging sogleich hinaus seiner Frau entgegen.

Warum mein Nächstes war, geradewegs zur Posttasche zu gehen, meinen Brief herauszunehmen und ihn mit einem unbestimmten Argwohn zu betrachten und warum mir dabei plötzlich die Idee kam, ihn der größeren Sicherheit wegen lieber zu siegeln – sind Geheimnisse, die zu ergründen entweder zu tief oder zu flach für mich sind.

Was mich jedoch immer dazu bewogen haben mochte, ich fand Ursache, mir zu der Eingebung Glück zu wünschen, sowie ich mich, auf meinem Zimmer angelangt, anschickte, den Brief zu siegeln. Ich hatte das Couvert zuerst auf die gewöhnliche Weise zugemacht, indem ich die mit Gummi bestrichene Spitze anfeuchtete und dann fest herunterdrückte, und als ich jetzt, nach Verlauf von voll drei Viertelstunden, die Spitze mit dem Finger aufzuheben versuchte, öffnete sich das Couvert augenblicklich, ohne zu kleben oder zu zerreißen.

War vielleicht – nein! es ist schon empörend genug, dieser Muthmaßung nur in meinem Geiste Eingang zu gestatten. Ich will sie mir lieber nicht in deutlichem Schwarz und Weiß gegenüberbringen.

Ich fürchte fast den morgigen Tag – es kommt so viel auf meine Klugheit und Selbstbeherrschung an. Jedenfalls werde ich zwei Vorsichtsmaßregeln nicht aus den Augen lassen. Die eine besteht darin, dem Grafen gegenüber wenigstens den Schein der Freundschaft zu bewahren, und die andere darin, wohl auf meiner Hut zu sein, wenn der Bote mit dem Briefe ankommt.

Als das Diner uns wieder versammelte, war der Graf wieder in seiner besten Laune. Er bemühte sich, uns zu unterhalten und zu belustigen, als ob er entschlossen sei, die unangenehme Erinnerung an das, was sich am Nachmittag in der Bibliothek zugetragen, aus unserem Geiste zu verwischen.

Nach dem Diner zog er sich bescheiden in die Bibliothek zurück, um zu lesen. Laura schlug mir einen Spaziergang in den Anlagen vor.

Es war ein nebeliger, schwüler Abend. Es war ein Gefühl wie von Gifthauch in der Luft. Der westliche Fimmel hatte einen matten, gelblichen Schein, und die Sonne ging in einem Dunstkreise unter.

Es schien Regen in Aussicht zu stehen.

»Welche Richtung wollen wir einschlagen?« frug ich Laura.

»Nach dem See zu, wenn du willst, Marianne,« entgegnete sie.

»Du scheinst eine mir unerklärliche Vorliebe für diesen melancholischen See zu haben, Laura.«

»Nein, nicht für den See, aber für die Umgebung. Der Sand, die Heide und die Tannen sind in diesem großen Parke das Einzige, was mich an Limmeridge erinnert.«

Wir gingen schweigend durch die schattigen Baumanlagen. Die Schwere der Abendluft war uns Beiden drückend und als wir beim Boothause anlangten, waren wir froh, uns drinnen setzen und ausruhen zu können.

Ein weißer Dunst lag tief über dem See. Die Stille hatte etwas Erschreckendes. Rein Rauschen in den Blättern, kein Vogelsang im Holze, kein Kreischen der Wasservögel in dem verborgenen See.

»Es ist sehr finster und traurig,« sagte Laura, »aber wir sind hier ungestörter als anderswo. Ich versprach dir, Marianne, dir die Wahrheit über mein eheliches Verhältnis zu sagen, anstatt dich noch länger dem Rathen zu überlassen. Es war dies das erste Geheimnis, das ich vor dir hatte, meine Schwester, und ich bin entschlossen, daß es das letzte sei. Es ist etwas sehr bitteres für eine Frau, bekennen zu müssen, daß der Mann, dem sie ihr ganzes Leben gegeben hat, gerade der ist, der dies Geschenk am allerwenigsten schätzt, wie oft habe ich dich lachen hören über das, was du deine ›Armuth‹ zu nennen pflegtest! Wie oft hieltest du mir komisch pathetische Glückwunschreden über meinen Reichthum! O Marianne, danke Gott für deine Armuth – sie läßt dich deine eigene Herrin bleiben und hat dich vor dem Loose geschützt, das auf mich gefallen ist.«

Ein trauriger Anfang für die Lippen einer jungen Frau – o, so traurig durch seine ruhige, offene Wahrheit! Die wenigen Tage, welche wir Alle zusammen in Blackwater Park zugebracht hatten, waren mehr als hinreichend gewesen, um mir zu zeigen, für was ihr Mann sie geheiratet hatte.

»Ich will dich nicht unglücklich machen, indem ich dir sage, wie bald meine Täuschungen und Prüfungen begannen, wenn ich dir sage, wie er den ersten und letzten Versuch der Gegenvorstellung, den ich je an ihn richtete, aufnahm, so wirst du wissen, wie er mich stets behandelt hat. – Es war eines Tages in Rom, als wir zusammen nach Cäcilia Metella's Grabe geritten waren. Die Erinnerung, daß einst die Liebe eines Mannes dies Monument dem Andenken seiner Gattin errichtet hatte, erfüllte mich mit einer bisher nie empfundenen Zärtlichkeit für meinen Mann. ›Würdest du mir ein solches Grabmal setzen, Percival?‹ frug ich ihn; ›du pflegtest zu sagen, du liebtest mich, ehe wir verheiratet waren; aber seitdem –‹ ich konnte nicht fortfahren, Marianne, er sah mich nicht einmal an! Ich dachte, er habe nicht auf das geachtet, was ich gesagt hatte, aber ich täuschte mich. Er sagte: ›Komm', laß uns weiter reiten' und lachte vor sich hin, indem er mir auf's Pferd half. Dann bestieg er sein eigenes und lachte abermals, als wir davonritten. ›Falls ich dir ein solches Grabmal setzte,‹ sagte er, ›so würde dies mit deinem eigenen Gelde geschehen. Ich möchte wohl wissen, ob die Cäcilia Metella eine Erbin war und für das ihrige bezahlte?‹ Ich erwiderte nichts – ich weinte zu sehr unter dem Schutze meines Schleiers, um sprechen zu können. ›Ach, ihr blonden Weiber seid alle starrköpfig,‹ sagte er. ›was verlangst du denn? Complimente und Schmeicheleien? Nun gut! ich bin heute Morgen gerade guter Laune; nimm die Complimente als gemacht an.‹ Seine Verachtung trocknete meine Thränen und verhärtete mein Herz. Von diesem Augenblicke an, Marianne, unterdrückte ich nie mehr meine Gedanken an Walter Hartright. Ich ließ die Erinnerung an die glücklichen Tage, wo wir einander im Geheimen so innig lieb hatten, wieder in mein Herz einkehren, um mich zu trösten. Ich weiß, daß es unrecht von mir war, aber sage mir, liebes Herz, ob ich unrecht that, ohne zugleich auch Entschuldigungen dafür zu haben?«

Ich mußte mein Gesicht von ihr abwenden.

»Frage mich nicht!« sagte ich. »welches Recht habe ich, darüber zu urtheilen?«

»Ich pflegte an ihn zu denken,« fuhr sie mit leiserer Stimme und näher zu mir heranrückend fort, »ich pflegte an ihn Zu denken, wenn Percival mich Abends allein ließ und sich unter die Leute von der Oper begab. Ich pflegte mir auszumalen, was ich hätte sein können, falls es Gott gefallen hätte, mich mit Armuth zu segnen und ich sein Weib geworden wäre. Dann sah ich mich wohl in meinem einfachen billigen Kleide zu Hause sitzen und ihn erwarten, während er unseren Lebensunterhalt verdiente, zu Hause sitzen und arbeiten, mit umso innigerer Liebe zu ihm, weil ich für ihn arbeiten mußte – sah, wie er ermüdet heimkam und ich ihm Hut und Stock abnahm und, Marianne – wie ich ihn bei Tische mit kleinen Speisen überraschte, die ich ihm zu Liebe selbst zubereitet hatte.«

Als sie diese Worte sprach, verklärte all ihre frühere Schönheit wieder ihr Gesicht. Ihre Augen ruhten so liebend auf der wüsten Aussicht vor uns, als ob sie die befreundeten Hügel in dem unklaren, drohenden Himmel erblickt hätten.

»Sprich nicht mehr von Walter,« sagte ich, sobald ich mich wieder gefaßt hatte, »wenn dein Mann dich hörte –«

»Es würde ihn nicht überraschen, wenn er mich wirklich hörte.«

»Ihn nicht überraschen!« wiederholte ich. »Laura! bedenke, was du sagst – du erschreckst mich!«

»Es ist die Wahrheit,« sagte sie, »und eben das, was ich dir erzählen wollte, als wir heute Nachmittag in deiner Stube saßen. Mein einziges Geheimnis, als ich ihm in Limmeridge mein Herz öffnete, war ein harmloses – das sagtest du selbst, Marianne. Der Name war das Einzige, was ich ihm verschwieg, und er hat ihn entdeckt.«

Ich konnte nichts sagen. Ihre letzten Worte hatten die geringe Hoffnung vernichtet, die noch in mir gelebt hatte.

»Es war in Rom,« fuhr sie matt und kalt fort. »Wir waren in einer kleinen Gesellschaft, welche Bekannte von Sir Percival – Mr. und Mrs. Markland – den dort anwesenden Engländern gaben. Mrs. Markland hatte den Ruf, sehr schön nach der Natur zu zeichnen, und einige der Gäste bewogen sie, uns ihre Zeichnungen sehen zu lassen, wir Alle bewunderten sie; doch lenkte eine Bemerkung von mir ihre besondere Aufmerksamkeit auf mich. ›Sie zeichnen gewiß auch?‹ sagte sie. ›Ich habe früher ein wenig gezeichnet,‹ erwiderte ich, ›aber habe es jetzt aufgegeben.‹ ›Wenn Sie früher gezeichnet haben,‹ sagte sie, ›so werden Sie es gewiß später einmal wieder anfangen, und in diesem Falle möchte ich Ihnen einen Zeichenlehrer empfehlen.‹ Ich versuchte die Unterhaltung auf etwas Anderes zu leiten, du weißt wohl warum, Marianne? Aber Mrs. Markland blieb dabei. ›Ich habe alle möglichen Lehrer gehabt,‹ fuhr sie fort, ›aber der beste von allen, der intelligenteste und aufmerksamste war ein Mr. Hartright. Wenn Sie je wieder anfangen Zu zeichnen, da nehmen Sie ihn zum Lehrer. Er ist ein junger Mann, bescheiden und ein Gentleman – ich bin überzeugt, daß er Ihnen gefallen wird.‹ Ich that mein Möglichstes, mich zu beherrschen, ich sagte nichts und neigte mich tief über die Zeichnungen. Als ich den Kopf wieder aufzurichten wagte, begegneten meine Blicke denen meines Mannes, und ich wußte in dem Augenblicke, daß mein Gesicht mich ihm verrathen hatte. ›Wir wollen uns nach ihm umsehen,‹ sagte er, fortwährend mich anblickend, ›sobald wir nach England zurückkehren. Ich bin Ihrer Ansicht, Mrs. Markland, ich glaube, daß er Lady Glyde gefallen wird.‹ Er legte auf die letzten Worte einen Nachdruck, der meine Wangen brennen und mein Herz pochen machte, daß mir war, als müsse ich ersticken. Es wurde nichts weiter gesagt, und wir verließen die Gesellschaft früh. Während wir nach dem Hôtel zurückfuhren, sagte er nichts. Sowie wir in unserem Wohnzimmer angelangt waren, verschloß er die Thür, stieß mich in einen Lehnstuhl und stand, mit beiden Händen auf meine Schultern gestützt, vor mir. ›Schon seit jenem Morgen in Limmeridge, als du mir deine unverschämten Bekenntnisse machtest, hat mich danach verlangt, des Mannes Namen zu erfahren,‹ sagte er, ›und heute Abend habe ich ihn in deinem Gesichte gelesen. Es war dein Zeichenlehrer, und sein Name ist Hartright. Ihr sollt es Beide bis an Ende eurer Tage bereuen. Jetzt geh' zu Bett und sieh ihn, wenn du willst, im Traume mit den Merkmalen meiner Hetzpeitsche auf seinem Rücken.‹ Sowie er jetzt in Zorn geräth, spielt er entweder mit einem Spotte oder einer Drohung auf das an, was ich ihm in deiner Gegenwart bekannte. Ich habe nicht die Macht, ihn daran zu verhindern, daß er dem Vertrauen, das ich in ihn setzte, seine eigene abscheuliche Auslegung gibt. Du sahst erstaunt aus, als du ihn heute sagen hörtest, ich habe eine Tugend aus der Notwendigkeit gemacht, als ich ihn heiratete, wenn du ihn dies das nächste Mal, wo er in Zorn sein wird, wiederholen hörst, wirst du nicht mehr darüber erstaunen. – O Marianne! laß mich! laß mich! Du thust mir weh!«

Ich hielt sie in meinen Armen, welche der Stachel und die Qual des Gewissens wie eiserne Bande um sie schloß. Ja! Gewissensqual. Die bleiche Verzweiflung auf Walters Gesicht, als ich ihn im Lusthäuschen zu Limmeridge mit meinem grausamen Worte mitten in's Herz traf, erhob sich mit stummem Vorwurfe vor mir. Ich war zwischen die beiden jungen Herzen getreten und hatte sie auf immer von einander geschieden – und zum Zeugen der That lag sein Leben und ihr Leben verwüstet vor meinen Blicken. Dies hatte ich gethan, und zwar für Sir Percival Glyde.

Für Sir Percival Glyde.

Wie lange es währte, bis ich im Stande war, den verzehrenden Jammer meiner eigenen Gedanken zu bemeistern, kann ich nicht sagen. Das Erste, dessen ich mir bewußt wurde, waren ihre Küsse, und dann schienen meine Augen plötzlich zu dem Bewußtsein äußerer Gegenstände zu erwachen; denn ich wußte, daß ich mechanisch gerade vor mich hin auf den See blickte.

»Es wird spät,« hörte ich sie flüstern. »Es wird dunkel sein in den Baumanlagen.«

»Laß mich nur noch eine Minute,« sagte ich – »nur noch eine Minute, um mich zu sammeln.«

Ich wagte sie noch nicht anzuschauen und richtete darum die Blicke fest auf die Aussicht.

Es war in der That spät geworden. Die dichte braune Baumlinie am Himmel sah in der Dunkelheit wie sich lang hin kräuselnder Rauch aus. Der Dunstkreis über dem See hatte sich allmälig ausgedehnt und war bis zu uns herangezogen.

»Wir sind sehr weit vom Hause,« flüsterte Laura, »laß uns zurückkehren.«

Sie hielt plötzlich inne und wandte ihr Gesicht von mir ab auf den Eingang des Boothauses.

»Marianne!« sagte sie heftig zitternd. »Siehst du nichts? Sieh'!«

»Wo?«

»Da unten, vor uns!«

Sie deutete mit der Hand vor sich, ich folgte der Richtung derselben, und dann sah auch ich es.

Eine lebende Gestalt bewegte sich in der Entfernung über die Ebene der Heide hin. Sie ging innerhalb unseres Gesichtskreises am Boothause vor uns vorüber und dann dunkel am Rande des Dunstkreises entlang. Sie stand in weiter Entfernung still, wartete und setzte ihren weg wieder fort. Sie bewegte sich langsam weiter, bis sie über die Ecke des Boothauses hinweg glitt und wir sie nicht mehr sahen.

Unsere Nerven waren durch das, was während des Abends vorgegangen, erschüttert, und es vergingen daher einige Minuten, ehe Laura sich in die Baumanlagen hinauswagen wollte und ich mich entschließen konnte, sie in's Haus zurückzuführen.

»War es ein Mann oder eine Frau?« frug sie flüsternd, als wir endlich in die feuchte Nachtluft hinaustraten.

»Es sieht aus wie eine Frau.«

»Ich fürchtete, es möchte ein Mann in einem langen Mantel sein.«

»Es mag vielleicht ein Mann sein. In diesem undeutlichen Lichte ist es unmöglich, es mit Bestimmtheit zu sagen.«

»Warte, Marianne! Ich fürchte mich – ich kann den Weg nicht sehen. Wenn die Gestalt uns folgte!«

»Das ist durchaus nicht wahrscheinlich, Laura. Du brauchst dich wirklich nicht zu ängstigen. Die Ufer des Sees sind nicht weit vom Dorfe, und die Leute haben Erlaubnis daran spazieren zu gehen, wann sie wollen. Ich wundere mich nur, daß wir nicht schon früher Leuten begegnet sind.«

Wir waren jetzt in den Anlagen. Es war so dunkel, daß es uns schwer wurde, den Pfad zu sehen. Ich gab Laura meinen Arm, und wir gingen so schnell wir konnten dem Hause zu.

Ehe wir noch zur Hälfte durch die Anlagen waren, stand sie still und zwang mich ebenfalls still zu stehen. Sie horchte.

»Still!« flüsterte sie. »Ich höre etwas hinter uns.«

Ich hörte es ebenfalls. Es klang wie ein leichter Schritt, der uns folgte.

»Einerlei, wer es ist oder was es ist,« sagte ich, »laß uns weiter gehen. In einer Minute werden wir dem Hause nahe genug sein, um gehört zu werden, falls uns irgend etwas erschrecken sollte.«

Wir gingen schnell weiter, so schnell, daß, als wir beinahe zu Ende der Anlagen und in Sicht der hell erleuchteten Fenster angelangt waren, Laura außer Athem war.

Ich wartete einen Augenblick, um ihr Zeit zu geben, wieder zu Athem zu kommen. Gerade als wir im Begriff waren, wieder weiter zu gehen, hielt sie mich abermals zurück und machte mir mit der Hand ein Zeichen, zu horchen. Wir hörten beide einen langen, schweren Seufzer hinter uns in dem schwarzen Dickicht der Bäume.

»Wer ist da?« rief ich aus.

Keine Antwort.

»Wer ist da?« wiederholte ich.

Eine kurze Stille folgte und dann hörten wir die leichten Fußtritte wieder, wie sie schwächer und schwächer wurden – immer leiser hinschwanden in der Finsternis und endlich sich in der Stille verloren.

Wir eilten aus den Bäumen hinaus und langten, ohne ein Wort weiter zu sprechen, im Hause an.

Im Lichte der auf dem Flur brennenden Lampe sah Laura mich mit bleichen Wangen und erschrockenem Auge an.

»Ich bin halb todt vor Angst,« sagte sie, »wer kann es nur gewesen sein?«

»Wir wollen morgen versuchen, es zu errathen,« entgegnete ich. »Unterdessen sage Niemandem etwas von dem, was wir gehört und gesehen haben.«

»Warum nicht?«

»Weil Schweigen sicher ist und weil wir in diesem Hause sehr der Sicherheit bedürfen.«

Ich bat Laura, sogleich auf ihr Zimmer zu gehen und ging dann sofort, unter dem Vorwande, daß ich ein Buch suchen wollte, in der Bibliothek meine Nachforschungen anzustellen.

Da saß der Graf und füllte mit seiner Person den geräumigsten Armstuhl im ganzen Hause aus; er rauchte und las in größtmöglichster Gemüthsruhe, wobei seine Füße auf einem Sessel ruhten, seine Cravatte über seinen Knieen lag und sein Halskragen weit geöffnet war. Und zu seinen Füßen saß die Gräfin, wie ein artiges Kind, und machte Cigaretten für ihn. Weder er noch seine Gemahlin konnten möglicherweise spät draußen gewesen und eben erst zum Hause zurückgeeilt sein. Ich fühlte, sowie ich sie nur erblickte, daß der Zweck, der mich nach der Bibliothek führte, erreicht sei.

Als ich eintrat, erhob sich Graf Fosco in höflicher Verwirrung und band seine Cravatte um.

»Sind Sie und Lady Glyde heute Abend draußen gewesen?« frug er, während ich, um den Schein zu bewahren, ein Buch aus dem Schranke nahm.

»Ja, wir gingen hinaus, um etwas frische Luft zu genießen.«

»Darf ich fragen, nach welcher Richtung hin?«

»Nach dem See zu – bis zum Boothause.«

»Aha – bis zum Boothause? Es sind Ihnen doch keine Abenteuer weiter zugestoßen? Keine ferneren Entdeckungen, wie Ihre Entdeckung des blessirten Hundes?«

Er heftete seine unergründlichen grauen Augen mit jenem kalten, klaren, unwiderstehlichen Glanze auf mich, der mich stets zwingt, ihn anzusehen, und mir dabei ein beängstigendes Gefühl verursacht. Es beschleicht mich bei solchen Gelegenheiten ein unaussprechlicher verdacht, daß sein Geist in dem meinigen späht, und auch diesmal beschlich mich derselbe.

»Nein,« sagte ich kurz, »weder Abenteuer noch Entdeckungen.«

Eine Stunde später, als Lauras Kammerjungfer im Zimmer war, sagte ich beiläufig etwas von der Schwüle des Abends, in der Absicht, von ihr zu erfahren, wie und wo die Dienerschaft den Abend zugebracht hatte.

»Habt ihr die Hitze unten sehr gefühlt?« frug ich sie.

»Nein, Miß,« sagte sie, »nicht, daß es der Rede werth wäre.«

»Dann wäret Ihr wohl draußen im Holze?«

»Einige von uns dachten daran, hinauszugehen, aber die Köchin sagte, sie werde sich einen Stuhl in den kühlen Hof tragen, und da machten wir Uebrigen es ebenso.«

Die Haushälterin war jetzt die Einzige, über die Auskunft zu erholen mir noch übrig blieb.

»Ist Mrs. Michelson schon zu Bette gegangen?« fragte ich.

»Sie denkt nicht daran, Miß,« sagte das Mädchen lächelnd. »Es ist viel wahrscheinlicher, daß sie jetzt aufsteht, anstatt zu Bette zu gehen.«

»Warum? Ist Mrs. Michelson schon den Tag über im Bette gewesen?«

»Nein, Miß, das gerade nicht, aber doch etwas Aehnliches. Sie hat den ganzen Abend in ihrer Stube auf dem Sopha gelegen.«

Die Gestalt, die wir am See gesehen, war also weder die des Grafen noch der Gräfin, noch irgend Jemandes von der Dienerschaft. Die Schritte, die wir hinter uns gehört, rührten von Niemandem aus dem Hause her.

Wer konnte es gewesen sein?

Es scheint nutzlos, Nachfragen darüber anzustellen. Ich kann selbst nicht einmal bestimmen, ob die Gestalt die eines Mannes war oder die einer Frau. Ich kann nur sagen, daß ich glaube, sie war eine weibliche.

Den 4. Juli.– Die Muthmaßungen, in denen wir uns diesen Morgen über die Gestalt am See und die Schritte in den Baumanlagen ergangen haben möchten, sind alle in einem unbedeutenden Unfälle untergegangen, der Laura großes Bedauern verursacht. Sie hat die kleine Broche verloren, die ich ihr am Tage vor ihrer Vermählung als Andenken schenkte. Da sie dieselbe trug, als wir gestern Abend ausgingen, so können wir nur annehmen, daß sie entweder im Boothause oder auf unserem eiligen Heimwege aus ihrem Kleide gefallen ist. Die Diener sind bereits dagewesen, um nachzusuchen, jedoch ohne Erfolg zurückgekehrt. Und jetzt ist Laura selbst gegangen, um sie zu suchen. Ob sie die Broche übrigens nun finde oder nicht, so wird der Verlust uns doch eine Entschuldigung für ihre Abwesenheit vom Hause bieten, falls Sir Percival zurückkehren sollte, ehe der Brief von Mr. Gilmore's Compagnon in meine Hände gegeben sein wird.

Es hat soeben ein Uhr geschlagen. Ich überlege, ob es besser sein wird, wenn ich die Ankunft des Boten aus London hier erwarte, oder wenn ich ruhig hinausschlüpfe und ihm bis jenseits der Thorhüterwohnung entgegengehe.

Mein Verdacht gegen Alles und Jeden im Hause macht mich geneigt, das letztere als das Klügere anzunehmen, vor dem Grafen bin ich sicher, denn ich hörte ihn, als ich vor zehn Minuten die Treppe hinauflief, durch die offene Thür des Frühstückszimmers dort seine Kanarienvögel exerciren:

»Kommt heraus auf meine Finger, meine Piep – Piep – Piepvögelchen! Kommt heraus! Hüpf' hinauf! Eins – zwei – drei – oben! Drei – zwei – eins – und wieder unten! Eins – zwei – drei – zirp – zirp – zirp – ziiirp!« Die Vogel brachen wie gewöhnlich in ihren Jubelgesang aus, und der Graf zirpte und pfiff dazu, wie wenn er selbst ein Vogel gewesen wäre, wenn ich hinausschlüpfen will, so ist jetzt der geeignetste Augenblick dazu.

Vier Uhr. – Ich kehre mit Gefühlen zu diesen Blättern zurück, die ich unmöglich beschreiben kann. Die drei Stunden, die seit den letzten Zeilen vergangen sind, haben den ganzen Gang der Ereignisse in Blackwater Park in eine neue Richtung geleitet. Ob zum Guten oder zum Schlimmen, kann ich weder, noch wage ich es zu bestimmen.

Ich ging, wie ich mir vorgenommen hatte, um dem Boten, der mir den Brief aus London bringen sollte, zu begegnen. Auf der Treppe sah ich Niemanden. Im Flur angelangt, hörte ich den Grafen noch immer seine Vögel exerciren. Als ich aber über den Hof ging, sah ich dort die Gräfin ihre Lieblingsrunde um den Fischteich herum machen. Ich hemmte sofort meine Schritte, um den Schein zu meiden, als ob ich in Eile sei, und ging vorsichtshalber sogar so weit, sie zu fragen, ob sie vor dem Gabelfrühstück noch auszugehen gedenke. Sie lächelte mir auf das Freundlichste zu, sagte, sie ziehe es vor, in der Nähe des Hauses zu bleiben, nickte mir zu und ging wieder in's Haus Zurück. Ich schaute zurück und sah, daß sie die Hausthür schloß, ehe ich noch das Pförtchen neben dem großen Wagenthor geöffnet hatte.

In weniger als einer Viertelstunde war ich bei der Thorhüterwohnung angelangt.

Der Weg jenseits derselben machte eine plötzliche Biegung nach links, ging dann gerade aus und bog dann wieder rechts in die Hauptstraße ein.

Zwischen diesen beiden Biegungen, die mich auf der einen Seite der Beobachtung von der Thorhüterwohnung und auf der anderen vom Wege nach der Station aus entzogen, ging ich wartend auf und ab. Auf beiden leiten des Weges waren hohe Hecken und während zwanzig Minuten nach meiner Uhr sah und hörte ich nichts. Nach Ablauf derselben fiel das Geräusch von herannahenden Rädern an mein Ohr, und als ich der zweiten Biegung des Weges zuschritt, kam mir eine Droschke von der Eisenbahnstation entgegen. Ich machte dem Rutscher ein Zeichen, zu halten. Als er mir gehorchte, steckte ein anständig aussehender Mann den Kopf zum Fenster hinaus, um zu sehen, was es gebe.

»Ich bitte um Verzeihung,« sagte ich, »aber habe ich nicht Recht, wenn ich vermuthe, daß Sie nach Blackwater Park wollen?«

»Jawohl, Madame.«

»Daß Sie an Jemand dort einen Brief abzugeben haben?«

»An Miß Halcombe, Madame.«

»Sie können ihn mir geben. Ich bin Miß Halcombe.«

Der Mann stieg sofort aus dem Wagen und gab mir den Brief.

Ich öffnete ihn augenblicklich und las folgende Zeilen:

»Verehrtes Fräulein!

»Ihr Brief, den ich diesen Morgen erhalten, hat mir große Besorgnis verursacht.«

»Meine sorgfältige Erwägung der mir von Ihnen gemachten Mittheilung und meine Kenntnis der Lage von Lady Glyde, wie sie aus dem Contracte hervorgeht, lassen mich zu meinem Bedauern zu dem Schlusse kommen, daß man eine Anleihe auf das bei Sir Percival gemachte Depositum (oder mit anderen Worten, auf die zwanzigtausend Pfund, die einen Theil von Lady Glyde's Vermögen ausmachen) aufzunehmen beabsichtigt und daß man sie an der Sache betheiligen will, um sich ihrer Zustimmung in einem abscheulichen Wortbruche zu versichern, und zu dem Zwecke sich ihre Unterschrift zu verschaffen sucht, falls sie sich später darüber beschweren sollte. Nach irgend einer anderen Voraussetzung ist es unmöglich, sich zu erklären, wie man in der Lage, in der sie sich befindet, überhaupt ihrer Unterschrift bedürfen kann.

»Falls Lady Glyde ein solches Document unterzeichnete, würden ihre Curatoren dadurch ermächtigt sein, Sir Percival aus ihren zwanzigtausend Pfund Summen vorzuschießen, würde die Anleihe nicht zurückgezahlt und falls Lady Glyde Kinder hätte, so würde das Vermögen derselben um die so vorgeschossene Summe, ob groß oder klein, vermindert sein. Um mich noch deutlicher auszudrücken, mag die Verhandlung, wenn Lady Glyde nicht Beweise vom Gegentheil hat, ein Betrug gegen ihre ungeborenen Kinder sein.

»Unter diesen ernsten Umständen möchte ich empfehlen, daß Lady Glyde ihren Wunsch, das Document erst mir, als dem Geschäftsführer ihrer Familie (in Mr. Gilmore's Abwesenheit) vorzulegen, als Grund ihrer Weigerung es zu unterschreiben angäbe. Es können gegen ein solches Verfahren keine vernünftigen Einwendungen gemacht werden, denn falls die Verhandlung eine ehrenhafte ist, so wird natürlich meiner Zustimmung nichts entgegenstehen.

»Mit der aufrichtigsten Versicherung meiner Bereitwilligkeit, Ihnen auch ferner mit Rath und That zu dienen, habe ich die Ehre, verehrtes Fräulein –«

Dieser Brief lieferte Laura einen Grund, sich der Unterschrift zu widersetzen, gegen den nichts einzuwenden war. Der Bote wartete, während ich las, um meine Befehle entgegenzunehmen.

»Wollen Sie nur gütigst sagen, daß ich den Brief verstehe und herzlich dafür danke?« sagte ich zu ihm. »weiter ist für den Augenblick nichts zu bestellen.«

Gerade in dem Augenblicke, in dem ich diese Worte sagte und den Brief offen in der Hand hielt, kam Graf Fosco um die Ecke der Hauptstraße und stand vor mir, als ob er aus der Erde emporgeschossen wäre.

Sein plötzliches Erscheinen an einem Orte, an dem ich ihn in der ganzen Welt am wenigsten zu sehen erwartete, machte mich sprachlos vor Erstaunen. Der Bote empfahl sich und stieg wieder in die Droschke. Ich war wie versteinert durch die Ueberzeugung, daß ich entdeckt sei und noch dazu von diesem Manne unter allen anderen.

»Kehren Sie zum Hause zurück, Miß Halcombe?« frug er, ohne das geringste Zeichen der Ueberraschung von seiner Seite.

Ich sammelte mich hinreichend, um ein Zeichen der Bejahung zu machen.

»Ich gehe ebenfalls zurück,« sagte er, »bitte, gestatten Sie mir das Vergnügen, Sie begleiten zu dürfen. Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten?

Ich nahm seinen Arm. Das Erste, was mir von meinem zerstreuten Bewußtsein wiederkehrte, war, daß ich lieber Alles opfern müsse, ehe ich ihn uns zum Feinde machte.

»Sie scheinen erstaunt, mich zu sehen?« sagte er.

»Es schien mir, daß ich Sie mit Ihren Vögeln im Frühstückszimmer beschäftigt sah, Graf Fosco,« sagte ich so ruhig, als nur dies möglich war.

»Allerdings. Aber meine Frau kam herein und sagte mir, Sie seien soeben allein auf einen Spaziergang ausgegangen. Sie sagten ihr dies, nicht wahr?«

»Gewiß.«

»Nun, Miß Halcombe, das Vergnügen, Sie zu begleiten, war eine Versuchung für mich, der ich nicht widerstehen vermochte. Ich eilte, mich Ihnen als Begleiter anzutragen. Selbst ein so dicker, alter Mann wie Fosco scheint mir besser als gar keine Begleitung, wie? Ich schlug den verkehrten weg ein, kehrte in Verzweiflung wieder um und hier bin ich endlich – darf ich es sagen? – auf dem Gipfel meines Glückes.«

In diesem complimentenreichen Schwunge redete er fort.

Er deutete auch nicht im Entferntesten auf das hin, was er auf dem Wege gesehen hatte, noch auf den Brief, den ich immer noch in der Hand hielt. Diese bedeutungsvolle Discretion half, mich davon zu überzeugen, daß er durch die allerehrlosesten Mittel das Geheimnis meines Schreibens in Lauras Interesse entdeckt haben mußte und daß er jetzt, nachdem er sich von der heimlichen Art und Weise, in der ich die Antwort empfangen, überzeugt hatte, für seine Zwecke genug wußte und es sich jetzt nur angelegen sein ließ, den Argwohn einzuschläfern, den er in nur erweckt zu haben gewiß sein konnte.

Vor dem Hause begegneten wir dem Gig, das nach dem Stalle zurückgefahren wurde. Sir Percival war soeben zurückgekehrt. Er kam an die Hausthür, um uns zu begrüßen, welche sonstigen Erfolge seine Reise auch gehabt haben mochte, seine Laune hatte sie nicht verbessert.

»O, hier sind endlich Zwei von der Gesellschaft,« sagte er mit finsterem Blicke.

»Was soll es heißen, daß das ganze Haus leer ist? wo ist Lady Glyde?«

Ich erzählte ihm von dem Verluste der Broche und daß Laura hinausgegangen sei, um sie zu suchen.

»Broche oder nicht,« brummte er verdrießlich, »ich empfehle ihr, nicht zu vergessen, daß ich sie in einer halben Stunde in der Bibliothek erwarte.«

Ich stieg langsam die Stufen hinan. Fosco beehrte mich mit einer seiner superben Verbeugungen und wandte sich dann fröhlich zu dem mürrischen Herrn des Hauses.

»Sage mir, Percival,« begann er, »hast du eine angenehme Fahrt gemacht?«

»Zum Henker mit der Fahrt! Ist das Frühstück fertig? Mich hungert.«

»Und ich möchte mich erst auf fünf Minuten allein mit dir unterhalten,« entgegnete der Graf, »fünf Minuten, mein Freund, hier auf dem Rasen.«

»Worüber?«

»Ueber Sachen, die ganz außerordentlich dich betreffen.«

Ich zögerte lange genug, indem ich durch die Hausthür ging, um diese Frage und Antwort zu hören, auch zu sehen, wie Sir Percival mit verdrießlichem Zaudern die Hände in die Tasche steckte.

»Wenn du mir noch mehr von deinen verwünschten Scrupeln aufzutischen hast,« sagte er, »so will ich sie nicht hören.«

»Komm' her und höre, was ich dir zu sagen habe,« wiederholte der Graf, ohne sich durch Sir Percivals grobe Reden im Geringsten reizen zu lassen.

Sir Percival ging die Stufen hinunter. Der Graf nahm ihn beim Arm und führte ihn langsam fort. Die »Sachen«, die ihn betrafen, bezogen sich, wie ich überzeugt war, auf die Unterschrift. Es dürfte für uns von der größten Wichtigkeit sein, zu wissen, was sie in diesem Augenblicke zusammen sprachen, und doch war es eine Unmöglichkeit, auch nur ein Wort davon aufzufangen.

Ich ging im Hause umher von einem Zimmer in's andere, bis mich der Druck der Erwartung beinahe wahnsinnig machte. Es war noch immer nichts von Laura zu sehen, und ich dachte schon daran, sie aufzusuchen. Aber die Angst und Besorgnis, in der ich den ganzen Morgen gelebt, hatten mich so erschöpft, daß mich jetzt die Hitze ganz überwältigte, und als ich versuchte, zur Thür zu gehen, war ich genöthigt, umzukehren und mich im Salon auf das nächste Sopha zu legen, um mich erst wieder zu erholen.

Es gelang mir eben, etwas ruhiger zu werden, als die Thür leise geöffnet wurde und der Graf hereinschaute.

»Ich bitte tausendmal um Vergebung, Miß Halcombe,« sagte er, »ich wage nur die Thür zu öffnen, weil ich gute Nachricht für Sie habe, Percival hat sich herabgelassen, im letzten Augenblicke seine Meinung zu ändern, und das Geschäft mit der Unterschrift ist einstweilen verschoben. Eine große Erleichterung für uns Alle, wie ich mit Vergnügen in ihrem Gesichte lese, Miß Halcombe.«

Er verließ mich, ehe ich mich noch von meinem Erstaunen erholen konnte. Es konnte keinem Zweifel unterliegen, daß diese merkwürdige Veränderung in Bezug auf die Unterschrift seinem Einflüsse zuzuschreiben war und daß seine Entdeckung meines gestrigen Schreibens nach London und der heute von mir in Empfang genommenen Antwort auf dasselbe ihm die Möglichkeit geboten hatte, sich mit sicherem Erfolge in's Mittel zu legen.

Ich versuchte zum zweiten Male hinauszugehen, um Laura zu suchen, aber es wurde mir schwindlig und die Knie zitterten mir, so daß mir nichts weiter übrig blieb, als wieder zum Sopha zurückzukehren und mich sehr wider Willen abermals niederzulegen.

Die Stille im Hause und das leise Summen der Sommerinsecten draußen vor den Fenstern beruhigten mich. Meine Augen schlossen sich von selbst, und ich versank allmälig in einen seltsamen Zustand, der kein Wachen – denn ich wußte nichts von dem, was um mich her vorging – und auch kein Schlaf, denn ich war mir meiner eigenen Ruhe bewußt. In dieser Art von wachem Traumen sah ich Walter Hartright. Er erschien mir mitten unter vielen anderen Männern, von deren Gesichtern ich keines unterscheidein konnte, Sie lagen alle auf den Stufen eines ungeheuren verfallenen Tempels. Riesige tropische Räume, um deren Stämme sich endlose Schlingpflanzen zogen und hinter deren Aesten und Blättern scheußliche steinerne Götzenbilder grinsten, umgaben den Tempel und warfen einen trüben Schatten über die schlummernden Männer auf den Stufen. Weiße Dünste stiegen aus dem Erdboden empor, näherten sich wie kleine Rauchwolken den Schläfern, berührten sie und streckten sie einen nach dem anderen todt auf der Stelle bin, auf der sie lagen. Die Todesangst des Mitleids für Walter löste meine Zunge, und ich flehte ihn an, zu entfliehen. »Komm' zurück! o komm' zurück!« sagte ich. »Erinnere dich des Versprechens, das du ihr und mir gegeben hast. Kehr' zu uns zurück, ehe die Pest dich ereilt und dich todt zu den Uebrigen legt.«

Er blickte mich mit überirdischer Ruhe im Gesichte an. »Warte!« sagte er, »ich werde zurückkehren. Jene Nacht, in der ich dem verlassenen Weibe auf der Landstraße begegnete, war die, welche mein Leben zum Werkzeuge eines Zweckes erwählte, den ich bis jetzt noch nicht erkenne. Hier einsam in der Wildnis, oder dort bewillkommt im Lande meiner Heimat, wandere ich immer auf dem dunklen Pfade hin, der mich und dich und die Schwester deiner und meiner Liebe einer unbekannten Vergeltung, einem unvermeidlichen Ende zuführt. Warte und schaue. Die Pest, welche die Anderen dahinstreckt, wird an mir vorüber gehen.«

Ich sah ihn zum zweiten Male. Er war noch in dem Walde, und die Zahl seiner Gefährten war auf ganz wenige zusammengeschmolzen. Der Tempel war fort und die Götzenbilder und statt ihrer lauerten mörderisch hinter den Blättern und Zweigen dunkle zwerghafte Männer, die in ihren Händen gespannte Bogen hielten. Mir bangte wieder um Walter und ich schrie auf, um ihn zu warnen, und abermals wandte er sich mit derselben unerschütterlichen Ruhe im Gesichte zu mir. »Noch ein Schritt auf dem dunklen Pfade,« sagte er. »Warte und schaue. Die Pfeile, welche die Anderen treffen, werden mich unberührt lassen.«

Ich sah ihn zum dritten Male in einem gescheiterten Schiffe, das an einem wilden, sandigen Ufer gestrandet war. Die überladenen Boote machten sich von ihm fort dem Lande zu und ließen ihn allein auf dem Schiffe zurück, um mit demselben zu sinken. Ich rief ihm zu, das letzte Boot zurückzurufen und eine letzte Anstrengung zu machen, um sein Leben zu retten. Das unbewegliche Gesicht schaute mich abermals an, und die ruhige Stimme gab mir die unveränderliche Antwort: »Noch ein Schritt auf dem dunklen Pfade. Warte und schaue. Die See, welche die Anderen verschlingt, wird mich verschonen.«

Ich sah ihn zum letzten Male. Er kniete an einem Grabmale von weißem Marmor, und der Schatten einer verschleierten Frau stieg aus dem Grabe empor und stand wartend an seiner Seite. Die überirdische Ruhe in seinem Gesichte hatte sich in überirdischen Kummer verwandelt. Doch die furchtbare Sicherheit seiner Worte blieb dieselbe.

»Immer dunkler und immer weiter,« sagte er. »Der Tod nimmt die Guten, die Schönen und die Jungen – und mich verschont er. Die Pest, die verwüstet, der Pfeil, welcher trifft, die See, welche verschlingt, das Grab, das sich über Liebe und Hoffnung schließt, sind Schritte auf meiner Wanderung und bringen mich dem Ende näher und immer näher.«

Mein Herz sank mir unter einer Angst, für die es keine Worte gibt. Die Finsternis umhüllte den Pilger am Marmorsteine, die verschleierte Frau aus dem Grabe und die Träumerin, die auf sie hinblickte. Ich sah und hörte nichts weiter.

Ich erwachte, indem ich fühlte, wie sich mir eine Hand auf die Schulter legte. Es war Lauras Hand.

Ihr Gesicht war erhitzt und bewegt und ihre Augen begegneten den meinen mit einem verwirrten, aufgeregten Blicke. Ich fuhr in die Höhe, sowie ich sie erblickte.

»Was hat sich zugetragen?« frug ich. »Was hat dich erschreckt?«

Sie blickte sich um nach der halb geöffneten Thür, brachte ihre Lippen dicht an mein Ohr und antwortete flüsternd:

»Marianne! – die Gestalt am See – die Schritte gestern Abend – ich habe sie soeben gesehen! ich habe soeben mit ihr gesprochen!«

»Mit wem, um Gotteswillen?«

»Mit Anna Catherick.«

– Ich war so erschrocken über Lauras verstörtes Gesicht und aufgeregtes Wesen und durch die ersten wachen Eindrücke meines Traumes so außer Fassung gebracht, daß ich nicht im Stande war, die Offenbarung zu erfassen, die sich mir aufthat, als der Name Anna Catherick's von ihren Lippen fiel.

»Ich habe Anna Catherick gesehen! Ich habe mit Anna Catherik gesprochen!« wiederholte sie, als ob ich sie nicht gehört habe. »O Marianne, ich habe dir so viel Dinge zu erzählen! Komm' mit – wir könnten hier gestört werden – komm' gleich auf mein Zimmer!«

Mit diesen eifrigen Worten ergriff sie meine Hand und führte mich durch die Bibliothek in das Eckzimmer im Erdgeschoß, das zu ihrem besonderen Gebrauch hergerichtet worden. Keine dritte Person außer ihrer Kammerjungfer hatte einen Vorwand finden können, um uns hier zu überraschen. Sie verschloß die Thür und zog die Glanzkattun-Vorhänge, die auf der Innenseite derselben hingen, darüber hin.

Die wachsende Ueberzeugung, daß das Gewebe, das sich schon so lange um uns zu ziehen gedroht hatte, uns Beide plötzlich fest gefangen hielt, begann sich jetzt meinem Geiste aufzudrängen. »Anna Catherick!« flüsterte ich vor mich hin – »Anna Catherick!«

Laura zog mich zu einem Sopha mitten in der Stube hin. »Sieh'!« sagte sie; »sieh' her!« und deutete auf ihre Brust.

Ich sah zum ersten Male, daß die Broche wieder an ihrer Stelle stak.

»Wo fandest du deine Broche?« waren die ersten Worte, die ich in diesem wichtigen Augenblicke sprechen konnte.

» Sie fand sie, Marianne!«

»Wo?«

»Am Boden im Boothause. O, wie soll ich anfangen, – wie soll ich dir Alles erzählen! Sie sprach so seltsam zu mir, sah so entsetzlich leidend aus, verließ mich so plötzlich – –«

Ihre Stimme wurde lauter, als der Aufruhr ihrer Erinnerungen ihre Gedanken drängte.

»Sprich leise,« sagte ich. »Das Fenster ist offen und es zieht sich ein Gartensteig darunter hin. Sage mir Wort für Wort, was sich zwischen dir und jener Frau zugetragen hat.«

»Soll ich zuvor das Fenster schließen?«

»Nein; nur sprich leise: bedenke, daß Anna Catherick unter dem Dache deines Mannes ein gefährlicher Gegenstand ist. Wo sahst du sie zuerst?«

»Im Boothause, Marianne. Ich schritt langsam den Weg durch die Anlagen entlang, indem ich bei jedem Schritte sorgfältig zu beiden Seiten auf den Boden blickte. So langte ich nach ziemlich langer Zeit im Boothause an und sobald ich drin war, kniete ich nieder und suchte auf dem ganzen Boden nach der Broche.

Ich suchte noch immer, mit dem Rücken dem Eingänge zugewandt, als ich eine sanfte fremde Stimme hinter mir ›Miß Fairlie!‹ rufen hörte.«

»Miß Fairlie!«

»Ja – meinen alten Namen – den lieben, bekannten Namen. Ich sprang auf – nicht erschrocken, denn die Stimme war zu sanft und angenehm, um irgend Jemanden erschrecken zu können – aber sehr überrascht. Da am Eingange stand eine Frau, deren Gesicht ich nie zuvor gesehen zu haben mich erinnerte, und sah mich an.«

»Wie war sie gekleidet?«

»Sie trug ein sauberes, hübsches, weißes Kleid und darüber ein ärmliches, dünnes, dunkles Tuch. Ihr Hut war ebenso ärmlich und abgetragen, wie der Shawl. Mich frappirte der Unterschied zwischen ihrem Kleide und ihrem übrigen Anzuge, und sie sah, daß ich ihn bemerkte. ›Sehen Sie meinen Hut und mein Tuch nickt an,‹ sagte sie mit schnellem, athemlos plötzlichem Wesen; ›wenn ich nicht weiß tragen kann, ist mir's einerlei, was ich trage. Sehen Sie mein Kleid an, soviel Sie wollen; seiner schäme ich mich nicht.‹ Ehe ich noch etwas sagen konnte, streckte sie eine Hand aus, und ich sah meine Broche darin. Ich war so froh darüber, daß ich ganz nahe an sie heran trat, um ihr zu sagen, was ich wirklich fühlte. ›Sind Sie dankbar genug, um mir eine kleine Gefälligkeit zu erweisen?‹ frug sie. ›Ja gewiß‹ sagte ich, ›ich will mit Freuden Alles für Sie thun, was in meiner Macht liegt.‹ ›Dann lassen Sie mich die Broche jetzt, da ich sie gefunden habe, auch an Ihrem Kleide befestigen:‹ Ihre Bitte war so unerwartet und sie sprach sie mit einem solchen Eifer aus, daß ich ein paar Schritte zurückwich, Marianne, und nicht recht wußte, was ich thun sollte. ›Ach!‹ sagte sie, ›Ihre Mutter hätte sich die Broche von mir anstecken lassen!‹ Es lag in ihrer Stimme und ihrem Blicke sowohl, als in der vorwurfsvollen Weise, in der sie des Namens meiner Mutter erwähnte, etwas, das mich über mein Mißtrauen beschämt machte. ›Sie kannten meine Mutter?‹ sagte ich. ›War es vor sehr langer Zeit? Habe ich Sie früher gesehen?‹ Ihre Hände waren beschäftigt, die Broche zu befestigen; dann drückte sie dieselben auf meine Brust. ›Sie erinnern sich wohl nicht eines schönen Frühlingstages zu Limmeridge,‹ sagte sie, ›wo Ihre Mutter den Pfad zur Schule entlang ging und an jeder Seite ein kleines Mädchen hatte? Ich habe seit der Zeit an nichts Anderes zu denken gehabt und ich erinnere mich dessen wohl. Sie waren das eine von den beiden kleinen Mädchen, und ich war das andere. Die hübsche, kluge Miß Fairlie und die arme dumme Anna Catherick standen einander damals näher als jetzt!‹

»Erinnertest du dich ihrer, Laura, als sie dir ihren Namen sagte?«

»Ja – ich erinnerte mich, daß du mich eines Tages in Limmeridge nach Anna Catherick und danach frugst, ob ich mich entsänne, daß man eine Aehnlichkeit zwischen uns gefunden habe.«

»Was erinnerte dich daran, Laura?«

» Sie erinnerte mich daran. Während ich sie anschaute, als sie ganz dicht vor mir stand, fuhr es mir plötzlich durch den Sinn, daß wir einander ähnlich seien! Ihr Gesicht war bleich, mager und kummervoll, aber der Anblick desselben ließ mich zusammenzucken, weil es war, als ob es mein eigenes Gesicht gewesen wäre, das ich nach langer Krankheit im Spiegel sah. Die Entdeckung erschütterte mich so – ich weiß kaum warum – daß ich einen Augenblick nicht im Stande war, zu ihr zu sprechen.«

»Schien sie sich durch dein Schweigen verletzt zu fühlen?«

»Ich fürchte es.« ›Sie haben weder das Gesicht noch das Herz Ihrer Mutter‹ sagte sie. ›Das Gesicht Ihrer Mutter war dunkel und Ihrer Mutter Herz, Miß Fairlie, war das eines Engels‹ ›Gewiß, ich will Ihnen herzlich wohl,‹ sagte ich, ›obgleich ich nicht im Stande sein mag, dies auszudrücken, wie ich wohl sollte. Warum nennen Sie mich Miß Fairlie –?‹ ›Weil ich den Namen Fairlie liebe und den Namen Glyde hasse‹ rief sie mit Heftigkeit aus. Ich hatte bisher nichts an ihr wahrgenommen, das wie Wahnsinn ausgesehen hätte; jetzt aber dünkte mich, daß ich etwas der Art in ihren Augen sah. ›Ich dachte nur, Sie wüßten vielleicht nicht, daß ich verheiratet sei,‹ sagte ich, indem ich des Briefes gedachte, den sie in Limmeridge an mich geschrieben hatte. Sie seufzte schwer auf und wandte sich von mir ab. ›Ich sollte nicht wissen, daß Sie verheiratet sind!‹ wiederholte sie. ›Ich bin hier weil Sie verheiratet sind. Ich bin hier, um Ihnen Genugthuung zu geben, ehe ich hingehe und Ihrer Mutter begegne dort in der Welt über dem Grabe.‹ Sie zog sich immer weiter von mir zurück, bis sie ganz außerhalb des Boothauses war, und dann stand sie und horchte eine kleine Weile. Als sie sich wieder umwandte, um zu sprechen, sah sie mich an, während sie sich zu beiden Seiten des Einganges mit einer Hand festhielt. ›Sahen Sie mich gestern Abend am See?‹ sagte sie, ›hörten Sie, wie ich Ihnen durch's Holz folgte? Ich habe schon seit vielen Tagen gewartet, um Sie allein zu sprechen, Miß Fairlie, ich habe die einzige Freundin, die ich in der Welt besitze, in Sorge und Kummer um mich verlassen, ich habe es darauf ankommen lassen, wieder im Tollhause eingesperrt zu werden und dies Alles für Sie, Miß Fairlie – Alles für Sie.‹ Ihre Worte erschreckten mich, und doch lag in ihrem Wesen etwas, das mir tiefes Mitleiden einflößte. Ich fühle, daß mein Mitleiden aufrichtig war, denn es gab mir Muth genug, um sie zu bitten, wieder in's Boothaus zu kommen und sich zu mir zu setzen.

»Sie schüttelte den Kopf und sagte, sie müsse bleiben, wo sie sei, um aufzupassen, damit wir nicht von einer dritten Person überrascht würden. Und da blieb sie stehen bis zu Ende unserer Unterredung, auf jeder Seite sich mit einer Hand an dem Eingange haltend, wobei sie einmal sich schnell hineinbeugte, um mit mir zu sprechen, und dann wieder plötzlich hinaus, um sich umzuschauen. ›Ich war gestern, ehe es dunkel wurde, hier und hörte Sie und die Dame, die bei Ihnen war, zusammen sprechen. Ich hörte, wie Sie ihr von Ihrem Gemahl erzählten. Ich hörte Sie sagen, daß Sie nicht die Macht hätten, ihn zu bewegen, Ihnen zu glauben, noch zu schweigen. Ach! ich wußte, was jene Worte bedeuteten, mein eigenes Gewissen sagte mir es, während ich lauschte, warum ließ ich es zu, daß Sie ihn heirateten! O, meine Furcht, meine tolle, jämmerliche, gottlose Furcht –‹ sie barg ihr Gesicht hinter ihrem ärmlichen Tuche und stöhnte und murmelte hinter demselben zu sich selbst. Ich begann zu fürchten, sie möchte in wilde Verzweiflung ausbrechen. ›Suchen Sie sich zu fassen,‹ sagte ich, ›versuchen Sie, mir zu sagen, auf welche Weise Sie meine Heirat hätten verhindern können,‹ Sie nahm das Tuch von ihrem Gesichte fort und sah mich mit einem zerstreuten Blicke an. ›Ich hätte den Muth haben sollen, in Limmeridge zu bleiben,‹ sagte sie. ›Ich hätte mich nicht durch die Nachricht, daß er kommen werde, fortschrecken lassen sollen. Ich hätte Sie warnen und retten sollen, ehe es zu spät war. Warum hatte ich bloß Muth genug, um Ihnen jenen Brief zu schreiben? O, meine tolle, jämmerliche, gottlose Furcht – –‹ sie barg abermals ihr Gesicht in ihrem Tuche.

»Du frugst sie doch natürlich, Laura, was es für eine Furcht war, auf die sie so ernstlich zurückkam?«

»Ja, ich frug sie.«

»Und was sagte sie?«

»Sie fragte mich, ob ich mich nicht vor einem Manne fürchten würde, der mich in ein Tollhaus gesperrt hätte und wieder einsperren würde, sobald es ihm möglich sei. Ich sagte: ›Fürchten Sie sich noch davor? Sie würden aber nicht hier sein, wenn Sie sich setzt noch davor fürchteten?‹ ›Nein,‹ sagte sie, ›jetzt fürchte ich mich nicht mehr. Sehen Sie mich an.‹ Ich sagte ihr, es schmerze mich, zu bemerken, daß sie sehr krank und leidend aussehe. Sie lächelte zum ersten Male. ›Krank!‹ wiederholte sie. ›Ich bin im Sterben. Jetzt wissen Sie, warum ich mich nicht länger vor ihm fürchte. Glauben Sie, daß ich Ihre Mutter im Himmel sehen werde? Wird sie mir dann vergeben?‹ Ich war so erschüttert, daß ich nichts erwidern konnte. ›Ich habe hieran fortwährend gedacht,‹ fuhr sie fort, ›während der ganzen Zeit, daß ich mich vor Ihren: Manne versteckte und während meiner ganzen Krankheit. Meine Gedanken haben mich hergetrieben, ich muß es wieder gutmachen, ich muß all das Unheil, das ich angerichtet habe, wieder gutmachen.‹ Ich bat sie so ernstlich wie möglich, nur zu sagen, was sie meine. Sie sah mich wieder mit starren geistesabwesenden Blicken an. › Soll ich es wieder gutmachen?‹ sagte sie zweifelhaft zu sich selbst. ›Sie haben Verwandte, die Ihnen beistehen werden, wenn Sie sein böses Geheimnis kennen, so wird er sich vor Ihnen fürchten, er wird es nicht wagen, gegen Sie zu handeln, wie er gegen mich gehandelt hat. Er muß Sie um seiner selbst willen gütig behandeln, wenn er sich vor Ihnen und Ihren Verwandten fürchtet. Und wenn er Sie gütig behandelt und ich dann sagen kann, daß es durch mich geschehen –‹ ich lauschte eifrig, aber sie schwieg nach diesen Worten.«

»Du suchtest sie doch zu bewegen, fortzufahren?«

»Ja, ich versuchte es; aber sie zog sich nur noch weiter von mir zurück und legte ihre Arme und ihr Gesicht gegen die Wand des Boothauses. ›O!‹ hörte ich sie mit einer fürchterlichen, wahnsinnigen Zärtlichkeit in der Stimme sagen, ›o, wenn ich doch neben Ihrer Mutter begraben werden könnte! wenn ich doch an ihrer Seite erwachen könnte, wenn des Engels Trompete schmettern und das Grab seine Todten herausgeben wird bei der Auferstehung!‹ Marianne! ich zitterte am ganzen Körper, es war fürchterlich, sie anzuhören. ›Aber das darf ich nicht hoffen‹ sagte sie, sich ein wenig aufrichtend, um mich wieder anzusehen, – ›das darf eine arme Fremde, wie ich, nicht hoffen. Ich werde nicht unter dem Marmorkreuze ruhen, das ich mit meinen Händen wusch und um ihretwillen so weiß und rein machte. O nein! o nein! Gottes Barmherzigkeit, nicht der Menschen, wird mich zu ihr führen, wo die Müden Ruhe finden.‹ Sie sprach diese Worte kummervoll und mit einem schweren, hoffnungslosen Seufzer und schwieg dann eine kleine Weile. Ihr Gesicht war unruhig und verwirrt, sie schien nachzudenken. ›Was war's, das ich eben sagte?‹ frug sie nach einer kurzen Pause. ›Wenn Ihre Mutter in meinen Gedanken ist, so flieht alles Andere aus ihnen. Was sagte ich? was sagte ich doch?‹ Ich erinnerte das arme Wesen so sanft und schonend, wie es mir möglich war. ›Ach ja, ja,‹ sagte sie noch ebenso zerstreut wie zuvor. ›Sie sind hilflos mit ihrem gottlosen Manne. Ja und ich muß thun, was ich zu thun herkam, muß wieder gutmachen gegen Sie, daß ich mich einst gefürchtet habe zu sprechen, da es noch Zeit war.‹ ›Was ist es, das Sie mir zu sagen haben?‹ frug ich. ›Ein Geheimnis,‹ antwortete sie, ›das Geheimnis, das Ihr grausamer Mann fürchtet.‹ Ihr Gesicht wurde finster und Ihr Blick hart und zornig. Sie begann, mir auf sonderbar nichtssagende Weise mit der Hand zu winken. ›Meine Mutter kennt das Geheimnis,‹ sagte sie, wobei sie zum ersten Mal langsam sprach und jedes Wort erwog, ehe sie es aussprach. ›Meine Mutter hat ihre halbe Lebenszeit unter dem Geheimnisse dahingesiecht. Eines Tages als ich erwachsen war, sagte sie es mir; Ihr Gemahl erfuhr, daß sie es mir gesagt hatte, erfuhr es zu meinem Schaden. Ach, ich Arme! er wußte, wußte, wußte es.‹

»Ja! ja! was sagte sie weiter?«

»Sie schwieg abermals, Marianne, nach solchen Worten –«

»Und sagte nichts weiter?«

»Sie lauschte eifrig. ›Still!‹ – flüsterte sie, mir wieder mit der Hand zuwinkend, ›still!‹ – und verließ den Eingang seitwärts gehend, langsam, leise, Schritt für Schritt, bis ich sie nicht mehr sah.«

»Du folgtest ihr doch?«

»Ja, meine Begierde, mehr zu erfahren, machte mich kühn genug, um aufzustehen und ihr zu folgen. Als ich gerade beim Eingange anlangte, erschien sie plötzlich wieder um die Ecke des Boothauses. ›Das Geheimnis!‹ flüsterte ich ihr zu. ›Bleiben Sie und sagen Sie mir das Geheimnis! – Sie erfaßte meinen Arm und sah mich mit wilden, geängstigten Blicken an. ›Jetzt nicht,‹ sagte sie, ›wir sind nicht allein, man belauscht uns. Kommen Sie morgen um diese Zeit wieder her, aber allein, hören Sie? allein.‹ Sie schob mich hastig in's Boothaus zurück, und ich sah sie nicht mehr.«

»O Laura, Laura, wieder eine Gelegenheit verloren! Wäre ich nur bei dir gewesen, sie hätte uns nicht wieder so entwischen sollen. Nach welcher Seite zu verlorst du sie aus den Augen?«

»Nach der linken Seite zu, wo der Boden abwärts geht und das Holz am dichtesten ist.«

»Liefst du nicht hinaus und riefst sie zurück?«

»Wie konnte ich es wohl? Ich war zu erschrocken und eilte nach Hause, um dir zu erzählen, was sich zugetragen.«

»Sahst oder hörtest du irgend Jemanden in den Anlagen?«

»Nein, es schien Alles still und ruhig, als ich durch's Holz kam.«

Ich schwieg einen Augenblick, um zu überlegen. War diese dritte Person, die bei der Unterredung zugegen gewesen sein sollte, eine Wirklichkeit oder nur eins Schöpfung von Anna Catherick's erregter Phantasie? Es war unmöglich, dies mit Bestimmtheit zu sagen. Das einzige Gewisse ist, daß wir, schon an der Schwelle des Geheimnisses, wieder unseren Zweck verfehlt haben – und zwar vollkommen und unwiederbringlich, wenn nicht Anna Catherick morgen ihr Wort hält und nach dem Boothause kommt.

»Meine liebe Laura, die geringsten Kleinigkeiten sind von Wichtigkeit, wo wir mit Anna Catherick zu thun haben. Erwähnte sie nicht ganz zufällig des Ortes, wo sie sich augenblicklich aufhält?«

»Nicht, das ich mich entsänne.«

»Auch nicht einer Begleiterin und Freundin, einer Frau, die Mrs. Clements heißt?«

»O doch! ja! das vergaß ich. Sie sagte mir, Mrs. Clements wünsche so sehr, nach den Seen mit ihr zu reisen, um sie zu pflegen, und bitte sie inständigst, sich nicht mehr allein in diese Gegend zu wagen.«

»Sie sagte dir nichts darüber, wohin sie geflohen seien, nachdem sie Todd's Ecke verließen?«

»Nichts – das weiß ich gewiß.«

»Auch nicht, wo sie sich seitdem aufgehalten und was ihre Krankheit gewesen sei?«

»Nein, Marianne, kein Wort. Sage mir, o sage mir, was du darüber denkst. Ich weiß nicht, was ich jetzt denken oder thun soll.«

»Du mußt morgen auf jeden Fall nach dem Boothause gehen. Es ist unmöglich, zu wissen, was Alles davon abhängt, daß du die Arme wiedersiehst. Doch sollst du nicht zum zweiten Male dir selbst überlassen bleiben. Ich will dir in sicherer Entfernung folgen. Niemand soll mich sehen; aber ich will innerhalb Hörweite von dir bleiben, sollte sich irgend etwas ereignen. Anna Catherick ist Walter Hartright entschlüpft und dir. was aber auch danach kommen möge, mir soll sie nicht entgehen.«

Lauras Augen lasen aufmerksam in den meinigen, während ich sprach.

»Du glaubst also an das Geheimnis, vor dem mein Mann sich fürchtet?«

»Ja, ich glaube daran.«

»Anna Catherick's Wesen war wild und ihre Augen blickten unstät und geistesabwesend, als sie jene Worte sagte, Marianne. Würdest du ihr in anderen Dingen trauen?«

»Ich vertraue auf Nichts, als auf meine eigenen Beobachtungen über deines Mannes Benehmen, Laura. Ich beurteile Anna Catherick's Worte nach seinen Handlungen und glaube daher, daß er allerdings ein Geheimniß hat.«

Ich sagte weiter nichts und stand auf, um das Zimmer zu verlassen. Der Einfluß des entsetzlichen Traumes, aus dem sie mich erweckt hatte, hing sich düster an jeden neuen Eindruck, den der Fortgang ihrer Erzählung in meinem Gemüthe hervorbrachte. Ich fühlte die drohende Zukunft herannahen, mich mit einem unausprechlichen Entsetzen erfüllen und mir die Ueberzeugung von einem unbekannten Ziele in den langen Reihen von Verwicklungen aufdrangen, die sich allmälig um uns zogen.

Indem ich Laura allein die Treppe hinaufsteigen ließ, ging ich hinaus, um mich in den Steigen unmittelbar am Hause umzuschauen. Die Umstände, unter welchen Anna Catherick von ihr geschieden war, hatten in mir den heimlichen Wunsch, zu erfahren, wo und wie der Graf den Nachmittag zugebracht habe, und zugleich einen heimlichen Argwohn erregt in Bezug auf die Erfolge jener Reise, von der Sir Percival vor wenigen Stunden heimgekehrt war.

Nachdem ich mich nach allen Richtungen hin nach ihnen umgeschaut hatte, ohne etwas von ihnen zu sehen, kehrte ich ins Haus zurück und ging durch alle Stuben im Erdgeschosse, sie waren alle leer. Ich kam wieder in den Flur hinaus, um hinauf zu gehen und zu Laura zurückzukehren. Die Gräfin öffnete die Thüre als ich an ihrer Stube vorbeikam, und ich stand still, um sie zu fragen, ob sie wisse, wo ihr Gemahl und Sir Percival seien. Ja, sie hatte sie Beide vor mehr als einer Stunde vom Fenster aus gesehen. Der Graf habe hinaufgeblickt und ihr gesagt, daß er und sein Freund im Begriffe seien, einen langen Spaziergang zu machen.

Einen langen Spaziergang! Sir Percival liebte keine andere Bewegung als die des Reitens, und der Graf (ausgenommen, wenn er die Höflichkeit hatte, sich mir zur Begleitung anzutragen) war gar kein Freund von Bewegung.

Als ich zu Laura kam, fand ich, daß sie sich während meiner Abwesenheit der schwebenden Frage in Bezug auf die Unterschrift erinnert hatte, welche wir in dem Interesse, mit dem wir ihre Unterredung mit Anna Catherick besprochen, ganz vergessen hatten. Ihre ersten Worte drückten ihr Erstaunen darüber aus, daß die gedachte Ladung, in der Bibliothek vor Sir Percival zu erscheinen, auf sich warten ließe.

»Ueber diesen Punkt darfst du dich beruhigen,« sagte ich, »für's Erste wenigstens wird weder deine noch meine Entschlossenheit auf die Probe gestellt werden. Sir Percival hat seinen Plan geändert, und die Unterschriftsangelegenheit ist verschoben.«

»Verschoben?« wiederholte Laura, über die Maßen erstaunt. »Wer sagt das?«

»Ich weiß es durch den Grafen Fosco. Ich glaube, wir haben es seiner Vermittlung zu danken.« »Es scheint unmöglich, Marianne. Falls der Zweck meiner Unterschrift, wie wir vermutheten, der war, Sir Percival Geld zu verschaffen, das er nothwendig brauchte, wie kann sie da verschoben werden?«

»Ich glaube, Laura, daß wir im Stande sein werden, diesen Zweifel zu beseitigen. Hast du die Unterhandlung vergessen, die ich zwischen Sir Percival und seinem Geschäftsmann anhörte, als sie zusammen über den Flur gingen?«

»Nein, aber ich entsinne mich nicht –«

»Aber ich. Der Advocat schlug zwei Alternativen vor. Die eine war die, deine Unterschrift zu dem Documente zu erlangen, die andere, Zeit zu gewinnen, indem man Wechsel auf drei Monate ausstellte. Dieses letztere Hilfsmittel ist offenbar das, nach dem Sir Percival jetzt gegriffen hat, und wir haben somit Hoffnung, auf einige Zeit wenigstens mit seinen Geldverlegenheiten verschont zu bleiben.«

Das erste Läuten zu Tische trennte uns. Als es eben aufgehört hatte, kehrten Sir Percival und der Graf von ihrem Spaziergange zurück.

 

Der Abend ist zu Ende. Es hat sich nichts Besonderes zugetragen. Aber ich habe gewisse Eigenthümlichkeiten in Sir Percivals und des Grafen Benehmen wahrgenommen, die mich mit Besorgnis um Anna Catherick und die Erfolge erfüllen, welche der kommende Tag uns bringen mag.

Ich kenne Sir Percival jetzt hinlänglich, um zu wissen, daß er niemals falscher und somit niemals mehr zu fürchten ist, als wenn er einmal höflich auftritt. Der lange Spaziergang mit seinem Freunde hatte eine merkliche Veränderung in seinem Benehmen hervorgebracht, namentlich gegen seine Frau. Zu Lauras heimlichem Erstaunen und meiner heimlichen Bestürzung nannte er sie bei ihrem Vornamen, frug sie, ob sie kürzlich von ihrem Onkel gehört habe, wann Mrs. Vesey ihre Einladung nach Blackwater Park erhalten solle, und erzeigte ihr so viele andere kleine Aufmerksamkeiten, daß er uns fast an die Tage seiner Probezeit in Limmeridge House erinnerte. Dies war zugleich ein schlechtes Zeichen, und von noch schlimmerer Vorbedeutung schien es mir, daß er sich gleich nach Tische im Gesellschaftszimmer stellte, als ob er schlafe, wobei seine Augen listigerweise mir und Laura folgten, wenn er glaubte, daß wir ihn beargwöhnten. Ich habe es vom ersten Augenblicke an nicht bezweifelt, daß seine plötzliche, einsame Reise ihn nach Welmingham führte, um dort Mrs. Catherick auszufragen – aber meine Erfahrungen von heute Abend lassen mich fürchten, daß er alle Auskunft erhalten, um derentwillen er uns verließ, wenn ich nur wüßte, wo Anna Catherick zu finden ist, da würde ich morgen mit der Sonne aufstehen, um sie zu warnen.

Den 5. Juli. – Die gestrigen Ereignisse warnten mich, früher oder später mich auf das Schlimmste gefaßt zu machen. Der heutige Tag ist noch nicht zu Ende, und das Schlimmste ist bereits eingetreten.

Nach der genauesten Zeitberechnung, die Laura und ich zu machen im Stande waren, schlossen wir, daß es halb drei Uhr gewesen sein mußte, als Anna Catherick gestern Nachmittag im Boothause ankam. Ich kam daher mit Laura überein, daß sie sich beim Frühstück eben am Tische nur zeigen und bei der ersten Gelegenheit hinausschlüpfen sollte und daß ich zurückbliebe, damit man keinen Verdacht schöpfe, und ihr folge, sobald mir dies gelingen würde. Auf diese Weise würde sie im Stande sein, vor halb drei Uhr im Boothause anzulangen, und ich konnte bereits vor drei Uhr einen sicheren Posten im Holze einnehmen.

Es regnete heftig, als ich aufstand, und fuhr so fort bis Mittag, wo die Wolken sich zerstreuten, der Himmel wieder blau erschien und die Sonne mit dem Versprechen eines schönen Nachmittags hell hervortrat.

Meine Unruhe, zu erfahren, wie Sir Percival und der Graf den Morgen hinbringen würden, verminderte sich keineswegs, wenigstens in Bezug auf Sir Percival, als er uns gleich nach dem Frühstück verließ und ungeachtet des Regens ausging. Er sagte uns weder, wohin er gehe, noch wann wir ihn zurückerwarten dürften, wir sahen ihn eilig am Fenster des Frühstückzimmers vorübergehen, in hohen Stiefeln und wasserdichtem Rocke, und das war Alles.

Der Graf verbrachte den Morgen zum Theil in der Bibliothek, zum Theil im Gesellschaftszimmer, wo er kleine, abgerissene Melodien spielte und vor sich hin summte.

Die Zeit des Frühstücks kam, und Sir Percival war noch nicht zurückgekehrt. Der Graf nahm seines Freundes Platz bei Tische ein.

Laura verließ nach zehn Minuten den Tisch.

Ich warte so geduldig, wie mir dies möglich war, bis der Diener kam, um den Tisch abzudecken. Als ich das Zimmer verließ, sah ich weder im Hause noch draußen irgend ein Zeichen von Sir Percivals Rückkehr. Als ich ging, sah ich den Grafen mit einem Stückchen Zucker zwischen den Lippen, zu dem der boshafte Kakadu über die Weste hin emporkletterte, während die Gräfin, ihrem Gemahl gegenüber sitzend, seine Manöver und die des Vogels mit einer Aufmerksamkeit beobachtete, als ob sie dergleichen nie zuvor in ihrem Leben gesehen hätte. Auf meinem Wege nach den Baumanlagen hielt ich mich sorgfältig außerhalb des Gesichtskreises vom Fenster der Frühstückstube. Es sah mich und folgte mir Niemand. Es war auf meiner Uhr ein viertel vor drei Uhr.

Sowie ich unter den Bäumen anlangte, schritt ich schnell vorwärts, bis ich über die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte. Dann ging ich langsamer und vorsichtiger weiter. Nach und nach kam ich in Sicht der Rückseite des Boothauses – stand still und horchte – dann ging ich weiter, bis ich ganz dicht dahinter war und notwendigerweise die Stimmen hören mußte, falls man darinnen sprach. Es herrschte tiefe Stille – nah und fern war kein Anzeichen eines lebenden Wesens weder zu hören noch zu sehen.

Nachdem ich erst auf der einen, dann auf der anderen Seite des Hauses entlang gegangen war, ohne irgend etwas zu entdecken, wagte ich mich zur Vorderseite hinaus und schaute hinein. Es war leer.

Ich rief »Laura!« zuerst leise und dann immer lauter. Niemand antwortete und Niemand kam. Soviel ich sehen oder hören konnte, war in der Nachbarschaft des Sees und der Anlagen kein menschliches Wesen außer mir.

Mein Herz fing heftig an zu pochen; doch setzte ich meine Nachsuchungen fort, zuerst im Boothause und dann auf dem Boden vor demselben, um ein Zeichen zu entdecken, das mir Sicherheit geben würde, ob Laura dort gewesen oder nicht. Ich fand nichts im Boothause, das hierauf hingedeutet hatte; draußen aber im Sande entdeckte ich Fußspuren.

Ich unterschied die Fußspuren von zwei Personen – ziemlich große, wie die eines Mannes, und kleinere, von denen ich überzeugt war, daß sie von Lauras Füßen herrührten. Der Boden war gerade vor dem Boothause von vielen solchen unregelmäßigen Spuren gezeichnet. Dicht an der einen Wand, unter dem Schutze des überhängenden Daches, entdeckte ich ein kleines Loch im Sande, ein künstlich gemachtes, daran war nicht zu zweifeln. Ich bemerkte es bloß und wandte mich dann ab, um sofort den Fußspuren, soweit ich konnte, nachzugehen.

Sie führten mich, von der linken Seite des Boothauses ausgehend, eine Strecke von etwa dreihundert Ellen am Rande der Bäume entlang, und dann verschwand ihre Spur im Sande. Ueberzeugt, daß diejenigen, deren Fußspuren ich jetzt folgte, hier ins Holz hineingegangen sein mußten, betrat ich dasselbe. Zuerst konnte ich keinen Pfad entdecken, endlich aber fand ich einen solchen, schwach zwischen den Bäumen angedeutet. Er führte mich eine Strecke in der Richtung dem Dorfe zu, bis ich an einer Stelle stand, wo er von einem anderen Fußpfade durchschnitten wurde. Dicke Dornbüsche wuchsen zu beiden Seiten dieses letzteren Pfades; ich stand unschlüssig, welche Richtung ich zunächst einschlagen solle, als ich umherschauend an einem Zweige in dem Dornbusche ein Stückchen von den Fransen eines Damenshawls erblickte. Genauere Untersuchung der Fransen überzeugte mich, daß sie von einem Laura gehörigen Shawl abgerissen seien, worauf ich augenblicklich den Pfad einschlug. Derselbe brachte mich endlich zu meiner großen Erleichterung zur Hinterseite des Hauses, Ich sage »zu meiner großen Erleichterung«, weil ich daraus schloß, daß Laura aus irgend einem mir unbekannten Beweggrunde auf diesem Umwege nach Hause zurückgekehrt sei, ohne mich zu erwarten. Ich ging über den Hof und durch die Nebengebäude hinein. Die erste Person, die mir begegnete, als ich an der Gesindestube vorbeiging, war Mrs. Michelson, die Haushälterin.

»Wissen Sie zufällig, ob Lady Glyde von ihrem Spaziergange heimgekommen ist?« frug ich sie.

»Mylady kam vor einer kleinen Weile mit Sir Percival nach Hause,« entgegnete die Haushälterin. »Ich fürchte, Miß Halcombe, daß sich irgend etwas sehr Betrübendes zugetragen haben muß.«

Mir sank das Herz.

»Mylady lief weinend auf ihr Zimmer, und Sir Percival hat mir befohlen, Fanny in einer Stunde aus dem Hause zu schicken.«

Fanny ist Lauras Kammerjungfer, ein gutes, anhängliches Wesen, das bereits jahrelang in ihren Diensten gewesen, und ist zugleich die einzige Person im Hause, auf deren Treue und Ergebenheit wir uns verlassen können.

»Wo ist Fanny?« frug ich.

»In meinem Zimmer, Miß Halcombe. Das Mädchen ist ganz außer sich.«

Ich ging nach Mrs. Michelson's Zimmer und fand dort Fanny, die in einer Ecke saß und bitterlich weinte; ihr Reisekoffer stand neben ihr.

Sie konnte mir nicht die geringste Erklärung über die Ursache ihrer plötzlichen Verabschiedung geben. Sir Percival hatte befohlen, daß man ihr den Lohn eines Monats gebe und sie fortschicke. Man hatte ihr verboten, ihrer Herrin Vermittlung anzusprechen, ja sogar, sie einen Augenblick zu sehen, um Abschied von ihr zu nehmen. Sie sollte ohne Erklärung oder Lebewohl fort, und zwar augenblicklich.

Nachdem ich den Schmerz des armen Mädchens durch ein paar freundliche Worte beschwichtigt, frug ich sie, wo sie zu übernachten beabsichtige. Sie entgegnete, daß sie die Nacht in dem kleinen Wirthshause im Dorfe zuzubringen gedenke, indem die Wirthin desselben eine achtbare Frau und der Dienerschaft von Blackwater Park wohl bekannt sei. Sie hoffe dann, am nächsten Morgen direct nach Cumberland zu ihren Verwandten zurückkehren zu können, ohne sich in London aufzuhalten, wo sie vollkommen unbekannt sei.

Es fiel mir sogleich ein, daß Fannys Abreise uns ein sicheres Mittel böte, um Nachrichten nach London und Limmeridge House zu schicken, welches zu benutzen von der größten Wichtigkeit für uns sein konnte. Demzufolge sagte ich ihr, daß sie erwarten dürfe, im Verlaufe des Abends entweder von ihrer Herrin oder von mir zu hören, und daß sie sich darauf verlassen möge, daß wir Beide in ihrem Unglücke Alles für sie thun würden, was nur in unserer Macht läge. Dann ging ich die Treppe hinauf.

Die Thür, welche nach Lauras Zimmer führte, war die eines Vorzimmers, das seinerseits auf den Vorsaal führte. Als ich sie zu öffnen versuchte, wurde ich gewahr, daß sie von innen verriegelt war.

Ich klopfte, worauf die Thür von derselben schwerfälligen Hausmagd geöffnet wurde, deren Dummheit mich bereits an dem Tage, wo ich den verwundeten Hund gefunden, so unbeschreiblich geärgert hatte. Ich hatte seitdem erfahren, daß ihr Name Margarethe Porcher und sie selbst die ungeschickteste, halsstarrigste und unordentlichste Dienerin im ganzen Hause sei.

Als sie die Thür öffnete, trat sie sogleich auf die Schwelle und stand, mich in dummem Schweigen angrinsend, da.

»Wozu stehst du da?« sagte ich. »Siehst du nicht, daß ich hinein will?«

»Ja, aber Sie dürfen nicht herein« war die Antwort, von einem noch breiteren Grinsen begleitet.

»Wie kannst du dich unterstehen, mir eine solche Antwort zu geben? Geh' augenblicklich auf die Seite.«

Sie streckte zu beiden Seiten eine große rothe Hand aus, um mir den Weg zu sperren.

»Befehl vom Herrn,« sagte sie.

Ich wandte mich von ihr ab und ging schnell die Treppe hinunter. Mein Entschluß, mich durch keine der Beleidigungen aufbringen zu lassen, die Sir Percival mir bieten möge, war jetzt – ich gestehe es zu meiner Schande – vollständig vergessen.

Das Gesellschaftszimmer wie das Frühstückzimmer waren beide leer. Ich ging in die Bibliothek und hier fand ich Sir Percival, sowie den Grafen und die Gräfin Fosco. Alle Drei standen dicht nebeneinander, und Sir Percival hielt ein kleines Papierzettelchen in der Hand. Als ich die Thür öffnete, hörte ich den Grafen sagen: »Nein – tausendmal Nein!«

Ich ging gerade auf Percival zu und sah ihm fest in's Gesicht.

»Muß ich annehmen, Sir Percival, daß das Zimmer Ihrer Gemahlin ihr Gefängnis und Ihre Hausmagd ihre Gefängniswärterin ist?« frug ich.

»Ja; allerdings dürfen Sie das annehmen,« entgegnete er. »Nehmen Sie sich in Acht, daß ich meiner Gefangenwärterin nicht doppelte Pflichten auferlege, indem ich Ihr Zimmer ebenfalls zum Gefängnisse mache.«

»Nehmen Sie sich in Acht in der Behandlung Ihrer Frau, ehe Sie sich unterstehen, mir zu drohen,« brach ich in der Hitze meines Zornes los. England hat Gesetze, um Frauen gegen Grausamkeit und Beleidigungen zu schützen. Falls Sie es wagen, auch nur ein Haar auf Lauras Haupte zu krümmen oder mir meine Freiheit zu nehmen, so werde ich, was auch immer danach kommen möge, jene Gesetze zu unserem Schutze anrufen.«

Anstatt mir zu antworten, wandte er sich zum Grafen.

»Was sagte ich dir?« frug er. »was sagst du nun?«

»Was ich vorhin sagte,« erwiderte der Graf, »Nein!«

Ungeachtet meines heftigen Zornes fühlte ich seine kalten ruhigen, grauen Augen auf meinem Gesichte ruhen. Sie wandten sich von mir, sobald er gesprochen hatte, und blickten bedeutungsvoll seine Frau an. Die Gräfin trat dicht an meine Seite und redete Sir Percival an.

»Schenken Sie mir gütigst einen Augenblick Ihre Aufmerksamkeit,« sagte sie mit ihrer klaren, eisigen Stimme. »Ich habe Ihnen für Ihre Gastfreundschaft zu danken, Sir Percival, und von jetzt an darauf zu verzichten. Ich kann nicht in einem Hause bleiben, in welchem man Damen behandelt, wie Ihre Gemahlin und Miß Halcombe heute behandelt worden sind.«

Sir Percival that einen Schritt rückwärts und starrte sie in tiefem Schweigen an. Die Erklärung, welche er soeben gehört hatte, und die, wie er wußte – ebensogut wie ich – die Gräfin nimmer ohne ihres Gemahls Erlaubnis gemacht haben würde, schien ihn fast zu versteinern. Der Graf schaute mit wahrhaft begeisterter Bewunderung auf seine Frau.

»Sie ist sublim!« sagte er vor sich hin. Dann trat er zu ihr hin und zog ihre Hand durch seinen Arm. »Ich stehe dir zu Diensten, Eleanor,« fuhr er mit einer ruhigen Würde fort, die ich noch nie an ihm wahrgenommen hatte, »und stehe Miß Halcombe zu Diensten, falls sie mir die Ehre erzeigen will, den Beistand anzunehmen, den ich ihr anzubieten im Stande bin.«

»Zum Teufel! was meinst du damit?« rief Sir Percival aus, als der Graf ruhig mit seiner Frau der Thür zuschritt.

»Gewöhnlich meine ich, was ich sage, diesmal aber, was meine Frau sagt,« erwiderte der unerschütterliche Italiener.

Sir Percival zerknitterte das Papier in seiner Hand, und sich vor den Grafen drängend, stellte er sich mit einem zweiten Fluche zwischen ihn und die Thür.

»Du sollst deinen Willen haben,« sagte er mit verhaltener Wuth und mit leiser, flüsternder Stimme. – »Du sollst deinen Willen haben und dann sehen, was danach kommt.« Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.

Die Gräfin schaute ihren Mann fragend an. »Er ist plötzlich gegangen,« sagte sie, »was hat das zu bedeuten?«

»Das bedeutet, daß wir Beide den heftigsten Mann in ganz England zu Verstand gebracht haben,« antwortete der Graf. »Es bedeutet, Miß Halcombe, daß der Lady Glyde zugefügten groben Beschimpfung ein Ende gemacht wird und Sie keine Wiederholung der unverzeihlichen Beleidigung, die Ihnen zu Theil geworden, zu befürchten haben. Gestatten Sie mir, Ihnen meine Bewunderung für Ihren Muth in einem außerordentlich schwierigen Augenblicke auszusprechen.«

Der herzbeklemmende Wunsch, Laura zu sehen, sowie meine hilflose Unkenntnis dessen, was sich im Boothause zugetragen, lagen mit einem unerträglichen Gewichte auf meinem Gemüthe. Ich versuchte, mit dem Grafen und der Gräfin in dem Tone zu sprechen, den sie für gut erachtet, gegen mich anzunehmen. Doch erstarben mir die Worte auf der Zunge, ich athmete mühsam und schnell, und meine Augen wandten sich sehnsüchtig der Thür zu. Der Graf, der meine Besorgnis begriff, öffnete sie, ging hinaus und schloß sie wieder hinter sich. In demselben Augenblicke hörte ich Sir Percivals schweren Tritt die Treppe herunter kommen. Ich hörte dann Beide draußen zusammen flüstern, während die Gräfin mir mit ihrer ruhigsten Alltagsstimme die Versicherung gab, daß sie sich um unser Aller willen freue, daß Sir Percival sie und ihren Gemahl nicht durch sein Betragen gezwungen habe, Blackwater Park zu verlassen. Ehe sie noch geendet hatte, hörte das Flüstern auf, die Thür öffnete sich und der Graf trat herein.

»Miß Halcombe,« sagte er, »es macht mich glücklich, Sie benachrichtigen zu können, daß Lady Glyde wieder Herrin ihres eigenen Hauses ist.«

Sir Percival stand in dem Flur. Als ich die Treppe hinauf eilte, hörte ich, wie er dem Grafen ungeduldig zurief, aus der Bibliothek zu kommen.

»Wozu wartest du noch?« sagte er. »Ich habe mit dir zu sprechen.«

»Und ich habe erst noch allein zu überlegen,« entgegnete der Andere, »warte bis später, Percival, warte bis später.«

Ich war oben angelangt und lief den Corridor entlang. In meiner Hast und Aufregung ließ ich die Thür des Vorzimmers offen, doch schloß ich die des Schlafzimmers, sowie ich eingetreten war.

Laura saß allein am anderen Ende des Zimmers, ihre Arme ruhten müde auf dem Tische und ihr Gesicht in ihren Händen. Als sie mich erblickte, sprang sie mit einem matten Freudenausrufe empor.

»Wie bist du hergekommen?« frug sie. »Wer gab dir Erlaubnis dazu? Gewiß nicht Sir Percival?«

»Natürlich der Graf,« sagte ich, »wer sonst besäße im Hause wohl Einfluß genug –?«

Sie unterbrach mich mit einer Bewegung des Widerwillens.

»Sprich nicht von ihm!« rief sie aus, »der Graf ist der elendeste Mensch, den es auf Erden gibt! Der Graf ist ein nichtswürdiger Spion –!«

Ehe weder die Eine noch die Andere von uns ein Wort hinzufügen konnte, wurden wir Beides durch ein leises Klopfen an der Thür beunruhigt.

Als ich die Thür öffnete, stand die Gräfin, mein Taschentuch in der Hand haltend, vor mir.

»Sie ließen dies unten fallen, Miß Halcombe,« sagte sie, »und da ich auf meinem Wege nach meinem Zimmer hier vorbeikam, wollte ich es Ihnen gleich überbringen.«

Ihr Gesicht, welches von Natur blaß ist, war so gespenstisch weiß in diesem Augenblicke, daß es mich förmlich erschreckte. Ihre Hände, sonst so sicher und ruhig, zitterten heftig, und ihre Augen blickten durch die geöffnete Thür an mir vorbei und hefteten sich mit einem wolfartigen Ausdrucke auf Laura.

Sie hatte gehorcht, ehe sie klopfte! Das sah ich in ihrem weißen Gesichte, an ihren zitternden Händen, an ihrem wilden Blicke.

Nachdem sie eine Minute gezögert, entfernte sie sich langsam.

Ich schloß die Thür wieder. »O Laura, Laura! wir werden Beide den Tag zu bereuen haben, an dem du jene Worte sprachst!«

»Du hättest sie selbst gesprochen, Marianne, hättest du gewußt, was ich weiß. Anna Catherick hatte Recht. Es war in der That gestern eine dritte Person bei unserer Unterredung zugegen, und diese war –«

»Weißt du es gewiß, daß es der Graf war?«

»Ganz gewiß. Er war Sir Percivals Spion. Er bewog Sir Percival, Anna Catherick und mir den ganzen Morgen aufzulauern.«

»Haben sie Anna gefunden? Sahst du sie am See?«

»Nein, sie hat sich gerettet, indem sie ausblieb. Als ich im Boothause anlangte, war dort kein Mensch.«

»Ja? nun?«

»Ich ging hinein und wartete einige Minuten. Doch ließ mich meine Unruhe wieder umhergehen. Als ich hinaus trat, sah ich dicht vor dem Boothause Spuren im Sande. Ich bückte mich, um genauer hinzusehen, und fand ein Wort mit großen Buchstaben in den Sand geschrieben. Dies Wort war » Suchet

»Und du scharrtest den Sand fort und machtest ein Loch in die Erde?«

»Woher weißt du das, Marianne?«

»Ich sah es, als ich dir nach dem Boothause gefolgt war. Aber fahre fort – fahre fort!«

»Ja, ich scharrte den Sand fort und nach einer kleinen Weile fand ich einen Streifen beschriebenen Papiers. Das Geschriebene war mit Anna Catherick's Anfangsbuchstaben unterzeichnet.«

»Wo ist es?«

»Sir Percival hat es mir genommen.«

»Erinnerst du dich, was auf dem Papier geschrieben stand?«

»Den Inhalt kann ich dir genau sagen, Marianne, denn er war sehr kurz. Du hättest es Wort für Wort im Gedächtnisse behalten. Er lautete folgendermaßen:

»Wir wurden gestern von einem großen, starken, alten Manne zusammen gesehen und ich mußte laufen, um mich zu retten. Er war nicht flink genug auf den Füßen und verlor mich unter den Bäumen. Ich wage nun nicht, heute um dieselbe Zeit wieder hieher zu kommen. Ich schreibe dies, um Sie hievon zu unterrichten, um sechs Uhr Morgens, und werde es im Sand verbergen, wenn wir das nächstemal von Ihres gottlosen Gemahls Geheimnissen sprechen, da muß es an einem sicheren Orte sein oder gar nicht. Suchen Sie sich in Geduld zu fassen. Ich verspreche Ihnen, daß Sie mich wiedersehen sollen, und zwar bald.

A. C.«

Die Worte »großer, starker, alter Mann« ließen keinen Zweifel übrig in Bezug auf die Identität des Störers. Ich entsann mich, daß ich Sir Percival in Gegenwart des Grafen gesagt hatte, Laura sei nach dem Boothause gegangen, um ihre Broche zu suchen, wahrscheinlich war er ihr in seiner zudringlichen Dienstfertigkeit dorthin gefolgt, um sie, gleich nachdem er mir im Gesellschaftszimmer Sir Percivals Sinnesänderung in Bezug auf das Document mitgetheilt, ebenfalls darüber zu beruhigen. In diesem Falle konnte er jedoch erst in dem Augenblicke, wo Anna Catherick ihn entdeckte, beim Boothause angelangt sein. Die verdächtige Eile, in der sie Laura verließ, hatte ihn wahrscheinlich zu dem fruchtlosen Versuche, ihr zu folgen, bewogen – aber von der vorher stattgehabten Unterredung konnte er nichts gehört haben. Die Entfernung vom Hause bis zum See und die Zeit, zu der er mich im Salon verließ, verglichen mit der, zu welcher Laura sich mit Anna Catherick unterhielt, ließen hierüber wenigstens keinen Zweifel obwalten.

Da ich hierüber ziemlich einig mit mir geworden, war mein nächstes Interesse darauf gerichtet, zu erfahren, welche Entdeckungen Sir Percival gemacht habe, nachdem der Graf ihm seine Mittheilungen gemacht.

»Wie bist du des Briefes verlustig geworden?« frug ich sie.

»Nachdem ich ihn einmal durchgelesen,« sagte sie, »nahm ich ihn mit mir in's Boothaus, um mich zu setzen und ihn nochmals zu lesen, während ich dies that, fiel ein Schatten auf das Papier. Ich blickte auf und sah Sir Percival im Eingange stehen und mich beobachten.«

»Versuchtest du, den Brief zu verbergen?«

»Ja, aber er verhinderte mich. ›Du brauchst dich nicht zu bemühen, das da zu verstecken,‹ sagte er, ›ich habe es bereits gelesen.‹ Ich konnte nichts sagen, sondern ihn bloß hilflos anschauen. ›Verstehst du mich?‹ fuhr er fort; ›ich habe es gelesen. Ich scharrte es vor zwei Stunden aus dem Sande, grub es dann wieder ein, schrieb das Wort wieder darüber und ließ es bereit für dich liegen. Jetzt kannst du dich nicht aus deinen Schlichen herauslügen. Du hast gestern heimlich Anna Catherick gesprochen und in diesem Augenblicke hältst du ihren Brief in der Hand. Sie habe ich noch nicht erwischt, aber dich habe ich. Gib den Brief her.‹ Er trat dicht zu mir heran – was konnte ich machen? Ich gab ihm den Brief.«

»Was sagte er, als du ihm denselben gabst?«

»Zuerst sagte er nichts. Er faßte mich beim Arme, führte mich aus dem Boothause und schaute sich nach allen Seiten hin um, als ob er fürchte, daß man uns hören oder sehen könne. Dann drückte er meinen Arm fest mit seiner Hand und flüsterte: ›Was hat Anna Catherick dir gestern gesagt? – Ich befehle dir, mir jedes Wort von Anfang bis zum Ende zu wiederholen!‹«

»Sagtest du es ihm?«

»Ich war allein mit ihm, Marianne, seine grausame Hand kniff meinen Arm – was konnte ich thun?«

»Ist die Stelle noch auf deinem Arm zu sehen? Zeige sie mir.«

»Wozu willst du sie sehen?«

»Ich will sie sehen, Laura, weil heute unser Dulden ein Ende haben und unser Widerstand beginnen muß. Jene Stelle ist eine Waffe, mit der wir ihn treffen können. Laß sie mich gleich sehen, vielleicht werde ich sie später zu beschwören haben.«

»O, Marianne, sprich nicht so! Es thut mir jetzt nicht mehr weh!«

»Zeige mir's!«

Sie zeigte mir die Stelle. Ich war jetzt über den Gemüthszustand hinweg, in dem ich über den Anblick geklagt, geweint und geschaudert hätte; mein Gesicht verrieth nichts. Das sanfte, unschuldige, liebende Herz glaubte nur, ich fürchte für sie und härme mich um sie – und dachte an weiter nichts.

»Denke nicht zu strenge darüber, Marianne,« sagte sie ruhig, indem sie den Aermel ihres Kleides wieder über die Stelle zog. »Es schmerzt jetzt nicht mehr.«

»Ich will deinetwegen ruhig daran zu denken versuchen, mein liebes Herz. – Schon gut! schon gut! Also du sagtest ihm Alles, was Anna Catherick dir gesagt hatte?«

»Ja, Alles. Er bestand darauf – ich war allein mit ihm – ich konnte ihm nichts verschweigen.«

»Sagte er etwas, als du geendet?«

»Er sah mich an und lachte bitter vor sich hin. ›Ich will auch das Uebrige noch aus dir herausbringen,‹ sagte er, ›hörst du? auch das Uebrige.‹ Ich erklärte ihm mit feierlichen Worten, daß ich ihm Alles gesagt habe, was ich wisse. ›Fällt dir nicht ein!‹ sagte er; ›du weißt mehr, als es dir zu sagen beliebt. Du willst nicht heraus damit, aber du sollst es! Ich will dir's schon zu Hause auspressen, wenn mir's hier nicht gelingt.‹ Dann führte er mich auf einem mir unbekannten Pfade durch die Anlagen und sagte nichts mehr, bis wir das Haus sehen konnten. Dann stand er still und sagte: ›Wenn ich dir noch einmal Gelegenheit gebe, willst du dich eines Besseren besinnen? Willst du mir das Uebrige sagen?‹ Ich konnte bloß die Worte wiederholen, die ich bereits vorher zu ihm gesprochen. Er fluchte und führte mich in's Haus. ›Du kannst mich nicht hintergehen,‹ sagte er; ›ich will aber dein Geheimnis noch aus dir heraus haben und aus deiner Schwester ebenfalls. Es soll kein Complotiren mehr zwischen euch stattfinden. Ihr sollt euch einander nicht eher wiedersehen, als bis ihr mir die Wahrheit gebeichtet habt.‹ Er führte mich sofort auf mein Zimmer. Hier saß Fanny, mit einer Arbeit für mich beschäftigt; er schickte sie augenblicklich hinaus. ›Ich will wenigstens dafür sorgen, daß Sie nicht auch mit in die Verschwörung gezogen werden,‹ sagte er, ›Sie werden noch heute das Haus verlassen, wenn Ihre Herrin eine Jungfer bedarf, so soll es eine sein, die ich ihr aussuche.‹ Er schob mich in's Zimmer und verschloß die Thür hinter mir, dann stellte er jenes dumme Mädchen draußen als Wache auf, Marianne! Er sah aus und sprach wie ein Wahnsinniger.«

»Er ist in der That wahnsinnig – wahnsinnig aus Furcht vor dem Verrath seines gottlosen Geheimnisses. Jedes deiner Worte überzeugt mich fester und fester, daß, als Anna Catherick dich gestern verließ, du im Begriffe warst, ein Geheimnis zu entdecken, das deines elenden Mannes Untergang sein könnte, und er denkt, daß du es bereits erfahren hast. Nichts, das du sagen oder thun kannst, wird dieses schuldbewußte Mißtrauen beseitigen. Ich sage dies nur, damit du deine Lage begreifst, und um dich von der dringenden Notwendigkeit zu überzeugen, daß ich handeln und dich nach Kräften schützen muß, solange uns noch die Gelegenheit dazu bleibt. Des Grafen Vermittlung hat mir heute den Zutritt zu dir verschafft; morgen aber mag er schon seine Fürsprache zurücknehmen. Sir Percival hat bereits Fanny entlassen, weil sie ein gescheites Mädchen und dir von Herzen ergeben ist, und ihre Stelle einer Person gegeben, die sich in nichts um dich kümmert und deren Verstandeskräfte mit denen des Kettenhundes unten im Hofe auf gleicher Stufe stehen. Es ist unmöglich zu sagen, welche gewaltsame Maßregeln er zunächst ergreifen wird, falls wir nicht den besten Gebrauch von der uns noch bleibenden Gelegenheit machen.«

»Was können wir thun, Marianne? O, wenn wir doch nur dies Haus verlassen könnten, um es niemals wiederzusehen!«

»Höre mich an, liebe Laura, und suche dich davon zu überzeugen, daß du nicht ganz hilflos bist, solange ich bei dir bin.«

»Das will ich, das thue ich. Aber vergiß nicht die arme Fanny ganz, indem du dich mit mir beschäftigst. Auch sie bedarf der Hilfe und des Trostes.«

»Ich werde sie nicht vergessen. Ich habe mit ihr gesprochen, ehe ich zu dir heraufkam, und bin mit ihr einig geworden, sie heute Abend noch von mir hören zu lassen. In der Posttasche sind unsere Briefe hier in Blackwater Park nicht sicher und ich werde heute zwei in deinen Angelegenheiten zu schreiben haben, die durch keine anderen, als Fannys Hände gehen müssen.«

»Was für Briefe?«

»Ich beabsichtige erstens an Mrs. Gilmore's Compagnon zu schreiben, da er uns für jede neue Verlegenheit seine Hilfe angetragen hat. So wenig ich auch das Gesetz kenne, so sicher bin ich dessenungeachtet, daß es eine Frau gegen solche Behandlung schützen kann, wie sie dir heute von diesem rohen Wütherich geworden ist. Der Advocat soll von jener Stelle auf deinem Arme und von der Gewaltthätigkeit wissen, die man dir in diesem Zimmer angethan – und zwar ehe ich eine Nacht vorher schlafe!«

»Aber bedenke nur das Aufsehen, Marianne!«

»Ich rechne darauf. Sir Percival hat mehr davon zu fürchten als du. Die Aussicht auf Bloßstellung mag ihn vielleicht zur Vernunft bringen, wenn dies durch sonst nichts geschehen kann.«

»Du wirst ihn zur Verzweiflung treiben«, sagte Laura, »und unsere Gefahren noch um das Zehnfache vergrößern.«

Ich fühlte das entmuthigend Wahre dieser Worte. Aber in unserer schrecklichen Lage gab es keine Hilfe oder Hoffnung für uns, als indem wir das Schlimmste wagten. Ich sagte ihr dies mit vorsichtigen Worten. Sie seufzte bitterlich, doch machte sie keine Einwendungen. Dann frug sie nach dem zweiten Briefe, den ich zu schreiben beabsichtige. Für wen war er bestimmt?

»Für deinen Onkel,« sagte ich. »Mr. Fairlie ist dein nächster männlicher Verwandter und das Haupt der Familie. Er muß und soll sich in's Mittel legen.«

Laura schüttelte traurig den Kopf.

»Ja, ja,« fuhr ich fort, »ich weiß wohl, daß dein Onkel ein schwacher, selbstsüchtiger, weltlich gesinnter Mensch ist. Aber er ist immer noch nicht Sir Percival Glyde und hat keinen solchen Freund um sich, wie den Grafen Fosco. Ich erwarte nichts von seiner Güte oder Liebe zu dir oder zu mir, aber laß mich ihn nur überzeugen, daß er sich dadurch, indem er sich jetzt in's Mittel legt, für später unvermeidliche Mühe, Unannehmlichkeit und Verantwortlichkeit erspart, und er wird sich um seiner selbst willen schon rühren. Ich weiß, wie man ihn nehmen muß, Laura, ich habe einige Uebung darin gehabt.«

»Wenn du ihn nur dazu bewegen könntest, mich wieder auf eine weile nach Limmeridge zurückkommen und dort ruhig mit dir leben zu lassen, Marianne, da könnte ich fast wieder so glücklich sein, wie ich vor meiner Heirat war!«

Wäre es vielleicht möglich, Sir Percival zwischen die beiden Alternativen zu stellen, daß er sich entweder der Bloßstellung gerichtlicher Dazwischenkunft zu Gunsten seiner Frau unterziehe oder sonst ihr gestatten müsse, ihn auf eine Weile unter dem Vorwande eines Besuches bei ihrem Onkel, zu verlassen? Und durfte man in diesem Falle mit Zuversicht darauf rechnen, daß er Letzteres wählen werde? So hoffnungslos das Experiment auch erschien, war es nicht eines Versuches werth? Ich beschloß, ihn zu machen.

»Dein Onkel soll von deinem Wunsche unterrichtet werden,« sagte ich, »auch will ich den Advocaten darüber zu Rathe ziehen. Es wird, wie ich hoffe, Gutes danach kommen.«

Mit diesen Worten erhob ich mich. Laura versuchte mich zurückzuhalten.

»Verlaß mich nicht,« sagte sie mit unruhigem Blicke. »Du kannst ja hier schreiben.«

Es ging mir durch's Herz, es ihr zu verweigern, aber wir waren bereits zu lange zusammen eingeschlossen gewesen. Unsere Aussicht, einander wieder zu sehen, hing vielleicht ganz davon ab, daß wir keinen ferneren Verdacht erregten. Es war reichlich an der Zeit, daß ich ruhig und unbekümmert vor den Bösewichtern erschiene, die vielleicht in diesem Augenblicke unten über uns sprachen. Ich erklärte Laura diese schlimme Nothwendigkeit und vermochte sie, dieselbe anzuerkennen.

»Ich will in einer Stunde wieder bei dir sein, liebes Herz,« sagte ich.

»Ist der Schlüssel in der Thür, Marianne? Kann ich mich von innen einschließen?«

»Ja, hier ist der Schlüssel, verschließe deine Thür und öffne Niemandem, bis ich wieder zurückkomme.«

Ich küßte sie und ging. Ich war kaum bis an die Treppe gelangt, als mich das Verschließen der Thür von Lauras Zimmer daran erinnerte, daß es vielleicht gerathen sein möchte, wenn auch ich die meinige verschlösse und den Schlüssel bei mir trüge. Mein Tagebuch war bereits nebst anderen Papieren in meinem Tischauszuge verschlossen, aber meine Schreibmaterialien lagen noch offen da. Unter diesem befand sich ein Petschaft, das die sehr gewöhnliche Wappenfigur zweier Tauben, die aus einer Schale trinken, trug, und einige Bogen Löschpapier, auf denen noch der Abdruck der letzten Zeilen, die ich gestern Abend in diese Blätter eintrug, zu sehen war.

Ich fand kein Anzeichen, daß irgend Jemand in meiner Stube gewesen wäre. Meine Schreibmaterialien (welche anzurühren ich dem Stubenmädchen streng untersagt hatte) lagen ziemlich wie gewöhnlich über den Tisch zerstreut. Der einzige Umstand, der mir auffiel, war, daß das Petschaft ordentlich neben Bleistiften und Siegellack in der kleinen Krystallmulde lag. Es war (wie ich zu meinem Bedauern gestehe) nicht meine Gewohnheit, es hier so ordentlich hineinzulegen, noch erinnerte ich mich, dies gethan zu haben. Da ich mich jedoch nicht entsinnen konnte, ob ich es nicht vielleicht ganz zufälliger weise diesmal an die rechte Stelle gethan, ließ ich mich durch diese Kleinigkeit nicht noch mehr verwirren. Ich schloß die Thür ab, steckte den Schlüssel in die Tasche und ging hinunter.

Die Gräfin war allein auf dem Flur und betrachtete das Wetterglas.

»Es fällt noch immer,« sagte sie, »ich fürchte, wir müssen noch mehr Regen erwarten.«

Ihr Gesicht trug wieder seinen gewohnten Ausdruck und seine gewohnte Farbe. Aber die Hand, mit der sie auf den Zeiger des Wetterglases deutete, zitterte noch. Konnte sie ihrem Manne erzählt haben, daß sie gehört, wie Laura ihn mir als einen »Spion« bezeichnet hatte? Mein starker Verdacht, daß sie es ihm gesagt haben mußte, meine unüberwindliche Angst vor den Folgen, die dies haben konnte; meine feste Ueberzeugung, welche durch verschiedene kleine unwillkürliche Gefühlskundgebungen von Seiten der Gräfin in mir wachgerufen, daß sie, ungeachtet all ihrer äußerlich angenommenen Höflichkeit, es ihrer Nichte nie verziehen habe, daß sie das unschuldige Hindernis war, welches zwischen ihr und dem Legate von zehntausend Pfund stand: Alles dies schoß mir plötzlich durch den Sinn und drängte mich zu sprechen, in der eitlen Hoffnung, im Stande zu sein, Lauras Fehler wieder gutzumachen.

»Darf ich von Ihrer Güte, Gräfin, hoffen, daß sie mich entschuldigen wird, falls ich es wage, über einen höchst peinlichen Gegenstand mit Ihnen zu sprechen?«

Sie faltete ihre Hände vor sich und neigte feierlich den Kopf, ohne den Blick von mir abzuwenden.

»Als Sie so freundlich waren, mir mein Taschentuch zu bringen,« fuhr ich fort, »müssen Sie, wie ich sehr fürchte, zufällig etwas gehört haben, das Laura sagte, welches ich ungern wiederholen möchte und nicht zu entschuldigen versuchen will. Darf ich nur zu hoffen wagen, daß es Ihnen von zu geringer Wichtigkeit erschien, um den Grafen davon zu unterrichten?«

»Es hat nicht die geringste Wichtigkeit in meinen Augen,« sagte die Gräfin Fosco schnell und scharf. »Aber«, fuhr sie fort, indem sie augenblicklich wieder in ihr eisiges Wesen verfiel, »ich verschweige meinem Manne nie etwas, selbst Kleinigkeiten nicht. Als er soeben bemerkte, daß ich bekümmert aussehe, war es meine peinliche Pflicht, ihm die Ursache hievon zu sagen und ich gestehe Ihnen offen, Miß Halcombe, daß ich es ihm nicht verschwiegen habe.«

Ich war hierauf vorbereitet gewesen und doch durchrieselte es mich eisig, als sie diese Worte sagte.

»lassen Sie mich es Ihnen, Gräfin, und auch dem Grafen ernstlich an's Herz legen, daß Sie die traurige Tage berücksichtigen, in der meine Schwester sich augenblicklich befindet. Sie sprach unter dem Einflusse des Schmerzes, den ihr die Beschimpfung und Ungerechtigkeit ihres Mannes verursacht hatten, und sie war außer sich, als sie jene unbedachten Worte sprach. Darf ich hoffen, daß sie rücksichtsvoll und großmüthig vergeben sind?«

»Ganz gewiß,« sagte des Grafen ruhige Stimme hinter mir. Er hatte sich mit seinem geräuschlosen Schritte aus der Bibliothek zu uns herangeschlichen.

»Als Lady Glyde jene übereilten Worte sprach,« fuhr er fort, »beging sie eine Ungerechtigkeit gegen mich, die ich beklage und vergebe. Lassen Sie uns des Gegenstandes nie wieder erwähnen, Miß Halcombe.«

»Sie sind sehr freundlich,« sagte ich, »es ist mir eine unbeschreibliche Erleichterung –«

Ich wollte fortfahren, aber seine Augen waren auf mich geheftet; sein tödliches Lächeln, das Alles verbirgt, lag fest und hart auf seinem großen glatten Gesichte. Die Ahnung, die ich von seiner unergründlichen Falschheit hatte, das Gefühl meiner Erniedrigung, indem ich mich herabließ, zu versuchen, ihn und seine Frau mit uns auszusöhnen, dies Alles drückte und verwirrte mich dergestalt, daß mir die nächsten Worte auf den Lippen erstarben.

»Ich bitte Sie auf meinen Knieen, Miß Halcombe, kein Wort weiter darüber zu sagen – es ist mir ernstlich schmerzlich, daß Sie es für nothwendig hielten, überhaupt etwas darüber zu erwähnen.« Mit diesen höflichen Worten ergriff er meine Hand und führte sie an seine giftigen Lippen. Noch nie bis zu diesem Augenblicke war ich mir meines ganzen Widerwillens gegen ihn bewußt geworden. Diese harmlose Vertraulichkeit machte mein Blut kochen, als ob es die größte Beschimpfung gewesen wäre, die ein Mann mir hätte anthun können. Und dennoch verbarg ich ihm meinen Widerwillen.

Die tigerartige Eifersucht seiner Frau kam zu meiner Erlösung herbei. Ihre kalten blauen Augen fingen Feuer, ihre mattweißen Wangen erglühten und in einem Augenblicke sah sie um viele Jahre jünger aus.

»Graf!« sagte sie. »Die englischen Frauen verstehen dergleichen ausländische Höflichkeitsformen nicht.«

»Ich bitte um Vergebung, mein Engel! Die beste und theuerste aller englischen Frauen versteht sie.« Mit diesen Worten ließ er ruhig meine Hand sinken und erhob statt ihrer die seiner Frau an seine Lippen.

Ich eilte zurück die Treppe hinauf, um Zuflucht m meinem Zimmer zu suchen.

Ich hatte noch die Briefe an den Advocaten und an Mr. Fairlie zu schreiben und ich setzte mich daher, ohne einen Augenblick zu zögern, um mich mit ihnen zu beschäftigen. Es standen mir wenig Hilfsmittel zu Gebote – es gab durchaus Niemanden in der Nähe, auf den ich mich hätte verlassen können, außer mir. Sir Percival besaß weder Bekannte noch Verwandte in der Umgegend, deren Vermittlung ich hätte ansprechen können. Er stand den Familien seines Standes, die in seiner Nachbarschaft lebten, auf dem kältesten, in einigen Fällen auf dem feindseligsten Fuße gegenüber. Es blieb nur keine andere Wahl, als diese beiden zweifelhaften Briefe zu schreiben, und so schrieb ich sie denn.

Ich erwähnte gegen den Advocaten nichts über Anna Catherick, weil dieser Umstand mit einem Geheimnisse verknüpft war, das wir noch nicht aufklären konnten und dessen Erwähnung deshalb unnütz gewesen wäre. Ich überließ es meinem Correspondenten, Sir Percivals unerhörtes Betragen neuen Streitigkeiten über Geldfragen zuzuschreiben, und zog ihn ganz einfach über die Möglichkeit zu Rathe, wie Laura gerichtlicher Schutz zu verschaffen sein würde, sollte sich ihr Mann ihrem Wunsche, Blackwater Park auf eine Weile zu verlassen und mit mir nach Limmeridge zurückzukehren, widersetzen, Ich verwies ihn wegen der Einzelheiten dieses Arrangements an Mr. Fairlie und bat ihn dringend, in Lauras Namen, mit möglichst wenigem Zeitverluste zu handeln.

Dann kam der Brief an Mr. Fairlie. Ich schrieb ihm, indem ich die Sache in einem Lichte darstellte, von dem ich, wie ich schon Laura gesagt hatte, am ersten erwarten durfte, daß es ihn zum Handeln treiben werde; ich schloß ihm eine Abschrift meines Briefes an den Advocaten bei, damit er daraus entnehmen möge, wie ernstlicher Natur die Sache sei, und erklärte ihm, daß unser Uebersiedeln nach Limmeridge der einzige Vergleich sei, durch welchen man es verhindern könne, daß nicht das Gefahrvolle und Betrübende von Lauras gegenwärtiger Lage in kurzer Zeit auch ihren Onkel erreichte.

Als ich die beiden Briefe versiegelt und adressirt hatte, nahm ich sie mit mir zu Laura.

»Hat dich irgend Jemand belästigt?« frug ich, als sie mir die Thür öffnete.

»Es hat Niemand angeklopft,« entgegnete sie, »aber ich hörte Jemand im Vorzimmer.«

»War es ein Mann oder ein weibliches Wesen?«

»Letzteres. Ich hörte das Rauschen ihres Kleides.«

»Ein Rauschen wie von Seide?«

»Ja, wie Seide.«

Die Gräfin hatte offenbar draußen gelauscht.

»Was wurde aus dem Rauschen des Kleides, als du es nicht mehr im Vorzimmer hörtest?« frug ich. »Hörtest du es an deiner Wand den Korridor entlang gehen?«

»Ja. Ich verhielt mich ruhig und lauschte und hörte es ziemlich deutlich.«

»Nach welcher Richtung hin ging es?«

»Nach deinem Zimmer zu.«

Ich hatte nichts gehört; doch ich war sehr in meine Briefe vertieft gewesen; dabei schreibe ich mit schwerer Hand und einer Gänsefeder, welche geräuschvoll auf dem Papiere kratzt. Deshalb war es wahrscheinlicher, daß die Gräfin das Kratzen meiner Feder hörte, als daß ich das Rauschen ihres Kleides vernahm, wieder ein Grund, um meine Briefe nicht der Posttasche anzuvertrauen.

Laura sah, wie ich überlegte. »Noch mehr Schwierigkeiten!« sagte sie mit müder Stimme; »immer mehr Schwierigkeiten und Gefahren!«

»Keine Gefahren,« entgegnete ich, »ich denke darüber nach, wie ich die Briefe am sichersten in Fannys eigene Hände geben kann.«

»Du hast sie also wirklich geschrieben? O, Marianne, setze dich keiner Gefahr aus, ich bitte dich!«

»Nein, nein – sei ohne Furcht. Laß sehen, wie viel Uhr es ist?«

Es war ein Viertel vor sechs Uhr. Demnach hatte ich Zeit, nach der Dorfschenke zu eilen und noch vor Tische wieder zurück zu sein.

»Laß den Schlüssel umgedreht im Schlosse, Laura,« sagte ich, »und besorge nichts für mich. Falls man nach mir fragen sollte, so rufe durch die Thür und sage, daß ich auf einem Spaziergang aus bin. Muth, Liebe, morgen um diese Zeit wird bereits ein umsichtiger, zuverlässiger Mann für dich handeln. In Mr. Gilmore's Abwesenheit ist sein Kompagnon unser bester Freund.«

Als ich wieder allein war, schien es mir nach kurzer Ueberlegung rathsam, nicht in Hut und Shawl hinunter zu gehen, bis ich mich überzeugt habe, was im unteren Theile des Hauses vorgehe. Ich wußte noch nicht, ob Sir Percival im Hause oder draußen war.

Das Singen der Kanarienvögel in der Bibliothek und der Geruch von Tabaksrauch, welcher durch die offene Thür drang, sagten mir sogleich, wo der Graf sei. Als ich an der Thür vorüberschritt, blickte ich über meine Schulter und sah zu meinem Erstaunen, daß er mit seiner einnehmendsten Höflichkeit der Haushälterin die Gelehrigkeit seiner Vögel zeigte. Er mußte sie ausdrücklich dazu hereingeladen haben, denn sie hätte nie daran gedacht, unaufgefordert in die Bibliothek zu gehen, welchen Zweck konnte er hiebei haben?

Es war jedoch dies nicht der Augenblick, danach zu forschen. Ich sah mich zunächst nach der Gräfin um und fand sie auf ihrer Lieblingspromenade um den Fischteich herum. Mein einziger Zweck, indem ich sie anredete, war, zu erfahren, ob sie wisse, was aus Sir Percival geworden sei. Ich erwähnte seiner auf indirecte weise und nach einigen Umwegen und Ausflüchten von beiden Seiten sagte sie endlich, daß er ausgegangen sei.

»Welches Pferd hat er genommen?« frug ich in möglichst unbekümmertem Tone.

»Gar keins,« entgegnete sie. »Er ging vor zwei Stunden zu Fuße fort. Falls ich ihn recht verstand, so ging er, um fernere Nachforschungen über die Frau anzustellen – die Anna Catherick, glaube ich. Er scheint mir zu ihrer Wiederauffindung einen ganz übertriebenen Eifer an den Tag zu legen. Wissen Sie vielleicht, Miß Halcombe, ob ihr Wahnsinn ein gefährlicher ist?«

»Ich weiß es nicht, Gräfin.«

»Gehen Sie hinein?«

»Ja, ich denke wohl. Es wird bald Zeit sein, Mittagstoilette zu machen.«

Wir gingen zusammen in's Haus. Die Gräfin ging langsam in die Bibliothek und schloß die Thür hinter sich. Ich eilte, mir meinen Hut und meinen Shawl zu holen.

Als ich wieder über den Flur schritt, war hier Niemand zu sehen und das Singen der Vögel in der Bibliothek hatte aufgehört.

Auf meinem Wege nach dem Dorfe schritt ich so schnell dahin, als es mir in der Hitze möglich war, bis ich zu dem Kreuzwege kam, welcher in's Dorf führte und indem ich mich von Zeit zu Zeit umblickte, um zu sehen, ob mir auch Niemand folgte. Doch war auf der ganzen Straße nichts weiter hinter mir als ein leerer Frachtwagen. Als ich etwas aufmerksamer hinsah, schien es mir, als ob ich hin und wieder die Füße eines Mannes hinter dem Wagen hergehen sähe, der Fuhrmann selbst ging vorne bei seinen Pferden. Jener Theil des Weges aber, den ich eben hinter mir gelassen, war so eng, daß der Wagen auf beiden Seiten das Heckengesträuch streifte, und um mich von der Richtigkeit meiner Muthmaßung zu überzeugen, mußte ich warten, bis er an mir vorüber gefahren war. Doch schien es, daß ich mich getäuscht hatte, denn als der Wagen vorbei war, sah ich Niemanden auf dem ganzen Wege.

Ich langte, ohne sonst noch irgend etwas zu bemerken, im Wirthshause an und freute mich, zu sehen, daß die Wirthin Fanny mit der größten Freundlichkeit aufgenommen hatte. Man hatte ihr ein kleines Zimmer angewiesen, wo sie nicht durch das Geräusch der Schenkstube belästigt wurde, und außerdem ein sauberes kleines Schlafgemach im oberen Theile des Hauses. Bei meinem Anblicke brach sie wieder in Thränen aus und sagte, es sei zu schrecklich, so aus dem Hause und in die Welt hinausgeschickt zu werden, als ob sie sich eines unverzeihlichen Vergehens schuldig gemacht, während ihr doch von Niemandem etwas vorgeworfen werden konnte, und zwar von ihrem Herrn, welcher sie fortschickte, am allerwenigsten.

»Suche dich darüber hinwegzusetzen, Fanny,« sagte ich, »deine Herrin und ich werden deine Freundinnen bleiben und dafür sorgen, daß Niemand dir Schlimmes nachsagt. Jetzt höre mich an. Ich bin im Begriffe, dir eine Sache von größter Wichtigkeit anzuvertrauen. Ich wünsche, daß du mir diese beiden Briefe besorgst. Den, welcher die Postmarke trägt, wirst du morgen in London auf die Post geben. Den anderen aber, welcher an Mr. Fairlie adressirt ist, wirst du ihm selbst übergeben, sobald du in Limmeridge ankommst. Behalte beide Briefe bei dir und lasse sie dir von Niemandem abnehmen. Sie sind von der größten Wichtigkeit für das Wohl deiner Herrin.«

Fanny steckte die beiden Briefe in den Busen ihres Kleides und sagte: »Da sollen sie bleiben, Miß, bis ich mit ihnen thue, wie Sie mir befohlen haben.«

»Sieh ja zu, daß du morgen bei guter Zeit auf der Station bist,« fuhr ich fort, »und wenn du die Haushälterin in Limmeridge siehst, so grüße sie von mir und sage ihr, daß du in meinem Dienste bist, bis Lady Glyde dich wieder in den ihrigen nehmen kann, vielleicht sehen wir uns schon früher wieder, als du denkst. Also laß den Muth nicht sinken und verfehle nicht den Zug um sieben Uhr morgen Früh.«

»Danke, Miß, ich danke recht sehr. Bitte, wollen Sie so gut sein und mich Mylady empfehlen und ihr sagen, daß ich Alles so ordentlich machte, wie es mir in der kurzen Zeit möglich war. O, mein lieber Gott! wer wird sie nur heute zu Tische ankleiden? Es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke!«

Als ich zu Hause anlangte, blieb mir nur noch eine Viertelstunde, um Toilette zu machen und ein paar Worte Zu Laura zu sprechen, ehe ich zu Tische hinunter ginge.

»Die Briefe sind in Fannys Händen,« flüsterte ich durch die Thür ihr zu. »wirst du zu Tische hinunter kommen?«

»O nein, nein! Um Alles in der Welt nicht!«

»Ist irgend etwas vorgefallen? Ist Jemand bei dir gewesen?«

»Ja, soeben, Sir Percival –«

»Kam er herein?«

»Nein; er erschreckte mich, indem er heftig draußen an die Thür klopfte. Ich frug: wer ist da? und er antwortete: ›Hast du dich eines Besseren besonnen? Früher oder später will ich es doch noch aus dir herausbringen. Du weißt, wo Anna Catherick sich in diesem Augenblicke aufhält!‹ Gewiß, gewiß! sagte ich, ich weiß es nicht! ›Doch! du weißt es!‹ rief er zurück. ›Ich will dir schon deine Halsstarrigkeit austreiben, denk' an mich, ich hab's gesagt!‹ Und dann ging er fort, Marianne, vor kaum fünf Minuten!«

Er hatte sie also nicht gefunden, für diese Nacht wenigstens waren wir geborgen, er hatte sie noch nicht gefunden!

»Du gehst hinunter, Marianne? Komm' nach Tische wieder herauf!«

»Ja, ja. Beunruhige dich nicht, wenn ich erst spät kommen sollte, ich muß mich in Acht nehmen, keinen Anstoß zu geben, indem ich sie zu früh verlasse.«

Es wurde zu Tische geläutet und ich eilte hinunter.

Sir Percival führte die Gräfin zu Tische, und der Graf bot mir seinen Arm. Er sah roth und erhitzt aus und war nicht mit seiner üblichen Sorgfalt gekleidet, war auch er etwa vor Tische aus gewesen und erst spät zurückgekehrt? oder litt er bloß etwas mehr als gewöhnlich von der Hitze?

Doch sei dem wie ihm wolle, es war nicht daran zu zweifeln, daß ihn eine heimliche Sorge oder Unannehmlichkeit quäle, die er trotz all seiner Verstellungskunst nicht ganz verbergen konnte, während des ganzen Diners war er fast ebenso schweigsam wie Sir Percival und blickte von Zeit zu Zeit seine Frau mit einem Ausdrucke verstohlener Unruhe an. Die einzige gesellschaftliche Pflicht, welcher er mit seiner gewohnten Sorgfalt nachzukommen im Stande schien, war die seiner Höflichkeit und Artigkeit mir gegenüber. Ich kann immer noch nicht entdecken, welchen abscheulichen Zweck er im Auge hat – aber welcher Art er auch sei, unveränderliche Höflichkeit gegen mich, unveränderliche Ergebenheit gegen Laura und unveränderlicher Widerstand (auf jede Gefahr hin) gegen Sir Percivals beleidigende Heftigkeitsausbrüche sind die Mittel gewesen, deren er sich zur Erreichung seines Zweckes bedient hatte, seitdem er zuerst den Fuß in dies Haus setzte.

Als die Gräfin und ich den Tisch verließen, erhob sich der Graf ebenfalls, um uns nach dem Gesellschaftszimmer zu begleiten.

»Warum gehst du?« frug Sir Percival, » dich meine ich, Fosco.«

»Ich gehe, weil ich genug gespeist und getrunken habe,« entgegnete der Graf. »Sei so gütig, Percival, mich in Rücksicht auf meine ausländischen Gewohnheiten zu entschuldigen, wenn ich mit den Damen den Tisch verlasse, wie ich mit ihnen Platz daran genommen.«

»Unsinn! Ein Glas Bordeaux mehr wird dir keinen Schaden thun. Setze dich wieder her, ich habe eine halbe Stunde ruhig mit dir zu sprechen und wir können das beim Weine thun.«

»Ich will mich mit Vergnügen ruhig mit dir unterhalten, nur nicht jetzt und nicht beim Weine. Später, wenn dir's beliebt, später.«

»Sehr höflich!« sagte Sir Percival mit einem wüthenden Blicke, »sehr höfliches Benehmen, wahrhaftig, gegen einen Mann, bei dem man sich als Gast aufhält!«

Ich hatte ihn, während wir bei Tische saßen, den Grafen zu wiederholten Malen unruhig anblicken sehen und dabei bemerkt, daß der Graf seinen Blicken sorgfältig zu begegnen vermied. Dieser Umstand, gepaart mit Sir Percivals Wunsche, sich ungestört mit dem Grafen zu unterhalten und des letzteren hartnäckige Weigerung, sich wieder zu ihm zu setzen, riefen mir Sir Percivals Bitte von heute Nachmittag an seinen Freund, aus der Bibliothek zu ihm zu kommen, da er mit ihm zu sprechen habe, wieder in's Gedächtnis. Der Graf hatte die Erfüllung dieser Bitte um eine ungestörte Unterhaltung schon Nachmittags verschoben und jetzt, da sie zum zweiten Mal an ihn gerichtet wurde, verschob er sie abermals, was immer der Gegenstand der beabsichtigten Unterredung sein mochte, für Sir Percival war derselbe jedenfalls von Wichtigkeit und nach des Grafen Ansicht vielleicht gar ein gefährlicher, wenn man nach seinem offenbaren widerstreben, sich ihm zu nähern, urtheilen durfte.

Der Graf begleitete uns an den Theetisch, ging dann in den Vorsaal hinaus und kehrte mit der Posttasche in der Hand zurück. Es war gerade acht Uhr, die Stunde, um welche die Briefe von Blackwater Park abgesandt wurden.

»Haben Sie Briefe für die Post, Miß Halcombe?« frug er, mit der Posttasche zu mir hintretend.

Ich sah, wie die Gräfin, die den Thee machte, mit der Zuckerzange in der Hand still stand und auf meine Antwort lauschte.

»Nein, Graf, ich danke Ihnen. Ich habe heute keine Briefe.«

Er gab dem Diener, der eben in die Stube trat, die Tasche, setzte sich an's Klavier und wiederholte zweimal die Melodie eines neapolitanischen Straßenliedes: » La mia Carolina«. Seine Frau, deren Bewegungen für gewöhnlich von der allergemessensten Art waren, machte den Thee so schnell, wie ich selbst ihn gemacht hätte, trank ihre Tasse in zwei Minuten und glitt leicht aus dem Zimmer.

Ich stand auf, um ihr zu folgen; theils, weil ich sie im verdacht hatte, daß sie irgend einen Verrath gegen Laura auszuüben im Sinne habe und theils, weil ich entschlossen war, nicht mit ihrem Mann allein im Zimmer zu bleiben.

Ehe ich noch die Thür erreichen konnte, rief der Graf mich durch die Bitte um eine Tasse Thee zurück. Ich reichte ihm dieselbe und versuchte wieder zu gehen. Er hielt mich abermals davon ab, diesmal, indem er plötzlich an's Klavier zurückkehrte und eine musikalische Frage an mich richtete, die, wie er behauptete, die Ehre seines Landes betraf.

Ich berief mich vergebens auf meine totale Unkenntnis und meinen totalen Mangel an Urtheil in solchen Sachen. Er wiederholte seine Rede bloß mit einer Heftigkeit, die jedem Widerstande von meiner Seite Trotz bot. Die Engländer und die Deutschen (erklärte er mit Entrüstung) schmähten stets die Italiener und beschuldigten sie, keine Musik höheren Ranges produciren zu können. Ob ich den Moses in Aegypten gehört habe? Wollte ich nur dies und dies und dies anhören und ihm dann sagen, ob je ein Sterblicher etwas Erhabeneres und Großartigeres componirt habe? Und mir fortwährend in's Gesicht sehend, griff er in das Instrument und sang mit lauter und hoher Begeisterung. Das Clavier erbebte unter seinen gewaltigen Händen, und die Theetassen tanzten auf dem Tische, als seine mächtige Baßstimme die Melodien donnerte und sein schwerer Fuß den Takt dazu stampfte.

Es lag etwas wahrhaft wildes und Dämonisches in dem Ausbruche seines Entzückens über seinen eigenen Gesang und sein Spiel. Endlich aber wurde ich erlöst durch Sir Percivals Dazwischenkunft. Er öffnete die Thür des Eßzimmers und rief zornig hinein, »was der verwünschte Lärm bedeuten solle«. Der Graf erhob sich augenblicklich vom Clavier. »Ah! wenn Percival kommt,« sagte er, »so hat sowohl Harmonie wie Melodie ein Ende. Die Muse der Musik flieht voll Entsetzen, und ich, der dicke alte Troubadour, athme den Rest meiner Begeisterung in der freien Luft aus!« Er schritt auf die Veranda hinaus und wiederholte draußen im Garten mit leiser Stimme Moses' Recitativ.

Ich hörte, wie Sir Percival ihm durch das Fenster des Eßzimmers zurief. Aber er beachtete es nicht. Die lange verschobene Unterredung sollte noch immer verschoben bleiben, es sollte gewartet werden, bis es dem Grafen belieben würde, sie zu genehmigen.

Er hatte mich beinahe eine halbe Stunde von dem Augenblicke, wo seine Frau uns verlassen, im Salon zurückgehalten, wo war sie inzwischen gewesen und was hatte sie gethan?

Ich ging hinauf, um mich davon zu überzeugen, doch entdeckte ich nichts, und als ich Laura frug, fand ich, daß auch sie nichts gehört hatte, weder im Vorzimmer noch im Corridor.

Nachdem ich in mein Zimmer gegangen, um mein Tagebuch zu holen, kehrte ich zu Laura zurück, wo ich schrieb und von Zeit zu Zeit innehielt, um mit ihr zu reden. Es störte uns Niemand, wir blieben bis zehn Uhr zusammen. Dann stand ich auf und wünschte ihr gute Nacht. Sie verschloß ihre Thür wieder, nachdem wir übereingekommen waren, daß ich morgen, sobald ich aufgestanden, gleich zu ihr kommen solle.

Ich hatte noch einige wenige Sätze zu dem bereits in meinem Tagebuche Eingetragenen hinzuzufügen und als ich in den Salon hinunterging, beschloß ich, mich dort nur zu zeigen, um meine Entschuldigung zu machen, indem ich mich heute eine Stunde früher als gewöhnlich zurückzöge.

»Ich fürchte, Sie befinden sich nicht ganz so wohl, wie gewöhnlich, Gräfin?« sagte ich.

»Ganz dieselbe Bemerkung, die ich von Ihnen zu machen im Begriffe war, meine Liebe,« entgegnete sie.

Meine Liebe! Es war das erste Mal, daß sie sich dieses vertraulichen Ausdruckes gegen mich bediente! Auch lauerte in ihren Zügen ein impertinentes lächeln, als sie sprach.

»Ich habe mein böses Kopfweh,« sagte ich kalt.

»Sie machen wahrscheinlich nicht Bewegung genug? Ein Spaziergang vor Tische würde Ihnen gewiß gut gethan haben.« Sie sprach dies mit seltsamem Nachdrucke. Hatte sie mich etwa ausgehen sehen? Einerlei – die Briefe waren jetzt sicher in Fannys Händen.

»Komm' und laß uns eine Cigarre zusammen rauchen, Fosco,« sagte Sir Percival aufstehend und sah mit wiederholtem unruhigen Blicke auf seinen Freund.

»Mit Vergnügen, Percival, sobald die Damen sich zurückgezogen haben werden,« entgegnete der Graf.

Ich verabschiedete mich. Als ich der Gräfin die Hand gab, sah ich dasselbe impertinente Lächeln in ihrem Gesicht. Sir Percival nahm keine Notiz von mir. Er blickte ungeduldig nach der Gräfin, die keine Anstalten machte, das Zimmer mit mir zu verlasse». Der Graf lächelte hinter seinem Buche vor sich hin. Die ungestörte Unterredung mit Sir Percival war nochmals verschoben und die Gräfin war diesmal das Hindernis.

Sobald ich in meinem Zimmer anlangte, öffnete ich diese Blätter und schickte mich an, den mir noch übrig bleibenden Theil meines Tagesberichtes niederzuschreiben.

Als ich meine Aufgabe beginnen wollte, wurde mir dies so schwer, wie es noch nie zuvor der Fall gewesen war, und es blieb mir nichts Anderes übrig, als mein Tagebuch zu schließen und es eine kleine Weile ruhen zu lassen.

Ich öffnete die Thür, welche von meinem Schlafzimmer in mein Wohnzimmer führte, und zog sie wieder hinter mir zu, um, da das Licht auf meinem Toilettentische brannte, etwaiger Feuersgefahr, welche durch den Zug entstanden wäre, vorzubeugen. Das Fenster in meiner Wohnstube war offen und ich lehnte mich gedankenlos hinaus, um in die Nacht zu schauen.

Alles war dunkel und stille. Es waren weder Mond noch Sterne sichtbar. In der stillen schweren Luft war ein Geruch wie von bevorstehendem Regen.

Eben als ich im Begriffe war, mich vom Fenster abzuwenden und in mein Schlafzimmer zurückzukehren, verspürte ich plötzlich einen Tabaksgeruch, der sich auf der schweren Nachtluft zu mir emporstahl.

Im nächsten Augenblicke sah ich in der dichten Finsternis einen kleinen rothen Funken von: anderen Ende des Hauses herkommen. Ich hörte keine Schritte und konnte nichts weiter sehen, als den Funken. Dieser wanderte an dem Fenster vorüber, an welchem ich stand und blieb dem meines Schlafzimmers gegenüber stehen, wo ich das Licht auf meinem Toilettentische hatte brennen lassen.

Der Funken blieb einen Augenblick unbeweglich, dann bewegte er sich nach derselben Richtung hin zurück, in der er gekommen war. Als ich ihm mit den Augen folgte, sah ich einen zweiten rothen Funken, etwas größer als den ersten, aus der Ferne herankommen. Beide begegneten sich in der Dunkelheit. Indem ich mich erinnerte, wer Zigarren und wer Zigaretten rauchte, schloß ich augenblicklich, daß der Graf zuerst herausgekommen, um unter meinem Fenster zu beobachten und zu horchen, und daß Sir Percival ihm später gefolgt sei. Sie mußten Beide auf dem Rasen gegangen sein, sonst hätte ich sicher Sir Percivals schwere Schritte hören müssen, obgleich des Grafen leichter Tritt meinem Ohre selbst auf dem Kieswege hatte entgehen können.

Ich wartete ruhig am Fenster, überzeugt, daß sie mich in der Dunkelheit des Zimmers nicht sehen würden.

»Was gibt's?« hörte ich Sir Percival mit leiser Stimme sagen, »warum kommst du nicht herein und setzest dich ruhig zu mir?«

»Ich muß das Licht in diesem Zimmer da erst auslöschen sehen,« entgegnete der Graf leise.

»Was kann dir das Licht schaden?«

»Es beweist, daß sie noch nicht zu Bette gegangen ist. Sie ist schlau genug, um etwas zu argwöhnen, und verwegen genug, um herunterzukommen und zu horchen. Geduld, Percival, Geduld!«

»Unsinn! Mit deinem ewigen Geschwätz von Geduld!«

»Ich werde in wenigen Minuten von etwas Anderem reden. Mein guter Freund, du stehst am Rande deines häuslichen Abgrundes und falls ich es zulasse, daß du den Frauen noch eine einzige Gelegenheit gibst, auf mein heiliges Ehrenwort! da werden sie dich hinabstoßen.«

»Was zum Henker willst du damit sagen?«

»Wir wollen unsere Erklärungen anfangen, Percival, sobald das Licht da aus dem Fenster verschwunden sein wird und ich einen kleinen Blick in die Stuben zu beiden Seiten der Bibliothek und auf die Treppe geworfen habe.«

Sie bewegten sich langsam fort, und ihre Unterhaltung (welche durchwegs in demselben leisen Tone geführt worden) wurde mir unhörbar. Ich hatte genug gehört, um den Entschluß zu fassen, des Grafen Meinung von meiner Schlauheit und Verwegenheit zu rechtfertigen. Ehe mir noch die beiden rothen Funken aus dem Gesichte waren, hatte ich bereits bei mir selbst bestimmt, daß jene Beiden bei ihrer Unterhaltung einen Zuhörer haben sollten und daß, ungeachtet aller Vorsichtsmaßregeln des Grafen, dies zu verhüten, ich selbst dieser Zeuge sein werde. Lauras Ehre, Lauras Glück und vielleicht Lauras Leben sogar mochten in dieser Nacht von meinem scharfen Gehöre und meinem treuen Gedächtnisse abhängen.

Ich hatte den Grafen sagen hören, daß er die Zimmer zu beiden Seiten der Bibliothek sowohl, wie die Treppe untersuchen werde, ehe er sich mit Sir Percival auf Erklärungen einließe. Dies genügte natürlich, um mich seine Absicht verstehen zu lassen, daß er nämlich die Bibliothek als den Ort für die bevorstehende Unterredung gewählt hatte. Die eine Minute, in der ich zu diesem Schlüsse gekommen, hatte genügt, mir auch zugleich das Mittel zu zeigen, wie ich würde hören können, was er mit Sir Percival sprach, ohne überhaupt in den unteren Theil des Hauses hinunter zu gehen.

An die Zimmer im Erdgeschosse stieß eine Veranda, auf die man vermittelst französischer Fenster (oder Flügelfenster) hinaustrat, welche bis auf den Boden reichten. Das Dach dieser Veranda war ein flaches und das Regenwasser wurde durch Röhren davon ab und in Gruben geleitet. Auf dem schmalen Bleidache, welches sich vor den Schlafstuben hinzog und das etwas weniger als drei Fuß unter den Fenstern lag, stand eine Reihe von Blumentöpfen in großen Zwischenräumen aufgestellt, welche durch ein Eisengitter am Rande des Daches davor geschützt war, vom Winde umgeworfen zu werden.

Der Plan, der mir nun eingefallen, war: durch mein Wohnstubenfenster auf dieses Dach zu steigen, geräuschlos darauf entlang zu schleichen, bis ich an die Stelle kam, die sich unmittelbar über dem Bibliothekzimmer befand und dann zwischen den Blumentöpfen und mit dem Ohre am Eisengitter niederzukauern. Falls Sir Percival und der Graf sich heute Abend zum Rauchen hinsetzten, wie ich sie schon manchen Abend hatte sitzen sehen, nämlich dicht an den offenen Fenstern, wobei ihre Füße an den gußeisernen Gartensesseln ruhten, welche in der Veranda standen, so mußte jedes Wort, das sie lauter als im Flüstertone miteinander sprachen (und jeder Mensch weiß, daß eine lange Unterhaltung nicht im Flüstertone fortgesetzt werden kann) unfehlbar bis zu meinen Ohren dringen. Sollten sie aber heute Abend mehr im Innern des Zimmers sitzen, so hatte ich Aussicht, wenig oder nichts zu hören und mußte in diesem Falle die weit ernstlichere Gefahr laufen, sie unten zu überlisten zu suchen.

Mein Muth verließ mich beinahe, als ich daran dachte, mich in stiller Nacht in's Erdgeschoß hinunter zu wagen und der Möglichkeit auszusetzen, von Sir Percival und dem Grafen überrascht zu werden.

Ich kehrte leise in mein Schlafzimmer zurück, um das weniger gefährliche Experiment auf dem Dache der Veranda zuerst zu versuchen.

Ich legte mein seidenes Kleid ab, weil das geringste Rauschen desselben mich in der stillen Nacht verrathen hätte; an Stelle der weißen und schwerfälligen Unterkleider zog ich einen Rock von dunklem Wollenzeuge an und darüber einen dunklen Reisemantel, dessen Kappe ich über den Kopf zog. Der geringe Raum auf dem Dache der Veranda zwischen den Blumentöpfen und den Fenstern des Hauses machte dies zur unerläßlichen Bedingung, wer konnte sagen, was die Folgen sein würden, falls ich irgend etwas umstieß oder das geringste Geräusch machte?

Nachdem ich Zündhölzchen neben das Licht gestellt, löschte ich dasselbe aus und schlich im Finstern wieder in mein Wohnzimmer zurück. Ich verschloß die Thür, wie ich schon die meines Schlafzimmers verschlossen hatte, dann stieg ich leise aus dem Fenster und setzte die Füße vorsichtig auf die Bleiplatten der Veranda. Meine beiden Zimmer lagen an dem inneren Ende des neuen Flügels, welchen wir Alle bewohnten, und ich mußte an fünf Fenstern vorbei, um zu der Stelle zu gelangen, die unmittelbar über der Bibliothek lag. Das erste Fenster war das eines Fremdenzimmers, welches augenblicklich unbewohnt war. Die beiden nächstfolgenden gehörten zu Lauras, das vierte zu Sir Percivals und das fünfte zum Zimmer der Gräfin. Die übrigen, an denen ich nicht mehr vorbei zu gehen brauchte, waren die Fenster in des Grafen Ankleidezimmer, der Badestube und der zweiten leeren Fremdenstube.

Kein Laut ließ sich vernehmen – tiefe Finsternis umgab mich, als ich die Füße auf die Veranda gesetzt hatte, ausgenommen an der Stelle, über welcher das Fenster der Gräfin lag. Da, gerade an der Stelle über der Bibliothek, wo ich meinen Posten nehmen mußte, gerade da sah ich einen Lichtstrahl. Die Gräfin war noch nicht zu Bette gegangen.

Ich beschloß, meiner Vorsicht und der Dunkelheit der Nacht zu vertrauen. »Es geschieht für Laura!« dachte ich bei mir selbst, indem ich den ersten Schritt auf dem Dache vorwärts that, wobei ich mit der einen Hand meinen Mantel fest um mich hielt und mit der anderen meinen Weg an der Wand entlang fühlte.

Ich ging an dem dunklen Fenster des Fremdenzimmers vorüber, dann kam ich an Lauras dunklem Fenster vorbei (»o, Gott, segne sie und erhalte sie in dieser Nacht!«) und dann an Sir Percivals dunklem Fenster. Dann aber kniete ich nieder, stützte mich mit den Händen auf den Boden und kroch so unter dem Schutze der niedrigen Mauer zwischen dem Dache der Veranda und dem hellen Fenster unter dem letzteren dahin.

Als ich zum Fenster hinauf zu blicken wagte, sah ich, daß nur das obere Fenster offen und das Rouleau inwendig herabgelassen war. Während ich noch hinschaute, sah ich den Schatten der Gräfin auf dem weißen Felde des Rouleaus vorübergleiten und dann langsam wieder zurückschweben.

Ich stellte mich mit der Seite gegen das Eisengitter, nachdem ich mich zuvor von der Stellung der Blumentöpfe unterrichtet hatte. Es war gerade Raum genug, daß ich zwischen ihnen niederkauern konnte. Die duftenden Blüthen zu meiner sinken streiften mein Gesicht, als ich leise den Kopf an das Gitter legte.

Die ersten Laute, welche von unten zu mir heraufdrangen, wurden durch Oeffnen oder durch Schließen (wahrscheinlich das letztere) dreier Thüren nacheinander verursacht – ohne Zweifel der des Vorsaals und der zwei anderen, die von der Bibliothek in die daneben liegenden Zimmer führten, welche der Graf sich zu untersuchen anheischig gemacht hatte. Das Nächste, was ich sah, war wieder der Funke, welcher abermals in der Dunkelheit unter der Veranda hervorkam, nach meinem Fenster hin schwebte, einen Augenblick dort wartete und dann zu der Stelle zurückkehrte, von welcher er ausgegangen war.

»Zum Henker mit deiner Unruhe! Wann gedenkst du dich einmal zu setzen?« brummte Sir Percivals Stimme unter mir.

»Puh! Welch eine Hitze!« sagte der Graf mit einem Seufzer der Erschöpfung.

Seinem Ausrufe folgte das Knirschen der Gartenstühle auf dem Pflaster der Veranda, welches aus Kieselsteinen besteht – ein willkommenes Geräusch, das mir sagte, daß sie sich, wie gewöhnlich, dicht an's Fenster zu setzen im Begriff waren. Bis hierher war das Glück mir günstig. Die Uhr im Thurme schlug ein Viertel vor zwölf, als sie sich auf ihren Plätzen niederließen. Ich hörte durch's Fenster, wie die Gräfin gähnte und sah dann ihren Schatten nochmals auf dem weißen Felde des Rouleaus hinschweben.

Inzwischen fingen Sir Percival und der Graf unten ihre Unterhaltung an, indem ihre Stimmen hin und wieder etwas leiser wurden, aber nie bis zum Flüstern sanken. Sir Percival warf seinem Freund vor, den ganzen Tag auf die unverantwortlichste Weise seine Wünsche unberücksichtigt gelassen zu haben, wogegen der Graf erklärte, daß er von gewissen Unruhen und Besorgnissen erfüllt gewesen, die seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hätten, und daß seiner Ansicht nach die einzige sichere Zeit zu einer Unterredung zwischen ihnen die sei, wo sie weder Störer noch Lauscher zu befürchten hätten, »Wir stehen vor einer wichtigen Krisis in unseren Angelegenheiten, Percival,« sagte der Graf, »und wenn wir überhaupt einen Entschuß über die Zukunft fassen wollen, so muß dies in dieser Nacht geschehen.«

»Krisis?« wiederholte Sir Percival, »Ja und zwar eine schlimmere Krisis, als du dir denkst, kann ich dir sagen!«

»So sollte man nach deinem Betragen während der letzten paar Tage allerdings vermuthen,« entgegnete der Andere trocken. »Aber ehe wir zu dem schreiten, was ich nicht weiß, laß uns ganz klar darüber sein, was ich weiß. Laß uns erst sehen, ob ich in Bezug auf die Vergangenheit vollkommen unterrichtet bin, ehe ich dir Vorschläge über die Zukunft mache. Ich will dir unsere Lage so klar vorlegen, wie ich sie verstehe, und dann sollst du mir sagen, ob ich Recht oder Unrecht habe, wir Beide kehrten vom Festlande in dieses Haus zurück in Geldverlegenheiten sehr ernster Natur –«

»Mach's kurz!« Ich brauchte einige Tausende und du einige Hunderte und ohne das Geld hätten wir Beide die schönste Aussicht, schmählich auf den Hund zu kommen. Das ist unsere Lage.«

»Nun gut, Percival, wie du dich ausdrückst: du brauchtest einige Tausende und ich einige Hunderte, und die einzige Art und Weise, sie zu erhalten, war die, das Geld mit Hilfe deiner Frau aufzunehmen. Was habe ich dir auf unserem Heimwege nach England über deine Frau gesagt? und was habe ich dir gesagt, als wir hierher kamen und ich selbst im Stande war zu beurtheilen, was für eine Art von Charakter Miß Halcombe sei?«

»Was weiß ich davon? Du hast natürlich wie gewöhnlich Alles in Grund und Boden geschwatzt.«

»Ich sagte dies: der menschliche Scharfsinn, mein Freund, hat bis dato erst zweierlei Wesen entdeckt, in denen ein Mann ein Weib regieren kann. Die eine derselben besteht darin, sie zu Boden zu schlagen, eine Methode, die unter der brutalen niederen Classe des Volkes großen Anklang findet, den höheren und gebildeten Ständen aber im höchsten Grade ein Greuel ist. Die andere Weise (die viel langsamer, viel schwieriger ist, aber nichtsdestoweniger ebenso sicher zum Ziels führt) ist die, sich niemals durch ein Weib aufreizen zu lassen. Ruhige Entschlossenheit ist diejenige Eigenschaft, die den Frauen fehlt. Sowie es ihnen gelingt, diese überlegene Eigenschaft in ihrem Meister zu erschüttern, so bemeistern sie ihn. Falls ihnen aber dies niemals gelingt, so regiert er sie. Ich sagte zu dir: Denke an diese einfache Wahrheit, wenn du dir durch deine Frau das Geld verschaffen lassen willst. Ich sagte: Denke doppelt und dreifach daran in Gegenwart von Miß Halcombe. Hast du daran gedacht? Nicht ein einziges Mal! Du hast keine Gelegenheit unbenutzt vorübergehen lassen, dich von deiner Frau oder Miß Halcombe reizen zu lassen. Durch deine tolle Heftigkeit verlorst du die Unterschrift zum Documente, verlorst das baare Geld, triebst Miß Halcombe das erste Mal, an ihren Advocaten zu schreiben –«

»Das erste Mal? was willst du damit sagen?«

»Dies: Miß Halcombe hat heute zum zweiten Male an den Advocaten geschrieben.«

Unten auf dem Pflaster der Veranda fiel ein Stuhl um – mit einem Krachen, als ob er wüthend umgestoßen worden. Es war ein Glück für mich, daß des Grafen Mittheilung Sir Percival in diesem Grade in Wuth versetzte, denn als ich hörte, daß ich abermals verrathen, fuhr ich dermaßen zusammen, daß das Gitter, an das ich mich lehnte, laut krachte. Wie in des Himmels Namen, hatte er dies erfahren? Die Briefe hatten meine Tasche keine Secunde verlassen, bis ich sie im Wirthshause Fannys Händen übergab.

»Du kannst deinem Glücksterne danken, daß du mich im Hause hast,« hörte ich den Grafen sagen, »um das Unheil ebenso schnell wieder gut zu machen, wie du es anrichtest. Danke deinem Glückssterne, daß ich Nein sagte, als du tollerweise davon sprachst, Miß Halcombe einzusperren, wie du in deiner unheilvollen Narrheit schon deine Frau eingesperrt hattest. Wo hast du deine Augen? Kannst du Miß Halcombe anschauen und nicht sehen, daß sie die Entschlossenheit und Umsicht eines Mannes besitzt? Hätte ich das Weib zur Freundin, da schlüge ich der ganzen Welt ein Schnippchen. Und dieses süperbe Weib – ich trinke ihr Wohlsein hiemit in Zuckerwasser – dieses süperbe Weib, das in der Kraft seiner Liebe und seines Muthes fest wie ein Felsen zwischen uns Beiden und deiner erbärmlichen, hübschen Blondine von Frau steht – dieses herrliche Wesen, das ich von ganzer Seele bewundere, obgleich ich ihm entgegenarbeite, treibst du auf's Aeußerste, als ob es um nichts schlauer oder kühner wäre als die Uebrigen seines Geschlechtes, Percival! Percival! Du verdienst, daß es dir mißlänge, und es ist dir mißlungen.«

Es trat eine Pause ein. Ich schreibe des Elenden Worte über mich selbst, weil ich noch auf den Tag hoffe, an welchem ich sie ihm werde in die Zähne zurückwerfen können.

»Du magst bramarbasiren und poltern, soviel du Lust hast,« sagte Sir Percival mürrisch, »die Geldverlegenheit ist nicht unsere einzige Schwierigkeit. Du würdest ebenfalls für strenge Maßregeln mit den Weibern sein, wenn du wüßtest, was ich weiß.«

»Wir wollen seiner Zeit auch auf diese zweite Schwierigkeit kommen,« fuhr der Graf fort. »Laß uns zuerst die Geldfrage erledigen. Habe ich dir's klar gemacht, daß deine Heftigkeit dir nichts helfen wird?«

»Bah! Es ist leicht genug, über mich zu schelten. Sage lieber, was dabei zu thun ist.«

»Bah! Dies ist dabei zu machen: Du gibst von heute Abend an die ganze Leitung der Sache in meine Hände. Nun, was sagst du dazu?«

»Was kannst du thun, falls ich es dir überlasse?«

»Erlaube mir erst ein paar Fragen, Percival, ich muß ein wenig warten, um mich durch die Umstände leiten zu lassen, und muß nach jeder Richtung hin wissen, welcher Art diese Umstände wahrscheinlicherweise sein können. Ich habe dir bereits gesagt, daß Miß Halcombe heute schon zum zweiten Male an den Advocaten geschrieben hat.«

»Wie kamst du dahinter? Was schrieb sie ihm?«

»Wenn ich dir das erzählte, Percival, so würden wir am Ende nur zu dem Punkte zurückkommen, an dem wir jetzt stehen. Genüge es, daß ich dahinter gekommen bin, und die Mittel hiezu waren es, die mich den ganzen Tag mit Besorgnis erfüllten und zugleich mich dir so unzugänglich machten. Jetzt aber gilt es, mein Gedächtnis in Bezug auf deine Angelegenheiten aufzufrischen, es ist schon ziemlich lange her, daß ich mit dir darüber sprach. Das Geld ist in Ermanglung der Unterschrift von deiner Frau vermittelst Wechsel, die in drei Monaten fällig werden, aufgenommen worden, und zwar mit einem Verluste, daß sich bei dem Gedanken daran mein armes Haar sträubt! Wenn nun diese Wechsel fällig werden, gibt es dann wirklich kein anderes Mittel für dich, sie zu bezahlen, als mit Hilfe deiner Frau?« »Keins.« »Was! Hast du gar kein Geld bei deinem Banquier?«

»Ein paar hundert Pfund, für die ich geradeso viele Tausend gebrauche.«

»Hast du keine einzige andere Sicherheit zu bieten, auf die du borgen könntest?« »Keinen Fetzen!«

»Was hast du in der Wirklichkeit augenblicklich mit deiner Frau bekommen.«

»Nichts als die Zinsen von ihren zwanzigtausend Pfund – kaum genug für unsere täglichen Ausgaben.«

»Was hast du noch von ihr zu erwarten?«

»Dreitausend Pfund jährliche Renten, wenn ihr Onkel stirbt.«

»Ein hübsches Vermögen, Percival. was für eine Art von Mensch ist dieser Onkel? Alt?«

»Nein – weder alt noch jung. Er ist ein kläglicher, egoistischer Narr und langweilt alle Leute, die ihm zu nahe kommen, mit seinem Gesundheitszustande zu Tode.«

»Die Art Leute leben lange, Percival, und wenn man es am wenigsten erwartet, heiratet er aus reiner Bosheit. Ich gebe dir nicht viel für deine Aussicht auf die drei Tausend des Jahres, mein Freund. Bringt deine Frau dir sonst nichts mit?«

»Nichts, ausgenommen, falls sie stirbt.«

»Aha! falls sie stirbt also?«

Es trat nochmals eine Pause ein. Der Graf trat von der Veranda auf den Kiesweg hinaus. Ich konnte dies nach seiner Stimme beurtheilen. »Da ist endlich der Regen,« hörte ich ihn sagen. In der That, es hatte zu regnen angefangen. Der Zustand meines Mantels bewies nur, daß es bereits eine kleine Weile ziemlich heftig geregnet haben mußte.

.

 << zurück