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XVIII.

In dem matten Schimmer des Lichtes, welches die Magd mit aus der Küche gebracht hatte, sah ich eine ältliche Dame geräuschlos das Hinterzimmer des Erdgeschosses verlassen. Sie warf mir einen einzigen Natternblick zu, als ich in den Flur trat, sagte jedoch nichts, sondern ging langsam und ohne meinen Gruß zu erwidern die Treppe hinauf. Ich war durch meine Bekanntschaft mit Mariannens Tagebuchs hinlänglich überzeugt, daß diese ältliche Dame die Gräfin Fosco sei.

Die Magd führte mich nach dem Zimmer, welches die Gräfin soeben verlassen hatte. Ich trat ein und stand dem Grafen gegenüber.

Er war noch in seiner Abendtoilette, ausgenommen, daß er seinen Rock ausgezogen hatte. Seine Hemdärmel waren am Handgelenke umgekrämpt, aber nur wenig. Zur einen Seite von ihm stand ein Nachtsack, Zur anderen ein Reisekoffer. Bücher, Papiere und Kleidungsstücke lagen zerstreut im Zimmer umher. Auf einem Tische zur einen Seite der Thür stand eine Pagode, die mir der Beschreibung nach bekannt war und die seine weißen Mäuse enthielt. Die Kanarienvögel und der Kakadu waren wahrscheinlich in einem anderen Zimmer. Als ich eintrat, saß er vor dem Reisekoffer, welchen er packte, und stand mit einigen Papieren in der Hand auf, um mich zu empfangen. Sein Gesicht zeigte noch deutliche Spuren von der Erschütterung, welche ihn in der Oper überwältigt hatte. Seine großen Wangen hingen welk, seine kalten grauen Augen blickten mit verstohlener Wachsamkeit, seine Stimme, sein Blick und sein Wesen waren alle gleich argwöhnisch, als er mir einen Schritt entgegenkam und mich mit zurückhaltender Höflichkeit ersuchte, Platz zu nehmen.

»Sie kommen in Geschäften, Sir?« sagte er. »Ich kann nicht errathen, welcher Art dieselben sein können.«

Die unverhohlene Neugier, mit der er mir, während er sprach, fest in's Gesicht blickte, überzeugte mich, daß er mich in der Oper nicht bemerkt hatte. Er hatte Pesca zuerst erblickt und offenbar von diesem Augenblicke an bis zu dem, wo er das Theater verließ, nichts weiter gesehen als ihn. Mein Name mußte ihn natürlich darauf gefaßt machen, daß mich kein anderer als ein feindlicher Zweck in sein Haus brachte – aber er schien bis hieher vollkommen im Unklaren über den wirklichen Zweck meines Besuches.

»Ich habe Glück, indem ich Sie heute Abend noch hier finde,« sagte ich, »Sie scheinen im Begriffe zu sein, eine Reise zu machen.«

»Haben Ihre Geschäfte mit meiner Reise zu thun?«

»In gewisser Beziehung, ja.«

»In welcher Beziehung? Wissen Sie, wohin ich reise?«

»Nein. Ich weiß bloß, warum Sie London verlassen.«

Er schlüpfte mit Blitzesschnelle an mir vorüber, verschloß die Thür und steckte den Schlüssel in die Tasche.

»Sie und ich, Mr. Hartright,« sagte er, »sind dem Rufe nach sehr wohl miteinander bekannt. Ist es Ihnen zufällig eingefallen, als Sie nach diesem Hause kamen, daß ich nicht ein Mann sei, mit dem Sie Ihr Spiel würden treiben können?«

»Allerdings,« entgegnete ich, »und ich bin durchaus nicht dazu hergekommen. Ich bin hier in einer Sache über Leben und Tod – und wäre jene Thür, die Sie soeben verschlossen, offen, so würde mich nichts, das Sie zu sagen oder zu thun im Stande wären, bewegen können, dieses Zimmer zu verlassen.«

Ich trat weiter in das Innere des Zimmers hinein und stand ihm auf dem Kaminteppiche gegenüber. Er zog einen Stuhl vor die Thür, setzte sich darauf und stützte sich mit einem Arme auf den Tisch. Die Pagode mit den weißen Mäusen stand dicht neben ihm und die kleinen Thierchen stürzten aus ihren Schlafstellen, als sein schwerer Arm den Tisch erschütterte, und schauten ihn durch die bunten Drahtstäbe hindurch an.

»In einer Sache über Leben und Tod?« wiederholte er für sich. »Diese Worte bedeuten vielleicht mehr, als Sie denken, was wollen Sie damit andeuten?«

»Was ich sage.«

Dichter Schweiß trat auf seine breite Stirn. Seine linke Hand stahl sich über die Kante des Tisches. Es war eine verschließbare Schublade darin, und der Schlüssel steckte im Schlosse. Sein Finger und Daumen faßten den Schlüssel, doch drehte er ihn nicht um.

»Sie wissen also, weshalb ich Londen verlasse?« fuhr er fort. »Nennen Sie mir gefälligst den Grund.« während er sprach, drehte er den Schlüssel um und öffnete die Schublade.

»Ich kann noch mehr thun als das,« entgegnete ich, »ich kann Ihnen den Grund zeigen

»Wie können Sie ihn mir zeigen?«

»Sie haben Ihren Rock abgelegt,« sagte ich. »Wollen Sie Ihren linken Hemdärmel hinauf ziehen – und Sie werden ihn sehen.«

Dieselbe fahle, bleierne Blässe, die ich schon im Theater auf seinem Gesichte hatte lagern sehen, überzog dasselbe abermals. Das tödliche Leuchten seiner Augen brannte sich fest und tief in die meinigen. Er sagte nichts. Aber seine linke Hand zog langsam die Schublade heraus und schlüpfte dann leise hinein. Es ließ sich auf einen Augenblick ein harter, scharrender Ton hören, wie wenn er einen schweren Gegenstand bewegte, den ich jedoch nicht sah. Die Stille, welche folgte, war eine so tiefe, daß ich an der Stelle, wo ich stand, deutlich das leise Nagen der kleinen weißen Mäuse an ihren Stäben hören konnte.

Mein Leben hing an einem Faden, und ich wußte es. In diesem entscheidenden Augenblicke dachte ich mit seinem Geiste, fühlte ich mit seinen Fingern – ich wußte so bestimmt, als ob ich es gesehen hätte, was er in der Schublade vor mir versteckt hielt.

»Warten Sie ein wenig,« sagte ich. »Sie haben die Thür verschlossen – Sie sehen, daß ich mich nicht rühre – daß meine Hände leer sind, warten Sie ein wenig. Ich habe Ihnen noch etwas zu sagen.«

»Sie haben genug gesagt,« entgegnete er mit einer plötzlichen Ruhe, die etwas so Unnatürliches und Gespenstisches hatte, daß sie mich heftiger erschütterte, als der gewaltigste Wuthausbruch gethan haben würde. »Ich brauche noch einen Augenblick für meine eigenen Gedanken, wenn Sie ihn mir erlauben wollen. Errathen Sie, woran ich denke?«

»Vielleicht.«

»Ich denke daran,« sagte er mit großer Ruhe, »ob ich die Unordnung in diesem Zimmer noch dadurch vermehren soll, daß ich Ihr Gehirn über den Kamin spritze.«

Ich sah es seinem Gesichte an, daß, falls ich mich in diesem Augenblicke gerührt, er es gethan haben würde.

»Ich rathe Ihnen, ehe Sie sich über diese Frage entschließen, zwei geschriebene Zeilen zu lesen, die ich bei mir trage,« entgegnete ich.

Dieser Vorschlag schien seine Neugierde zu erregen. Ich nickte mit dem Kopfe. Ich nahm Pesca's Bescheinigung über den Empfang meines Briefes aus meinem Taschenbuche und hielt ihm dieselbe auf Armlänge hin; dann kehrte ich zu meinem Platze vor dem Kamine zurück.

Er las die Zeilen laut vor: Ich habe Deinen Brief erhalten, wenn ich Dich vor der genannten Zeit nicht sehe, werde ich mit dem Glockenschlage das Siegel brechen.«

Für einen anderen Mann in seiner Lage hätten diese Worte einer Erklärung bedurft – bei dem Grafen war eine solche unnöthig. Ein einmaliges Durchlesen des Billets zeigte ihm deutlich, durch welche Vorsichtsmaßregel ich mich geschützt hatte. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich augenblicklich und seine Hand zog sich leer aus der Schublade zurück.

»Ich verschließe meine Schublade nicht, Mr. Hartright, und ich sage nicht, daß ich nicht doch noch Ihr Gehirn über den Kamin spritzen werde,« sagte er. »Aber ich bin selbst gegen meinen Feind gerecht – und will vorläufig bekennen, daß sein Gehirn klüger ist, als ich es geglaubt hätte. Kommen Sie Zur Sache, Sir! Sie verlangen etwas von mir?«

»Ja, und ich beabsichtige, es zu erhalten.«

»Unter Bedingungen?«

»Ohne Bedingungen.«

Seine Hand fiel wieder in die Schublade.

»Bah! Wir machen Umwege, und Ihr kluges Gehirn ist schon wieder in Gefahr. Der Ton, den Sie annehmen, ist von einer beklagenswerthen Unvorsichtigkeit, Sir – mäßigen Sie ihn auf der Stelle! Das Risico, Sie an der Stelle, wo Sie stehen, zu erschießen, ist geringer für mich, als das, Sie lebend aus diesem Hause zu lassen – ausgenommen unter Bedingungen, die ich selbst vorschreiben werde. Sie haben es jetzt nicht mit meinem verstorbenen Freunde zu thun, sondern stehen Fosco gegenüber! Und wenn die Leben von zwanzig Mr. Hartrights als Stufensteine zu meiner Sicherheit nöthig wären, so würde ich über sie hinwegschreiten. Achten Sie mich, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist! Ich fordere Sie auf, mir drei Fragen zu beantworten, ehe Sie wieder Ihre Lippen öffnen. Beantworten Sie sie – sie sind mir nothwendig.« Er hielt einen Finger seiner rechten Hand empor. »Erste Frage!« sagte er. »Sie sind im Besitze einer Mittheilung, welche wahr oder falsch sein mag – woher haben Sie dieselbe.

»Ich schlage es aus, die Frage zu beantworten.«

»Einerlei, ich werde es schon erfahren, wenn diese Mittheilung wahr ist – bemerken Sie wohl, daß ich mit der ganzen Kraft meiner Entschlossenheit sage, wenn – so treiben Sie hier, entweder durch Ihren eigenen Verrath oder den Verrath eines anderen Mannes, Ihren Handel damit. Ich mache mir aus diesem Umstände eine Anmerkung in meinem Gedächtnisse, welches nichts vergißt, für künftigen Gebrauch, und jetzt weiter.« Er hielt einen zweiten Finger empor. »Zweite Frage! Jene Zeilen, die Sie mir zu lesen gaben, sind ohne Unterschrift, wer hat sie geschrieben?«

»Ein Mann, auf den ich alle Ursache habe mich zu verlassen, den aber Sie alle Ursache haben zu fürchten.«

Meine Antwort traf ihn diesmal ziemlich hart. Seine linke Hand zitterte hörbar in der Schublade.

»Wie lange geben Sie mir Zeit,« frug er, indem er seine dritte Frage in ruhigerem Tone that, »ehe das Siegel mit dem Glockenschlage gebrochen wird?«

»Zeit genug für Sie, um auf meine Bedingungen einzugehen,« entgegnete ich.

»Geben Sie mir eine deutlichere Antwort, Mr. Hartright, welches ist die Stunde, die der Glockenschlag angeben soll?«

»Neun Uhr, morgen Früh.«

»Neun Uhr, morgen Früh? Ja, ja – Sie haben Ihre Falle wohl angelegt – ehe ich meinen Paß visirt bekommen und London verlassen kann. Ich nehme an, daß es nicht schon früher ist? Doch werden wir darauf sogleich zurückkommen – ich kann Sie als Geisel hier behalten und einen Handel mit Ihnen treffen, daß Sie den Brief holen lassen, ehe ich Sie fort lasse. Inzwischen haben Sie jetzt die Güte, Ihre Bedingungen zu nennen.«

»Die sollen Sie hören. Sie wissen, wessen Interessen ich repräsentire, indem ich hieher komme?«

Er lächelte mit erhabenster Gelassenheit und machte eine nachlässige Bewegung mit der rechten Hand.

»Ich will es zu errathen wagen,« sagte er spöttisch, »Die Interessen einer Dame natürlich!«

»Die Interessen meiner Frau.«

Er blickte mir mit dem ersten ehrlichen Ausdrucke, den ich noch bei ihm gesehen, in's Gesicht – einem Ausdrucke des größten Erstaunens. Ich konnte sehen, daß ich in meiner Eigenschaft als gefährlicher Mann von diesem Augenblicke an in seiner Achtung sank. Er schloß sofort die Schublade, faltete die Arme über seine Brust und hörte mich mit einem Lächeln satyrischer Aufmerksamkeit an.

»Sie sind hinlänglich von dem Fortgange meiner Nachforschungen während der letzten Monate unterrichtet,« sagte ich, »um zu wissen, daß jeder Versuch, die einfachen Thatsachen zu leugnen, in meiner Gegenwart vollkommen nutzlos ist. Sie haben sich eines schändlichen Anschlages schuldig gemacht und der Gewinn eines Vermögens von zehntausend Pfund war der Zweck desselben.«

Er sagte nichts. Aber über sein Gesicht zog sich eine Wolke finsterer Besorgnis.

»Behalten Sie Ihre Beute,« sagte ich. (Sein Gesicht erhellte sich augenblicklich wieder und seine Augen öffneten sich in immer größerem Erstaunen.) »Ich bin nicht hergekommen, um mit Ihnen um Geld zu feilschen, das durch Ihre Hände gegangen und der Preis eines schändlichen Verbrechens gewesen –«

»Sachte, Mr. Hartright. Ihre moralischen Gemeinplätze sind bei Ihren Landsleuten von vorzüglicher Wirkung – behalten Sie dieselben gefälligst für sich und für sie. Die zehntausend Pfund waren ein Legat, welches der verstorbene Mr. Fairlie meiner Frau vermacht hatte. Nehmen wir die Sache aus diesem Gesichtspunkte und ich habe nichts dawider, sie zu besprechen. Für einen Mann von meinen Gefühlen jedoch ist der Gegenstand ein sehr erbärmlicher. Ich ziehe vor, ihn fallen zu lassen, und fordere Sie auf, die Nennung Ihrer Bedingungen wieder aufzunehmen. Was fordern Sie?«

»Ich verlange erstens ein volles Bekenntnis des begangenen Verrathes, von Ihnen selbst in meiner Gegenwart geschrieben und unterzeichnet.«

Er erhob den Finger. »Eins!« sagte er, mich mit der ruhigen Aufmerksamkeit eines praktischen Mannes controlirend.

»Zweitens einen klaren Beweis – der nicht von Ihrer persönlichen Behauptung abhängt – von dem Datum, an welchem meine Frau Blackwater Park verließ und nach London reiste.«

»So! so! Ich sehe, Sie sind im Stande, die schwache Stelle herauszufühlen,« bemerkte er mit Gelassenheit. »Sonst noch etwas?«

»Für jetzt nichts.«

»Gut! Sie haben Ihre Bedingungen genannt, jetzt hören Sie die meinigen. Vielleicht ist die Verantwortlichkeit, das einzuräumen, was Sie »den Anschlag« zu nennen belieben, eine geringere für mich, als die, Sie dort todt auf den Kaminteppich hinzustrecken. Wir wollen annehmen, daß ich auf Ihren Wunsch eingehe – unter meinen eigenen Bedingungen. Die Angabe, welche Sie von mir verlangen, soll geschrieben, der klare Beweis des Datums geliefert werden. Vermuthlich werden Sie einen Brief von meinem verstorbenen Freunde, von ihm selbst geschrieben, datirt und unterzeichnet, wodurch er mich von dem Tag und der Stunde der Ankunft seiner Frau unterrichtet, einen Beweis nennen? Diesen kann ich Ihnen geben. Ich kann Sie außerdem zu dem Manne schicken, von welchem ich den Wagen miethete, in dem ich meinen Besuch am Tage seiner Ankunft von der Eisenbahnstation abholte – sein Bestellungsbuch mag Ihnen vielleicht zu dem Datum verhelfen können, selbst wenn der Kutscher, welcher mich fuhr, Ihnen nicht von Nutzen sein kann. Dies kann ich und will ich thun – unter Bedingungen. Diese sind folgende: Erste Bedingung! Die Gräfin und ich verlassen dieses Haus wann und wie wir wollen, ohne jegliches Hindernis von Ihrer Seite. Zweite Bedingung! Sie warten hier in meiner Gesellschaft, um meinen Agenten zu sehen, welcher morgen Früh um sieben Uhr herkommt, um meine Geschäfte zu ordnen. Sie geben meinem Agenten einen geschriebenen Befehl an den Mann, welcher Ihren versiegelten Brief hat, daß er ihm denselben ausliefere. Sie warten hier, bis der Agent jenen Brief ungeöffnet in meine Hände gegeben hat, und dann geben Sie mir eine gemessene halbe Stunde, um das Haus zu verlassen – worauf Sie dann Ihre Freiheit wieder erhalten und gehen mögen, wohin Sie wollen. Dritte Bedingung! Sie geben mir die Genugthuung eines Gentleman für ihre Einmischung in meine Privatangelegenheiten und für die Sprache, die Sie sich während dieser Unterredung gegen mich erlaubt haben. Zeit und Ort für das Zusammentreffen sollen Ihnen, sobald ich sicher auf dem Festlande angelangt sein werde, in einem Briefe von meiner Hand mitgetheilt werden, in welchem ich einen Papierstreifen, welcher genau die Länge meines Degens angibt, beischließen will. Dies sind meine Bedingungen. Sagen Sie mir, ob Sie dieselben eingehen – Ja oder Nein

Die merkwürdige Mischung von der schnellen Entschlossenheit, schlauen Berechnung und dem komödiantischen Bombast dieser Rede machte mich einen Augenblick förmlich stutzig – aber nur auf einen Augenblick. Die eine Frage, welche ich zu bedenken hatte, war die, ob ich berechtigt sei, mir die Mittel zu Lauras Identification auf Kosten des ungestraften Entkommens des Schurken zu verschaffen. Doch da kam mir meine Erinnerung an Sir Percivals Tod zu Hilfe. Auf wie furchtbare Weise war nicht dort mir das Werk der Vergeltung im letzten Augenblicke aus der Hand gerissen worden! Welches Recht hatte ich in meiner kleinen sterblichen Unkenntnis der Zukunft anzunehmen, daß auch dieser Mensch ungestraft entgehen müsse, weil er mir entging. Ich dachte an diese Dinge mit einem Gefühle, das meiner würdiger war, mit einem gewissen Aberglauben nämlich. Es war hart, jetzt, da ich ihn endlich gefaßt hielt, ihn freiwillig wieder los zu lassen – doch überwand ich mich, das Opfer zu bringen. Mit deutlicheren Worten, ich beschloß, mich durch den einen höheren Beweggrund leiten zu lassen, dessen ich gewiß war, den nämlich, Lauras Sache und der Sache der Wahrheit zu dienen.

»Ich nehme ihre Bedingungen an,« sagte ich, »doch mit einem Vorbehalts auf meiner Seite.«

»Welcher Vorbehalt mag dies sein?« frug er.

»Derselbe betrifft den versiegelten Brief,« entgegnete ich. »Ich verlange, daß Sie ihn ungeöffnet in meiner Gegenwart vernichten, sobald er in Ihre Hände gegeben sein wird.«

Der Zweck dieser meiner Bedingung war einfach der, ihn Zu verhindern, geschriebenes Zeugnis von der Beschaffenheit meiner Mittheilungen an Pesca mit sich zu nehmen. Das Factum derselben mußte er notwendigerweise am nächsten Morgen erfahren, wo ich dem Agenten die Adresse geben würde. Doch konnte er auf seine alleinige Angabe keinen Gebrauch davon machen, welcher mir für Pesca die geringsten Befürchtungen zu verursachen gebraucht hätte.

»Ich lasse Ihren Vorbehalt gelten,« entgegnete er, nachdem er ungefähr eine Minute lang ernstlich überlegt. »Die Sache ist keines Streites werth – der Brief soll vernichtet werden, sowie er meinen Händen übergeben wird.«

Während er noch sprach, erhob er sich von dem Platze, den er mir gegenüber bis zu diesem Augenblicke eingenommen hatte. Mit einer einzigen Anstrengung schien er den Druck, welcher während unserer ganzen Unterredung auf seinem Geiste gelastet, von sich abzuwälzen, »Puh!« rief er, indem er voll Behagen die Arme streckte, »das Scharmützel war heiß, solange es währte. Nehmen Sie Platz, Mr. Hartright. Wir werden einander später als tödliche Feinde gegenüber stehen – lassen Sie uns bis dahin die höflichen Aufmerksamkeiten wohlgesitteter Ehrenmänner austauschen. »Erlauben Sie, daß ich mir die Freiheit nehme, meine Frau zu rufen.«

Er öffnete die Thür. »Eleanor!« rief er mit seiner tiefen Stimme. Die Dame mit dem Natterngesichte kam herein. »Die Gräfin Fosco – Mr. Hartright,« sagte der Graf, uns mit würdevoller Unbefangenheit einander vorstellend. »Mein Engel,« fuhr er zu seiner Gemahlin gewendet fort, »wird deine Beschäftigung des Einpackens dir vielleicht Zeit gestatten, mir einen schönen, starken Kaffee zu machen. Ich habe Schreibgeschäfte mit Mr. Hartright – und bedarf des vollen Besitzes all meiner Geisteskräfte, um ersteren gerecht werden zu können.«

Die Gräfin verneigte zweimal den Kopf – einmal strenge gegen mich und das zweite Mal in Unterwürfigkeit gegen ihren Gemahl und glitt dann aus dem Zimmer.

Der Graf ging an einen Schreibtisch am Fenster, öffnete sein Schreibpult und nahm mehrere Buch Papier und ein Paket Gänsefedern heraus. Er streute die Federn über den Tisch, so daß sie nach allen Richtungen hin bereit lagen, wie er ihrer bedürfen möge, und zerschnitt dann das Papier in einen Haufen schmaler Streifen von der Gestalt, wie sie von Schriftstellern für den Druck gebraucht werden.

»Ich werde hieraus ein außerordentliches Document machen,« sagte er, mich über die Schulter hinweg anblickend. »Ich bin vollkommen mit literarischen Arbeiten vertraut. Eins der seltensten Geistestalente, die ein Mann besitzen kann, ist die großartige Fähigkeit, seine Gedanken zu ordnen. Ein ungeheurer Vorzug! Ich besitze ihn. Sie ebenfalls?

Er ging, bis der Kaffee kam, im Zimmer auf und ab, indem er vor sich hin summte und die Stellen, wo ihm beim Ordnen seiner Gedanken Hindernisse aufstießen, dadurch markirte, daß er sich mit der Handfläche vor die Stirne schlug.

Die Gräfin selbst brachte den Kaffee. Er küßte ihr in dankbarer Höflichkeit die Hand und begleitete sie dann zur Thür; darauf kehrte er zurück, schenkte eine Tasse Kaffee für sich ein und trug sie auf seinen Schreibtisch.

»Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten, Mr. Hartright?« frug er, ehe er sich setzte.

Ich dankte.

»Wie! Sie glauben, ich werde Sie vergiften?« sagte er munter. »Der englische Verstand ist gesund, soweit er geht,« fuhr er fort, während er sich an seinem Tische zurecht setzte; »aber er hat einen bedeutenden Fehler: er ist stets am unrechten Orte vorsichtig.«

Er tauchte seine Feder in die Tinte, legte einen Streifen des Papiers mit einem Schlage der Hand vor sich auf das Pult, räusperte sich und begann. Er schrieb mit großem Geräusche und großer Schnelligkeit in einer so großen, kühnen Handschrift und so gesperrten Zeilen, daß er in kaum Zwei Minuten, nachdem er angefangen, am Ende der Seite angelangt war. Jeden Streifen warf er, nachdem er damit fertig war und ihn numerirt hatte, über seine Schulter auf den Boden. Als er seine erste Feder abgenutzt hatte, flog auch diese über seine Schulter, und er ergriff eine andere. Ein Streifen nach dem anderen, zu Dutzenden, zu Fünfzigen, zu Hunderten flogen zu beiden Seiten von ihm über seine Schultern, bis er sich rund umher in Papier eingeschneit hatte. Da saß ich und wartete, da saß er und schrieb. Er machte keine Pausen, ausgenommen, um seinen Kaffee zu schlürfen, und als dieser zu Ende war, um sich von Zeit zu Zeit mit der Hand vor die Stirne zu schlagen. Es schlug ein Uhr – zwei, drei, vier – und immer noch flogen die Streifen um ihn her, noch immer kratzte die unermüdliche Feder ihren Weg über die Seiten fort und immer höher stieg das weiße Papierchaos um seinen Stuhl. Um vier Uhr hörte ich ein plötzliches Spritzen der Feder, welches den Schnörkel verkündete, mit dem er seinen Namen unterzeichnete. »Bravo!« rief er aus, indem er mit der Leichtigkeit eines jungen Mannes aufsprang und mir mit einem Lächeln süperben Triumphes in's Gesicht sah.

»Fertig, Mr. Hartright!« rief er aus, indem er sich mit der Faust auf die breite Brust schlug. »Fertig zu meiner eigenen höchsten Genugthuung – zu Ihrem höchsten Erstaunen, wenn Sie lesen werden, was ich geschrieben habe. Jetzt an's Ordnen, Lesen und Revidiren meiner Streifen – die emphatisch für Ihr Auge allein bestimmt sind. Gut! Das Ordnen, Lesen und Revidiren – von vier bis fünf; ein kurzer Schlummer zu meiner Stärkung – von fünf bis sechs; letzte Reisevorkehrungen – von sechs bis sieben; Geschäfte mit dem Agenten und wegen des versiegelten Briefes von sieben bis acht; um acht Uhr en route. Das Programm – le voila

Er setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen zu seinem Papiere auf den Fußboden, zog die Streifen mit einer Schnürnadel auf ein Band, corrigirte sie, schrieb alle Titel und Ehren, durch die er persönlich ausgezeichnet war, oben über die erste Seite und las mir das Manuscript dann mit lauter, theatralischer Emphase vor. Der Leser wird in Kurzem Gelegenheit haben, sich seine eigene Ansicht über das Actenstück zu bilden. Genüge es hier, nur zu erwähren, daß es meinem Zwecke entsprach.

Er schrieb mir zunächst die Adresse des Mannes auf, von dem er den Wagen gemiethet hatte, und gab mir Sir Percivals Brief. Derselbe war aus Hampshire und vom 25. Juli datirt und kündigte Lady Glyde's Abreise nach London auf den 26. an. Demnach also war sie an demselben Tage, an dem des Arztes Certificat sie als in St. John's Wood verstorben erklärte, nach Sir Percivals eigenem Beweise lebend in Blackwater – und sollte am folgenden Tage eine Reise antreten! Sobald ich den Beweis dieser Reise von dem Lohnkutscher würde erhalten haben, sollten also jetzt meine Beweise vollständig sein.

»Ein Viertel nach fünf,« sagte der Graf, auf seine Uhr blickend. »Es wird Zeit zu meinem Stärkungsschlummer. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Ich will die Gräfin bitten, Sie vor Langeweile zu bewahren.«

Da ich so gut wie er wußte, daß er die Gräfin nicht zu meiner Unterhaltung herbeirief, sondern damit sie es verhindere, daß ich das Haus verlasse, erwiderte ich nichts und beschäftigte mich mit dem Zusammenbinden der Papiere, welche er mir eingehändigt hatte.

Die Dame kam herein – kühl, bleich und giftig wie immer. »Unterhalte Mr, Hartright, mein Engel,« sagte der Graf. Dann reichte er ihr einen Stuhl, küßte ihre Hand zum zweiten Male, zog sich nach dem Sopha zurück und schlief in drei Minuten so friedlich und glücklich, wie der tugendhafteste Mensch von der Welt.

Die Gräfin nahm ein Buch vom Tische, setzte sich und blickte mich mit der ruhigen, rachsüchtigen Bosheit einer Frau an, die nie weder vergißt noch vergibt.

»Ich habe Ihre Unterhaltung mit meinem Gemahl angehört,« sagte sie. »Wäre ich an seiner Stelle gewesen, so hätte ich Sie todt auf den Kaminteppich hingestreckt.«

Mit diesen Worten öffnete sie ihr Buch und von diesem Augenblicke, bis zu dem Augenblicke, wo ihr Mann erwachte, sah sie mich weder an, noch sprach sie wieder ein Wort zu mir.

Genau eine Stunde, nachdem er sich zum Schlafen niedergelegt, öffnete er die Augen und erhob sich vom Sopha.

»Ich fühle mich unbeschreiblich erquickt,« bemerkte er. »«Eleanor, mein gutes Weib, bist du oben ganz fertig? Das ist recht. Mein bißchen Packen hier kann in zehn Minuten fertig – und ich in noch zehn Minuten zur Reise gerüstet sein, was ist noch zu thun, ehe der Agent kommt?« Er schaute sich im Zimmer um und erblickte den Käfig mit den weißen Mäusen. »Ach!« rief er aus, »es bleibt mir noch ein letztes Zerreißen meiner Gefühle übrig. Meine unschuldigen Lieblinge! meine geliebten kleinen Kinder! Was soll ich mit ihnen anfangen? Für's Erste haben wir nirgends einen festen Wohnort, wir werden unaufhörlich reisen und je weniger Gepäck wir bei uns führen, desto besser für uns. Mein Kakadu, meine Kanarienvögel und meine weißen Mäuse – wer wird sie pflegen, wenn ihr guter Papa fern von ihnen ist?«

Er ging in tiefen Gedanken im Zimmer auf und ab. Er war beim Aufschreiben seines Bekenntnisses keinen Augenblick in Verlegenheit gewesen; aber die weit wichtigere Frage der Art und Weise, wie er über seine Lieblingsthiere verfügen solle, verursachte ihm ernstliches Nachdenken. Nach langer Ueberlegung setzte er sich endlich wieder an den Schreibtisch.

»Ich habe einen Gedanken!« rief er aus. »Ich will meinen Kakadu und meine Kanarienvögel dieser großen Hauptstadt zum Geschenk machen – mein Agent soll sie in meinem Namen dem Präsidenten des Thiergartens übergeben.«

»Graf! Du hast die Mäuse ausgelassen,« sagte die Gräfin.

»Alle menschliche Entschlossenheit hat ihre Grenzen, Eleanor,« sagte er. »Ich kann mich von meinen weißen Mäusen nicht trennen. Habe Nachsicht mit mir, mein Engel, und nimm sie mit hinauf in ihren Reisekäfig.«

»Bewunderungswürdige Zärtlichkeit,« sagte die Gräfin, ihren Gemahl anstaunend und mit einem letzten Natternblicke in meine Richtung. Sie nahm den Käfig vorsichtig auf und verließ das Zimmer.

Der Graf sah auf seine Uhr. Ungeachtet seiner festen Entschlossenheit, seine Fassung zu behalten, schien er doch mit Unruhe der Ankunft des Agenten entgegen zu sehen. Die Lichter waren längst ausgelöscht worden und das Sonnenlicht des neuen Morgens ergoß sich ins Zimmer. Es war bereits fünf Minuten nach sieben Uhr, als man am Gartenpförtchen schellen hörte und der Agent anlangte. Er war ein Ausländer, mit einem dunklen Barte.

»Mr. Hartright – Monsieur Rubelle,« sagte der Graf, uns einander vorstellend. Er nahm den Agenten (dem man in jedem Zuge des Gesichtes den Spion ansah) in einen Winkel des Zimmers, flüsterte ihm einige Verhaltungsbefehle zu und verließ uns dann. Monsieur Rubelle bat mich, sobald wir allein waren, mit ausgesuchtester Höflichkeit, ihm seine Instructionen zu geben. Ich schrieb zwei Zeilen an Pesca, welche ihn autorisirten, »dem Ueberbringer« den versiegelten Brief auszuhändigen; dann adressirte ich das Billet und gab es Monsieur Rubelle.

Der Agent blieb bei mir, bis sein Vorgesetzter – in Reisekleidern – wieder zu uns hereinkam. Der Graf betrachtete die Adresse des Briefes, ehe er den Agenten entließ. »Ich dachte es mir!« sagte er, sich mit einem finsteren Blick gegen mich wendend, und veränderte sein Benehmen gegen mich sofort wieder.

Er machte sein Gepäck fertig und sprach kein Wort wieder zu mir. Der nahe Augenblick seiner Abreise und der Beweis, den er gesehen hatte, von der Verbindung zwischen Pesca und mir, hatten offenbar seine Aufmerksamkeit wieder ganz auf die Maßregeln gelenkt, welche zu seiner Flucht nothwendig waren.

Kurz vor acht Uhr kehrte Monsieur Rubelle mit meinem uneröffneten Briefe zurück. Der Graf betrachtete aufmerksam Siegel und Adresse – zündete ein Licht an – und verbrannte den Brief. »Ich erfüllte mein Versprechen, Mr. Hartright,« sagte er, »aber die Sache ist hiemit nicht zu Ende.«

Der Agent hatte den Fiaker, in welchem er zurückgekehrt war, vor dem Hause warten lassen. Er und die Magd beschäftigten sich jetzt, das Gepäck aufzuladen. Die Gräfin kam dicht verschleiert und mit dem Käfig, der die weißen Mäuse enthielt, von oben herunter. Ihr Gemahl führte sie an den Fiaker. »Folgen Sie mir bis in den Gang,« flüsterte er mir ins Ohr, »ich mag Ihnen im letzten Augenblicke noch etwas zu sagen haben.«

Ich ging bis an die Hausthür und der Agent stand vor mir im Vordergarten. Der Graf kam allein zurück und zog mich ein paar Schritte in den Gang hinein.

»Denken Sie an meine dritte Bedingung!« flüsterte er. »Sie sollen von mir hören, Mr. Hartright – ich mag vielleicht früher, als Sie es denken, die Genugthuung eines Gentleman von Ihnen fordern.« Er ergriff, ehe ich dergleichen noch ahnen konnte, meine Hand und drückte sie fest – dann wandte er sich zur Thür, stand still und kam nochmals zurück zu mir.

»Noch ein Wort,« sagte er vertraulich, »als ich Miß Halcombe zum letzten Male sah, schien sie mir blaß und elend auszusehen. Ich bin besorgt um jenes bewunderungswürdige Weib. Sorgen Sie für ihre Gesundheit, Sir! Mit der Hand auf dem Herzen stehe ich Sie feierlich an, für Miß Halcombes Wohl zu sorgen!«

Dies waren seine letzten Worte zu mir, bevor er seinen ungeheuren Körper in den Fiaker klemmte und davonfuhr.

Der Agent und ich warteten ein paar Minuten an der Thür und sahen ihm nach, während wir dastanden, kam ein zweiter Fiaker um eine Ecke etwas weiter den Weg hinabgefahren. Derselbe folgte dem Fiaker des Grafen, und als er an dem offenen Gartenpförtchen vorbeikam, schaute der Darinsitzende zu uns heraus, wieder der Fremde von der Oper – der Ausländer mit der Narbe auf der linken Wange.

»Sie werden noch eine halbe Stunde länger mit mir hier warten, Sir!« sagte Monsieur Rubelle.

Wir kehrten in's Wohnzimmer zurück. Ich war nicht in der Stimmung, mit dem Agenten zu sprechen oder ihn mit mir sprechen zu lassen. Ich nahm die Papiere heraus, welche der Graf mir übergeben hatte, und las die furchtbare Geschichte des Anschlages, wie der Mann, welcher ihn erdacht und ausgeführt, sie aufgeschrieben hatte.

Fortsetzung der Erzählung durch Isidor Ottavio Baldassare Fosco; Graf des heiligen römischen Reiches; Groß-Kreuz vom Orden der eisernen Krone, Erz-Meister der Rosenkreuzer-Maurer von Mesopotamien; attachirt (als Ehrenmitglied) bei den musikalischen, medicinischen, philosophischen und im Allgemeinen wohlthätigen Gesellschaften in ganz Europa ec. ec. ec.

Des Grafen Aussage. Im Sommer des Jahres 1850 langte ich mit einer delicaten Mission vom Auslande beauftragt in England an. Es standen Vertrauenspersonen, deren Bemühungen ich zu leiten autorisirt war, halb-officiell mit mir in Verbindung; zu diesen gehörten Monsieur und Madame Rubelle. Es blieben mir einige Wochen zur Verfügung, ehe ich meine Stellung antrat und mich in einer der Vorstädte Londons häuslich einrichtete. Die Neugierde wird mich hier vielleicht um eine Erklärung dieser Verrichtungen bitten. Ich sympathisire vollkommen mit der Bitte und bedaure ebensosehr, daß diplomatische Rücksichten mich verhindern, derselben zu willfahren.

Ich nahm eine Einladung an, diese kurze Ruhezeit auf dem prachtvollen Landsitze meines verstorbenen Freundes, Sir Percival Glyde, zuzubringen. Er kehrte soeben mit seiner Gemahlin von dem Festlande zurück, wie ich mit der meinigen. Das Band der Freundschaft, welches Percival und mich aneinander knüpfte, wurde bei dieser Gelegenheit noch durch eine rührende Gleichheit unserer pecuniären Lage befestigt. Wir brauchten Beide Geld.

Ich gehe nicht auf kleinliche Einzelheiten in Bezug auf diesen Gegenstand ein. Mein Gemüth empört sich dagegen. Mit römischer Strenge zeige ich meine und Percivals leere Börse den schaudernden Blicken des Publikums.

Im Hause empfing uns jenes herrliche Wesen, das in meinem Herzen als »Marianne« eingegraben steht, in der kälteren Atmosphäre der Gesellschaft aber als »Miß Halcombe« bekannt ist.

Gerechter Himmel! mit welch unbeschreiblicher Schnelligkeit lernte ich dieses Weib vergöttern. Mit sechzig Jahren betete ich sie mit der vulcanischen Gluth von achtzehn Sommern an. Alles Gold meiner reichen Natur schüttete ich hoffnungslos vor ihren Füßen aus. Meine Frau armer Engel! – meine Frau, die mich anbetet, erhielt nichts als die Schillinge und Pfennige. So ist die Welt; so der Mann – so die Liebe.

Das häusliche Verhältnis zu Anfang unseres Aufenthaltes in Blackwater Park ist von Mariannens eigener Hand mit erstaunlicher Genauigkeit und tiefer geistiger Einsicht beschrieben worden. (Man lasse mir die berauschende Familiarität, dieses herrliche Wesen bei ihrem Taufnamen zu nennen, hingehen.) Eine genaue Bekanntschaft mit dem Inhalte ihres Tagebuches, zu dem ich mir durch heimliche Mittel Zugang verschaffte, der mir in der Erinnerung noch unendlich kostbar ist – warnt meine eifrige Feder gegen Mittheilungen, welche dieses unendlich erschöpfungskräftige Weib bereits zu den seinigen gemacht hat.

Die ungeheuren Interessen, mit denen ich hier zu thun habe, beginnen bei dem beklagenswerthen Unglück von Mariannens Krankheit.

Die Lage war um diese Zeit eine emphatisch ernste. Percival brauchte große Geldsummen, welche zu einer gewissen Zeit bezahlt werden mußten (ich sage nichts von dem wenigen, dessen ich in demselben Grade benöthigt war), und die einzige Quelle, in der er diese Bequemlichkeit noch suchen konnte, war das Vermögen seiner Gemahlin, von dem ihm kein Heller früher als nach ihrem Tode zufiel. Insoweit schlimm; aber es kam noch schlimmer. Mein verstorbener Freund hatte Privatsorgen, über die ihn genau zu befragen das Zartgefühl meiner uninteressirten Anhänglichkeit mir verbot. Ich wußte weiter nichts, als daß eine Frau mit Namen Anna Catherick sich in der Umgegend versteckt hielt; daß sie mit Lady Glyde in Verbindung stand und daß die Folge hievon die Enthüllung eines Geheimnisses sein konnte, das Percival unfehlbar zu Grunde richten mußte. Er hatte mir selbst gesagt, daß er verloren sei, falls nicht seine Frau zum Schweigen gebracht und Anna Catherick gefunden würde. Falls er verloren war, was sollte da aus unseren pecuniären Angelegenheiten werden? So muthig ich auch von Natur bin, so erbebte ich doch bei diesem Gedanken!

Die ganze Kraft meines Verstandes war jetzt auf das Auffinden Anna Catherick's gerichtet. Unsere Geldangelegenheiten, so wichtig sie auch waren, gestatteten uns noch einen Verzug – aber die Notwendigkeit, diese Frau zu finden, nicht. Ich kannte sie nur der Beschreibung nach, der zufolge sie eine außerordentliche persönliche Aehnlichkeit mit Lady Glyde hatte. Die Erwähnung dieser merkwürdigen Thatsache – welche bloß in der Absicht geschah, mir beim Erkennen der von uns gesuchten Person behilflich zu sein, erweckte – gepaart mit der noch hinzugefügten Mittheilung, daß die Catherick aus einem Irrenhause entsprungen – zuerst jenen großen Einfall in meinem Geiste, welcher später zu so ungeheuren Resultaten führte. Dieser Gedanke brachte nichts Geringeres mit sich, als die vollständige Verwandlung der beiden getrennten Identitäten, Lady Glyde und Anna Catherick sollten Namen, Aufenthalt und Bestimmung austauschen – und die erstaunlichen Folgen dieses beabsichtigten Austausches waren: ein Gewinn von dreißigtausend Pfund und ewige Bewahrung von Percivals Geheimnissen.

Mein Instinct (der sich selten täuscht) ließ mich – nachdem ich die Umstände überlegt – annehmen, daß unsere unsichtbare Anna früher oder später nach dem Boothause am Blackwater See zurückkehren würde. Hier stellte ich mich als wache auf, nachdem ich zuvor gegen Mrs. Michelson, die Haushälterin, erwähnt, daß, falls man meiner bedürfe, ich an dieser einsamen Stelle bei meinen Studien zu finden sein werde.

Ich wurde für meine Geduld, am See Schildwache zu stehen, durch das Wiedererscheinen – nicht von Anna Catherick selbst, sondern der Frau, unter deren Obhut sie sich befand, belohnt. Ich überlasse es ihr (falls sie es nicht bereits gethan hat), die Umstände zu erzählen, unter denen sie mich bei dem Gegenstande ihrer mütterlichen Pflege einführte. Als ich Anna Catherick zum ersten Male sah, schlief sie. Ich war durch die Aehnlichkeit zwischen dieser unglücklichen Person und Lady Glyde wie elektrisirt. Die Einzelheiten des großartigen Projectes, von dem ich bisher nur erst die Umrisse entworfen, stellten sich mir beim Anblicke dieses schlafenden Gesichtes in ihrer ganzen meisterhaften Kombination vor die Seele. Zu gleicher Zeit löste sich mein Herz, das stets allen zärtlichen Einflüssen zugänglich ist, beim Anblicke des Leidens vor mir in Thränen auf. Ich beschäftigte mich sofort damit, ihr Erleichterung zu verschaffen. Mit anderen Worten, ich sorgte für ein Reizmittel, welches Anna Catherick hinlänglich stärken würde, um sie in den Stand zu setzen, die Reise nach London zu machen.

Hier bei diesem Punkte lege ich einen notwendigen Protest ein und berichtige einen beklagenswerthen Irrthum.

Die besten Jahre meines Lebens sind in dem eifrigen Studium medicinischer und chemischer Wissenschaft verflossen. Die Chemie namentlich hat immer wegen der ungeheuren, unbegrenzten Macht, welche ihre Kenntnis verleiht, besondere Anziehungskraft für mich gehabt.

Man hat vermuthet, daß ich von meinen ausgebreiteten chemischen Kenntnissen gegen Anna Catherick Gebrauch gemacht hatte und sie sogar gegen die herrliche Marianne angewendet haben würde, falls es mir möglich gewesen wäre. Beides ganz abscheuliche Verleumdungen! Es lag durchaus in meinem Interesse (wie man sogleich sehen wird), Anna Catherick's Leben zu erhalten; meine ganze Sorge concentrirte sich darauf, Marianne aus den Händen des privilegirten Dummkopfes zu erlösen, welcher sie in ihrer Krankheit behandelte und der von Anfang bis zu Ende meinen Rath durch den Arzt aus London bestätigt fand. Bei nur zwei Gelegenheiten – welche beide für die betreffenden Individuen durchaus harmlos waren – rief ich den Beistand meiner chemischen Kenntnisse zu Hilfe. Bei der ersten benutzte ich, nachdem ich Mariannen nach dem Wirthshause zu Blackwater gefolgt war (indem ich hinter einem mir gelegen kommenden Frachtwagen, welcher mich ihr verbarg, die Poesie der Bewegung studirte, die in ihrem Gange verkörpert war), die Dienste meiner unschätzbaren Gemahlin, um den einen von zwei Briefen, die meine angebetete Feindin den Händen einer entlassenen Kammerjungfer anvertraut hatte, abzuschreiben und den anderen zu unterschlagen. In diesem Falle konnte nur die Gräfin, da das Mädchen die Briefe im Busen trug, dieselben durch wissenschaftlichen Beistand öffnen, lesen, ihre Instructionen befolgen, sie versiegeln und wieder an ihren Platz thun – und diesen Beistand gab ich ihr in einem halblöthigen Fläschchen. Die zweite Gelegenheit, bei welcher derartige Mittel angewendet wurden, war die von Lady Glyde's Ankunft in London (auf welche ich in Kurzem zurückkommen werde). Ich war nie zu irgend einer anderen Zeit meiner Kunst verpflichtet. Allen anderen dringenden Fällen und Verwicklungen war meine natürliche Fähigkeit, mit den Verhältnissen zu kämpfen, unabänderlich gewachsen.

Nachdem ich Mrs. Clement (oder Clements, ich bin nur darüber nicht klar) darauf aufmerksam gemacht, daß die beste Methode, Anna davor zu bewahren, daß sie in Percivals Hände fiel, die sei, sie nach London zu bringen; nachdem ich gefunden, daß sie eifrig auf meinen Vorschlag einging und nachdem ich einen Tag bestimmt hatte, an welchem ich mit den Reisenden auf der Station zusammentreffen und sie abreisen sehen wollte – war ich frei, nach Hause zurückzukehren und den Schwierigkeiten, welche mir dort noch übrig blieben, entgegenzutreten.

Ich war mit Mrs. Clements übereingekommen, daß sie in Annas Interesse Lady Glyde von ihrer Adresse in London in Kenntnis setzen solle. Aber dies genügte nicht. Es konnten hinterlistige Leute in meiner Abwesenheit ihren einfachen Glauben erschüttern und sie so am Schreiben verhindern. Wen konnte ich da finden, der mit ihr m demselben Zuge nach London reiste und ihr dort bis an ihre Wohnung folgte? Ich legte mir diese Frage vor – und meine eheliche Zärtlichkeit antwortete sogleich – die Gräfin Fosco.

Nachdem ich mich für die Reise meiner Frau nach London entschieden, beschloß ich durch dieselbe einem doppelten Zwecke zu dienen. Eine Krankenwärterin für die leidende Marianne, die in gleichem Verhältnisse mir und der Kranken ergeben sein mußte, war eine Notwendigkeit meiner Tage. Glücklicherweise stand mir die zuverlässigste und fähigste Frau von der Welt zur Verfügung. Ich meine jene achtbare Matrone, Madame Rubelle – der ich durch meine Frau einen Brief zustellte.

An dem bestimmten Tage trafen Mrs. Clements und Anna Catherick auf der Station mit mir zusammen. Ich nahm höflichen Abschied von ihnen, wie auch von der Gräfin, die mit demselben Zuge reiste. Abends spät kehrte meine Frau nach Blackwater zurück, nachdem sie ihre Instructionen mit der unverbrüchlichsten Genauigkeit befolgt hatte. Sie kam in der Begleitung von Madame Rubelle und brachte mir die Adresse von Mrs. Clements in London. Spätere Ereignisse zeigten uns, daß diese Vorsichtsmaßregel eine überflüssige war. Mrs. Clements unterrichtete Lady Glyde pünktlich von ihrer neuen Wohnung. Mit kluger Berücksichtigung der Zukunft behielt ich den Brief.

An demselben Tage hatte ich eine kurze Unterredung mit dem Arzte, in welcher ich im geheiligten Namen der Menschlichkeit gegen sein Verfahren mit Miß Halcombe protestirte. Er war impertinent, wie alle unwissenden Leute es sind. Ich verschob einen Streit mit ihm, bis ein solcher meinem Zwecke würde dienen können.

Mein Nächstes war, selbst Blackwater Park zu verlassen. Ich mußte mir in Erwartung kommender Ereignisse eine Wohnung in London miethen. Auch hatte ich eine kleine Familienangelegenheit mit Mr. Frederick Fairlie zu besorgen. Ich fand die Wohnung, deren ich bedurfte, in St. John's Wood und Mr. Frederick Fairlie in Limmeridge, Cumberland.

Meine heimliche Bekanntschaft mit Mariannens Korrespondenz hatte mich schon vorher davon unterrichtet, daß sie an Mr. Fairlie geschrieben und zur Beseitigung von Lady Glyde's ehelichen Unannehmlichkeiten vorgeschlagen hatte, daß dieselbe ihren Onkel in Cumberland besuchte. Diesen Brief hatte ich verständigerweise an seine Bestimmung abgehen lassen, indem ich fühlte, daß er kein Unheil, wohl aber Gutes stiften könne. Ich begab mich jetzt selbst zu Mr. Fairlie, um Mariannens Vorschlag zu unterstützen – mit gewissen Abänderungen, welche glücklicherweise für den Erfolg meiner Pläne durch ihre Krankheit unvermeidlich geworden waren. Es war nothwendig, daß Lady Glyde auf eine Einladung von ihrem Onkel Blackwater allein verließe und auf ihres Onkels ausdrücklichen Wunsch eine Nacht im Hause ihrer Tante in London zubrächte (dem Hause, welches ich inzwischen gemiethet hatte). Diese Erfolge zu erzielen und ein Einladungsbillet von Mr. Fairlie zu erhalten, welches Lady Glyde gezeigt werden konnte, waren die Zwecke meines Besuches bei ihm. Wenn ich bemerkte, daß dieser Herr in gleichem Grade geistes- und körperschwach war und daß ich die ganze Kraft meines Charakters auf ihn ausschüttete, so habe ich genug gesagt. Ich kam, sah und besiegte Fairlie.

Bei meiner Rückkehr nach Blackwater Park (mit der Einladung für Lady Glyde) fand ich, daß des Arztes blödsinnige Behandlung von Mariannens Krankheit die beunruhigensten Folgen gehabt hatte. Das Fieber war in Typhus ausgeartet. Lady Glyde versuchte am Tage meiner Rückkehr in das Zimmer ihrer Schwester zu dringen, um dieselbe zu pflegen. Sie hatte meine Gefühle auf das Unverzeihlichste dadurch verletzt, daß sie mich einen Spion genannt; sie war auf meinem und auf Percivals Wege ein Stein des Anstoßes – aber ungeachtet alles dessen verbot mir meine Großmuth, sie der Gefahr der Ansteckung auszusetzen. Zu gleicher Zeit aber legte ich ihr kein Hindernis in den Weg, sich selbst in die Gefahr zu begeben. Wäre ihr dies gelungen, so wäre vielleicht der verwickelte Knoten, den ich langsam und geduldig knüpfte, von den Umständen zerschnitten worden. Doch der Arzt legte sich dazwischen, und sie verließ das Zimmer.

Ich selbst hatte schon vorher empfohlen, daß man einen Arzt aus London kommen ließe, und dieses Verfahren war jetzt eingeschlagen worden. Bei seiner Ankunft bestätigte der Arzt meine Meinung in Bezug auf die Krankheit. Die Krisis war eine ernste. Aber am fünften Tage, nachdem sich der Typhus ausgesprochen, begannen wir für unsere bezaubernde Kranke wieder zu hoffen. Ich war zu dieser Zeit nur einmal von Blackwater Park abwesend – indem ich eines Morgens mit dem Frühzuge nach London fuhr, um die letzten Anordnungen in Bezug auf meine Wohnung in St. John's Wood zu treffen; um mich durch heimliche Erkundigung davon zu überzeugen, daß Mrs. Clements noch in derselben Wohnung sei und um ein paar kleine Vorkehrungen mit Monsieur Rubelle zu treffen. Ich kehrte an demselben Abende zurück. Fünf Tage später erklärte der Arzt, daß unsere interessante Marianne außer aller Gefahr und nun nichts weiter benöthigt sei, als einer sorgfältigen Pflege. Dies war der Zeitpunkt, auf den ich gewartet hatte. Jetzt, da ärztlicher Beistand nicht länger unentbehrlich war, that ich den ersten Zug im Spiele, indem ich mich gegen den Doctor behauptete. Er war einer von vielen Zeugen, die mir im Wege waren und nothwendigerweise hinweggeschafft werden mußten. Ein lebhafter Wortwechsel zwischen uns brachte dies zu Wege. Ich kam mit meiner furchtbaren Lawine von Entrüstung auf den elenden Menschen herab und fegte ihn aus dem Hause.

Die Dienstboten waren die nächsten Hindernisse, die fortgeräumt werden mußten. Ich instruirte Percival (dessen moralischer Muth fortwährender Reizmittel bedurfte)‹ und Mrs. Michelson war über die Maßen erstaunt, als sie eines Tages von ihrem Herrn benachrichtigt wurde, daß er die dortige Haushaltung aufzugeben beabsichtige. Wir säuberten das Haus von der ganzen Dienerschaft, einer Magd ausgenommen, deren bäurische Dummheit uns eine Garantie war, daß sie keine unangenehmen Entdeckungen machen werde. Als sie fort waren, blieb uns nur noch Mrs. Michelson aus dem Wege zu schaffen – ein Resultat, welches sehr leicht erzielt wurde, indem wir die liebenswürdige Dame mit einem Auftrage, in einem Seebade eine Wohnung für ihre Herrin zu suchen, abschickten.

Die Verhältnisse waren jetzt genau so, wie sie sein sollten. Lady Glyde war durch ein nervöses Leiden an ihr Zimmer gefesselt, und die bäurische Stubenmagd (ich habe ihren Namen vergessen) wurde Nachts zu ihrer Bedienung bei ihr eingeschlossen. Marianne hütete, obgleich sie schnelle Fortschritte in der Genesung machte, noch immer unter Madame Rubelle's Pflege das Bett. Außer meiner Frau, Percival und mir war weiter kein lebendes Wesen im Hause. Nachdem sich auf diese Weise alle Chancen zu unseren Gunsten gestaltet hatten, that ich den zweiten Zug.

Der Zweck des zweiten Zuges war, Lady Glyde zu bewegen, Blackwater Park ohne ihre Schwester zu verlassen. Falls wir ihr nicht einreden konnten, daß Marianne ihr nach Cumberland vorausgereist sei, so hatten wir keine Hoffnung, daß sie freiwillig das Haus verlassen werde. Um diesen nothwendigen Eindruck bei ihr hervorzubringen, verbargen wir unsere interessante Reconvalescentin in einem der unbewohnten Schlafzimmer in Blackwater Park. In der Tiefe der Nacht bewerkstelligten meine Frau, Madame Rubelle und ich (Percival war nicht gefaßt genug, um dabei zugelassen werden zu können) diesen Versteck. Der Auftritt war im höchsten Grade malerisch, geheimnisvoll und dramatisch. Auf meine Anordnung war das Bett am Morgen auf einem starken, transportablen, hölzernen Rahmen gemacht worden, wir hatten diesen Rahmen nur leise beim Kopf- und Fußende aufzuheben und unsere Patientin zu tragen, wohin es uns beliebte, ohne sie zu stören. Chemische Hilfe war bei dieser Gelegenheit weder nothwendig, noch wurde sie angewandt. Unsere interessante Marianne lag in der tiefen Ruhe der Genesung. Ich, nach dem Rechte meiner großen persönlichen Kraft nahm das Hauptende des Rahmens, meine Frau und Madame Rubelle das andere. Ich trug meinen Antheil an dieser mir unbeschreiblich kostbaren Bürde mit einer männlichen Zärtlichkeit, mit einer väterlichen Sorgfalt, wo ist der moderne Rembrandt, der unsere mitternächtliche Procession malen könnte?

Am folgenden Morgen reisten meine Frau und ich nach London ab – indem wir Marianne in Abgeschlossenheit im mittleren Theile des Hauses unter Madame Rubelle's Obhut zurückließen, welche letztere gütigst einwilligte, sich auf zwei oder drei Tage mit ihrer Pflegebefohlenen gefangen halten zu lassen. Ehe wir jedoch abreisten, gab ich Percival Mr. Fairlie's Einladung an seine Nichte, in welcher er ihr empfahl, auf ihrem Wege nach Cumberland im Hause ihrer Tante in London zu übernachten, mit der Weisung, Lady Glyde dieselbe zu zeigen, sobald er von mir hören werde. Auch ließ ich mir von ihm die Adresse der Irrenanstalt geben, in der Anna Catherick gefangen gewesen, und einen Brief an den Besitzer derselben, in welchem diesem Herrn die Rückkehr seiner Patientin angekündigt wurde.

Ich hatte bei meinem letzten Besuche in der Hauptstadt Anordnungen getroffen, daß unsere bescheidene Häuslichkeit bereit sein solle, uns, wenn wir mit dem Frühzuge anlangten, aufzunehmen. In Folge dieser weisen Vorsicht waren wir noch an demselben Tage im Stande, unseren dritten Zug in dem Spiele zu thun – nämlich, Anna Catherick in unsere Hände zu bekommen. Es sind hier die Data von Wichtigkeit. Ich kann sie alle an meinen Fingern herzählen.

Mittwoch, den 24. Juli 1850, schickte ich meine Frau in einem Fiaker ab, um zuerst Mrs. Clements aus dem Wege zu räumen. Ein angeblicher Auftrag von Lady Glyde, die sich in London befinden sollte, genügte, um dieses Resultat herbeizuführen. Mrs. Clements wurde in dem Fiaker abgeholt und in demselben gelassen, während meine Frau (unter dem Vorwande eines Einkaufes) ihr entwischte und umkehrte, um ihren erwarteten Besuch in unserem Hause in St. John's Wood zu empfangen. Es ist unnöthig zu sagen, daß den Dienstboten der Besuch als »Lady Glyde« angekündigt worden war.

Unterdessen war ich in einem zweiten Fiaker meiner Frau nachgefahren, mit einem Briefe für Anna Catherick, welcher bloß angab, daß Lady Glyde Mrs. Clements für den Tag bei sich zu behalten beabsichtigte und daß sie unter der Obhut des guten Herrn, welcher draußen auf sie wartete und sie bereits in Hampshire gegen Entdeckung von Sir Percival geschützt, zu ihnen kommen solle. Der »gute Herr« schickte dieses Billet durch einen Straßenbuben in's Haus und wartete ein paar Häuser davon das Resultat ab. In dem Augenblicke, wo Anna vor der Hausthüre erschien und dieselbe wieder schloß, hatte dieser vortreffliche Herr die Fiakerthür für sie geöffnet – sie hineingeschoben – und war davongefahren.

Auf dem Wege nach St. John's Wood verrieth meine Gefährtin keine Furcht. Ich kann väterlich sein – kein Mensch ist es in höherem Grade – wenn ich will, und ich war bei dieser Gelegenheit unendlich väterlich. Welche Ansprüche hatte ich nicht an ihr Vertrauen! Ich hatte die Medicin gemischt, welche ihr wohlgethan; ich hatte sie vor Sir Percival gewarnt, vielleicht baute ich zu sehr auf diese Ansprüche; vielleicht unterschätzte ich die Schärfe, die niederen Instincte in Leuten von geschwächten Geisteskräften – gewiß aber ist es, daß ich sie auf eine Täuschung vorzubereiten vernachlässigte, die ihr beim Eintritte in mein Haus widerfahren sollte. Als ich sie in den Salon führte – als sie dort Niemanden sah als die Gräfin Fosco, die ihr fremd war – gerieth sie in heftigste Aufregung. Hätte sie Gefahr in der Luft gewittert, so hätte sich ihre Unruhe nicht plötzlicher und grundloser darthun können. Es wäre mir vielleicht gelungen, ihre Angst zu besänftigen – aber ihr gefährliches Herzleiden war außer dem Bereiche aller moralischen Beruhigungsmittel. Zu meinem unbeschreiblichen Entsetzen fiel sie in Konvulsionen – eine Erschütterung des Systems, die sie in ihrem Zustande zu jeder Minute todt zu unseren Füßen hätte hinstrecken können.

Der nächste Arzt wurde herbeigerufen und unterrichtet, daß »Lady Glyde« seines augenblicklichen Beistandes bedürfe. Zu meiner unaussprechlichen Erleichterung fand ich in ihm einen tüchtigen Mann. Ich beschrieb ihm seine Patientin als eine Person von schwachem Verstande und an Sinnestäuschungen leidend und befahl, daß Niemand als meine Frau sie pflegen und in ihrem Zimmer wachen solle. Das unglückliche Geschöpf war übrigens zu krank, um in Bezug auf das, was sie sagen konnte, irgendwie Besorgnis einzuflößen. Die eine Furcht, welche mich jetzt verfolgte, war die, daß die falsche Lady Glyde sterben möchte, ehe die wahre Lady Glyde in London anlangte.

Ich hatte Morgens ein Billet an Madame Rubelle geschrieben, mit der Weisung, sich am Freitag, den 26., Abends in ihres Mannes Hause einzufinden, und ein zweites an Percival, worin ich ihn aufforderte, seiner Frau ihres Onkels Einladung zu zeigen, ihr zu versichern, daß Marianne ihr bereits vorausgereist sei, und sie mit dem Mittagszuge am 26. ebenfalls nach London zu schicken. Ich hatte nach einiger Ueberlegung die Nothwendigkeit gefühlt, wegen Anna Catherick's Gesundheitszustande die Ereignisse zu beeilen und Lady Glyde früher zu meiner Verfügung zu halten, als ich dies Anfangs beabsichtigt. In dieser furchtbaren Ungewißheit meiner Lage konnte ich nichts thun, als auf den Zufall und auf den Doctor hoffen. Meine Emotionen machten sich in pathetischen Ausrufungen Luft – die ich noch eben Fassung genug hatte, im Beisein Anderer mit »Lady Glyde's« Namen zu paaren.

Sie verbrachte eine schlimme Nacht – erwachte in einem Zustande furchtbarer Erschöpfung – erholte sich aber später am Tage auf merkwürdige Weise. Meine elastischen Lebensgeister erholten sich mit ihr. Ich konnte von Percival und Madame Rubelle nicht früher als am Morgen des 26. Antwort erhalten. In der Erwartung, daß sie meine Anordnungen befolgen würden, wo nicht ein Unfall sie daran verhinderte, ging ich, um einen Wagen zu bestellen, in dem ich Lady Glyde von der Eisenbahnstation abholen wollte, und befahl dem Kutscher, um zwei Uhr am Nachmittag des 26. vor meinem Hause zu halten. Nachdem ich mich überzeugt, daß man die Bestellung in's Buch eingeschrieben, ging ich, um mit Monsieur Rubelle meine Vorkehrungen zu treffen. Auch versicherte ich mich der Dienste zweier Herren, die mir die nöthigen Atteste des Wahnsinns ausstellten. Den einen derselben kannte ich persönlich; der andere war Monsieur Rubelle bekannt. Beide waren Männer, deren kräftige Geister sich hoch über engherzige Scrupel erhoben – Beide waren in einer augenblicklichen Verlegenheit – Beide glaubten an mich.

Es war bereits nach fünf Uhr Nachmittags, ehe ich von der Ausführung dieser Pflichten zurückkehrte. Als ich zu Hause anlangte, war Anna Catherick todt. Todt am 25., und Lady Glyde sollte erst am 26. in London eintreffen.

Ich war überwältigt. Man denke sich dies: Fosco überwältigt!

Es war zu spät, um umzukehren. Ehe ich noch heimgekommen war, hatte der Arzt diensteifrigerweise übernommen, nur alle Mühe zu ersparen, indem er gegangen war, den Sterbefall und das Datum desselben mit eigener Hand zu registriren. Mein großartiges Project, das bis hieher unangreifbar gewesen, hatte jetzt seine schwache Stelle – keine Bemühungen von meiner Seite konnten das unheilvolle Ereignis des 25. wieder gutmachen. Ich trat der Zukunft mannhaft entgegen. Da Percivals Interessen und die meinigen noch auf dem Spiele standen, blieb uns nichts weiter übrig, als dasselbe zu Ende zu führen.

Am Morgen des 26. erhielt ich Percivals Brief, der mir die Ankunft seiner Frau mit dem Mittagszuge ansagte. Madame Rubelle schrieb ebenfalls, und zwar, daß sie Abends ankommen werde. Ich fuhr in dem Wagen ab, um die echte Lady Glyde bei ihrer Ankunft um drei Uhr von der Station abzuholen, während die falsche Lady Glyde todt in meinem Hause lag. Unter dem Sitze des Wagens hatte ich die Kleider, die Anna Catherick getragen, als sie in unser Haus gekommen, mitgebracht, um die Auferstehung der verstorbenen in der Person der Lebenden zu bewirken. Welch eine Lage!

Lady Glyde war auf der Station. Es gab hier beim Zusammensuchen ihres Gepäckes großes Gedränge und mehr Verzug, als mir (in der Befürchtung, daß sich unter der Menge Bekannte von ihr finden möchten) lieb war. Ihre ersten Fragen, als wir abfuhren, waren flehende Bitten um Nachrichten über ihre Schwester. Ich erfand welche von der beruhigendsten Beschaffenheit, indem ich ihr die Versicherung gab, daß sie ihre Schwester in meinem Hause sehen werde. Mein Haus war bei dieser Gelegenheit in der Nähe vom Leicester-Platze und von Monsieur Rubelle bewohnt, welcher uns im Flur empfing.

Ich führte meinen Besuch in ein oberes Hinterzimmer, während die beiden Aerzte in der unteren Etage warteten, um die Patientin zu sehen und ihre Atteste zu schreiben. Nachdem ich Lady Glyde durch die nothwendigen Betheuerungen über ihre Schwester beruhigt, brachte ich meine Freunde einzeln in ihre Gegenwart. Sie machten die Formalitäten der Sache kurz, verständig und gewissenhaft durch. Ich ging wieder ins Zimmer, sobald sie dasselbe verlassen hatten, und beschleunigte sogleich den Gang der Ereignisse, indem ich Miß Halcombe's beunruhigenden Zustandes Erwähnung that.

Der Erfolg war, was ich erwartet hatte. Lady Glyde wurde ängstlich und ohnmächtig. Zum letzten Male rief ich die Wissenschaft zu Hilfe. Ein medicinisch versetztes Glas Wasser und Riechfläschchen ersparten ihr alle weitere Unannehmlichkeit und Unruhe. Eine zweite Dosis später Abends verschaffte ihr den unschätzbaren Genuß einer guten Nachtruhe. Madame Rubelle langte zur rechten Zeit an, um Lady Glyde's Toilette zu übernehmen. Ihre eigenen Kleider nahm man ihr Abends weg und die Anna Catherick's wurden ihr von den Händen der guten Rubelle mit der strengsten Beobachtung der Schicklichkeit am folgenden Margen angethan. Während des ganzen Tages erhielt ich unsere Patientin in einem Zustande theilweiser Bewußtlosigkeit, bis der geschickte Beistand meiner ärztlichen Freunde mir schon früher, als ich zu hoffen gewagt, den nothwendigen Befehl zur Aufnahme der Kranken verschaffte. Noch an diesem Abend (dem Abend des 27.) begleiteten Madame Rubelle und ich unsere falsche Anna Catherick nach der Irrenanstalt. Sie wurde dort mit großem Erstaunen, aber ohne allen Verdacht empfangen – Dank den Attesten, Percivals Briefen, der Aehnlichkeit und der Patientin eigener zeitweiliger Geistesverwirrung. Ich kehrte sofort, im Besitze der Kleider und Effecten der wahren Lady Glyde, zu der Gräfin zurück, um ihr bei den Vorbereitungen zur Beerdigung der falschen Lady Glyde zu helfen. Diese Effecten wurden später mit dem Fuhrwerke, welches zur Beerdigung benutzt wurde, nach Cumberland geschickt. Ich folgte dem Begräbnisse mit angemessener Würde und in den tiefsten Trauerkleidern.

Meine Erzählung dieser merkwürdigen Ereignisse, welche unter ebenso bemerkenswerten Verhältnissen geschrieben ist, schließt hiemit. Die kleineren Vorsichtsmaßregeln, welche ich in Limmeridge House beobachtete, sind bereits bekannt – ebenso der süperbe Erfolg meines Unternehmens – ebenso die soliden pecuniären Resultate desselben. Ich muß mit der ganzen Kraft meiner Ueberzeugung versichern, daß die eine schwache Stelle meines Projectes nie entdeckt worden wäre, falls ich nicht zuerst die eine schwache Stelle meines Herzens verrathen hätte. Nichts als meine unheilvolle Anbetung für Marianne hielt mich davon zurück, zu meinem eigenen Schutze herbeizueilen, als sie die Flucht ihrer Schwester bewirkte. Ich lief die Gefahr und baue auf die gänzliche Vernichtung der Identität von Lady Glyde. Falls entweder Marianne oder Mr. Hartright diese Identität zu behaupten wagten, so würden sie sich öffentlich der Beschuldigung aussetzen, daß sie einen entschiedenen Betrug unterstützten; man würde ihnen nicht geglaubt, sondern Verdacht gegen sie geschöpft haben, und sie waren dann machtlos, mein Interesse oder Percivals Geheimnis in Gefahr zu bringen. Ich beging einen Irrthum, auf eine so blinde Berechnung von Zufälligkeiten zu bauen. Ich beging den zweiten, als Percival für seine Halsstarrigkeit und Heftigkeit gebüßt hatte, indem ich Lady Glyde eine zweite Gnadenfrist vom Irrenhause zu Theil werden ließ und Mr. Hartright eine zweite Gelegenheit gab, mir zu entwischen. Kurz, Fosco war während dieser ernsten Krisis sich selbst untreu. Beklagenswerthe, fehlerhafte Inconsequenz! Seht her und erkennet in Marianne Halcombe's Bilde – die erste und letzte Schwachheit in Fosco's Leben!

Noch ein Wort und dann soll die Aufmerksamkeit des Lesers (die sich in athemloser Spannung auf mich geheftet hat) freigegeben werden.

Meine eigene geistige Einsicht sagt mir, daß Leute von wißbegierigen Gemüthern hier unfehlbar zwei Fragen thun werden. Dieselben sollen genannt – sollen beantwortet werden.

Erste Frage. Was würde ich gethan haben, falls Anna Catherick nicht zu jener Zeit gestorben wäre? Ich hätte in diesem Falle der erschöpften Natur zur ewigen Ruhe verholfen. Ich hätte die Thore des Gefängnisses des Lebens geöffnet und der Gefangenen (die unheilbar am Geiste wie am Körper litt) eine glückliche Freiheit gegeben.

Zweite Frage. Nach einer ruhigen Uebersicht aller Umstände – verdient mein Verfahren ernstlichen Tadel? Ganz entschieden, Nein! Habe ich nicht sorgfältig vermieden, die Gehässigkeit eines unnöthigen Verbrechens auf mich zu laden? Mit meiner weiten Kenntnis der Chemie hätte ich Lady Glyde's Leben nehmen können. Mit ungeheuren persönlichen Opfern folgte ich den Hingebungen meines Scharfsinnes, meiner Humanität und meiner Vorsicht – und nahm ihr statt dessen ihre Identität. Man beurtheile mich nach dem, was ich hätte thun können, wie vergleichsweise unschuldig! wie indirect tugendhaft muß ich da erscheinen nach dem, was ich that!

Man empfange diese Zeilen als mein letztes Vermächtnis an das Land, welches ich auf immer verlasse. Sie sind der Gelegenheit würdig und eines

Fosco


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