Joseph Conrad
Der Nigger vom ›Narzissus‹
Joseph Conrad

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V

Eine schwere, beklemmende Ruhe lag über dem Schiff. An den Nachmittagen gingen die Leute herum, wuschen ihre Kleider und hängten sie in der ungünstigen Brise zum Trocknen auf, mit der grübelnden Niedergeschlagenheit enttäuschter Philosophen. Gesprochen wurde sehr wenig. Das Problem des Lebens schien über die engen Grenzen der menschlichen Sprache hinauszureichen und wurde einhellig dem Weltmeer überlassen, das es von Anbeginn mit mächtigem Griff entfaltet hatte; dem Weltmeer, das alles wußte und jedem einzelnen zu seiner Zeit unfehlbar die Weisheit enthüllen würde, die in allen Irrtümern steckt, die Gewißheit in allen Zweifeln und die friedliche Geborgenheit jenseits der Grenzen von Kummer und Angst. Und aus dem wirren Gedankenstrom, der die Geister durchflutete, tauchte Jimmy empor und zog die Aufmerksamkeit auf sich, wie eine schwarze Boje, die auf dem Grunde eines trüben Flusses verankert ist. Die Lüge triumphierte; sie triumphierte durch Zweifel, Dummheit, Mitleid und Gefühlsduselei. Wir selbst taten alles, sie aufrechtzuerhalten, aus Mitgefühl, Sorglosigkeit oder aus Freude am Spaß. Es ging über alle Begriffe, wie hartnäckig Jimmy noch im Angesicht der unvermeidlichen Wahrheit an seiner unwahren Rolle festhielt; es wirkte wie eine unerhörte Offenbarung, die uns bisweilen mit staunender Ehrfurcht erfüllte; und viele fanden auch ein eigenes Vergnügen daran, ihm bis zum letzten Augenblick die Komödie vorzuspielen. Wieviel geheime Selbstsucht in der sorgfältigen Pflege Leidender liegt, das zeigte sich in dem ängstlich wachsenden Wunsch, sein Sterben nicht mitansehen zu müssen. Sein eigensinniges Verkennen der einen Gewißheit, deren Nahen wir von Tag zu Tag verfolgen konnten, beunruhigte uns fast wie der Bruch eines Naturgesetzes. Er war sich über seinen Zustand so völlig im unklaren, daß wir nur annehmen konnten, es habe sich ihm eine übernatürliche Wissensquelle erschlossen. Seine Torheit grenzte an Offenbarung. Er war einzig und berückte uns, wie es nur etwas Übermenschliches tun kann; sein starres ›Nein‹ schien er von dem Gestade jenseits der furchtbaren Scheidelinie herüberzurufen. Er begann körperlos zu werden wie ein Geist; seine Backenknochen traten hervor, die Stirne fiel ab; das ganze Gesicht war eingefallen und von tiefen Schatten überdeckt; und der fleischlose Kopf sah aus wie ein ausgegrabener schwarzer Totenschädel mit ruhelosen Silberkugeln in den Augenhöhlen. Er zermürbte uns einfach: durch ihn wurden wir unglaublich menschenfreundlich, zartfühlend, ganz und gar verweichlicht; wir erfaßten seine Angst bis in die feinsten Feinheiten, machten seine Abneigungen, Ausflüchte, Selbsttäuschungen mit – als wären wir überfeinert, morsch und ohne jedes Verständnis für den Sinn des Lebens. Es schien, als würden wir in irgendwelche unwürdige Mysterien eingeweiht; wir trugen die verschlossenen Gesichter von Verschwörern zur Schau, tauschten bedeutsame Blicke und bezeichnende kurze Worte. Wir waren unsagbar nichtswürdig und gefielen uns ausgezeichnet darin. Wir belogen ihn ernst, gerührt, salbungsvoll, als spielten wir eine moralische Komödie mit der Aussicht auf ewigen Lohn. Wir stimmten im Chor seinen wildesten Behauptungen bei, als wäre er ein Millionär, ein Politiker oder ein Reformator und wir eine Horde ehrgeiziger Anhänger. Wenn wir doch einmal seine Darlegungen einer Betrachtung unterzogen, so geschah das nach der Art kriechender Schmarotzer, so daß durch unseren schmeichelhaften Widerspruch seine Glorie nur gesteigert werden konnte. Er brachte eine neue Moral in unsere Welt, als hätte er Ehren, Schätze oder Qualen austeilen können; und er konnte uns doch nichts geben, als seine Verachtung. Die war unermeßlich; sie schien im gleichen Maße zu wachsen, wie sein Körper Tag um Tag vor unseren Augen verfiel. Diese Verachtung war das einzige an ihm – in ihm –, was den Eindruck von Dauerhaftigkeit und Stärke hervorrief. Sie lebte in ihm ein zähes Leben, sprach aus seinen ständig vorgeschobenen Lippen, blickte uns aus der unverschämten Tiefe seiner großen Augen an, die weit aus dem Gesicht vorragten, wie Krabbenaugen. Diese beobachteten wir gespannt; außer ihnen rührte sich nichts an ihm. Er schien sich nur ungern zu bewegen, als mißtraute er seiner eigenen Festigkeit. Die leiseste Bewegung mußte ihm ja (es konnte sicher nicht anders sein) seine körperliche Schwäche zum Bewußtsein bringen und damit einen jähen seelischen Schmerz verursachen. Er war sparsam mit Regungen und lag ausgestreckt, das Kinn auf der Decke, in vorsichtiger, überlegter Unbeweglichkeit. Nur seine Augen ließ er über die Gesichter wandern; seine verächtlichen, durchdringenden, traurigen Augen.

Zu dieser Zeit errang sich Belfasts Ergebenheit – und nicht minder seine Kampfbereitschaft – die allgemeine Achtung. Er verbrachte jeden Augenblick seiner freien Zeit in Jimmys Kabine. Er betreute ihn, sprach ihm zu, war liebreich wie eine Frau, freundlich-heiter wie ein alter Philanthrop und so zärtlich um seinen Nigger besorgt wie ein musterhafter Sklavenhalter. Draußen aber war er reizbar, explosiv wie ein Sprengpulver, düster, mißtrauisch und immer dann am brutalsten, wenn er am tiefsten bekümmert war. Er schwankte zwischen Tränen und Hieben: eine Träne für Jimmy und einen Hieb für jeden, der nicht eine peinlich orthodoxe Ansicht über Jimmys Fall zu hegen schien. Wir redeten von nichts sonst. Die zwei Skandinavier sogar besprachen die Sachlage – nur wußte man nicht, in welchem Sinn, da sie sich ihrer eigenen Sprache bedienten. Belfast hatte den einen von ihnen im Verdacht, daß er es an Ehrfurcht fehlen lasse; und in seiner Ungewißheit sah er keinen andern Ausweg, als mit beiden zu raufen. Sein schreckliches Gehaben verschüchterte sie völlig, und sie lebten von da an bedrückt unter uns, wie die Stummen. Wamibo sprach nie verständlich; ein Lächeln lag ihm so fern wie einem Tier; – auch schien er von der ganzen Sache weit weniger zu wissen als der Kater – und blieb also unbehelligt. Überdies hatte er ja zu der auserwählten Schar von Jimmys Rettern gehört und war auch deswegen über jeden Verdacht erhaben. Archie war für gewöhnlich schweigsam, brachte aber des öfteren eine Stunde oder so damit zu, ruhig und mit dem Gebaren des Eigentümers zu Jimmy zu sprechen. Zu jeder Tageszeit und oft auch die Nacht durch konnte man irgendwen auf Jimmys Kiste sitzen sehen. Abends, zwischen sechs und acht, war die Kabine überfüllt, und selbst vor der Tür drängte sich eine teilnahmvolle Menge. Alle starrten den Nigger an.

Er sonnte sich in der allgemeinen warmen Anteilnahme. Seine Augen glänzten ironisch, und er warf uns mit leiser Stimme unsere Feigheit vor. Oft pflegte er zu sagen: »Wenn ihr Kerle richtig zu mir gehalten hättet, dann wär' ich jetzt auf Deck.« Wir ließen die Köpfe hängen. »Ja, aber wenn ihr glaubt, ich würde mich in Eisen legen lassen, nur um euch Spaß zu machen . . . das also, nein! . . . Dieses Bettliegen ruiniert meine Gesundheit, das tut es. Aber das kümmert euch nicht.« Wir waren so niedergeschmettert, als wäre das alles wahr gewesen. Seine überwältigende Unverschämtheit erdrückte uns einfach. Wir hätten es nicht gewagt, uns aufzulehnen. Hatten auch wirklich keine Sehnsucht danach. Wir wollten ihn nur am Leben erhalten bis nach Hause – bis zum Ende der Reise.

Singleton hielt sich, wie gewöhnlich, abseits und schien die nebensächlichen Ereignisse dieses ausgehenden Lebens nicht zu beachten. Nur einmal kam er vorbei und blieb unerwartet in der Türe stehen. Er spähte in tiefem Schweigen nach Jimmy, als wollte er dies schwarze Bild der langen Reihe von Schatten angliedern, die sein altes Gedächtnis bevölkerten. Wir verhielten uns lautlos still, und Singleton stand lange Zeit da, als wäre er eigens gekommen, um jemand zu rufen oder einem bedeutsamen Vorfall beizuwohnen. James Wart lag regungslos und bemerkte offenbar den prüfenden Blick nicht, der fest und erwartungsvoll auf ihm ruhte. Eine Kampfesstimmung lag in der Luft. Wir fühlten, wie sich alles in uns zu einem harten Strauß straffte. Endlich wandte Jimmy mit allen Zeichen des Unbehagens den Kopf auf dem Kissen. »Guten Abend«, sagte er, gleichsam beschwichtigend. – »Hm!« antwortete der alte Matrose brummig. Er sah Jimmy noch einen Augenblick streng und fest an und ging dann unvermittelt fort. Es dauerte lange, bis in der kleinen Kabine wieder jemand sprach, obwohl wir alle freier aufatmeten, als wären wir einer gefährlichen Lage entronnen. Wir alle kannten des alten Mannes Ansichten über Jimmy, und niemand wagte ihnen entgegenzutreten. Sie wichen von den unsrigen wesentlich ab, betrübten uns und, was das Schlimmste war, konnten schließlich vielleicht zutreffen. Nur ein einziges Mal hatte er sich herabgelassen, sie uns ausführlich zu entwickeln, doch der Eindruck wirkte nach. Er sagte, daß Jimmy an dem Gegenwind schuld sei. Todkranke Leute – behauptete er – schleppen sich herum, bis das erste Land in Sicht kommt, und sterben dann; und Jimmy wußte, daß das Land ihm das Leben aussaugen würde. So sei's auf allen Schiffen. Ob wir das nicht wüßten? Er fragte uns mit erhabener Verachtung, was wir eigentlich wüßten? Woran wir nächstens noch zweifeln wollten? Jimmys Sehnsucht, von uns ermutigt und durch Wamibos (der war ein Finne – nicht? Schon gut!) Zaubersprüche unterstützt, hielte das Schiff auf hoher See zurück. Höchstens blutige Anfänger könnten das nicht sehen. Wer hätte je von einem so anhaltenden Wechsel zwischen toter Stille und Gegenwind gehört? Das ginge nicht mit rechten Dingen zu . . . Wir könnten nicht leugnen, daß es merkwürdig sei. – Wir fühlten uns unbehaglich. Der alte Spruch: ›Mehr Tage, mehr Dollars‹ konnte uns nicht, wie sonst wohl, trösten, weil der Proviant zu Ende ging. Viel davon war am Kap verdorben, und wir waren mit Zwieback auf halbe Ration gesetzt. Erbsen, Zucker und Tee waren längst aufgebraucht. Das Salzfleisch nahm schnell ab. Wir hatten eine Menge Kaffee, aber nur sehr wenig Wasser, um ihn zu kochen. Wir zogen die Leibriemen enger und scheuerten, polierten, strichen die Brigg von früh bis abends. Bald sah sie aus wie aus dem Ei geschält; doch an Bord lebte der Hunger. Nicht das bleiche Elend, aber ständiger, nagender Hunger; er schritt über Deck, schlief im Vorderkastell, quälte uns im Wachen und spukte durch unsere Träume. Wir spähten nach den Anzeichen für einen Wetterwechsel aus. Tag und Nacht wendeten wir alle paar Stunden und hofften jedesmal, die Brigg würde bei diesem Gang endlich an den Wind kommen! Sie tat's nicht! Sie schien den Heimweg vergessen zu haben. Sie lief planlos herum, wandte sich nach Nordwesten, nach Osten, rannte vor und zurück, verwirrt, wie ein erschrockenes Tier am Fuß einer Mauer. Mitunter wälzte sie sich, wie zu Tode erschöpft, einen vollen Tag lang auf dem weichen Spiegel der glatten See. Die schwingenden Masten entlang klapperten die Segel wütend durch die schwüle, tote Stille. Wir waren müde, hungrig, durstig; wir begannen Singleton zu glauben, verheimlichten das aber standhaft vor Jimmy. Wir sprachen zu ihm in scherzhaften Anspielungen, als steckten wir alle in einem lustigen Komplott; doch dann schauten wir wieder über die Reling traurig nach Westen aus, nach einem Hoffnungsschimmer, nach einem Anzeichen für günstigen Wind; wenn auch sein erster Hauch unserm Jimmy, trotz seinem Sträuben, den Tod bringen sollte. Vergebens! Das Weltall hatte sich mit James Wart verschworen. Wieder sprangen vom Norden leichte Brisen auf; der Himmel blieb klar; und rings um unsere Bedrängnis kräuselte sich die See glitzernd in der Brise, dehnte sich wollüstig in der strahlenden Sonne, als habe sie unser Leben und unsere Not vergessen.

Donkin spähte mit den andern nach gutem Wind aus. Niemand erfuhr mehr etwas von dem Gift, das er im Herzen trug; er war schweigsam und schien noch magerer, als zehrte innerlich eine verbissene Wut über die Ungerechtigkeit der Menschen und des Schicksals an ihm. Alle schnitten ihn, und er sprach zu niemand, aber sein Haß gegen uns sah ihm aus den Augen. Er unterhielt sich nur mit dem Koch, denn er hatte dem guten Mann irgendwie eingeredet, daß er – Donkin – ein arg verleumdetes und verfolgtes Geschöpf sei. Sie beklagten zusammen die Sittenverderbnis der Schiffsbesatzung. Es konnte keine größeren Verbrecher geben als uns, die wir mit unseren Lügen drauflos arbeiteten, um die Seele eines armen, unwissenden Schwarzen ewiger Verdammnis zu überliefern. Podmore kochte, was es zu kochen gab, mit schlechtem Gewissen, denn er sagte sich, daß er sein eigenes Seelenheil gefährde, wenn er solchen Sündern die Nahrung zubereite. Was nun den Kapitän anging – er habe sieben Jahre unter ihm gedient, sagte er, und hätte es nie für möglich gehalten, daß so ein Mann . . . »Gut. Gut . . . 's ist einmal geschehen . . . Komm' nicht drüber weg. Die gute Meinung in einem Augenblick über den Haufen geworfen . . . Alles Ansehen verloren . . . Eher eine plötzliche Heimsuchung als sonst was.« Donkin hockte faul auf der Kohlenkiste, schlenkerte die Beine und schimpfte mit. Für das Vorrecht, in der Kombüse sitzen zu können, entrichtete er die Scheidemünze verlogener Zustimmung; er war entmutigt und entrüstet, war einer Meinung mit dem Koch, konnte nicht Worte finden, scharf genug, um unsere Aufführung zu brandmarken; und wenn er in der Hitze des Gefechts auf uns fluchte, so stellte sich Podmore, als hörte er es nicht; denn er hätte selbst gern geflucht, wär' es ihm nicht um seine Grundsätze gewesen. So fluchte also Donkin, unbehindert, genug für zwei, bettelte um Streichhölzer, borgte sich Tabak, fühlte sich beim Ofen ganz wie zu Hause und räkelte sich stundenlang davor herum. Von da konnte er uns auch, auf der andern Seite der Scheidewand, zu Jimmy sprechen hören. Der Koch stieß die Töpfe durcheinander, schmiß mit der Ofentür und murmelte vernichtende Prophezeiungen für die ganze Mannschaft; Donkin, der an kein Jenseits glaubte, außer wenn er es zum Fluchen brauchte, horchte gespannt und ärgerlich und weidete sich an den Schreckbildern unendlicher Qualen, die der Koch mit glühender Beredsamkeit entwarf.

An klaren Abenden, im kaltbleichen Mondlicht, konnte die Brigg den Anschein leidenschaftsloser Ruhe erwecken, wie der Winter auf der Erde. Hinter ihr zog sich ein goldiges Band durch die schwarze Wasserfläche. Schritte hallten über das ruhige Deck. Das Mondlicht spann sie ein wie Rauhreif, und die weißen Segel, fleckenlos wie Schnee, ragten in blendenden Formen empor. Im Schein der gespenstischen Strahlen sah das Schiff rein aus wie eine Vision von überirdischer Schönheit und unkörperlich wie ein zarter Traum von himmlischem Frieden. Und nichts an ihm schien wirklich, deutlich und fest, nur die tiefen Schatten, die mit ihrem ruhelosen, lautlosen Treiben das Deck füllten; die Schatten, schwärzer als die Nacht und ruheloser als die Gedanken der Menschen.

Donkin lungerte gallig und allein in den Schatten herum und fand, daß Jimmy zu lange mit dem Sterben zögerte. An diesem Abend hatte kurz vor Dunkelwerden der Mann am Ausguck Land gemeldet; und der Schiffer hatte, während er das große Fernrohr herrichtete, mit bitterer Ruhe zu Herrn Baker gesagt, daß nun, wo sie sich Zoll um Zoll bis zu den Azoren durchgearbeitet hätten, eigentlich noch eine anhaltende Windstille kommen müßte. Der Himmel war klar und das Barometer hoch. Die leichte Brise schlief mit der Sonne ein, und eine ungeheure Stille, der Vorbote einer Nacht ohne Wind, senkte sich auf die erhitzten Wasser des Ozeans. Solange das Tageslicht anhielt, standen die Leute vorne am Bug beisammen und beobachteten das Eiland von Flores am östlichen Himmel, das sich in unregelmäßigen, zackigen Umrissen über der glatten See erhob, wie eine düstere Ruine über einer weiten wüsten Ebene. Es war das erste Land, das man seit fast vier Monaten zu Gesicht bekam. Charley war aufgeregt und erlaubte sich angesichts der allgemeinen Nachgiebigkeit Freiheiten gegen seine Höheren. Die Leute waren in merkwürdig gehobener Stimmung, ohne zu wissen, warum, unterhielten sich in Gruppen und deuteten mit nackten Armen. Zum erstenmal während dieser Reise schien es, als wäre beim Anblick einer gediegenen Wirklichkeit Jimmys Scheindasein vergessen. So weit waren wir also jedenfalls einmal gekommen. Belfast verbreitete sich über unwahrscheinliche Beispiele kurzer Heimfahrten von den Azoren aus. »Diese modischen Fruchtschoner machen's in fünf Tagen«, versicherte er. »Was wollt ihr? – Nur eine gute kleine Brise.« Archie blieb dabei, daß sieben Tage das wenigste seien, und sie stritten in aller Freundschaft mit schimpflichen Worten. Knowles erklärte, er könne von da aus schon die Heimat riechen, plumpste schwerfällig auf sein kurzes Bein auf und lachte, als solle er bersten. Eine Gruppe angegrauter Seebären spähte eine Zeitlang schweigend hinaus, mit brummigen, gespannten Gesichtern. Plötzlich sagte einer: »'s ist nicht mehr weit nach London jetzt.« – »Die erste Nacht an Land – verdammt will ich sein, wenn ich mir nicht Steak mit Zwiebeln zum Nachtmahl kaufe . . . und eine Halbe Bittern«, meinte ein anderer. – »Ein Faß, meinst du«, schrie jemand. – »Schinken mit Ei, dreimal am Tag. So lebe ich!« rief eine aufgeregte Stimme. Es gab eine Bewegung, beifälliges Murmeln, die Augen begannen zu glänzen, die Kiefer zu mahlen, man hörte kurzes lautes Lachen. Archie lächelte zurückhaltend vor sich hin. Singleton kam hinzu, sah sich gleichgültig um und ging wieder hinunter, ohne ein Wort zu sagen, wie ein Mann, der Flores ungezählte Male gesehen hat. Die Nacht schlich vom Osten heran und löschte am klaren Himmel den purpurnen Fleck ragenden Landes. »Tote Stille«, sagte jemand leise. Die lebhaften gemurmelten Gespräche gerieten plötzlich ins Stocken, erstarben; die Gruppen lösten sich auf, die Leute verzogen sich einer nach dem andern und stiegen langsam die Treppen hinab, mit ernsten Gesichtern, als drückte sie das Bewußtsein, daß sie vom Unsichtbaren abhingen. Und als der große gelbe Mond bedächtig über die scharfe Linie des klaren Horizonts emporklomm, da fand er das Schiff in atemloses Schweigen getaucht, ein tapferes Schiff, das tief und traumlos am Busen der schlafenden furchtbaren See zu schlummern schien.

Donkin verfluchte den Frieden – das Schiff – die See, die sich ringsum bis in die grenzenlosen schweigenden Weiten des Alls erstreckte. Er fühlte sich von namenlosem Schmerz gepeinigt. Man hatte ihn körperlich geduckt, aber sein gekränktes Selbstbewußtsein war nicht unterzukriegen; und nichts konnte sein zerrissenes Herz heilen. Da war schon Land – bald zu Hause – ein schlechter Zahltag – keine Kleider – wieder hart arbeiten. Wie ekelhaft das alles war. Land. Das Land, das den kranken Matrosen das Leben aussaugt. Der Nigger da hatte Geld – Kleider – gute Zeiten und wollte nicht sterben. Land saugt das Leben aus . . . Er fühlte sich versucht, nachzusehen, ob es wirklich so sei. Vielleicht schon . . . das wäre noch ein kleiner Glücksfall. Der Tölpel hatte Geld in seiner Kiste . . . Er trat schnell aus dem Schatten ins Mondlicht, und sofort erschien sein gieriges, hungriges Gesicht bleifarben. Er öffnete die Tür der Kabine und blieb mit einem Ruck stehen. Ganz sicher, Jimmy war tot! Er rührte sich nicht mehr als eine ruhende Figur mit gekreuzten Armen, die auf dem Deckel eines Steinsargs gemeißelt ist. Donkin lugte habgierig. Dann zwinkerte Jimmy, ohne sich zu bewegen, mit den Augen, und Donkin gab's wieder einen Ruck. Diese Augen konnten einen wirklich erschrecken. Er schloß leise und vorsichtig die Tür hinter sich und sah dabei James Wart gespannt an, als sei er mit großer Gefahr hereingekommen, um ein Geheimnis von grauenhafter Wichtigkeit zu verraten. Jimmy regte sich nicht und sah nur träge aus den Augenwinkeln nach ihm. »Ruhig?« fragte er. – »Ja«, antwortete Donkin arg enttäuscht und setzte sich auf die Kiste.

Jimmy atmete regelmäßig. Er war an solche Besuche zu allen Tages- und Nachtzeiten gewöhnt. Die Leute folgten einander. Sie sprachen mit heller Stimme, sagten ihm freundliche Worte, wiederholten alte Scherze, hörten ihm zu, und jeder schien beim Hinausgehen ein Stück seiner eigenen Lebenskraft zurückzulassen, einen Teil seiner eigenen Stärke zu opfern und damit die Hoffnung, die unzerstörbare, anzufachen. Jimmy liebte es nicht, in der Kabine allein zu sein; denn wenn er allein war, dann schien es ihm, als wäre er überhaupt nicht da. Nichts war da. Keine Schmerzen. Jetzt nicht. Vollkommen gesund – aber er konnte seiner gesunden Ruhe nicht froh werden, wenn nicht jemand zusah. Der Mann da war dafür so gut wie irgendein anderer. Donkin beobachtete ihn verstohlen. – »Bald zu Haus jetzt«, bemerkte Wart. – »Warum flüsterst du?« fragte Donkin gespannt, »kannst du nicht laut reden?« Jimmy sah geärgert aus und sprach eine Zeitlang nichts; dann mit toter, klangloser Stimme: »Warum sollte ich schreien? Du bist nicht taub, soviel ich weiß.« – »Oh, ich höre ganz gut«, gab Donkin leise zurück und blickte zu Boden. Er dachte eben betrübt daran, wegzugehen, als Jimmy wieder anfing. »Zeit, daß wir nach Haus kommen . . . damit wir was Anständiges zu essen kriegen . . . ich bin immer hungrig.« Donkin wurde mit einem Male wütend. »Was soll ich sagen«, zischte er, »ich bin auch hungrig und muß noch arbeiten! Du, hungrig!« – »Deine Arbeit wird dich nicht umbringen«, bemerkte Wart matt. »Da in der untern Koje liegen zwei Stück Zwieback – kannst dir eins nehmen. Ich kann sie nicht essen.« Donkin bückte sich, tastete mit der Hand in dem Winkel herum, und als er sich wieder aufrichtete, hatte er den Mund voll. Er kaute emsig. Jimmy schien mit offenen Augen hinzudämmern. Donkin war mit dem harten Brot fertig und stand auf. – »Du willst doch nicht gehen?« fragte Jimmy und sah an die Decke. – »Nein«, sagte Donkin, einer plötzlichen Eingebung folgend, und statt hinauszugehen, lehnte er sich mit dem Rücken gegen die geschlossene Türe. Er blickte nach James Wart und sah ihn lang, mager, eingetrocknet daliegen, als wäre sein ganzes Fleisch in der Hitze eines Hochofens an den Knochen verdorrt. Die mageren Finger der einen Hand trommelten auf der Bettkante eine endlose Weise. Es war aufreizend und ermüdend, ihn anzusehen; er konnte tagelang so fortmachen; er war unerträglich – gehörte weder dem Tod noch dem Leben richtig zu und war einfach unverletzlich in seiner augenscheinlichen Ahnungslosigkeit von beiden. Donkin fühlte sich versucht, ihn aufzuklären. »Woran denkst du?« fragte er mürrisch. James Wart machte die Grimasse eines Lächelns, das über die todähnliche Starrheit seines knochigen Gesichtes huschte, unwahrscheinlich, beängstigend, wie es in einem bösen Traum das plötzliche Lächeln eines Leichnams sein mag.

»Da ist so 'n Mädel«, flüsterte Wart . . . »Canton-Street-Mädel – hat den dritten Ingenieur von 'nem Schnelldampfer laufen lassen – meinetwegen. Kocht Austern grad wie ich sie mag . . . Sie sagt – sie wollte jeden – auch 'n feinen Kerl – laufen lassen – für einen farbigen Gentleman . . . Das bin ich. Die Weiber mögen mich gern«, schloß er, einen Schatten lauter.

Donkin konnte kaum seinen Ohren trauen. Er war empört. »Wollte sie das? Du wärst ihr wenig nütze«, sagte er mit unverhohlenem Abscheu. Wart hörte ihn nicht. Er schlenderte in Gedanken die Straße vom Ostindiendock hinauf, sagte freundlich: »Komm mit auf eine Runde«, stieß verglaste Drehtüren auf und bewegte sich mit prächtiger Sicherheit im Gaslicht bis zu dem Bartisch aus Mahagoni. – »Denkst du denn, daß du jemals noch an Land kommst?« fragte Donkin ärgerlich. Wart fuhr aus seiner Träumerei auf. »Zehn Tage«, sagte er rasch und kehrte wieder in die Gefilde der Erinnerung zurück, wo die Zeit stillesteht. Er fühlte sich beschwerdenfrei, ruhig und geborgen vor jeder quälenden Ungewißheit. Es lag wie eine Vorahnung von Ewigkeit in diesen Augenblicken völligen Ausruhens. Er fühlte sich wunschlos zufrieden inmitten seiner lebhaften Gedächtnisbilder und freute sich daran, in dem Irrglauben, daß sie in naher Zukunft wiederkehren müßten. Er kümmerte sich um niemand sonst. Donkin fühlte das dunkel, wie ein Blinder vielleicht den verhängnisvollen Widerstreit all der Wesen fühlt, die seine Nacht bevölkern und ihm doch ewig verschlossen, unsichtbar und beneidenswert bleiben müssen. Er fühlte den Wunsch in sich, seine persönliche Wichtigkeit zu beweisen, irgendwas zu zerbrechen, zu zerschlagen; mit allen für alles quitt zu werden; den Schleier zu zerreißen, die Tatsachen bloßzulegen, klarzustellen, keine Zuflucht zu lassen – eine niederträchtige Wahrheitsliebe! Er lachte spöttisch und sagte:

»Zehn Tage. Blind will ich werden, wenn ich je . . .! Du bist morgen um diese Zeit vielleicht schon tot! Zehn Tage!« Er wartete eine Weile. »Hörst du mich? Hol' mich der Teufel, wenn du nicht jetzt schon ausschaust wie tot!«

Jimmy mußte wohl seine Kräfte gesammelt haben, denn er sagte fast laut: »Du bist ein stinkender, bettelnder Lügner. Jeder kennt dich.« – Dabei setzte er sich gegen alle Wahrscheinlichkeit auf und erschreckte seinen Besucher furchtbar. Donkin faßte sich aber schnell wieder und sprudelte los:

»Was? Was? Wer ist ein Lügner? Du bist einer – die Leute hier – der Schiffer – alle. Ich nicht! Möcht' sich da aufspielen! Wer bist denn du?« Seine Wut erstickte ihn fast. »Wer bist denn du, daß du dich aufspielst?« wiederholte er zitternd. »Kannst dir eins nehmen – kannst dir eins nehmen, sagt er – und kann sie nicht selber essen. Jetzt will ich beide haben. Bei Gott – das will ich! Du Niemand!«

Er tauchte in die untere Koje, rumorte darin herum und brachte einen zweiten verstaubten Zwieback ans Licht. Den hielt er Jimmy vor die Nase und biß dann herausfordernd ein Stück ab.

»Was jetzt?« fragte er, fiebernd vor Frechheit. »Kannst dir eins nehmen – sagst du. Warum mir nicht beide geben? Nein. Ich bin ein räudiger Hund. Eins für einen räudigen Hund. Und ich nehm' mir beide. Kannst du mich hindern? Probier's, komm, probier's!«

Jimmy umklammerte seine Beine und drückte das Gesicht gegen die Knie. Das Hemd klebte an ihm. Man konnte jede Rippe sehen. Sein ausgemergelter Rücken erbebte unter den ruckweisen, keuchenden Atemzügen.

»Du willst nicht? Du kannst nicht! Was hab' ich gesagt?« tobte Donkin weiter. Er schluckte mit angestrengter Hast noch einen trockenen Bissen. Die schweigende Hilflosigkeit, die Schwäche, die verschrumpfte Haltung des andern brachten ihn zur Verzweiflung. »Du bist fertig«, schrie er. »Wer bist denn du, daß man dich anzulügen brauchte; daß man dich hinten und vorne bedient, wie 'nen Kaiser, bei Gott! Du Niemand! Du bist überhaupt gar niemand!« Er sprudelte die Worte mit so überzeugter Wut heraus, daß sie ihn von Kopf bis zu Fuß durchschüttelten und zitternd wie eine entspannte Sehne zurückließen.

Jimmy raffte sich wieder auf. Er hob den Kopf und wandte sich tapfer gegen Donkin, der ein fremdes, unbekanntes Gesicht erblickte, eine phantastische, verzerrte Maske voll Verzweiflung und Wut. Seine Lippen bewegten sich schnell, und hohle, ächzende, pfeifende Laute erfüllten die Kabine mit einem unbestimmten Geräusch, aus dem Drohung, Klage und Trostlosigkeit klangen, wie aus dem fernen Sausen des erwachenden Sturmes; Wart schüttelte den Kopf, rollte die Augen, er leugnete, fluchte, drohte – und nicht ein Wort hatte die Kraft, sich durch die dicken schwarzen Lippen zu ringen. Es war unverständlich und beängstigend: ein Kauderwelsch von Gefühlen, ein hitziges stummes Wortgefecht für unmögliche Dinge, die Androhung einer schattenhaften Rache. Es zwang Donkin zu lauernder Beobachtung.

»Du kriegst keinen lauten Ton mehr heraus. Siehst du? Was hab' ich dir gesagt?« sagte er langsam nach einer kurzen Prüfung. Der andere fuhr ungestüm und unhörbar fort, nickte leidenschaftlich, schnitt groteske Fratzen, daß die weißen Zähne aufblitzten. Donkin schien berückt von der stummen Beredsamkeit und Wut dieses schwarzen Gespenstes, näherte sich und reckte in mißtrauischer Neugier den Hals; und er hatte plötzlich das Gefühl, als sähe er nur den Schatten eines Mannes, der an der Koje, in gleicher Höhe mit seinen Augen, hinaufkroch. »Was? Was?« sagte er. Er glaubte in dem fortwährenden keuchenden Zischen einige Worte verstanden zu haben. »Du willst es Belfast sagen? Willst du? Bist ein elendes Klatschweib, was?« Er bebte vor Schreck und Wut. »Sag's deiner Großmutter! Du hast Angst! Wer bist denn du, daß du mehr Angst haben solltest als sonstwer?« Das leidenschaftliche Bewußtsein seiner eigenen Wichtigkeit verflog zugleich mit einem letzten Rest von Vorsicht. »Sag's und sei verflucht! Sag's, wenn du kannst!« schrie er. »Ich bin schlechter wie 'n Hund behandelt worden von den verdammten Speichelleckern. Die haben sich an mich rangemacht, nur um mich einzutunken. Ich bin der einzige Mann hier. Sie haben mich geknufft und geschlagen – und du hast gelacht dazu – du schwarzer, verfaulter Unnütz, du. Dafür zahlst du mir. Sie geben dir ihr Futter, ihr Wasser – dafür wirst du mir zahlen, bei Gott! Wer hat mich gefragt, ob ich einen Schluck Wasser wollte? Damals in der Nacht haben sie dich mit ihrem Zeug zugedeckt – und was haben sie mir gegeben – eins aufs Maul – hol' sie alle die Pest . . . beim Himmel! . . . Dafür zahlst du mir mit deinem Geld. Gleich, in einer Minute werd' ich's haben; sobald du tot bist, du verfluchter, unnützer Schwindler. So ein Mann bin ich. Und du bist ein Ding – ein elendes Ding. Hä – du Kadaver!«

Er warf den Zwieback, an dem er die ganze Zeit über herumgebissen hatte, nach Jimmys Kopf; der streifte ihn aber nur, schlug mit lautem Krach an die Scheidewand und barst wie eine Handgranate in fliegende Trümmer. James Wart fiel in die Kissen zurück, als wäre er tödlich getroffen. Seine Lippen hörten auf, sich zu bewegen, seine rollenden Augen wurden still und starrten unverrückt nach oben. Donkin war überrascht; er setzte sich auf die Kiste und sah erschöpft und düster vor sich hin. Nach einer Pause begann er halblaut zu murmeln: »Stirb, du Kaffer – stirb! 's wird jemand reinkommen . . . wollte, ich wär' betrunken . . . Zehn Tage . . . Austern . . .« Er sah auf und sprach lauter: »Nein . . . keine mehr für dich . . . keine Teufelsmädel mehr, die Austern kochen . . . Wer bist du? Jetzt bin ich an der Reihe . . . wollt', ich wär' betrunken; dann würde ich dir schon hinüberhelfen. Dorthin gehörst du. Füße voraus, durch eine Pfortluke . . . Platsch! Auf Nimmerwiedersehen. Über Bord! Gut genug für dich.«

Jimmys Kopf bewegte sich leicht, und er richtete die Augen auf Donkins Gesicht. Ein ungläubiger, verzweifelter, flehender Blick, wie der eines verschreckten Kindes, dem man droht, es allein im Dunkeln einzuschließen. Donkin beobachtete ihn von der Kiste aus mit hoffnungsvollen Augen; dann versuchte er, ohne aufzustehen, das Schloß. »Wollt', ich wäre betrunken«, murmelte er, sprang auf und lauschte ängstlich auf den Schall ferner Schritte auf Deck. Sie näherten sich – hörten auf. Jemand gähnte endlos, gerade vor der Türe, dann entfernten sich die Schritte mit trägem Schlürfen. Donkins flatterndes Herz kam wieder in gleichmäßigen Schlag, und als er sich nach der Koje umwandte, da stierte Jimmy wie zuvor nach den weißen Deckbalken. »Wie geht's dir jetzt?« fragte er. – »Schlecht«, hauchte Jimmy.

Donkin setzte sich geduldig wieder hin und wartete. Alle halben Stunden sprachen die Glocken dröhnend miteinander, über die ganze Länge des Schiffes weg. Jimmys Atemzüge waren so rasch, daß man sie nicht zählen, und so schwach, daß man sie kaum hören konnte. Seine Augen waren erschreckt, als blickte er in unsagbares Grauen; und an seinem Gesicht konnte man sehen, daß er an gräßliche Dinge dachte. Plötzlich seufzte er mit unglaublich lauter, herzbrechender Stimme auf:

»Über Bord! . . . Ich! . . . Mein Gott!«

Donkin rutschte auf der Kiste herum. Er sah unwillig aus. Jimmy war stumm. Seine langen, knochigen Hände strichen die Decke hinauf, als wollte er sie ganz unter seinem Kinn zusammendrängen. Eine Träne, eine große einzelne Träne trat aus dem Augenwinkel und fiel, ohne die hohle Wange zu berühren, auf das Kissen. In seiner Kehle hörte man es leicht rasseln.

Und Donkin, der das Ende dieses verhaßten Niggers miterlebte, fühlte, wie sich eine quälende Angst mit beklemmendem Druck über sein Herz legte bei dem Gedanken, daß ihm dies alles auch einmal bevorstünde – ganz genau so – vielleicht! Seine Augen wurden feucht. »Armer Teufel!« murmelte er. Die Nacht schien blitzschnell zu verfliegen; es schien ihm, als könnte er es hören, wie die unersetzlich kostbaren Minuten verrannen. Wie lange würde die verdammte Geschichte da dauern? Zu lange, sicherlich. Kein Glück! Er konnte sich nicht mehr beherrschen. Wart rührte sich nicht. Nur seine Augen schienen noch zu leben, und seine Hände setzten die glättende Bewegung mit entsetzlichem, unermüdlichem Eifer fort. Donkin beugte sich vor.

»Jimmy«, rief er leise. Es erfolgte keine Antwort, doch das Rasseln hörte auf. »Siehst du mich?« fragte er zitternd. Jimmys Brust hob sich. Donkin sah weg, beugte sein Ohr zu Jimmys Lippen und hörte ein Geräusch, wie wenn der Wind ein einzelnes Blatt über den weichen, sandigen Strand treibt. Es bekam Form.

»Dreh' . . . die Lampe auf . . . und . . . geh«, hauchte Wart.

Donkin blickte unwillkürlich über die Schulter nach der schwelenden Flamme; dann tastete er, immer noch mit abgewandtem Blick, unter das Kissen, nach einem Schlüssel. Er fand ihn gleich und machte sich während der nächsten paar Minuten bebend, aber geschickt an der Kiste zu schaffen. Als er aufstand, hatte sein Gesicht – zum erstenmal in seinem Leben – einen roten Schimmer – von Triumph vielleicht.

Er ließ den Schlüssel wieder unter das Kissen gleiten und vermied es dabei, Jimmy anzusehen, der sich nicht gerührt hatte. Er drehte der Koje breit den Rücken und ging auf die Tür los, als wäre sie eine Meile weit weg. Beim zweiten Schritt hatte er die Nase daran. Er faßte vorsichtig nach der Klinke, hatte aber im gleichen Augenblick den unwiderstehlichen Eindruck, daß hinter seinem Rücken etwas vorging. Er fuhr herum, als habe man ihm auf die Schulter geklopft. Er konnte gerade noch sehen, wie Jimmys Augen aufflammten und verlöschten, gleich zwei Lampen, die ein jäher Luftzug ausbläst. Etwas wie ein Purpurfaden hing aus dem einen Mundwinkel über sein Kinn herab – und er hatte aufgehört zu atmen.

Donkin schloß leise, aber fest die Tür hinter sich. Schlafende Leute, unter ihre Jacken verkrochen, bildeten auf dem hellen Deck formlose Haufen, die vernachlässigten Gräbern glichen. Die ganze Nacht über war nichts getan worden, und man hatte ihn nicht vermißt. Er stand regungslos und ganz verblüfft darüber, die Welt draußen so zu finden, wie er sie verlassen hatte; da war die See, das Schiff – schlafende Leute; und er wunderte sich blöde darüber, als hätte er erwartet, die Leute tot zu finden, die vertrauten Dinge für immer vernichtet, als wäre er wie ein Wanderer, der nach langen Jahren wiederkehrt, auf schreckliche Veränderungen gefaßt gewesen. Er schauerte leicht in der durchdringenden Nachtkühle und kroch in sich zusammen. Unter dem eisigen Hauch der bleichen Dämmerung senkte sich der Mond verscheidend im Westen. Das Schiff schlief. Und die unsterbliche See dehnte sich endlos und dunstverhüllt, ein Bild des Lebens, mit glitzernder Oberfläche und lichtlosen Tiefen, verheißend, leer, begeisternd – furchtbar. Donkin sandte ihr einen trotzigen Blick zu und schlich dann lautlos weg, wie gerichtet und geächtet durch ihr erhabenes, machtatmendes Schweigen.

Jimmys Tod war uns schließlich doch furchtbar überraschend gekommen. Bis dahin hatten wir nicht gewußt, wie fest wir im Grunde an seine Selbsttäuschung geglaubt hatten. Wir hatten seine Lebensmöglichkeit so ganz nach seinem eigenen Maßstab gewertet, daß sein Tod, wie der eines alten Glaubens, die Grundlagen unserer Gemeinschaft erschütterte. Ein gemeinsames Band war dahin; das starke, haltbare, würdige Band einer sentimentalen Lüge. Den ganzen Tag über brüteten wir über unserer Arbeit, mit mißtrauischen Blicken und enttäuschten Gesichtern. Im tiefsten Herzen dachten wir, daß Jimmy sich zum Abschied eigentlich falsch und unfreundlich benommen habe. Er hatte nicht als Kamerad gehandelt. Im Scheiden nahm er den trüben und feierlichen Schatten mit sich, darin sich unsere Torheit so lange selbstgefällig als zärtliche Lenkerin des Geschicks gefallen hatte. Und nun sahen wir, daß es damit gar nichts war. Es war ganz gewöhnliche Narrheit; ein dummes und wirkungsloses Eingreifenwollen in Ereignisse von erhabener Wichtigkeit – das heißt, wenn Podmore recht hatte. Und vielleicht hatte er recht? Der Zweifel überlebte Jimmy; und wie eine Horde gefesselter Verbrecher, die durch die Begnadigung getrennt und entzweit werden, so waren auch wir höchlich entrüstet über einander. Die Leute sprachen unfreundlich zu ihren nächsten Freunden. Andere weigerten sich überhaupt, zu sprechen. Nur Singleton war nicht überrascht. »Tot ist er? Natürlich«, meinte er und wies auf die Insel hinüber: denn die Windstille hielt das Schiff immer noch in Sicht von Flores festgebannt. Tot – natürlich. Er war nicht überrascht. Dort war das Land, und da auf der Fockluke – da war der Leichnam und wartete auf den Segelmacher. Ursache und Wirkung. Und zum erstenmal während der Reise wurde der alte Matrose förmlich munter und gesprächig und erläuterte uns an Beispielen aus dem reichen Schatz seiner Erfahrung, daß bei Krankheit die Sicht einer Insel (auch einer ganz kleinen) meist tödlicher ist als der Anblick eines Kontinents. Er konnte aber nicht erklären, warum.

Jimmy sollte um fünf Uhr bestattet werden, und es war ein langer Tag bis dahin – ein Tag voll seelischen und fast körperlichen Unbehagens. Die Arbeit freute uns nicht, und wir wurden deswegen ordentlich angeschnauzt. Das brachte uns zur Verzweiflung, da wir doch ohnedies ständig hungrig und reizbar waren. Donkin hatte sich zur Arbeit einen schmutzigen Fetzen um den Kopf gewickelt und sah so geisterhaft aus, daß Herr Baker beim Anblick dieses stummen Leidens von Mitleid erfaßt wurde. »Ouch! Du, Donkin! Laß die Arbeit sein und leg' dich hin für diese Wache. Du schaust krank aus.« – »Ich bin's auch, Herr – im Kopf«, sagte er unterwürfig und verschwand schleunigst. Das ärgerte viele, und sie fanden, daß der Erste heute ›verdammt sanft‹ sei. Kapitän Allistoun stand auf der Achterhütte und beobachtete den Himmel, der sich von Südwest her bezog; bald wurde es auf Deck bekannt, daß das Barometer in der Nacht zu fallen begonnen hatte und daß man vielleicht in Kürze eine Brise erwarten könnte. Das führte, durch eine verwickelte Gedankenverbindung, zu heftigen Streitereien über den genauen Zeitpunkt von Jimmys Tod. War es vorher geschehen oder nachdem ›das Glas da runtergeklettert war‹? Es war nicht festzustellen, verursachte aber gegenseitige verächtliche Beschimpfungen. Auf einmal gab's vorn einen gewaltigen Tumult. Der friedliebende Knowles und der gutmütige Davies waren darüber bis zu Schlägen gekommen. Die dienstfreie Wache mischte sich eifrig drein, und durch reichlich zehn Minuten wogte ein hitziges Getümmel rings um die Luke, wo im schwingenden Schatten der Segel Jimmys Leib, in weiße Tücher gehüllt, von dem kummervollen Belfast bewacht wurde; dieser verschmähte es in seinem Schmerz, mitzuraufen. Als der Lärm sich gelegt hatte und die Leidenschaften in mürrischem Schweigen ausklangen, da erhob er sich zu Häupten des verhüllten Leichnams, reckte beide Arme hoch und schrie mit gequälter Entrüstung: »Schämen solltet ihr euch!« Das taten wir auch.

Belfast nahm sich den Verlust sehr zu Herzen. Er legte eine unauslöschliche Hingabe an den Tag. Er und kein anderer sollte dem Segelmacher helfen, Jimmys sterbliche Überreste zur feierlichen Übergabe an die unersättliche See herzurichten. Er verteilte sorgsam die Gewichte am Fußende: zwei Scheuersteine, einen alten Ankerschäkel ohne Bolzen, ein paar zerbrochene Glieder einer ausgedienten Wurfankerkette. Er ordnete sie immer wieder von neuem. »Segne meine Seele! Du fürchtest dich wohl, er könnte sich die Fersen wundreiben?« sagte der Segelmacher, dem die ganze Sache zuwider war. Er führte die Nadel und paffte dabei wütend, daß sein Kopf in einer Rauchwolke schwamm; er schlug die Säume ein, zog die Stiche durch, zerrte an der Leinwand. – »Heb ihm die Schulter hoch . . . Zieh zu dir hinüber . . . So–o–o. Genug.« Belfast gehorchte, zog, hob, schmerzüberwältigt, und ließ Tränen auf das Takelgarn tropfen. »Zieh ihm das Segeltuch nicht gar so dicht über sein armes Gesicht«, bat er weinerlich. – »Das kann doch dir gleich sein! Für ihn ist's schon bequem genug«, versicherte der Segelmacher und schnitt nach dem letzten Stich, der gerade über Jimmys Stirn zu sitzen kam, den Faden ab. Er rollte die übrige Leinwand zusammen und legte die Nadeln weg. »Warum hast du dich denn gar so?« fragte er. Belfast sah auf den langen grauen Segeltuchpacken hinunter. »Ich hab' ihn rausgezogen«, flüsterte er, »und er wollte nicht fort. Wenn ich letzte Nacht bei ihm gewacht hätte, dann wär' er mir zuliebe am Leben geblieben . . . aber irgendwas hat mich müde gemacht.« Der Segelmacher zog mit Macht an seiner Pfeife und erklärte: »Wie ich . . . Westindien-Station . . . Fregatte ›Blanche‹ . . . Gelbes Fieber . . . zwanzig im Tag eingenäht . . . Leute aus Portsmouth – Devonport – Landsleute – kannte ihre Väter, Mütter – Schwestern – die ganze Sippe. Nichts dabei gedacht. Und diese Nigger – so wie der da – weißt gar nicht, wo sie herkommen. Haben niemand. Niemand was nütze. Wem fehlt der?« – »Mir – ich hab' ihn rausgezogen«, klagte Belfast schmerzlich.

Auf zwei zusammengenagelten Planken, augenscheinlich still und ergeben unter den Falten der Nationalflagge mit weißem Rand, wurde James Wart von vier Leuten nach achtern getragen und, mit den Füßen gegen eine offene Pfortluke gerichtet, langsam niedergesetzt. Vom Westen her kam leichter Wellengang, und den Schwankungen des Schiffes folgend flatterte die Heckflagge auf Halbmast auf und sank wieder in sich zusammen, wie eine Flammenzunge am grauen Himmel. Charley zog die Glocke, und bei jedem Rollen nach Steuerbord schien der ganze weite Halbkreis stahlfarbenen Wassers auf dieser Seite hochkommen und über die Reling hereinstürzen zu wollen, wie um früher an unsern Jimmy zu gelangen. Alle waren da, mit Ausnahme von Donkin, der zu krank war, um teilnehmen zu können; der Kapitän und Herr Creighton standen barhäuptig bei der Achterhütte. Herr Baker, dem der Schiffer ernst gesagt hatte: »Sie verstehen mehr von Gebetbüchern als ich«, trat rasch und etwas verlegen aus der Kajütentür. Alles nahm die Mützen ab. Er begann leise zu lesen, mit dem ihm eigenen, harmlos drohenden Tonfall, als wollte er dem toten Matrosen zu seinen Füßen einen letzten Rüffel unter vier Augen erteilen. Die Leute lauschten in verstreuten Gruppen; sie lehnten an der Nagelbank und sahen auf Deck nieder; sie hielten das Kinn gedankenvoll in die Hand gestützt oder ließen mit gekreuzten Armen den Kopf in tiefem Sinnen hängen. Wamibo träumte. Herr Baker las weiter und grunzte ehrerbietig bei jedem Umblättern. Die Worte verfehlten den Weg zu den unbeständigen Herzen der Leute und rollten fort, um heimatlos über die harte See zu wandern. Und James Wart, für immer verstummt, ließ widerspruchslos und ergeben das rauhe Murmeln von Verzweiflung und Hoffnung über sich ergehen.

Zwei Mann machten sich fertig und warteten auf die Worte, die so viele unserer Brüder zu ihrem letzten Sprung bringen. Herr Baker kam zu der Stelle. »Steht klar«, murmelte der Bootsmann. Herr Baker las laut: ». . . in die Tiefe« und machte eine Pause. Die Leute lüfteten das Binnenbordende der Planken, der Bootsmann zog die Flagge weg – aber James Wart rührte sich nicht. »Höher!« flüsterte der Bootsmann ärgerlich. Alle Köpfe hoben sich, eine Bewegung des Unbehagens ging durch die Reihen, aber James Wart machte nicht Miene, fortzugehen. Tot und für die Ewigkeit eingehüllt, schien er sich doch noch in unsterblicher Angst an das Schiff zu klammern. »Höher! Hebt!« zischte der Bootsmann wütend. – »Er will nicht gehn«, stammelte einer der Leute bebend, und beide schienen geneigt, alles hinzuwerfen. Herr Baker wartete, verbarg sein Gesicht hinter dem Buch und scharrte gereizt mit den Füßen. Die Leute sahen ganz verstört aus; aus ihrer Mitte stieg ein schwacher, undeutlicher Laut, wuchs . . . »Jimmy!« schrie Belfast klagend, und ein Schauer des Entsetzens folgte.

»Jimmy, sei ein Mann!« gellte er wild. Alle hatten den Mund weit offen, kein Augenlid zuckte. Er stierte geradeaus, seine Glieder flogen; er bog den Körper vor, wie ein Mann, der etwas Gräßliches erblickt. »Geh!« brüllte er und sprang mit gerecktem Arm vor. »Geh, Jimmy! – Jimmy, geh! Geh!« Seine Finger berührten den Kopf des Leichnams, und der graue Packen setzte sich widerwillig in Bewegung, um plötzlich wie der Blitz über die schrägen Planken hinunterzurutschen. Die Besatzung trat wie ein Mann vor; ein tiefes Ah–h–h! kam zitternd aus breiten Brustkasten. Das Schiff rollte, wie von einer bösen Last befreit; die Segel flatterten. Belfast, von Archie gestützt, schluchzte hysterisch; und Charley, der Jimmy untertauchen sehen wollte und sich weit über die Reling beugte, kam zu spät und sah nur mehr die letzten Kreise verlaufen.

Herr Baker schwitzte reichlich und las das letzte Gebet unter dem dumpfen Lärmen der aufgeregten Leute und der flatternden Segel. »Amen!« sagte er unsicher und brummig und schloß das Buch.

»Rahen vierkant brassen!« donnerte eine Stimme über seinem Kopf. Allen gab es einen Ruck; ein paar ließen die Mützen fallen; Herr Baker sah überrascht auf. Der Schiffer stand oben beim Vorderschott der Hütte und zeigte nach Westen. »Brise kommt«, sagte er. »Brassen und Toppen! Schaut dazu, Leute!« – Herr Baker stopfte das Buch hastig in seine Tasche. »Vorwärts da – laßt den Fockhals aus!« rief er munter und aufgeräumt, bloßköpfig, wie er war. »Focksegel brassen, ihr, Backbordwache!« – »Guter Wind – guter Wind«, murmelten die Leute, während sie an die Brassen gingen. – »Was hab' ich euch gesagt?« brummte der alte Singleton und schoß die Taue kraftvoll auf. »Ich hab's gewußt – er ist fort, und da kommt der Wind.«

Er kam und kündigte sich mit lautem, mächtigem Seufzen an. Die Segel füllten sich, das Schiff bekam Fahrt, und die erwachende See begann den Leuten schläfrig von der Heimat zu erzählen.

In der Nacht, während das Schiff vor einer kräftigen Brise schäumend nach Norden rauschte, schüttete der Bootsmann in der Unteroffiziersmesse sein übervolles Herz aus: »Der Kerl machte nichts als Verdruß«, meinte er, »von dem Augenblick, wo er an Bord kam – denkt ihr noch dran –, damals in Bombay, in der Nacht? Hat uns diese gutmütige Mannschaft verhetzt – frech gegen den Alten –, und wir mußten wie die Narren über das halbgesunkene Schiff tanzen, um ihn zu retten. Um ein Haar hätt's noch seinetwegen eine Meuterei gegeben – und jetzt hat mich der Erste förmlich einen roten Wüstenhund geheißen, weil ich nicht einen Klumpen Fett auf die Planken da geschmiert hab'. Ich hab's sowieso getan – aber du hättest dir auch was Besseres wissen können, als einen Nagel rausstehen zu lassen – he, ChipsChips, Slang für ›carpenter‹, Zimmermann?« – »Und du hättest dir was Besseres wissen können, als meine ganzen Werkzeuge seinetwegen über Bord zu werfen wie ein blutiger Grünschnabel«, gab der Zimmermann mürrisch zurück. »Gut – jetzt ist er ihnen nachgegangen«, fügte er unversöhnlich hinzu. »Auf der China-Station, erinner' ich mich, der Admiral, der sagt mir einmal . . .« begann der Segelmacher.

Eine Woche später lief der ›Narzissus‹ in die Kanalmündung ein.

Auf weißen Schwingen glitt die Brigg niedrig über die blaue See wie ein mächtiger Vogel, der müde dem Horst zustrebt. Die Wolken flogen mit den Mastspitzen um die Wette; sie tauchten achtern auf, weiße Ungeheuer, hoben sich bis zum Zenit, sausten dann die weite Himmelswölbung hinab und schienen kopfüber ins Meer zu stürzen – die Wolken, schneller als das Schiff und freier, doch ohne Heimat. Die Küste trat aus dem Raum in den Sonnenschein hinaus, um die Brigg willkommen zu heißen. Die ragenden Vorgebirge schritten machtvoll ins Meer, die weiten Buchten lächelten im Licht, die Schatten heimatloser Wolken trieben über die sonnigen Ebenen, sprangen über Täler, glitten, ohne anzuhalten, die Hügel hinan und rollten über die Hänge hinunter; und der Sonnenschein verfolgte sie mit tanzenden Lichtflecken. Von den Spitzen dunkler Klippen grüßten Leuchttürme in blendender Weiße. Der Kanal glitzerte wie ein blauer Mantel, mit Gold durchwirkt und mit den Silbersternen der Schaumkronen übersät. Die Brigg rauschte an den Vorgebirgen und Buchten vorbei. Schiffe auf der Ausreise kreuzten ihre Bahn, überliegend, die Masten abgetakelt zu einem harten Strauß mit dem rauhen Südwest. Und dicht unter Land krochen einige qualmende Dampfer der Küste entlang, wie ungeheure wandernde Amphibien, die sich nicht in die ruhelose Weite hinauswagen.

Nachts traten die Vorgebirge zurück, und die Buchten schoben sich in ungebrochener, verschwommener Linie vor. Die Lichter der Erde mischten sich mit denen des Himmels; über den tanzenden Laternen einer Fischerflottille strahlte ruhig ein großes Leuchthaus wie ein ungeheures Ankerlicht über einem Schiff von fabelhaften Ausmaßen. Unter seinem steten Schein glich die Küste, die sich schwarz und gerade hinzog, der hohen Bordwand eines unzerstörbaren Fahrzeugs, das reglos auf der unsterblichen, ruhelosen See liegt. Das dunkle Land ruhte einsam in den Wassern; wie ein mächtiges Schiff, von wachsamen Lichtern übersät – ein Schiff, mit Millionen von Leben beladen –, mit Spreu und mit Juwelen, mit Gold und mit Stahl. Es türmte sich in ungeheurer Kraftfülle empor, barg unschätzbare Überlieferung und stummes Leid, glorreiche Erinnerungen und kleinliches Vergessen, niedrige Tugend und glänzende Fehler. Ein großes Schiff! Weltalter hindurch hatte der Ozean vergeblich seine zähen Flanken gepeitscht; es war da, als die Welt noch weiter und dunkler war, als die See groß war und geheimnisvoll und bereit, den Wagemut kühner Männer mit Ruhm zu lohnen. Ein Schiff, die Wiege von Flotten und Nationen! Das große Flaggschiff der Rasse; stärker als die Stürme! und auf hoher See verankert.

Der ›Narzissus‹ krängte leicht unter den Landwinden, passierte die Südspitze und die DownsDowns: große Reede am Eingang der Straße von Calais, an der Küste von Kent und fuhr im Schlepptau in den Strom ein. Der Pracht der weißen Schwingen beraubt, wand er sich gehorsam hinter dem Schlepper durch das Gewirr unsichtbarer Kanäle. Als die Brigg an den rotgestrichenen Feuerschiffen vorbeikam, da schwoiten diese an ihrer Vertäuung, schienen einen Augenblick lang mit großer Geschwindigkeit in der Strömung mitzutreiben und blieben dann rettungslos zurück. Die großen Bojen auf den Sandbänken glitten langsam an ihr vorbei und rissen, aus ihrem Schlummer gestört, an ihren Ketten wie böse Wachhunde. Die Ufer rückten zusammen; von beiden Seiten trat das Land näher an die Brigg heran. Sie ging ruhig stromaufwärts. An den Uferhängen tauchten Häuser in Gruppen auf, schienen hastig die Hügel herabzurennen, um die Brigg vorbeiziehen zu sehen und drängten sich, von dem schlammigen Gestade gehemmt, an den Deichen. Weiter weg standen die Fabrikschornsteine in kecken Gruppen und sahen ihr nach; wie eine verstreute Schar schlanker Riesen sahen sie aus, stelzbeinig und aufrecht, die schwarzen Barette aus Rauch unternehmend aufs Ohr gesetzt. Das Schiff fuhr um eine Biegung; ein unreiner Lufthauch pfiff ein Willkommen in den abgetakelten Spieren; das Land schloß sich und trat zwischen das Schiff und die See.

Eine niedrige Wolke türmte sich vor der Brigg, eine große, schillernde, schwankende Wolke, die von Millionen arbeitsfeuchter Stirnen aufzusteigen schien. Lange Schwaden rauchiger Dämpfe durchfurchten sie mit grellen Streifen; sie zuckte im Taktschlag von Millionen Herzen, und ein ungeheures klagendes Murmeln tönte daraus hervor – das Murmeln von Millionen Lippen, die beteten, fluchten, seufzten, höhnten –, das unaufhörliche Murmeln von Torheit, Reue, Hoffnung, das von den Massen ausgeht, die die gierige Erde bevölkern. Der ›Narzissus‹ drang in die Wolke ein, die Schatten wurden tiefer; von allen Seiten tönte der Klang von Eisen, das Geräusch mächtiger Schläge, Schreien, Heulen. Schwarze Schuten trieben schweigsam auf dem Strom. Ein planloses Gewirr von rußigen Mauern ragte verschwommen in dem Qualm auf, beängstigend und trostlos, ein Bild der Zerstörung. Die Schlepper lavierten mit wütendem Keuchen im Strom, um die Brigg gerade auf die Schleusenpforte hinzuhalten; vor ihrem Bug sprangen zischend zwei Wellenreihen auf und ringelten sich tückisch ans Ufer wie Schlangen. Eine Brücke vor ihr sprang wie durch Hexerei auseinander; große hydraulische Winden begannen sich ganz von selbst zu drehen, als gehorchten sie einem geheimen, verruchten Zauberwort. Die Brigg bewegte sich durch einen engen Wasserweg, zwischen niedrigen Granitmauern; Leute mit Rückhalttauen in der Hand gingen über die breiten Quadern und hielten mit ihr Schritt. Zu beiden Seiten der verschwundenen Brücke warteten ungeduldige Gruppen: rauhe, wuchtige Männer in Mützen, blasse Männer in hohen Hüten, zwei barhäuptige Frauen, zerlumpte Kinder, die aus großen Augen wie gebannt zusahen. Ein Karren, der in hartem Trab herkam, hielt scharf an. Eine der Frauen rief dem stillen Schiff zu: »Hallo, Jack!« und sah dabei niemand besonders an, doch alle Leute sahen vom Backdeck nach ihr hin. – »Bleibt klar! Bleibt klar von dem Tau!« schrien die Schleusenwächter, über Steinpfeiler gebeugt. Die Mannschaft flüsterte, trampelte herum. – »Werft eure Backtaue los! Werft los!« sang auf dem Kai ein alter Mann mit rotem Gesicht. Die Taue klatschten beim Niederfallen schwer ins Wasser, und der ›Narzissus‹ lief ins Dock ein.

Die steinerne Ufereinfassung erstreckte sich rechts und links in gerader Linie und schloß eine rechtwinklige, düstere Wasserfläche ein. Über dem Wasser erhoben sich hohe Ziegelmauern, seelenlose Mauern, die aus Hunderten von Fenstern stierten, trüb und glanzlos wie die Augen übersatter Bestien. Zu ihren Füßen kauerten ungeheure eiserne Krane, von deren Hälsen lange Ketten herabhingen und beutegierige Haken über leblosen Schiffen schaukeln ließen. Durch die Luft tönte das Rollen von Rädern über Steine, das dumpfe Auffallen schwerer Gegenstände, das Knarren schwerarbeitender Winden, das Knirschen straffer Ketten. Zwischen den hohen Gebäuden tanzte in kurzen Wirbeln der Staub aus allen Weltteilen; und der durchdringende Geruch von Spezereien und Unrat, von Gewürzen und Fellen, von kostbaren und schmutzigen Dingen durchzog den Raum und gab ihm eine eigenartige Atmosphäre. Die Brigg glitt willig auf ihren Liegeplatz; die Schatten der seelenlosen Mauern nahmen sie auf, der vielgereiste Staub sprang auf ihr Deck, ein Schwarm fremder Leute kletterte an den Seiten hoch und nahm sie in Besitz, im Namen der schmutzigen Erde. Sie hatte aufgehört zu leben.

Ein Stutzer in schwarzem Rock und hohem Hut schwang sich gewandt herauf, ging auf den Zweiten Offizier zu, schüttelte ihm die Hand und sagte: »Hallo, Herbert!« Es war sein Bruder. Plötzlich tauchte eine Dame auf. Eine richtige Dame in schwarzem Kleid, mit einem Sonnenschirm. Sie sah unerhört elegant aus zwischen uns und so fremdartig, als wäre sie vom Himmel gefallen. Herr Baker griff vor ihr an die Mütze. Es war die Gattin des Schiffers. Und bald darauf ging auch der Kapitän mit ihr an Land, äußerst nett angezogen, mit einem reinen Hemd. Wir erkannten ihn zunächst gar nicht, erst dann, als er sich auf dem Kai umdrehte und Herrn Baker zurief: »Vergessen Sie nicht, morgen früh die Chronometer aufzuziehen!« Eine Horde verdächtiger Kerle mit listigen Augen wanderte im Logis ein und aus – um nach Arbeit zu sehen, sagten sie. »Eher, um was zu stehlen«, bemerkte Knowles heiter. Arme Teufel! Wer kümmerte sich darum? Waren wir denn nicht zu Hause? Herr Baker fuhr auf einen der Kerle los, der ihm eine freche Antwort gegeben hatte, und wir waren entzückt. Alles war prächtig. »Ich bin fertig hier«, rief Herr Creighton von achtern. – »Kein Wasser im Pumpensod, Herr«, meldete der Zimmermann zum letzten Male, den Peilstock in der Hand. Herr Baker sah über Deck auf die Leute, die in erwartungsvollen Gruppen dastanden, sah zu den Rahen auf. – »Ouch! 's ist gut, Leute!« grunzte er. Die Gruppen lösten sich. Die Reise war zu Ende.

Zusammengerollte Betten flogen über die Reling; verschnürte Kisten schlitterten die Laufplanken hinunter – recht wenig von beiden. »Der Rest kreuzt noch am Kap«, erklärte Knowles rätselhaft einem Dockbummler, mit dem er eine plötzliche Freundschaft geschlossen hatte. Die Leute rannten herum, riefen sich untereinander an, forderten Wildfremde auf, ›bei der Bagage da mit anzupacken‹. Dann traten sie mit unvermittelter Wohlanständigkeit auf den Ersten zu, um ihm die Hand zu schütteln, bevor sie an Land gingen. – »Lebt wohl, Herr«, wiederholten sie in verschiedenen Tonarten. Herr Baker faßte die harten Pranken und grunzte mit einem Augenzwinkern jedem einzelnen freundlich zu. – »Paß auf dein Geld auf, Knowles. Ouch! Kriegst bald ein nettes Weib, wenn du's tust.« Der lahme Mann war begeistert. – »Lebt wohl, Herr«, sagte Belfast gerührt, preßte dem Ersten die Hand und sah mit schwimmenden Augen auf. »Dachte, ich wollte ihn mit mir an Land nehmen«, fuhr er klagend fort. Herr Baker verstand ihn nicht, sagte aber herzlich: »Nimm dich zusammen, Craik!« Und der verwaiste Belfast ging traurig und allein über die Laufplanke.

Herr Baker ging auf dem plötzlich still gewordenen Schiff einsam auf und nieder, grunzend; er versuchte Türklinken, spähte in dunkle Winkel, nimmermüde – das Muster eines Ersten Offiziers! Niemand erwartete ihn an Land. Mutter tot. Vater und zwei Brüder, Yarmouther Fischer, zusammen bei der Doggerbank ertrunken; Schwester verheiratet und unfreundlich. Ganz Dame. Verheiratet an den führenden Schneider und Politiker einer kleinen Stadt, dem der Seemann-Schwager nicht richtig fein genug schien. Ganz Dame, ganz Dame, dachte er und setzte sich zu kurzer Rast auf die Achterluke. Zeit genug, an Land zu gehen, einen Bissen zu essen und sich irgendwo ein Bett zu sichern. Er ging nicht gern von einem Schiff. Man hatte dann niemand, an den man denken konnte. Das Dunkel eines nebeligen Abends senkte sich kalt und feucht auf das verlassene Deck, und Herr Baker saß rauchend da und dachte an alle die Schiffe, denen er durch lange Jahre die Fürsorge eines echten Seemanns geschenkt hatte. Und kein Kommando in Sicht. Niemals! ›Ich hab' irgendwie nicht das Zeug zum Schiffer in mir‹, überlegte er gelassen, während ihn der Schiffslieger (der sich in der Kombüse häuslich eingerichtet hatte), ein vertrockneter Alter mit trüben Augen, heimlich verfluchte, weil er ›sich so herumzog‹. – ›Jetzt, der Creighton‹, fuhr er in seinen neidlosen Betrachtungen fort, ›richtiger Gentleman . . . erstklassige Bekanntschaften . . . wird's weiterbringen. Feiner Kerl . . . bißchen mehr Erfahrung.‹ Er stand auf und schüttelte sich. »Ich komme morgen früh ganz zeitig zurück, wegen der Luken. Laß du sie nichts anrühren, bevor ich da bin, Schiffslieger«, rief er. Dann ging auch er an Land, als letzter – das Muster eines Ersten Offiziers!

Die Mannschaft, die die auflösende Berührung mit dem Lande verstreut hatte, kam im Heuerkontor noch einmal zusammen. – »Der ›Narzissus‹ zahlt aus«, brüllte vor einer verglasten Tür ein messingbeschlagener alter Bursche mit einer Krone und den Buchstaben B. T.B. T. = Board of Trade, Handelsamt auf der Mütze. Ein Haufe strömte gleich hinein, viele aber hatten sich verspätet. Der Raum war groß, weißgetüncht und kahl; ein langer Zahltisch mit einem Gitter aus Messingdraht darüber schloß ein Drittel des staubigen Gemaches ab; der Schreiber hinter dem Gitter, mit einem Semmelgesicht, das Haar in der Mitte gescheitelt, hatte die unsteten, glitzernden Augen und die hastigen, ruckweisen Bewegungen eines Vogels im Käfig. Der arme Kapitän Allistoun saß auch drin, vor einem kleinen Tisch mit Goldrollen und Noten, und schien durch seine Gefangenschaft bedrückt. Auf einem hohen Stuhl nahe bei der Tür hatte noch ein Vogel vom Handelsamt aufgebaumt: ein alter Vogel, der sich an das Schwatzen der angeregten Matrosen nicht kehrte. Die Mannschaft des ›Narzissus‹ drückte sich verstreut in den Winkeln herum. Sie hatten neues Zeug an, kühne Jacken, die aussahen wie mit der Axt zugehauen, fabelhafte Hosen, wie aus Eisenblech gerollt, Flanellhemden ohne Kragen und glänzende neue Schuhe. Sie faßten einander an den Knöpfen, gaben sich liebkosende Schläge auf die Schultern, fragten: »Wo habt ihr letzte Nacht geschlafen?«, flüsterten vergnügt, schlugen sich auf die Schenkel, stampften mit unterdrücktem Lachen auf. Die meisten hatten saubere, strahlende Gesichter; nur einer oder zwei sahen vernachlässigt und traurig aus. Die beiden jungen Norweger in ihrer netten Sanftmut schienen nur auf die gütigen Damen zu warten, die das Skandinavische Heim verwalteten. Wamibo stand, noch in seinen Arbeitskleidern, aufrecht und stämmig mitten im Zimmer und träumte; als Archie eintrat, raffte er sich zu einem Lächeln auf. Doch da rief der geschäftige Schreiber einen Namen, und die Auszahlung begann.

Einer nach dem andern traten sie an den Zahltisch, den Lohn für ihre glorreichen und verborgenen Mühen entgegenzunehmen. Sie strichen das Geld bedächtig in die breiten Handflächen, sackten es vertrauensvoll ein oder wandten auch dem Tisch den Rücken und zählten mühsam in der Hand nach. »Betrag richtig? Quittung unterschreiben, da – da«, wiederholte der Schreiber ungeduldig. ›Wie blöd diese Seeleute sind‹, dachte er. Singleton trat heran, ehrwürdig – und etwas unsicher in dieser Beleuchtung; braune Tropfen von Tabaksaft sprenkelten seinen weißen Bart; seine Hände, die im starken Licht der offenen See nie zögerten, konnten nun in der tiefen Dunkelheit des Landes die kleine Goldrolle kaum finden. »Könnt nicht schreiben?« fragte der Beamte entrüstet. »Dann macht ein Zeichen hin.« Singleton kratzte schwerfähig ein Kreuz und verkleckste die Seite. »Was 'n ekelhaftes altes Kamel«, murrte der Schreiber. Jemand öffnete die Tür vor ihm, und der patriarchalische Matrose schob sich unbeholfen hinaus, ohne irgendeinen von uns auch nur anzusehen.

Archie hatte eine Brieftasche und wurde aufgezogen deswegen. Belfast, der wild aussah, als wäre er schon durch ein oder zwei Kneipen gezogen, gab Zeichen von Rührung und verlangte den Kapitän vertraulich zu sprechen. Der Schiffer war überrascht. Sie sprachen durch das Gitter, und wir konnten den Kapitän sagen hören: »Ich hab' es dem Handelsamt übergeben.« – »Ich hätte gerne was von seinen Sachen gehabt«, murmelte Belfast. – »Es geht aber nicht, lieber Mann. Die Sachen liegen versperrt und versiegelt beim Seeamt«, erklärte der Schiffer, und Belfast trat zurück, mit hängenden Mundwinkeln und trüben Augen. Während einer Pause in der Zahlung hörten wir den Kapitän und den Schreiber miteinander sprechen. Wir schnappten auf: ›James Wart – gestorben – keinerlei Papiere gefunden – keine Verwandten – keine Spur – das Amt muß seine Heuer verwahren.‹ Donkin trat ein. Er schien außer Atem, ernst und geschäftig. Er ging geradewegs zum Tisch und unterhielt sich angeregt mit dem Schreiber, der ihn für einen intelligenten Mann zu halten schien. Sie unterhandelten über den Betrag und wetteiferten liebenswürdig im Verschlucken von H'sDas (anlautende) H verschlucken – Eigentümlichkeit des Dialekts von (Ost-)London. Kapitän Allistoun zahlte. »Ich gebe dir eine schlechte Entlassung«, sagte er ruhig. Donkin erhob die Stimme: »Ich brauch' deine blöde Entlassung nicht, halt' sie dir selber.« Er wandte sich an uns. »Das verteufelte Seefahren hat sich aufgehört für mich«, sagte er laut. Alle sahen ihn an. Er hatte bessere Kleider, sah wohlhabend aus und schien sich mehr zu Hause zu fühlen als irgendwer unter uns; er blickte uns selbstbewußt an und weidete sich an der Wirkung seiner Mitteilung. »Jawohl. Hab' reiche Freunde. Die habt ihr wohl nicht. Aber ich bin ein Mann. Und ihr seid schließlich doch Kameraden. Wer kommt mit auf einen Tropfen?«

Keiner rührte sich. Es gab ein Schweigen, ausdruckslose Gesichter, steinerne Blicke. Er wartete einen Augenblick, lächelte bitter und ging zur Tür. Dort wandte er sich nochmals um. »Ihr wollt nicht? Verdammte Heuchler seid ihr. Nein? Was hab' ich euch getan? Hab' ich euch verschuftet? Hab' ich euch geschadet? Hab' ich? . . . Ihr wollt nicht trinken? . . . Nein! . . . Dann soll doch jeder Mutter Sohn unter euch verdursten! Keiner von euch hat so viel Verstand wie 'n Vieh! Ihr seid Ausschuß! Alle zusammen! Arbeitet, bis ihr verreckt!«

Er ging hinaus und schmetterte die Türe so heftig zu, daß der alte Handelsamtsvogel fast von seinem Sitz fiel.

»Er ist verrückt«, sagte Archie. – »Nein, nein! Betrunken ist er«, widersprach Belfast im Gehen mit weicher Stimme. Kapitän Allistoun saß vor dem geleerten Zahltisch und lächelte gedankenvoll.

Draußen auf Tower Hill zwinkerten sie mit den Augen, zögerten unbeholfen, wie geblendet von dem ungewohnten dunstigen Licht, verwirrt durch den Anblick der vielen Menschen; und sie, die sich durch das Heulen des Sturms einander verständlich machen konnten, schienen betäubt und verstört von dem dumpfen Lärm der geschäftigen Erde. – »Zum Schwarzen Roß! Zum Schwarzen Roß!« schrie einer. »Trinken wir noch eins zusammen vorm Abschied.« Sie kreuzten aneinandergedrängt die Straße. Nur Charley und Belfast wanderten allein weiter. Beim Näherkommen sah ich, wie ein schlampiges Weib mit rotem Gesicht und staubigem, zerzaustem Haar Charley um den Hals fiel. Es war seine Mutter. Sie lallte an seiner Brust: »Oh, mein Junge! Mein Junge!« – »Laß mich aus«, sagte Charley, »laß mich aus, Mutter!« Ich überholte ihn gerade, und er warf mir über den unordentlichen Kopf der heulenden Frau weg einen Blick zu, spöttisch, mutig und vieldeutig, von einem lustigen Lächeln begleitet; mir schien es, als würde meine ganze Lebensweisheit daran zuschanden. Ich nickte und ging vorbei, hörte aber noch, wie er gutmütig sagte: »Wenn du mich den Augenblick ausläßt – dann sollst du einen Schilling von meinem Lohn haben, für Schnaps.« Nach den nächsten paar Schritten traf ich auf Belfast. Er faßte mich bebend und überschwenglich am Arm. »Ich konnte nicht mit denen gehn«, stammelte er und deutete mit einer Kopfbewegung auf unsere lärmende Mannschaft, die sich langsam auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig fortschob. »Wenn ich an Jimmy denke . . . Armer Jim! Wenn ich an ihn denke, dann hab' ich kein Herz mehr zum Trinken. Du warst ja auch sein Freund . . . aber ich hab' ihn rausgezogen . . . nicht wahr? Kurze Wolle hatte er . . . Ja. Und ich hab' die verwünschte Torte gestohlen . . . Er wollte nicht fort . . . Er tat niemand was.« Er brach in Tränen aus. »Ich hab' ihn nie angerührt – nie, nie!« seufzte er. »Er war für mich wie . . . wie . . . ein Lamm.«

Ich machte mich freundlich los. Belfasts Weinkrämpfe endeten gewöhnlich in einer Rauferei mit irgend jemand, und ich war nicht begierig, den Umschlag seines trostlosen Schmerzes mitzuerleben. Überdies standen zwei stämmige Schutzleute in der Nähe und sahen uns mit mißbilligenden und unbestechlichen Blicken an. »Auf Wiederschaun!« sagte ich und ging fort.

An der Ecke aber blieb ich stehen, um noch einen letzten Blick auf die Mannschaft des ›Narzissus‹ zu werfen. Sie drängten sich unentschlossen und lärmend auf den breiten Quadern vor der Münze. Sie wollten nach dem Schwarzen Roß, wo Leute mit rohen Gesichtern, in Pelzmützen und Hemdärmeln, aus gefirnißten Fässern die Illusion von Kraft, Frohsinn, Glück verteilen; die Illusion von Pracht und Lebensfreude – an die abgemusterten Mannschaften der Südseefahrer. Von weitem sah ich, wie sie plauderten, mit lustigen Augen und unbeholfenen Gebärden, während die Wogen des Lebens ihnen unaufhörlich und unbemerkt in die Ohren donnerten. Und wie sie so auf den weißen Steinen herumschwankten inmitten der hastenden, lärmenden Menschen, da erschienen sie mir wie Wesen anderer Art – verloren, einsam, gerichtet; Schiffbrüchige schienen sie, sorglose, lustige Schiffbrüchige, verrückte Schiffbrüchige, die sich auf der unsichern Kante einer verräterischen Klippe im Sturm vergnügen. Das Brausen der Stadt tönte wie das Brausen hochgehender Brechseen, unerbittlich, grausam, hart und laut; doch oben zerrissen die Wolken; breiter Sonnenschein überflutete die Mauern der rußigen Häuser, tauchte die dunkle Gruppe der Seeleute in Licht. Links von ihnen seufzten die Bäume in Tower Gardens, die strahlenden Steine des Towers schienen sich im Spiel der Lichter zu bewegen, als erinnerten sie sich plötzlich all der großen Freuden und Leiden der Vergangenheit, der kriegerischen Vorgänger dieser Männer, der Preßgänge, des tobenden Aufruhrs, der Wehklagen von Frauen an den Ufern und des Siegesjubels der Männer. Der himmlische Sonnenschein fiel wie ein Gnadengeschenk auf den Schmutz der Erde, auf die erinnerungsreichen stummen Steine, auf Gier, Selbstsucht, auf die ängstlichen Gesichter leicht vergessender Menschen. Und zur Rechten der dunklen Gruppe leuchtete die altersgraue Front der Münze, von der Sonnenflut reingespült, einen Augenblick lang auf, blendend weiß wie ein märchenhafter Marmorpalast. Die Mannschaft des ›Narzissus‹ kam außer Sicht.

Ich habe sie nie wiedergesehen. Die See nahm ein paar, die Dampfer andere, den Rest werden wohl die Kirchhöfe der Erde bergen. Singleton hat ohne Zweifel die lange Geschichte seines arbeitsreichen Lebens mit sich hinabgenommen in die friedvollen Tiefen der gastlichen See. Und Donkin, der im Leben kein anständiges Tagewerk getan hat, bringt sich ohne Zweifel damit fort, daß er mit schmutziger Zungenfertigkeit über die begründeten Rechte des Arbeiters Vorträge hält. Mag's so sein! Mögen die Erde und die See jede das Ihre haben.

Hat man sich von einem Schiffskameraden getrennt, dann ist es, wie bei jedem andern auch, eine Trennung für immer; und ich habe keinen von ihnen wiedergesehen. Bisweilen aber setzt mit Macht die Springflut der Erinnerung ein auf den dunklen Wassern des neunfach gewundenen Flusses. Dann treibt ein Schiff vorbei auf dem verlorenen Strom – ein schattenhaftes Schiff, mit Schatten bemannt, die im Vorüberziehen mit fernem Anruf grüßen. Haben wir nicht zusammen auf der unsterblichen See unserem sündigen Leben Wert abgerungen? Lebt wohl, Brüder! Ihr wart eine gute Besatzung. So gut wie nur je eine, die mit wildem Rufen die flatternde Leinwand eines schweren Focksegels bändigte oder, in der Takelung herumgeschleudert, verloren in der Nacht, dem Weststurm Schrei um Schrei zurückgab.

 


 


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