Joseph Conrad
Der Geheimagent
Joseph Conrad

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XI

Nach Inspektor Heats Weggang wanderte Herr Verloc im Wohnzimmer herum. Von Zeit zu Zeit spähte er durch die offene Tür nach seiner Gattin. Nun weiß sie alles, dachte er und empfand einiges Mitleid mit ihrem Kummer, doch auch einige Genugtuung in bezug auf sich selbst. Herrn Verlocs Seele war, wenn ihr vielleicht auch die Größe fehlte, dennoch zarterer Gefühle fähig. Der Gedanke, der Frau die Neuigkeit beibringen zu müssen, hatte ihm Fieber verursacht. Inspektor Heat hatte ihm die Aufgabe abgenommen. Das war jedenfalls erfreulich. Nun mußte er noch den Schmerzensausbruch mit ansehen.

Herr Verloc hätte nie erwartet, einen solchen Ausbruch aus Anlaß eines Todesfalls erleben zu müssen, wobei nämlich alle Vernunfts- und Trostgründe jämmerlich versagen mußten. Herr Verloc hatte durchaus nicht gemeint, daß Stevie so plötzlich und gewaltsam umkommen würde. Er hatte überhaupt nicht gemeint, daß der Junge umkommen sollte. Der tote Stevie war eine weit größere Plage, als es der lebende je gewesen war. Herr Verloc hatte bestimmt mit einem günstigen Ausgang des Unternehmens gerechnet und sich dabei nicht auf Stevies Verstand verlassen, der einem Mann ja oft üble Streiche spielen kann, sondern auf die blinde Gelehrigkeit und Anhänglichkeit des Jungen. Wenn er auch kein großer Seelenkenner war, so hatte Herr Verloc doch die Tiefe von Stevies Fanatismus erfaßt. Er durfte hoffen, daß Stevie von der Mauer des Observatoriums weggehen würde, wie es ihm bei mehrmaligen Proben ausdrücklich gezeigt worden war, um mit seinem Schwager, dem guten und weisen Herrn Verloc, außerhalb des Parkgitters zusammenzutreffen. Fünfzehn Minuten hätten doch für den größten Schwachkopf genügen müssen, um die Höllenmaschine hinzusetzen und wegzugehen. Und der Professor hatte für mehr als fünfzehn Minuten Gewähr geleistet. Stevie aber war keine fünf Minuten, nachdem man ihn sich selbst überlassen hatte, gestolpert, und nun war Herr Verloc moralisch in Stücke gerissen. Alles hatte er vorausgesehen, nur das nicht. Er hatte vorausgesehen, daß Stevie in seiner Zerstreutheit verloren gehen – gesucht werden und schließlich in einer Polizeistation oder in einem Schwachsinnigenasyl gefunden werden konnte. Er hatte Stevies Verhaftung vorhergesehen und nicht gefürchtet, denn Herr Verloc hatte eine hohe Meinung von Stevies Ehrenfestigkeit, die ihm, zugleich mit der Notwendigkeit unverbrüchlichen Schweigens, auf vielen gemeinsamen Gängen eingetrichtert worden war. Wie ein wahrer Peripathetiker hatte Herr Verloc während der Wanderungen durch Londons Straßen Stevies Vorstellung von der Polizei durch äußerst geschickte Reden umgemodelt. Nie hatte ein Weiser einen Schüler gehabt, der aufmerksamer und mehr von Bewunderung erfüllt gewesen wäre. Die Unterwerfung und Verehrung waren so offensichtlich, daß Herr Verloc dahin gekommen war, eine Art Neigung zu dem Jungen zu fassen. Keinesfalls hatte er vorhergesehen, daß seine Verbindung mit ihm so schnell aufgedeckt werden würde. Daß sein Weib den Einfall haben würde, ihre Adresse in des Jungen Überrock einzunähen, war der letzte Gedanke, der Herrn Verloc gekommen wäre. Man kann nicht an alles denken. Das also hatte sie mit der Bemerkung gemeint, er brauchte sich nicht zu sorgen, wenn er Stevie unterwegs verlieren sollte. Sie hatte ihm versichert, daß der Junge schon richtig zurückkommen würde. Nun war er wiedergekehrt, aber als Rächer.

»Nun, nun«, murmelte Herr Verloc erstaunt. Was hatte sie damit gewollt? Ihm selbst die Mühe ersparen, den Jungen ängstlich zu beobachten? Höchstwahrscheinlich hatte sie das Beste gewollt. Nur hätte sie ihm von der ergriffenen Vorsichtsmaßregel Mitteilung machen müssen.

Herr Verloc trat hinter den Ladentisch. Er hatte nicht die Absicht, seine Gattin mit erbitterten Vorwürfen zu überhäufen. Herr Verloc empfand keine Bitterkeit. Der unerwartete Gang der Ereignisse hatte ihn zum Fatalismus bekehrt. Nun war nichts mehr zu ändern. Er sagte:

»Ich dachte nicht, daß dem Jungen irgendein Leid widerfahren sollte.«

Frau Verloc schauderte beim Klang von ihres Gatten Stimme. Sie enthüllte ihr Gesicht nicht. Der vielgepriesene Geheimagent des seligen Barons Stott-Wartenheim blickte sie eine Zeitlang düster beharrlich aus kurzsichtigen Augen an. Das zerrissene Abendblatt lag zu ihren Füßen. Sie konnte nicht viel daraus erfahren haben. Herr Verloc empfand die Notwendigkeit, mit seiner Gattin zu sprechen.

»Der verdammte Heat – wie?« sagte er. »Er hat dich erschreckt. Er ist ein Rüpel. Eine Frau so damit zu überfallen! Ich marterte mich halb von Sinnen mit der Frage, wie ich dir's beibringen sollte. Stundenlang saß ich in dem kleinen Schenkzimmer von Cheshire Cheese und grübelte über den besten Weg. Du kannst dir denken, daß ich niemals daran dachte, dem Jungen ein Leid geschehen zu lassen.«

Herr Verloc, der Geheimagent, sprach wahr. Die vorzeitige Explosion hatte ihn in seiner Gattenliebe am schmerzlichsten getroffen. Er fügte hinzu:

»Mir war nicht besonders wohl zumute, als ich dort saß und an dich dachte.«

Er bemerkte ein neues Zusammenschaudern seiner Gattin und fühlte sich schmerzlich davon berührt. Da sie dabei beharrte, das Gesicht in den Händen verborgen zu halten, glaubte er, sie besser eine Weile allein lassen zu sollen. Aus diesem feinfühligen Antrieb zog sich Herr Verloc wieder ins Wohnzimmer zurück, wo der Gasbrenner wie eine zufriedene Katze schnurrte. Frau Verloc hatte in weiblichem Vorbedacht den kalten Rindsbraten auf dem Tisch gelassen, mit Vorlegemesser und ‑gabel und einem halben Brotlaib, als Herrn Verlocs Nachtmahl. Er bemerkte diese Dinge nun zum erstenmal, schnitt sich eine Scheibe Brot und Fleisch herunter und begann zu essen.

Seine Eßlust kam nicht aus Gefühllosigkeit. Herr Verloc hatte an diesem Tage nicht gefrühstückt. Er hatte sein Heim nüchtern verlassen. Da er kein Mann von Energie war, so bezog er seine Entschlußkraft immer aus nervöser Überreizung, die ihn sozusagen an der Kehle hielt. Er wäre außerstande gewesen, feste Nahrung zu schlucken. Michaelis' Landhaus war so aller Vorräte bar, wie eine Gefängniszelle. Der Bewährungsfristapostel lebte von ein wenig Milch und alten Brotkrusten. Überdies war er bei Herrn Verlocs Ankunft nach seinem kärglichen Mahl schon hinaufgegangen gewesen. Hingegeben der wonnigen Plage dichterischen Schaffens, hatte er nicht einmal auf Herrn Verlocs Anruf geantwortet.

»Ich nehme den Jungen auf ein, zwei Tage nach Hause.«

Tatsächlich hatte Herr Verloc gar keine Antwort abgewartet und das Landhaus, von dem gehorsamen Stevie gefolgt, sofort verlassen.

Nun, als die Tat getan und sein Schicksal unerwartet schnell ihm aus der Hand genommen war, empfand Herr Verloc eine erschreckende körperliche Leere. Er schnitt an dem Fleisch und dem Brot herum, verschlang, am Tische stehend, sein Abendessen und warf dann und wann einen Blick auf seine Frau. Ihre beharrliche Unbeweglichkeit störte ihm die Freude des Mahls. Wieder ging er in den Laden und trat nahe zu ihr hin. Dieser Kummer mit verhülltem Gesicht war Herrn Verloc unheimlich. Natürlich hatte er gewußt, daß es seine Frau schwer treffen würde, doch wünschte er, daß sie sich zusammennehmen sollte. Er bedurfte ihrer vollen Hilfe und Treue angesichts dieser neuen Sachlage, mit der sein Fatalismus sich schon abgefunden hatte.

»Nicht zu ändern«, sagte er in dumpfer Anteilnahme. »Komm, Winnie, wir müssen an morgen denken. Du wirst deinen ganzen Witz nötig haben, wenn ich einmal weggeführt werde.«

Er hielt inne. Frau Verlocs Brust hob sich krampfhaft. Das beruhigte Herrn Verloc nicht, nach dessen Meinung die neugeschaffene Sachlage von den zwei Hauptbeteiligten Ruhe, Entschlossenheit und andere Eigenschaften verlangte, die mit der seelischen Zerrüttung leidenschaftlichen Schmerzes unvereinbar waren. Herr Verloc war kein Unmensch; er war mit dem Vorsatz heimgekehrt, der Schwesternliebe seiner Frau erhebliche Zugeständnisse zu machen. Nur verstand er wohl die wahre Natur oder die ganze Tragweite dieses Gefühls nicht. Und das war entschuldbar, denn er konnte beides nicht verstehen, ohne aufzuhören, er selbst zu sein. Nun war er peinlich überrascht, was sich in einer gewissen Rauheit des Tones kundgab.

»Du könntest einen doch ansehen«, sagte er nach einer Weile.

Als würde sie durch die Hände gepreßt, die Frau Verlocs Antlitz bedeckten, kam die Antwort, erstickt, fast kläglich:

»Ich will dich nicht mehr ansehen, so lange ich lebe.«

»Was? Wie?« Herrn Verloc war nur der oberflächliche, wörtliche Sinn dieses Ausspruchs unangenehm zum Bewußtsein gekommen. Das war ganz offenbar unvernünftig, ein Aufschreien überspannten Schmerzes. Er warf den Mantel ehelicher Nachsicht darüber. Herrn Verlocs Gemütsart fehlte die Gründlichkeit. Infolge des falschen Glaubens, daß der Wert eines Menschen in ihm selbst beruhen müsse, konnte er unmöglich ermessen, wie viel Stevie tatsächlich in Frau Verlocs Augen wert war. Sie nahm es verteufelt hart, dachte er sich. Und daran war nur der verdammte Heat schuld. Warum hatte er die Frau so aufgeregt? Man durfte sie aber zu ihrem eigenen Besten nicht länger so gewähren lassen, bis sie schließlich ganz von Sinnen kam.

»Sieh doch! Du kannst doch nicht so im Laden sitzen bleiben«, sagte er mit gemachter Strenge, in der auch echter Ärger mitklang; denn wenn sie schon die ganze Nacht aufbleiben sollten, dann mußten doch dringende Fragen durchgesprochen werden. »Jeden Augenblick kann jemand hereinkommen«, fügte er hinzu und wartete wieder. Es zeigte sich keine Wirkung, und der Gedanke an die Endgültigkeit des Todes drängte sich Herrn Verloc auf in dieser Pause. Er änderte den Ton. »Komm, das bringt ihn nicht zurück«, sagte er liebreich, bereit, sie an seine Brust zu ziehen, wo Ungeduld und Mitleid nebeneinander wohnten. Doch abgesehen von einem kurzen Schauder blieb Frau Verloc von der Gewalt dieses fürchterlichen Gemeinplatzes scheinbar unberührt. Vielmehr war Herr Verloc selbst davon bewegt. In seiner Einfalt fühlte er sich gedrängt, Mäßigung anzuraten, indem er seine eigenen Rechte geltend machte.

»Sei vernünftig, Winnie. Wie wäre es denn gewesen, wenn du mich verloren hättest?«

Er hatte verschwommen gehofft, sie aufschreien zu hören; aber sie rührte sich nicht. Sie saß ein wenig zurückgelehnt, in völlige, unfaßbare Reglosigkeit versunken. Herrn Verlocs Herz begann schneller zu schlagen, aus Erbitterung und etwas wie Bestürzung. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte: »Sei keine Närrin, Winnie.«

Sie rührte sich nicht. Es war undenkbar, vernünftig mit einer Frau zu reden, deren Gesicht man nicht sehen konnte. Herr Verloc faßte sie bei den Handgelenken. Doch ihre Hände schienen festgewachsen. Ihr ganzer Leib folgte dem Zug, und sie wäre fast vom Stuhl gestürzt. Erschreckt, sie so hilflos schlaff zu sehen, versuchte er, sie in den Stuhl zurückzusetzen; da wurde sie plötzlich wieder spannkräftig, riß sich aus seinen Händen los und rannte aus dem Laden hinaus, durch das Wohnzimmer in die Küche. Das ging blitzschnell. Er hatte einen Streifen ihres Gesichts und gerade soviel von ihren Augen gesehen, um feststellen zu können, daß sie ihn nicht angesehen hatte.

Das Ganze erschien wie ein Streit um eine Sitzgelegenheit, denn Herr Verloc nahm sofort den Platz seiner Frau ein. Herr Verloc bedeckte nicht sein Gesicht mit den Händen, doch lag über seinen Zügen der Schleier tiefer Nachdenklichkeit. Ein Verhaftungsbefehl war unvermeidlich. Er wünschte ihn auch gar nicht zu vermeiden. Das Gefängnis war ein Ort, wo man vor gewissen ungesetzlichen Racheanschlägen so sicher war wie im Grab, mit dem Vorteil, daß im Gefängnis noch Raum für die Hoffnung blieb. Was er nun vor sich sah, war: Verhaftung, rasche Freilassung, und dann ein Leben irgendwo im Ausland, wie er es für den Fall eines Fehlschlags schon in Betracht gezogen hatte. Nun gut, es war ein Fehlschlag, wenn auch nicht ganz der Art, wie er ihn befürchtet hatte. Er streifte so hart an Erfolg, daß angesichts der traurigen Wirkung Herrn Vladimir der Spott wohl vergehen konnte. So wenigstens erschien es jetzt Herrn Verloc. Sein Ansehen bei der Gesandtschaft wäre ins Ungemessene gestiegen, wenn – wenn sein Weib nicht die unglückliche Idee gehabt hätte, in Stevies Überrock die Adresse einzunähen. Herr Verloc, der durchaus kein Dummkopf war, hatte bald seinen ungewöhnlichen Einfluß auf Stevie erkannt, allerdings ohne dessen Anlaß zu ergründen, – das Märchen von seiner überlegenen Weisheit und Güte, das zwei besorgte Frauen ersonnen hatten. Bei allen vorhergesehenen Möglichkeiten hatte Herr Verloc Stevies richtig erkannte Treue und blinde Ergebenheit in Rechnung gestellt. Die unvorhergesehene Möglichkeit hatte ihn als Menschen und liebenden Gatten getroffen. Von jedem anderen Gesichtspunkt betrachtet, war sie eher vorteilhaft. Nichts reicht an das ewige Schweigen des Todes heran. Während Herr Verloc bestürzt und ratlos verängstigt im kleinen Schankzimmer des Cheshire Cheese saß, konnte er nicht umhin, sich das einzugestehen, denn seine Urteilskraft war durch seine Empfindsamkeit nicht gehemmt. Daß Stevie so gründlich auseinandergeraten war, machte – so unerfreulich es auch sein mochte, daran zu denken – den Erfolg nur sicherer; denn natürlich hatte Herr Vladimir mit seiner Drohung nicht unbedingt die Niederlegung einer Mauer bezwecken wollen, sondern eine moralische Wirkung. Und diese Wirkung konnte als vollbracht gelten, wenn auch mit viel Mühe und Sorge für Herrn Verloc. Als aber höchst unerwartet die Fährte in die Brett Street hinein aufgespürt wurde, da nahm Herr Verloc, der wie ein Mann in einem bösen Traum um seine Stellung gekämpft hatte, den Schlag mit der Ruhe des überzeugten Fatalisten hin. Die Stellung war tatsächlich ohne jemandes Schuld verloren. Ein kleiner, lächerlicher Umstand hatte sie verwirkt; es war, wie wenn man im Dunklen über ein Stück Orangenschale ausgleitet und sich einen Fuß bricht.

Herr Verloc holte tief Atem. Er trug seiner Frau nichts nach. Er dachte: sie wird nach dem Laden sehen müssen, während ich eingesperrt bin. Und bei dem weiteren Gedanken, wie grausam sie zunächst Stevie vermissen würde, empfand er Sorge um ihre Gesundheit und Gemütsruhe. Wie würde sie die Einsamkeit ertragen? So ganz allein im Hause? Sie würde doch nicht zusammenbrechen während seiner Haft? Was sollte dann aus dem Laden werden? Der war ihre Rettung. Denn wenn auch Herrn Verlocs Fatalismus seine Absetzung als Geheimagent hinnahm, so lag es ihm – und zwar, wie gesagt werden muß, hauptsächlich mit Rücksicht auf seine Frau – doch ferne, sich dabei einfach zugrunde zu richten.

Es erschreckte ihn, wie sie nun schweigend und ihm unsichtbar in der Küche saß. Wäre nur die Mutter dagewesen! Aber das dumme, alte Weib – – Ein böser Zorn erfüllte Herrn Verloc. Er mußte mit seiner Frau sprechen. Er konnte ihr gewiß sagen, daß ein Mann unter gewissen Umständen verzweifeln muß. Aber er ging nicht unmittelbar daran, ihr diese Eröffnung zu machen. Zunächst einmal sagte er sich, daß an diesem Abend an kein Geschäft zu denken war. Darum ging er hin, um die Haustür zu schließen und die Gasflamme im Laden abzudrehen.

Nachdem er so die Einsamkeit an seinem Herd gesichert hatte, ging Herr Verloc ins Wohnzimmer zurück und sah in die Küche hinunter. Frau Verloc saß an dem Platz, wo der arme Stevie des Abends gewöhnlich zu sitzen pflegte, wenn er zum Zeitvertreib mit Bleistift die endlos sich schneidenden Kreise auf das Papier zeichnete, die an Chaos und Ewigkeit gemahnten. Sie hatte die Arme auf dem Tisch gekreuzt und das Haupt darauf gelegt. Herr Verloc betrachtete eine Zeitlang ihren Rücken und ihre Frisur und trat dann von der Küchentüre weg. Frau Verlocs philosophischer, fast verächtlicher Mangel an Neugier, die Grundlage ihres häuslichen Zusammenlebens, erschwerte es nun ungemein, angesichts dieser traurigen Notwendigkeit mit ihr in Fühlung zu kommen. Herr Verloc empfand diese Schwierigkeit auf das Schmerzlichste. Er wanderte rings um den Wohnzimmertisch, mit dem ihm eigenen Ausdruck eines großen Tieres in einem Käfig. Da die Neugierde eine der Formen der Selbstentblößung ist, so muß ein Mensch, der sich der Neugierde bewußt enthält, immer irgendwie geheimnisvoll bleiben. Sooft Herr Verloc an der Küchentüre vorbeikam, warf er seiner Frau einen queren Blick zu. Nicht, daß er sie gefürchtet hätte. Herr Verloc glaubte sich ja von dieser Frau geliebt. Doch hatte sie ihn nicht daran gewöhnt, Geständnisse zu machen. Und das Geständnis, das er nun zu machen hatte, war groß und schwer. Wie sollte er ihr mangels jeglicher Übung etwas sagen, was er selbst nur unklar empfand: daß es ein schicksalhaftes Zusammenwirken von Umständen gibt; daß mitunter ein Gedanke in einem Hirn wachsen kann, bis er selbständige Form annimmt, aus sich selbst Kraft gewinnt, und sogar Stimme? Er konnte ihr nicht beibringen, daß ein Mann von einem fetten, lustigen, glattrasierten Gesicht verfolgt werden kann, bis ihm selbst das verzweifeltste Mittel, es loszuwerden, tausendmal willkommen erscheint.

Bei dieser Erinnerung an den Ersten Sekretär einer großen Gesandtschaft blieb Herr Verloc im Türrahmen stehen, sah zornig, mit geballten Fäusten, in die Küche hinunter und redete seine Frau an:

»Du weißt nicht, mit was für einem Vieh ich es zu tun hatte.«

Er begann eine neue Wanderung um den Tisch; als er wieder zur Tür kam, blieb er stehen und sah von der Höhe der zwei Stufen hinunter.

»Ein dummes, höhnisches, gefährliches Vieh, mit nicht mehr Verstand als – – Nach all den Jahren! Gegen einen Mann wie mich! Und ich habe meinen Kopf dabei aufs Spiel gesetzt! Du wußtest nichts davon. Ganz mit Recht. Warum hätte ich dir auch sagen sollen, daß ich während all der sieben Jahre, die wir nun verheiratet sind, ständig Gefahr lief, ein Messer in die Brust zu bekommen? Ich bin nicht der Mann, der einer Frau, die ihn liebt, Sorgen macht. Du brauchtest es nicht zu wissen.«

Herr Verloc machte wieder schnaubend einen Rundgang.

»Ein giftiges Vieh«, hob er von der Türschwelle nochmals an. »Möchte mich in eine Sackgasse treiben und da verrecken lassen – so zum Spaß. Ich konnte ja sehen, daß ihm der Spaß verdammt gut gefiel. Gegen einen Mann wie mich! Schau einmal her! Einige der Höchsten auf dieser Welt haben es mir zu danken, daß sie heute noch auf ihren zwei Beinen herumgehen können! Das ist der Mann, den du geheiratet hast, mein Mädel!«

Er bemerkte, daß seine Frau sich aufgerichtet hatte. Frau Verlocs Arm blieb ausgestreckt auf dem Tisch liegen. Herr Verloc beobachtete ihren Rücken, als könnte er dort die Wirkung seiner Worte ablesen.

»Während der letzten elf Jahre gab es keine Mordverschwörung, in der ich nicht mit eigener Lebensgefahr die Finger gehabt hätte. Scharenweise habe ich die Revolutionäre abgeschickt mit den verfluchten Bomben in ihren Taschen, um sie an der Grenze abfangen zu lassen. Der alte Baron wußte, was ich für sein Land wert war. Und dann kommt jetzt plötzlich so ein Schwein daher – ein unwissendes anmaßendes Schwein!«

Herr Verloc trat langsam über die zwei Stufen in die Küche hinunter, nahm ein Glas von der Anrichte und näherte sich damit dem Wasserhahn, ohne nach seiner Frau zu sehen.

»Der alte Baron hätte sicher nicht die verdammte Dummheit begangen, mich um elf Uhr vormittags zu sich zu bestellen. Es gibt zwei oder drei Leute in dieser Stadt, die mir, hätten sie mich hineingehen sehen, ohne jedes Federlesen früher oder später den Kopf eingeschlagen hätten. Es war ein dummer, gefährlicher Streich, für nichts und wieder nichts einen Mann aufs Spiel zu setzen, – einen Mann wie mich!«

Herr Verloc hatte den Hahn aufgedreht und stürzte nun drei Gläser Wasser hinunter, um das Feuer seiner Entrüstung zu löschen. Herrn Vladimirs Verhalten hatte eine verzehrende Glut in ihm entfacht. Er konnte über die Rücksichtslosigkeit darin nicht wegkommen. Dieser Mann, nicht geschaffen für die hart arbeitenden Berufe, die die Gesellschaft ihren niedrig geborenen Mitgliedern vorbehält, hatte seinem geheimen Erwerb mit unermüdlicher Hingabe obgelegen. Herr Verloc war pflichtgetreu. Er war seinen Arbeitgebern treu gewesen, treu der Sache der gesellschaftlichen Ordnung – treu auch seinen Gefühlen, wie sich nun zeigte, da er das Glas zurücksetzte und sich mit den Worten umwandte:

»Hätte ich nicht an dich gedacht, dann hätte ich das höhnische Biest bei der Gurgel gepackt und mit dem Kopf ins Feuerloch gestoßen. Ich wäre ihm leicht Herr geworden, dem rotgesichtigen, glattrasierten –«

Herr Verloc unterließ es, den Satz zu beenden, als könnte es keinen Zweifel über das Schlußwort geben. Zum erstenmal in seinem Leben zog er diese nicht neugierige Frau in sein Vertrauen. Die Besonderheit des Ereignisses, die Stärke und Bedeutung seiner persönlichen Gefühle, die durch die Beichte ausgelöst wurden, drängten Stevies Schicksal glatt aus seinem Bewußtsein. Das zwischen Angst und Empörung pendelnde Dasein des Jungen war zugleich mit seinem gewaltsamen Ende vorläufig aus Herrn Verlocs Gesichtskreis entschwunden. Darum fühlte er sich, als er aufsah, überrascht von dem unerwarteten Ausdruck im Blick seiner Frau. Der Blick war nicht wild und auch nicht unaufmerksam, doch war seine Aufmerksamkeit sonderbar und unerfreulich, da sie auf irgendeinen Punkt hinter Herrn Verlocs Person gesammelt schien. Der Eindruck war so stark, daß Herr Verloc über die Schulter zurücksah. Es war nichts hinter ihm: nur die weißgetünchte Wand. Der ausgezeichnete Gatte von Winnie Verloc sah keine Schrift auf dieser Wand. Er wandte sich abermals zu seiner Frau und wiederholte nicht ohne Schwung:

»Ich hätte ihn bei der Gurgel genommen. So wahr ich hier stehe, hätte ich nicht an dich gedacht, so hätte ich aus dem Viehkerl das Leben halb herausgewürgt, bevor ich ihm erlaubt hätte, aufzustehen. Und glaube du ja nicht, daß er etwa nach der Polizei gerufen hätte. Er hätte es nicht gewagt. Du verstehst wohl warum – nicht wahr?«

Er zwinkerte seiner Frau wissend zu.

»Nein«, sagte Frau Verloc mit klangloser Stimme und ohne ihn anzusehen. »Wovon sprichst du?«

Eine große Entmutigung, das Ergebnis tiefer Ermüdung, überkam Herrn Verloc. Er hatte einen schweren Tag hinter sich, und seine Nerven waren bis zum äußersten beansprucht worden. Nach einem Monat voll erdrückender Mühsal, die mit einer unerwarteten Katastrophe geendet hatte, verlangte Herrn Verlocs sturmgepeitschtes Gemüt nach Ruhe. Seine Laufbahn als Geheimagent war auf eine Weise abgeschlossen worden, die niemand hätte voraussehen können; jetzt konnte er wenigstens hoffen, einmal eine Nacht ruhig zu schlafen. Als er seine Frau ansah, bezweifelte er das allerdings. Sie nahm es sehr schwer – gar nicht auf ihre gewohnte Art. Er machte einen Anlauf zum Reden.

»Du mußt dich unbedingt zusammennehmen, mein Mädel«, sagte er weich. »Was geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden.«

Frau Verloc fuhr leicht zusammen, obwohl kein Muskel ihres weißen Gesichts zuckte. Herr Verloc, der sie nicht ansah, fuhr gewichtig fort:

»Geh du jetzt nur zu Bett, du solltest dich richtig ausweinen.«

Diese Ansicht konnte sich offenbar auf einen weitverbreiteten Glauben stützen. Nach allgemeiner Auffassung muß jede weibliche Gemütserregung, als wäre sie weiter nichts als treibender Wasserdampf in der Luft, schließlich in einem Gusse enden, und es ist ja auch sehr wahrscheinlich, daß Frau Verlocs Schmerz sich in einer Flut bitterer, reiner Tränen Luft gemacht hätte, wäre Stevie in seinem Bett gestorben, unter ihren Augen, in ihren schützenden Armen. Frau Verloc war so gut wie andere menschliche Wesen einer unbewußten Ergebung fähig, stark genug, um dem gesetzmäßigen Ablauf eines Menschenschicksals zu begegnen. Ohne sich »den Kopf schwer zu machen«, begriff sie doch, daß man »dem nicht auf den Grund gehen dürfe«. Die jämmerlichen Begleitumstände von Stevies Tod aber, die für Herrn Verloc als Teil eines größeren Unglücks nur nebensächliche Bedeutung hatten, hemmten die Tränen seiner Frau schon an der Quelle. Es war, als hätte man ihr ein weißglühendes Eisen durch die Augen gezogen. Zugleich ließ ihr Herz, zu einem Eisklumpen erstarrt, ihren Leib innerlich erschauern und verlieh ihren Zügen die starre Unbeweglichkeit, mit der sie nun eine weißgetünchte, doch unbeschriebene Wand ansah. Frau Verlocs Temperament, das, sobald ihm die philosophische Hemmung genommen wurde, mütterlich und leidenschaftlich war, zwang sie, in ihrem Kopf eine Gedankenreihe abzuwickeln. Diese Gedankenreihe war allerdings mehr bildhaft als klar geformt. Frau Verloc war eine Frau von außergewöhnlich wenig Worten, sowohl gegen andere wie gegen sich selbst. Mit der Wut und dem Schmerz einer betrogenen Frau überdachte sie nochmals ihr bisheriges Leben und erging sich dabei zumeist in Vorstellungen von Stevies kümmerlichem Dasein von seiner ersten Jugend an. Ihr Leben stand edel geschlossen unter dem Antrieb eines einzigen Gefühls, wie eines der seltenen anderen, die den Gedanken und Gefühlen der Menschheit ihren Stempel aufgedrückt haben. Frau Verlocs Vorstellungen aber entbehrten des Edelmuts und der Großartigkeit. Sie sah sich selbst, wie sie beim Schein einer einzelnen Kerze den Jungen zu Bett brachte, im öden Dachgeschoß eines »Geschäftshauses«, das zu ebener Erde in einem Überfluß von Licht und Spiegelglas wie ein Feenpalast glänzte und unter dem Dach im Dunklen lag. Der trügerische Glanz des Erdgeschosses war der einzige Lichtblick in Frau Verlocs Erinnerungen. Sie erinnerte sich, wie sie dem Jungen das Haar gebürstet und den Latz umgebunden hatte – während sie selbst noch einen Latz trug; an die Tröstungen, die einem kleinen, bös verängstigten Wesen von einem anderen Wesen dargeboten wurden, das fast ebenso klein, aber nicht ganz so verängstigt war; sie gedachte der aufgefangenen Schläge (oft mit dem eigenen Kopfe aufgefangen), gedachte der Türen, die sie verzweifelt vor eines Mannes Wut zugehalten hatte (nicht recht lange); des Schürhakens, den sie einst (nicht sehr weit) geworfen, und der den Jähzorn zu der dumpfen Ruhe gebracht hatte, die einem Donnerschlag zu folgen pflegt. Alle diese Bilder voll Gewaltsamkeit zogen an ihrem Geist vorüber, begleitet von den undeutlichen, tiefen Ausrufen eines Mannes, der in seinem Vaterstolz tief verletzt war und sich selbst für verflucht erklärte, da eines seiner Kinder »ein sabbernder Trottel und das andere eine verdammte Hexe« war. Dies letztere war von ihr gesagt worden, vor vielen Jahren.

Frau Verloc hörte die Worte nochmals geisterhaft an ihr Ohr wehen, und dann senkte sich der traurige Schatten der Belgravia-Pension auf sie nieder. Es war eine erdrückende Erinnerung, die quälende Vorstellung von zahllosen Frühstücksbrettern, die sie über zahllose Stufen hinauf und hinunter getragen hatte, von endloser Pfennigdrückerei, von endloser Mühsal des Putzens, Staubens, Reinemachens, vom Keller bis zum Dach; während die kranke Mutter, auf ihren geschwollenen Beinen humpelnd, in der rußigen Küche wirtschaftete und der arme Stevie, der unbewußte Urheber all dieser Mühen, in der Abwaschküche die Schuhe der Zimmerherren putzte. Doch fehlte dieser Vorstellung nicht der Hauch eines heißen Londoner Sommers, und als Mittelpunkt ein junger Mann im Sonntagsgewand, mit einem Strohhut auf dem dunklen Haar und einer Holzpfeife im Munde. Zärtlich und lustig, schien er ein anziehender Genosse für die Fahrt auf dem glitzernden Strom des Lebens; nur sein Boot war zu klein. Darin war Platz für eine Gefährtin am Steuer, doch nicht für Fahrgäste. Den ließ man vom Steg der Belgravia-Pension wegtreiben, während Winnie ihre tränenvollen Augen abwandte. Er war kein Zimmerherr. Zimmerherr war Herr Verloc, der Bequemlichkeit, späte Stunden und, des Morgens, unter den Bettüchern hervor, schläfrige Scherzchen liebte, doch mit einem Glitzern ernsthafter Vernarrtheit in den schweren Augen, und immer mit Geld in den Taschen. Auf dem Strom seines Lebens lag durchaus kein Glitzern; er floß im Verborgenen. Doch seine Barke schien ein geräumiges Fahrzeug, und seine schweigsame Großmut nahm die Gegenwart von Fahrgästen als selbstverständlich hin.

Frau Verloc überdachte die sieben Jahre Sicherheit für Stevie, für die sie selbst treulich bezahlt hatte; eine Sicherheit, die zum Vertrauen geworden war, zu einem Heimatgefühl, still und tief wie ein ruhiger Weiher, dessen geschützte Oberfläche kaum je beim gelegentlichen Auftauchen des Genossen Ossipon erschauerte, des muskelstarken Anarchisten mit den schamlos lockenden Augen; diese lasterhaften Augen redeten eine so deutliche Sprache, daß jede nicht völlig verblödete Frau sie verstehen mußte.

Wenige Sekunden erst waren vergangen, seitdem das letzte laute Wort in der Küche gefallen war, und Frau Verloc folgte schon mit starrem Blick der Vision eines Vorfalls, der nicht länger als vierzehn Tage zurücklag. Mit Augen, deren Pupillen krankhaft erweitert waren, folgte sie der Vision ihres Mannes, wie er mit dem armen Stevie durch die Brett Street davonging. Das war das letzte Bild eines Daseins, das Frau Verlocs Kraft geschaffen hatte; ein Dasein ohne Anmut und Liebreiz, unschön und kaum noch schicklich, und dennoch wunderbar durch die Beharrlichkeit des grundlegenden Gefühls. Dies letzte Bild schien so greifbar nahe gerückt, so sprechend in allen Einzelheiten, daß es Frau Verloc ein schwaches, ängstliches Murmeln erpreßte, als Ausdruck ihrer innigsten Hoffnung, ein Murmeln, das schreckhaft auf ihren bleichen Lippen erstarb.

»Sie könnten Vater und Sohn sein.«

Herr Verloc hielt inne und sah mit vergrämtem Gesicht auf.

»Wie? Was sagst du?« fragte er. Da er keine Antwort bekam, nahm er sein finsteres Herumwandern wieder auf. Plötzlich hob er drohend die dicken, fleischigen Fäuste und brach los:

»Ja! Die Gesandtschaftsleute! Eine nette Gesellschaft, nicht? Ehe eine Woche 'rum ist, soll mehr als einer davon sich zwanzig Fuß unter die Erde wünschen, dafür will ich Sorge tragen. Wie? Was?«

Er schoß mit gesenktem Kopf einen Seitenblick. Frau Verloc starrte auf die weißgetünchte Wand. Eine leere Wand – völlig leer. Eine Leere, die einen verleiten konnte, mit dem Kopf dagegen zu rennen. Frau Verloc blieb unbeweglich sitzen. Sie blieb reglos, wie in verzweifeltem Staunen, wie die Bevölkerung der halben Erde reglos bleiben müßte, wenn plötzlich am Sommerhimmel, durch eine böse Laune der angebeteten Vorsehung, die Sonne verlöschen wollte.

»Die Gesandtschaft!« hob Herr Verloc wieder an, nach einer einleitenden Grimasse, die wolfsartig sein Gebiß entblößte. »Ich wollte, ich bekäme dort einmal für eine halbe Stunde freies Spiel, mit einem Knüppel in der Hand! Dann wollte ich zuschlagen, bis der ganzen Bande kein gerader Knochen mehr bliebe! Aber laß nur, ich will ihnen schon zeigen, was es heißt, einen Mann wie mich einfach auf die Straße setzen zu wollen. Ich habe eine Zunge im Kopf. Die ganze Welt soll wissen, was ich für sie getan habe. Ich fürchte mich nicht. Mir liegt nichts dran. Alles muß herauskommen. Jede verdammte Kleinigkeit. Die sollen nur aufpassen!«

In solche Worte kleidete Herr Verloc seinen Rachedurst. Es war eine durchaus passende Rache, in völliger Übereinstimmung mit Herrn Verlocs Sinnesrichtung. Sie hatte auch den weiteren Vorteil, in der Reichweite seiner Macht zu liegen und sich seinem Lebensberuf einzufügen, der ja gerade im Verrat geheimer und ungesetzlicher Pläne seiner Mitmenschen bestanden hatte. Anarchisten und Diplomaten waren für ihn eins. Herrn Verlocs Temperament verbot ihm die Achtung vor Einzelwesen. Seine Geringschätzung verteilte sich gleichmäßig auf sein ganzes Arbeitsfeld. Als Mitglied des revolutionären Proletariats aber – und das war er zweifellos – nährte er eher feindliche Empfindungen gegen gesellschaftliche Erhabenheit.

»Nichts auf der Welt kann mich jetzt aufhalten«, fügte er hinzu und sah seine Frau starr an, die ebenso starr die leere Wand ansah.

Das Schweigen in der Küche hielt weiter an, und Herr Verloc fühlte sich enttäuscht. Er hatte erwartet, daß seine Frau irgend etwas sagen würde. Doch Frau Verlocs Lippen zeigten dieselbe bildhafte Unbeweglichkeit wie ihr übriges Gesicht, und Herr Verloc war enttäuscht. Und doch, das erkannte er an, verlangte der Anlaß eigentlich kein Wort von ihr. Sie war eine sehr wortkarge Frau. Aus Gründen, auf denen seine ganze Psychologie aufgebaut war, neigte Herr Verloc dazu, jeder Frau zu vertrauen, die sich ihm ergeben hatte. Darum vertraute er seiner Gattin. Ihre Übereinstimmung war vollkommen, aber nicht begründet. Es war ein stillschweigendes Übereinkommen, das aus Frau Verlocs Mangel an Neugier herrührte, und aus Herrn Verlocs Haupteigenschaften, der Faulheit und Geheimnistuerei. Beide hielten sich zurück, den Tatsachen und Gefühlen auf den Grund zu gehen.

Diese Zurückhaltung bezeugte einerseits zwar ihr gegenseitiges Vertrauen, brachte aber auch eine Art Ziellosigkeit in ihre engsten Beziehungen. Keine eheliche Verbindung ist vollkommen. Herr Verloc nahm an, daß seine Frau ihn verstanden habe, hätte sie aber gerne ihre Meinung gerade in diesem Augenblick aussprechen hören. Es wäre ihm ein Trost gewesen.

Es gab mehrere Gründe, aus denen ihm dieser Trost versagt wurde. Einen körperlichen: Frau Verloc hatte ihre Stimme nicht hinlänglich in der Gewalt. Ihr blieb nur die Wahl zwischen Schreien und Schweigen, und sie wählte unwillkürlich das Schweigen. Hinzu kam das lähmende Grauen des Gedankens, der sie erfüllte. Ihre Wangen waren bleich, ihre Lippen aschfarben, ihre Reglosigkeit erschreckend. Und sie dachte, ohne Herrn Verloc anzusehn: »Dieser Mensch nahm den Jungen mit sich, um ihn zu morden. Nahm den Jungen aus seinem Heim, um ihn zu morden. Nahm den Jungen von mir fort, um ihn zu morden.«

Frau Verlocs Wesen war durch diesen Gedanken zuinnerst aufgerührt, der sie bei aller Formlosigkeit zum Irrsinn trieb und sie ganz erfüllte, bis in die Adern, die Knochen und die Haarwurzeln hinein. Innerlich nahm sie die biblische Haltung der Trauernden ein – verhülltes Gesicht, zerfetzte Gewänder; der Klang von Jammern und Wehklagen erfüllte ihr Ohr. Doch ihre Zähne waren wütend zusammengebissen, und in ihren tränenlosen Augen brannte die Wut, denn sie war nicht unterwürfig. Der Schmerz um ihren Bruder war von Anfang an nicht frei von stolzer Entrüstung. Sie hatte ihn mit wahrhafter Liebe geliebt. Sie hatte für ihn gekämpft, sogar gegen sich selbst. Sein Verlust hatte die Bitterkeit einer Niederlage, zugleich mit der Qual betrogener Leidenschaft. Das war kein gewöhnlicher Todesfall. Überdies hatte ja auch nicht der Tod Stevie von ihr genommen. Herr Verloc war es, der ihn genommen hatte. Sie hatte ihn gesehen. Sie hatte, ohne eine Hand zu rühren, zugesehen, wie er den Jungen wegführte. Und sie hatte ihn gehen lassen, wie – wie eine Närrin – eine blinde Närrin! Und nachdem er den Jungen umgebracht hatte, war er nun heimgekommen, zu ihr. Einfach heimgekommen, wie jeder andere Mann zu seiner Frau heimkam.

Zwischen zusammengebissenen Zähnen murmelte Frau Verloc gegen die Wand:

»Und ich dachte, er hätte sich erkältet!«

Herr Verloc hörte dieses Wort und griff es auf.

»Es war nichts,« meinte er verdrießlich, »ich war außer mir, deinetwegen.«

Frau Verloc wandte langsam den Kopf und richtete ihren Blick von der Wand weg auf ihren Gatten. Herr Verloc hielt die Fingerspitzen zwischen den Lippen und sah zu Boden.

»Nicht zu ändern«, murmelte er und ließ die Hand sinken. »Du mußt dich zusammennehmen. Du wirst deinen ganzen Witz brauchen. Du warst es, die uns die Polizei auf den Hals gehetzt hat. Macht nichts. Ich will kein Wort weiter darüber verlieren«, fuhr Herr Verloc großmütig fort. »Du konntest es nicht wissen.«

»Ich konnte es nicht wissen«, hauchte Frau Verloc. Es war, als hätte ein Leichnam gesprochen. Herr Verloc nahm den Faden seiner Rede wieder auf.

»Ich mache dir keinen Vorwurf. Ich will sie schon kitzeln! Wenn ich einmal hinter Schloß und Riegel sitze, dann kann ich in aller Sicherheit reden – du verstehst. Du mußt dich darauf einrichten, daß ich zwei Jahre weg von dir bin«, fuhr er ehrlich betrübt fort. »Das wird für dich leichter sein, als für mich. Du wirst etwas zu tun haben, während ich – – Schau einmal, Winnie, deine Hauptaufgabe wird es sein, diesen Laden zwei Jahre lang weiter zu führen. Du verstehst genug davon. Du hast einen guten Kopf. Ich werde es dich wissen lassen, wenn die Zeit gekommen sein wird, den Verkauf einzuleiten. Dann wird doppelte Vorsicht nötig sein. Die Genossen werden dich die ganze Zeit über im Auge behalten. Du wirst so verschlagen sein müssen, wie nur möglich, und stumm wie das Grab. Niemand darf wissen, was du vorhast. Ich möchte nicht gerne unmittelbar nach meiner Freilassung einen Hieb über den Schädel oder einen Stich zwischen die Rippen bekommen!«

Also sprach Herr Verloc und strengte seinen erfinderischen Geist an, um die Rätsel der Zukunft zu lösen. Seine Stimme klang düster, da er das richtige Gefühl für die Lage hatte. Alles war gerade so gekommen, wie er es nicht gewünscht hatte. Die Zukunft war in Frage gestellt. Vielleicht hatte seine Urteilskraft vorübergehend gelitten unter der Angst vor Herrn Vladimirs toller Bosheit. Bei einem Mann über Vierzig mag es entschuldbar sein, wenn er durch die Aussicht auf den Verlust seiner Stellung den Verstand verliert, ganz besonders dann, wenn dieser Mann ein Geheimagent der politischen Polizei ist, der sich geborgen wähnt im Bewußtsein seines hohen Wertes und der Wertschätzung hoher Persönlichkeiten. Er war entschuldbar.

Nun hatte die Sache mit einem Krach geendet. Herr Verloc war kalt, aber nicht heiter. Ein Geheimagent, der aus Rachsucht sein Geheimnis den Winden preisgibt und sein verstecktes Tun den Augen der Menge, wird dadurch zur Zielscheibe für verzweifelte und blutdürstige Wut. Ohne die Gefahr unnütz zu übertreiben, versuchte Herr Verloc doch, sie seiner Frau klar vor Augen zu stellen. Er wiederholte, daß er nicht die Absicht habe, sich von den Revolutionären beseitigen zu lassen.

Er sah seiner Frau gerade in die Augen. Die erweiterte Pupille der Frau nahm seinen Blick in ihre unergründlichen Tiefen auf.

»Dazu habe ich dich zu lieb«, sagte er mit einem kurzen, nervösen Lachen.

Eine schwache Röte überflog Frau Verlocs geisterhaftes, bleiches Gesicht. Sobald die Gesichte der Vergangenheit an ihr vorübergezogen waren, hatte sie die Worte ihres Mannes nicht nur gehört, sondern auch verstanden. Infolge ihres grellen Gegensatzes zu ihrem eigenen Gemütszustand hatten diese Worte eine Wirkung, die dem Ersticken nahe kam. Frau Verlocs Gemütszustand hatte den Vorzug der Einfachheit für sich; doch war er nicht gesund. Dazu stand er zu sehr unter dem Einfluß einer fixen Idee. Jede kleinste Windung ihres Hirns war ausgefüllt von dem Gedanken, daß dieser Mann, mit dem sie sieben Jahre lang ohne Widerwillen zusammengelebt hatte, den »armen Jungen« von ihr genommen hatte, um ihn zu töten – der Mann, an den sie sich mit Seele und Leib gewöhnt hatte; der Mann, dem sie vertraut, hatte den Jungen weggenommen, um ihn zu töten! In seiner Form, seinem Gehalt und seiner Wirkung, die umfassend sogar auf das Aussehen unbeseelter Dinge sich zu erstrecken schien, war das ein Gedanke, über dem man still sitzen konnte, ohne aus der Verwunderung herauszukommen. Frau Verloc saß still. Und in ihren Gedanken (nicht in der Küche) wanderte Herrn Verlocs Gestalt auf und ab, wie gewöhnlich in Hut und Überrock, und stampfte mit den Stiefeln auf ihrem Hirn herum. Wahrscheinlich sprach er auch; doch Frau Verlocs Gedanken übertönten meistens seine Stimme.

Dann und wann schuf sich allerdings die Stimme Gehör. Ein paar zusammenhängende Worte tauchten auf, die allgemein zuversichtlich klangen. Bei jedem solchen Anlaß verloren Frau Verlocs erweiterte Pupillen ihre ferne Starrheit und verfolgten die Bewegungen ihres Gatten mit düsterer, gespannter Aufmerksamkeit. Genau unterrichtet von allem, was zu seinem geheimen Gewerbe gehörte, erhoffte Herr Verloc für seine Pläne besten Erfolg. Er glaubte tatsächlich, daß es im Grunde leicht fallen würde, den Messern wütender Revolutionäre zu entgehen. Er hatte die Stärke wie die Länge ihres Arms (beruflich) zu oft übertrieben, um sich über die eine oder die andere sonderlichen Täuschungen hinzugeben. Denn um richtig übertreiben zu können, muß man erst genau abgeschätzt haben. Er wußte auch, wieviel Tugend und wieviel Niedertracht vergessen werden kann – in zwei langen Jahren. Seine erste, wirklich vertrauliche Unterredung mit seiner Frau war überzeugt zuversichtlich. Nebenbei hielt er es auch sonst für richtig, soviel Zuversicht zu zeigen, wie er nur aufbringen konnte. Das mußte der armen Frau Mut machen. Nach seiner Freilassung, die, wie sein ganzes Leben, geheim gehalten werden würde, wollten sie zusammen verschwinden, ohne Zeit zu verlieren. Was die Verwischung ihrer Fährte anbetraf, so bat er seine Frau, sich auf ihn zu verlassen. Er wüßte schon, wie er es machen müßte, daß der Teufel selbst – – –

Er schwenkte die Hand. Er schien sich rühmen zu wollen. Doch wollte er ihr nur Mut machen. Die Absicht war gut, doch hatte Herr Verloc das Unglück, sich mit seiner Zuhörerin nicht im Einklang zu befinden.

Der selbstbewußte Ton drängte sich Frau Verlocs Ohren auf, die doch die meisten Worte unbeachtet ließ; denn was konnten Worte ihr jetzt noch sagen? Was konnten Worte ihr bedeuten, im Guten oder im Bösen, angesichts ihrer fixen Idee? Ihr dunkler Blick folgte dem Mann, der sich seiner Straflosigkeit rühmte – dem Mann, der den armen Stevie von Hause weggenommen hatte, um ihn irgendwo umzubringen. Frau Verloc konnte sich nicht mehr genau erinnern, wo, doch ihr Herz begann hörbar zu schlagen.

Herr Verloc drückte nun im Ton ehelicher Zuversichtlichkeit die feste Hoffnung aus, daß noch eine lange Reihe ruhiger Lebensjahre vor ihnen beiden läge. Auf die Frage der Mittel ging er nicht ein. Ein ruhiges Leben mußte es werden, und naturgemäß im Schatten verborgen, unter friedfertigen Menschen, bescheiden, wie das Leben der Veilchen. Herrn Verlocs Worte waren: »eine Weile versteckt bleiben.« Und weit fort von England natürlich. Es war nicht klar, ob Herr Verloc an Spanien oder an Südamerika dachte; bestimmt aber an das Ausland.

Dieses letzte Wort traf Frau Verlocs Ohr und brachte einen endgültigen Eindruck hervor. Der Mann da redete von Auswanderung. Der Eindruck war völlig zusammenhanglos; und so groß ist die Macht der Gewohnheit, daß Frau Verloc sich sofort und unüberlegt fragte: »Und was wird aus Stevie?«

Es war eine Art Vergeßlichkeit; doch kam ihr sofort zum Bewußtsein, daß von nun an diese Art Sorge überflüssig war. Nie wieder würde sich der Anlaß dazu bieten. Der arme Junge war weggeführt und umgebracht worden. Der arme Junge war tot. Diese Vergeßlichkeit schärfte Frau Verlocs Verstandestätigkeit. Sie begann Folgerungen ins Auge zu fassen, die Herrn Verloc wohl überrascht hätten. Es war also nicht mehr nötig, daß sie hier bliebe, in dieser Küche, in diesem Hause, mit diesem Manne – da der Junge für immer gegangen war. Nicht mehr nötig. Und dabei erhob sich Frau Verloc, wie von einer Feder emporgeschnellt. Doch konnte sie ebensowenig einsehen, was sie überhaupt noch in der Welt hielt, und dies zwang sie zum Verweilen. Herr Verloc beobachtete sie mit ehelicher Besorgnis.

»Nun siehst du dir schon wieder mehr gleich«, meinte er verlegen. Seine Zuversicht wurde gestört von einem ungewohnten Ausdruck in den dunklen Augen seiner Frau. Gerade in diesem Augenblick begann Frau Verloc an sich hinunterzusehen, wie erlöst von allen irdischen Banden. Sie hatte ihre Freiheit. Ihre Verpflichtung gegen das Leben, verkörpert in dem Manne dort drüben, war zu Ende. Sie war ein freies Weib. Wäre diese Ansicht Herrn Verloc irgendwie zur Kenntnis gekommen, so hätte sie ihn zweifellos höchlichst empört. In seinen Herzensangelegenheiten war Herr Verloc immer freigebig gewesen, allerdings aber aus der Überzeugung heraus, um seiner selbst willen geliebt zu werden. Hierin deckten sich seine sittlichen Begriffe völlig mit seiner Eitelkeit, und er war unbekehrbar. Daß es sich im Fall seiner tugendhaften, gesetzmäßigen Verbindung nicht anders verhalten konnte, war ihm unumstößliche Gewißheit. Er war älter geworden, fetter, massiger, in dem festen Glauben, daß er keine Reize brauchte, um seiner selbst willen geliebt zu werden. Als er nun sah, wie Frau Verloc sich anschickte, wortlos aus der Küche hinauszugehen, da war er enttäuscht.

»Wohin gehst du?« rief er ziemlich scharf. »Hinauf?«

Frau Verloc hielt im Türrahmen an. Klugheit, aus Furcht, der maßlosen Furcht geboren, der Mann könnte sich nähern und sie berühren, trieb sie, ihm (von zwei Stufen aus) zuzunicken, mit einem Zucken der Lippen, das Herr Verloc in ehelicher Gutgläubigkeit als ein leichtes, verschwommenes Lächeln deutete.

»Das ist recht«, ermutigte er sie bärbeißig. »Du brauchst völlige Ruhe. Geh nur. Es wird nicht lange dauern, bis ich dir nachkomme.«

Frau Verloc, das freie Weib, die tatsächlich keine Idee gehabt hatte, wohin sie wollte, befolgte die Anregung in starrer Ruhe.

Herr Verloc beobachtete sie. Sie verschwand im Treppenhaus. Er war enttäuscht. Etwas in ihm wäre befriedigt gewesen, wenn sie sich an seine Brust geworfen hätte. Doch war er großmütig und nachsichtig. Winnie war immer schweigsam und Gefühlsäußerungen abgeneigt gewesen. Auch Herr Verloc war im allgemeinen kein Freund von Worten und Zärtlichkeiten. Doch dies war kein gewöhnlicher Abend. Es war ein Anlaß, wo ein Mann wünschen konnte, in unverhohlenen Liebesbeweisen Kraft und Trost zu finden. Herr Verloc seufzte und drehte das Gas in der Küche ab. Herrn Verlocs Mitgefühl war echt und tief. Es trieb ihm fast die Tränen in die Augen, als er nun im Wohnzimmer stand und die Einsamkeit überdachte, die ihr bevorstand. In solcher Stimmung vermißte Herr Verloc in dieser schwierigen Welt Stevie sehr. Er gedachte traurig seines Endes. Wenn nur der Junge sich nicht so töricht zugrunde gerichtet hätte!

Das Gefühl unersättlichen Hungers, das nach kühnen Unternehmungen auch Abenteurern von größerem Ausmaß nicht fremd ist, überkam Herrn Verloc abermals. Das Stück Rindsbraten, das wie zu Stevies Leichenmahl ausgelegt schien, erregte seine Aufmerksamkeit. Und Herr Verloc bediente sich nochmals. Er tat es gierig, ohne alle Schicklichkeit und Zurückhaltung, schnitt sich mit dem scharfen Vorlegemesser dicke Scheiben herunter und verschlang sie ohne Brot. Während dieses Mahles fiel es Herrn Verloc auf, daß er sein Weib nicht im Schlafzimmer umhergehen hörte, wie es doch eigentlich hätte der Fall sein müssen. Der Gedanke, sie vielleicht im Dunklen auf dem Bettrand sitzend zu finden, verschlug ihm nicht nur den Appetit, sondern nahm ihm auch alle Neigung, ihr gerade jetzt hinauf zu folgen. Herr Verloc legte das Vorlegemesser hin und lauschte besorgt.

Zu seinem Trost hörte er sie schließlich sich bewegen. Sie durchschritt plötzlich das Zimmer und stieß ein Fenster auf. Nachdem es oben eine Weile still gewesen, wobei er sich vorstellte, daß sie den Kopf hinausgestreckt hatte, hörte er, wie der Laden langsam heruntergelassen wurde. Dann machte sie einige Schritte und setzte sich. Jedes kleinste Geräusch in seinem Hause war Herrn Verloc vertraut, da er ja überaus häuslich war. Als er seines Weibes Schritte zum nächsten Male über sich hörte, da wußte er so genau, als hätte er sie es tun sehen, daß sie ihre Straßenschuhe angelegt hatte. Herr Verloc zuckte bei diesem betrüblichen Anzeichen leicht die Schultern, trat vom Tisch weg, stellte sich mit dem Rücken an den Kamin, den Kopf schief geneigt, und kaute ratlos an den Fingerspitzen. Er verfolgte ihre Bewegungen nach dem Schall. Sie ging aufgeregt dahin und dorthin, blieb unvermittelt stehen, einmal vor dem Schubladekasten, einmal vor dem Hängeschrank. Am Feierabend dieses Tages voll Aufregung und Mühsal drückte eine ungeheure Müdigkeit Herrn Verlocs Lebenskraft nieder.

Er hob die Augen nicht, bevor er seine Gattin die Stiege herunterkommen hörte. Sie war, wie er es vermutet hatte, zum Ausgehen gekleidet.

Frau Verloc war ein freies Weib. Sie hatte das Schlafzimmerfenster aufgestoßen, um entweder »Hilfe, Mörder« zu schreien oder sich selbst hinauszuwerfen. Denn sie wußte nicht genau, welchen Gebrauch sie von ihrer Freiheit machen sollte. Ihre Persönlichkeit schien in zwei Stücke gerissen, deren geistige Tätigkeit nicht völlig zusammenzupassen schien. Die Gasse, die schweigend und öde vor ihr lag, stieß sie ab, weil sie ihr auf Seiten des Mannes zu stehen schien, der seiner Straflosigkeit so sicher war. Sie fürchtete sich, zu schreien, weil vielleicht niemand kommen würde. Ganz sicher würde niemand kommen. Ihr Selbsterhaltungstrieb schreckte vor dem tiefen Sturz in den engen, schlammigen Graben zurück. Frau Verloc schloß das Fenster und zog sich an, um auf andere Weise auf die Straße hinunter zu gelangen. Sie war ein freies Weib. Sie hatte sich vollständig angekleidet und auch einen schwarzen Schleier vors Gesicht gebunden. Als sie im trüben Licht des Wohnzimmers vor ihm stand, bemerkte Herr Verloc, daß sie sogar ihr kleines Täschchen am Handgelenk hängen hatte . . . Natürlich wollte sie nun eiligst zu ihrer Mutter.

Seinem ermüdeten Hirn drängte sich der Gedanke auf, daß Frauen doch im Grunde recht unbequeme Geschöpfe waren. Doch er war zu großmütig, um diesem Gedanken länger als einen Augenblick nachzuhängen. Dieser Mann, grausam in seiner Eitelkeit getroffen, blieb doch großmütig in seiner Haltung und erlaubte sich weder die Genugtuung eines bitteren Lächelns, noch die einer verächtlichen Bewegung. Mit wahrer Seelengröße blickte er nur nach der Holzuhr an der Wand und sagte mit vollendeter, wenn auch etwas gemachter Ruhe:

»Fünfundzwanzig Minuten nach acht, Winnie. Es hat keinen Sinn, so spät noch dahin zu gehen. Du würdest heut abend keinesfalls zurückkommen können.«

Vor seiner ausgestreckten Hand war Frau Verloc kurz stehengeblieben. Er fügte nachdrücklich hinzu: »Deine Mutter wird zu Bett gegangen sein, bevor du hinkommst. Dies ist eine Neuigkeit, die gut warten kann.«

Nichts lag Frau Verloc ferner, als zu ihrer Mutter zu gehen. Sie wich vor dem bloßen Gedanken daran zurück, fühlte einen Stuhl hinter sich, folgte der Anregung und setzte sich. Ihre Absicht war gewesen, ganz einfach für immer aus der Türe zu gehen. Und so richtig dieses Gefühl war, so nahm es, ihrer Herkunft und ihrem Stande entsprechend, auch schlichte Form an. »Ich wollte lieber alle Tage meines Lebens durch die Straßen wandern«, dachte sie. Doch dieses Geschöpf, dessen Innenleben einer Erschütterung ausgesetzt worden war, mit der verglichen das stärkste Erdbeben der Geschichte als lächerliche Nebensache erscheinen mußte, dieses Geschöpf war durch die geringfügigsten Umstände, durch zufällige Berührungen zu lenken. Sie setzte sich. Mit ihrem Hut und Schleier sah sie wie ein Besuch aus, als hätte sie auf einen Augenblick zu Herrn Verloc hereingesehen. Ihre augenscheinliche Gefügigkeit ermutigte ihn, während der Umstand ihn ärgerte, daß sie sich so stumm und nur vorübergehend fügte.

»Laß dir sagen, Winnie,« begann er etwas von oben herab, »daß dein Platz heute abend hier ist. Zum Teufel! Du hast mir die verdammte Polizei auf die Fersen gesetzt. Ich tadle dich nicht – aber es bleibt doch dein Werk! Du solltest lieber den verwünschten Hut wegtun. Ich kann dich nicht ausgehen lassen, liebes Mädel«, fügte er weicher hinzu.

Frau Verloc hakte an dieser Erklärung mit krankhafter Hartnäckigkeit ein. Der Mann, der Stevie gerade unter ihren Augen weggeführt hatte, um ihn an einem Ort umzubringen, dessen Name ihr augenblicklich nicht gegenwärtig war, – dieser Mann wollte ihr nicht erlauben, auszugehen. Natürlich nicht. Nun, da er Stevie ermordet hatte, würde er sie nie mehr gehen lassen. Er würde sie, für nichts und wieder nichts, festhalten wollen. Und bei dieser bezeichnenden Folgerung, die alle Kraft ungesunder Logik aufwies, begannen Frau Verlocs zerstreute Gedanken zusammenhängend zu arbeiten. Sie konnte an ihm vorbeischlüpfen, die Türe aufreißen, hinausrennen. Aber er würde hinter ihr dreinstürzen, sie um den Leib fassen und in den Laden zurückzerren. Sie konnte kratzen, stoßen, beißen – und auch stechen; zum Stechen aber brauchte sie ein Messer. Frau Verloc saß still unter ihrem schwarzen Schleier, in ihrem eigenen Hause, wie ein maskierter, geheimnisvoller Besucher mit unergründlichen Absichten.

Herrn Verlocs Großmut hatte menschliche Grenzen. Die waren nun erreicht.

»Kannst du nichts sagen? Du hast eine eigene Art, einen Mann zu ärgern. O ja! Ich kenne deinen Taubstummentrick. Du hast ihn mir schon früher vorgemacht. Aber eben jetzt hilft er dir nichts! Und zuerst einmal nimm das verfluchte Ding ab. Man weiß ja nicht, ob man zu einer Puppe spricht oder zu einer lebenden Frau.«

Er trat vor, riß mit ausgestreckter Hand den Schleier herunter und enthüllte dabei ein unbewegtes Gesicht, an dem seine nervöse Gereiztheit zerbrach wie eine Glasflasche, die gegen einen Fels geschleudert wird. »So ist's besser«, sagte er, um seine augenblickliche Verlegenheit zu verbergen, und zog sich an seinen alten Platz am Kamin zurück. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß seine Frau ihn aufgeben konnte. Nur schämte er sich ein wenig, denn er hatte sie lieb und war edelmütig. Was konnte er tun? Alles war schon gesagt. Er brach heftig los:

»Beim Himmel! Weißt du, daß ich in allen Winkeln gesucht habe? Ich habe mich fast preisgegeben, um jemand für das verfluchte Geschäft zu finden. Und ich sage dir nochmals, ich konnte niemand finden, der närrisch oder hungrig genug gewesen wäre. Wofür hältst du mich eigentlich – für einen Mörder, oder für was? Der Junge ist weg. Aber glaubst du, ich habe es gewollt, daß er in die Luft flog? Er ist weg. Seine Nöte sind 'rum. Unsere beginnen erst, sage ich dir. Gerade, weil er sich in die Luft gesprengt hat. Ich tadle dich nicht. Aber versuche doch zu verstehen, daß es ein reiner Unfall war; genau so ein Unfall, als hätte ihn ein Omnibus überfahren, während er die Straße überquerte.«

Sein Edelmut war nicht grenzenlos, eben weil er ein Mensch war – und nicht ein Ungeheuer, wofür ihn Frau Verloc hielt. Er hielt inne, und ein Schnauben, das seinen Schnurrbart hob und die weißschimmernden Zähne bloßlegte, gab ihm den Ausdruck eines nachdenklichen Tieres, eines nicht sehr gefährlichen, langsamen Tieres mit glattem Kopf, brummiger als ein Seehund und mit heiserer Stimme.

»Und da wir schon dabei sind: es ist genau so gut dein Werk, wie das meine. Das ist so. Du kannst mich anstarren, so lange du willst. Ich weiß ganz gut, wie weit du es darin treiben kannst. Schlag mich tot, wenn ich je daran gedacht habe, den Jungen dazu zu verwenden. Du hast ihn mir immer wieder in den Weg geschoben, als ich halb verrückt war vor lauter Nachdenken, wie ich uns allen die Teufelei vom Halse schaffen könnte. Warum zum Henker hast du das getan? Man konnte es fast für Absicht halten. Und ich will verdammt sein, wenn ich es nicht dafür hielt. Man kann ja nie wissen, wieviel du von dem, was vorgeht, insgeheim begriffen hast, bei deiner verfluchten, kaltschnäuzigen Art, nirgendwohin zu sehen und nichts zu sagen.«

Seine heisere Stimme schwieg eine Weile. Frau Verloc entgegnete nichts. Angesichts dieses Schweigens schämte er sich seiner Worte. Doch wie es friedlichen Männern in häuslichen Zwisten oft geschieht: da er sich schämte, ging er noch einen Schritt weiter.

»Du hast mitunter eine verteufelte Art, den Mund zu halten,« fuhr er fort, ohne die Stimme zu heben, »genug, um einen verrückt zu machen. Ein Glück für dich, daß ich nicht so leicht über deine taubstummen Künste aus dem Häuschen gerate, wie vielleicht manche andere. Ich habe dich gern. Aber treib du es nicht zu weit! Dies ist nicht die Zeit dazu. Wir sollten nachdenken, was wir nun am besten zu tun haben. Ich kann dich heute abend nicht mehr ausgehen lassen, damit du mit irgendeiner verrückten Geschichte über mich zu deiner Mutter rennst. Ich will es nicht haben. Gib dich keinem Irrtum darüber hin: wenn du sagst, daß ich den Jungen umgebracht habe, dann hast du ihn mindestens ebensogut umgebracht.«

An Echtheit der Empfindung und Offenherzigkeit übertrafen diese Worte bei weitem alles, was je in dieser Häuslichkeit ausgesprochen worden war, die, unter dem Aushängeschild eines Handels mit mehr oder minder geheimen Waren, von dem Solde für eine Geheimtätigkeit erhalten wurde: armselige Mittel, die einem Durchschnittsmenschen geeignet scheinen konnten, die unvollkommene menschliche Gesellschaft vor den nicht minder geheimen Gefahren seelischer und körperlicher Zerrüttung zu bewahren. Die Worte waren ausgesprochen worden, weil Herr Verloc tatsächlich empört war; doch blieb die trauliche Behäbigkeit dieses Heims augenscheinlich unberührt davon, dieses Heims, das in einer düsteren Straße, hinter einem Laden gelegen war, wohin die Sonne nie drang. Frau Verloc hörte ihn mit vollendeter Höflichkeit bis zu Ende an und erhob sich dann von ihrem Stuhl, in Hut und Jacke, wie eine Besucherin, die sich empfehlen will. Sie näherte sich ihrem Gatten, einen Arm ausgestreckt, wie zu stummem Lebewohl. Ihr Schleier, dessen eines Ende an ihrer linken Gesichtshälfte herunterhing, gab ihren gemessenen Bewegungen einen Anstrich von Leichtfertigkeit. Als sie aber am Kamin ankam, stand Herr Verloc nicht länger dort. Er war zum Sofa hingegangen, ohne sich auch nur mit einem Blick von der Wirkung seines Redeschwalls zu überzeugen. Er war müde, dabei aber ganz ehelich ergeben. Doch fühlte er sich im zartesten Punkt seiner geheimen Schwäche verletzt. Wollte sie in dem fürchterlich erdrückenden Schweigen verharren – nun gut, dann mochte sie es tun. Sie war Meisterin in jener häuslichen Kunst. Herr Verloc warf sich wuchtig auf das Sofa, wie gewöhnlich, ohne sich um das Schicksal seines Huts zu kümmern, der, daran gewöhnt, für sich selbst zu sorgen, unter dem Tisch Zuflucht suchte.

Er war müde. Die letzten Reste seiner Nervenkraft waren in den erstaunlichen Fehlschlägen dieses Schicksalstages aufgegangen, der einen Monat voll Schlaflosigkeit, Gespensterseherei und Unrast abschloß. Er war müde. Der Mensch ist nicht von Stein. Hol' alles der Teufel! Herr Verloc nahm seine besondere Ruhestellung ein, in Überkleidern. Der eine offene Flügel seines Überrocks schleifte auf dem Boden. Herr Verloc lag auf dem Rücken. Doch sehnte er sich nach besserem Ausruhen – nach Schlaf – nach ein paar Stunden köstlichen Vergessens. Das würde später kommen. Vorläufig ruhte er einmal und dachte: »Wenn sie nur den verdammten Unsinn lassen wollte! Es macht einen toll!«

An Frau Verlocs Gefühl neugewonnener Freiheit schien irgend etwas nicht zu stimmen. Anstatt nun zur Türe hinauszugehen, lehnte sie sich mit den Schultern gegen den Kaminsims, wie ein Wanderer an einem Zaune rastet. Durch den schwarzen Schleier, der wie ein Fetzen an ihrer Wange herunterhing, kam etwas Wildes in ihr Aussehn, ebenso wie durch die Starrheit ihrer schwarzen Augen, die das Licht restlos aufnahmen, ohne auch nur einen Schimmer davon zurückzustrahlen. Die Frau, die eines Handels fähig gewesen war, dessen bloße Andeutung Herrn Verlocs Begriff von Liebe über den Haufen geworfen hätte, zögerte nun, wie unter dem peinlichen Eindruck, daß sie etwas tun müsse, um der Angelegenheit einen richtigen Abschluß zu geben.

Auf dem Sofa räkelte Herr Verloc seine Schultern in die bequemste Lage und sprach aus vollem Herzen einen Wunsch aus, der gewiß so fromm war, wie nur irgend etwas, das aus dieser Quelle zu erwarten war.

»Ich wünschte zu Gott,« knurrte er, »daß ich weder Greenwich Park, noch irgend etwas, was dazu gehört, je gesehen hätte.«

Die leisen Worte füllten das Zimmer mit ihrem Klang, der der bescheidenen Art des Wunsches angemessen war. Die Luftwellen von geziemender Länge verbreiteten sich nach genauen mathematischen Gesetzen, umfluteten alle unbelebten Dinge im Zimmer und schlugen auch an Frau Verlocs Kopf, als wäre es ein Kopf von Stein. Und so unglaublich es klingen mag, Frau Verlocs Augen schienen noch größer zu werden. Dieser hörbare Wunsch aus Herrn Verlocs übervollem Herzen überflutete eine leere Stelle im Gedächtnis seines Weibes. Greenwich Park! Ein Park! Dort war der Junge getötet worden! Ein Park – zerfetzte Zweige, abgerissene Blätter, Kies, Fetzen von brüderlichem Fleisch und Bein, alles wie in einem Feuerwerk durcheinander gewirbelt. Nun erinnerte sie sich daran, was sie gehört hatte, und sah es zugleich bildhaft vor sich. Sie mußten ihn mit der Schaufel zusammenkratzen. Von zwingenden Schauern geschüttelt, sah sie die grauenhafte Handlung, wie er vom Boden aufgekratzt wurde, geradezu vor sich. Frau Verloc schloß verzweifelt die Augen, warf über die Vision das Dunkel ihrer Lider, wo nach dem Niederregnen zerfetzter Gliedmaßen Stevies abgerissener Kopf losgelöst schweben blieb, um endlich ins Schattenhafte zu verschwimmen, wie der Schlußeffekt eines künstlichen Feuerwerks. Frau Verloc schlug die Augen auf.

Ihr Antlitz war nicht länger steinern. Jedermann hätte die feine Veränderung in ihren Zügen, im Blick ihrer Augen bemerken können, die ihr ein überraschend neues Aussehen gaben; einen Ausdruck, der von Berufenen selten mit der für wissenschaftliche Untersuchung nötigen Ruhe und Sicherheit beobachtet werden kann, über dessen Bedeutung aber nach dem ersten Blick kein Zweifel möglich war. Frau Verlocs Zweifel über den Abschluß des Handels war behoben; ihr Verstand, nun scharf gesammelt, arbeitete unter der Macht ihres Willens. Aber Herr Verloc beobachtete nichts. Er ruhte in der zuversichtlichen Hingegebenheit, die aus übermäßiger Ermüdung kommt. Er wollte keinen Streit mehr – nicht mit seiner Frau – mit niemand in der Welt. Seine Beweisführung war unwiderleglich gewesen. Er wurde um seiner selbst willen geliebt. Auch ihr Schweigen legte er jetzt günstig aus. Nun war es Zeit, ein Ende zu machen. Das Schweigen hatte lange genug angehalten. Er brach es, indem er sie leise anrief:

»Winnie.«

»Jawohl«, antwortete Frau Verloc, das freie Weib, gehorsam. Nun hatte sie ihren Verstand in der Gewalt, und ihre Stimme; sie fühlte, daß sie in geradezu übernatürlicher Weise jede Fiber ihres Körpers beherrschte. Nun gehörte alles ihr, denn der Handel war zu Ende. Sie sah klar. Sie war listig geworden. Mit Vorbedacht antwortete sie ihm so bereitwillig. Sie wollte nicht, daß der Mann seine Stellung auf dem Sofa ändern sollte, die für ihr Vorhaben so günstig war. Sie gab nach. Der Mann rührte sich nicht. Nach ihrer Antwort aber blieb sie nachlässig gegen den Kaminsims gelehnt, in der Haltung eines rastenden Wanderers. Sie hatte keine Eile. Ihre Stirn war glatt. Herrn Verlocs Kopf und Schultern waren ihr durch die hohe Lehne des Sofas verborgen. Sie hielt die Augen auf seine Füße gerichtet.

So blieb sie rätselhaft stumm und plötzlich gesammelt, bis sie Herrn Verloc in ehelichem Befehlston sprechen und dabei mit einer kleinen Bewegung ihr auf dem Sofa Platz machen hörte.

»Komm her«, sagte er in einem Ton, den man für grob halten konnte, von dem Frau Verloc aber genau wußte, daß er einladend gemeint war.

Sie stürzte sogleich vor, als wäre sie immer noch ein treues Weib und durch ungebrochene Bande an jenen Mann geknüpft. Ihre rechte Hand tastete leicht über den Tischrand, und als sie am Sofa ankam, war das Vorlegemesser ohne den geringsten Laut von der Fleischplatte verschwunden. Herr Verloc hörte das leise Knarren der Diele und war zufrieden. Er wartete. Frau Verloc kam. Als hätte Stevies heimatlose Seele geradewegs in der Brust seiner Schwester, Schirmerin und Gönnerin Zuflucht gesucht, so wuchs mit jedem Schritt die Ähnlichkeit ihres Gesichts mit dem ihres Bruders, sogar bis zum Hängen der Unterlippe, sogar noch bis zum leichten Schielen der Augen. Doch Herr Verloc sah das nicht. Er lag auf dem Rücken und starrte zur Decke. Er sah zum Teil auf der Decke und zum Teil auf der Wand den beweglichen Schatten eines Armes und einer geballten Hand, die ein Vorlegemesser hielt. Der Arm zuckte auf und nieder. Seine Bewegungen waren gemessen. Gemessen genug, daß Herr Verloc das Glied und die Waffe erkennen konnte.

Sie waren gemessen genug, um ihm die volle Erkenntnis der Gefahr zu ermöglichen und den Geschmack der Todesangst in seinen Mund zu bringen. Sein Weib war wahnsinnig geworden – tollwütig. Sie waren gemessen genug, um die erste lähmende Wirkung der Entdeckung vorübergehen und eine schnelle Überlegung reifen zu lassen, wie er aus dem Kampf mit der bewaffneten Irren siegreich hervorgehen könnte. Sie waren gemessen genug, daß Herr Verloc einen Plan ausarbeiten konnte, wie er hinter den Tisch springen und das Weib mit einem schweren Holzstuhl zu Boden schlagen würde. Und doch waren sie nicht gemessen genug, als daß Herr Verloc noch Zeit gehabt hätte, Hand oder Fuß zu rühren. Das Messer stak schon in seiner Brust, es traf auf keinen Widerstand. Der Zufall konnte so spielen.

In diesen wuchtigen, über die Lehne des Sofas weg geführten Stoß hatte Frau Verloc alles gelegt, was von ihren unbekannten, niedrigen Vorfahren her in ihr lebte; die tierische Rohheit der Höhlenzeit und die nervöse Hemmungslosigkeit dieses Zeitalters der Schenkdielen. Herr Verloc, der Geheimagent, drehte sich unter dem Stoß leicht zur Seite und verschied, ohne ein Glied zu rühren, mit einem halb geflüsterten »Nicht!« auf den Lippen.

Frau Verloc hatte das Messer fahren lassen und ihre außergewöhnliche Ähnlichkeit mit ihrem verstorbenen Bruder war bis auf das gewöhnliche Maß verschwunden. Sie holte tief Atem, leicht und frei zum ersten Male, seit Hauptinspektor Heat ihr den Fetzen von Stevies Überrock gezeigt hatte. Sie lehnte sich mit gekreuzten Armen auf die Lehne des Sofas. Diese bequeme Stellung nahm sie nicht ein, um Herrn Verlocs Leichnam zu betrachten oder gar sich daran zu weiden, sondern nur wegen der wellenförmigen Bewegung des Wohnzimmers, als stünde es in einem Unwetter auf hoher See. Sie war schwindlig, aber ruhig. Sie war ein freies Weib geworden, von einer so vollendeten Freiheit, daß ihr nichts zu wünschen und gar nichts mehr zu tun blieb, da Stevies berechtigte Ansprüche auf ihre Liebe aufgehört hatten zu sein. Frau Verloc, die in Bildern dachte, hatte nun nicht mehr unter Gesichten zu leiden, weil sie überhaupt nicht dachte. Sie regte sich nicht. Sie war eine Frau, die sich einfach ihrer völligen Unverantwortlichkeit und Muße erfreute, fast in der Art eines Leichnams. Sie regte sich nicht. Sie dachte nicht, ebensowenig wie die sterbliche Hülle des verblichenen Herrn Verloc auf dem Sofa. Abgesehen von der Tatsache, daß Frau Verloc atmete, befanden sich die beiden in schöner Übereinstimmung: in der Übereinstimmung, die auf kluger Zurückhaltung, ohne überflüssige Worte und Gebärden, aufgebaut und die Grundlage ihrer ehrbaren Häuslichkeit gewesen war. Denn sie war ehrbar gewesen und hatte mit schicklichem Schweigen die Fragen übergangen, die sich bei der Übung eines Geheimerwerbs und dem Handel mit unsauberen Waren ergeben mögen. Bis zum letzten Augenblick war die äußere Form gewahrt und unziemliches Geschrei und sonstige offenherzige Aufführung vermieden worden. Und nachdem der Streich gefallen war, setzte sich diese Ehrbarkeit in Reglosigkeit und Schweigen fort.

Nichts rührte sich, bis Frau Verloc langsam den Kopf hob und mißtrauisch nach der Uhr sah. Ihr war ein Ticken im Zimmer zum Bewußtsein gekommen. Es tönte ihr immer aufdringlicher ins Ohr, während sie sich doch gut erinnerte, daß die Uhr an der Wand stumm war, ohne hörbaren Gang. Was sollte es nun heißen, daß sie plötzlich so laut zu ticken begann? Die Zeiger zeigten zehn Minuten vor neun. Frau Verloc kümmerte sich nicht um die Zeit, und das Ticken hielt an. Sie kam zu dem Schluß, daß es nicht die Uhr sein könne, und ihr träger Blick glitt über die Wand, flatterte und wurde leer, während sie sich anstrengte, zu bestimmen, woher das Geräusch käme. Tick, tick, tick.

Nachdem sie eine Zeitlang gelauscht hatte, senkte Frau Verloc ihren Blick langsam auf den Körper ihres Mannes. Seine Ruhestellung war so bequem und vertraut, daß sie das tun konnte, ohne sich durch die peinliche Neuheit der Erscheinung beunruhigt zu fühlen. Herr Verloc hielt sein gewöhnliches Schläfchen. Ihm schien wohl zu sein.

Infolge der Lage des Körpers war Herrn Verlocs Gesicht für Frau Verloc, seine Witwe, nicht sichtbar. Ihre schönen trägen Augen, die auf der Fährte des Klanges langsam herunter wanderten, wurden sinnend, als sie auf ein flaches Stück Horn trafen, das ein wenig über die Sofakante hervorragte. Es war der Griff ihres Vorlegemessers, an dem weiter nichts auffiel, als daß er im rechten Winkel aus Herrn Verlocs Brust hervorstand, und daß irgend etwas davon heruntertropfte. Dunkle Tropfen fielen auf den Bodenbelag, einer nach dem anderen, mit einem Ticken, das lauter und schneller wurde, wie der Gang einer verdorbenen Uhr. Auf seinem Höhepunkt ging dieses Ticken in ein beständiges Tröpfeln über. Frau Verloc beobachtete diese Veränderung, und der Schatten der Angst kam und ging auf ihrem Gesicht. Es war ein Tröpfeln, düster, schnell, dünn, – Blut.

Angesichts dieses unvorhergesehenen Umstandes gab Frau Verloc die Haltung von Muße und Unverantwortlichkeit auf.

Mit einem jähen Griff nach ihren Röcken und einem leisen Aufschrei rannte sie nach der Tür, als wäre das Tröpfeln das erste Anzeichen einer Springflut. Als sie den Tisch in ihrem Weg fand, gab sie ihm, als lebte er, mit beiden Händen einen Stoß von solcher Kraft, daß er ein Stück weit auf seinen vier Beinen mit lautem Scharren wegrutschte, während die große Schüssel mit dem Rindsbraten krachend zu Boden stürzte.

Dann wurde alles still. Frau Verloc war stehengeblieben, sobald sie die Tür erreicht hatte. Ein runder Hut, der frei im Zimmer lag, nachdem der Tisch weggerückt worden war, schaukelte leise auf seiner Rundung, in dem Luftzug, den ihre Flucht erzeugt hatte.

 


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