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Zu jener Zeit war Nostromo schon lange genug im Lande gewesen, um in Kapitän Mitchell eine geradezu überspannte Bewertung seiner Entdeckung reifen zu lassen. Er war ja augenscheinlich einer jener unschätzbaren Untergebenen, deren Besitz zu einigem Stolz berechtigt. Kapitän Mitchell tat sich etwas zugute auf seine Menschenkenntnis – aber er war nicht selbstsüchtig – und begann bereits in aller Unschuld jene Manie zu entwickeln: ». . . will ihnen meinen Capataz de Cargadores leihen«, durch die Nostromo früher oder später in persönliche Berührung mit jedem einzelnen Europäer in Sulaco gebracht werden sollte, als etwas wie ein Allerwelts-Faktotum – ein Wunder an Verwendbarkeit in seiner eigenen Lebenssphäre.
»Der Bursche ist mir blind ergeben, mit Leib und Seele!« konnte Kapitän Mitchell versichern, und wenn vielleicht auch niemand hätte erklären können, warum das der Fall sein sollte, so war es doch bei einiger Einsicht in ihre Beziehung unmöglich, die Behauptung in Zweifel zu ziehen – außer etwa für einen so verbitterten und verschrobenen Menschen wie Dr. Monygham, in dessen kurzem, hoffnungslosem Lachen eine grenzenlose Menschenverachtung mitklang. Nicht als ob Dr. Monygham mit diesem Lachen oder mit Worten verschwenderisch gewesen wäre. Er liebte in seinen besten Augenblicken ein grämliches Schweigen. In den schlimmeren Augenblicken fürchteten die Leute seinen erbarmungslosen Spott. Einzig Frau Gould vermochte seinen Unglauben an die menschlichen Beweggründe in gebührenden Grenzen zu halten; doch sogar ihr hatte er (bei einer Gelegenheit, die nichts mit Nostromo zu tun hatte, und in einem für seine Verhältnisse sogar liebenswürdigen Ton) einmal gesagt: »Es ist wirklich sehr unvernünftig, zu verlangen, daß ein Mann über andere soviel besser denken sollte, als er über sich selbst zu denken imstande ist.«
Und Frau Gould hatte sich beeilt, den Gegenstand fallen zu lassen. Über den englischen Doktor liefen merkwürdige Gerüchte um. Vor Jahren, in den Zeiten Guzman Bentos, war er, so flüsterte man, in eine Verschwörung verwickelt gewesen, die verraten und, wie die Leute sich ausdrückten, in Blut ertränkt worden war. Sein Haar war grau geworden, sein bartloses, kränkelndes Gesicht ziegelfarben; das große Würfelmuster seines Flanellhemdes und sein alter, ausgebleichter Panamahut waren eine ständige Herausforderung an jeden gesellschaftlichen Brauch in Sulaco. Ohne die peinliche Sauberkeit seiner Kleidung hätte man ihn für einen der entwurzelten Europäer halten können, die fast überall in den Überseeländern für die Achtbarkeit der jeweiligen Landsmannschaften einen Dorn im Auge darstellen. Die jungen Damen von Sulaco, die mit einem Kranz anmutiger Gesichter die Balkone längs der Verfassungsstraße zierten, flüsterten einander zu, wenn sie ihn hinkend mit gesenktem Kopf vorübergehen sahen, eine kurze Leinenjacke achtlos über das gewürfelte Flanellhemd gezogen: »Da geht der Señor Doctor, um Doña Emilia seinen Besuch zu machen; er hat seinen kleinen Rock an.« Der Schluß stimmte. Seine tiefere Bedeutung allerdings entzog sich der oberflächlichen Einsicht der Damen. Es lag ihnen auch ferne, besonderes Nachdenken an den Doktor zu wenden. Er war alt, häßlich, gelehrt und ein wenig – »loco« – verrückt, wenn nicht gar ein Zauberer, was zu sein ihn das gemeine Volk verdächtigte. Die kurze weiße Jacke war tatsächlich ein Zugeständnis an Frau Goulds vermenschlichenden Einfluß. Der Doktor mit seiner spöttischen, bitteren Redeweise hatte kein anderes Mittel, um seine tiefe Ehrfurcht vor der Wesensart der Dame zu bekunden, die im Land als die Englische Señora bekannt war. Er brachte diesen Tribut sehr ernsthaft dar; es war für einen Mann seiner Gewohnheiten keine Kleinigkeit. Frau Gould empfand das vollauf. Es wäre ihr nie eingefallen, ihm etwa diesen deutlichen Beweis von Ergebenheit nahezulegen.
Sie hielt ihr altes spanisches Haus (eines der schönsten in Sulaco) offen für die Austeilung der kleinen Annehmlichkeiten des Daseins. Sie teilte sie mit reizender Unbefangenheit aus, weil sie sich dabei von sicherem Wertungsvermögen leiten ließ. Sie hatte eine besondere Begabung für die Art des Verkehrs mit Menschen, der die zarten Abstufungen von Selbstvergessen in sich schließt und an ein umfassendes Verstehen glauben läßt. Charles Gould (die Männer der seit drei Generationen in Costaguana ansässigen Familie Gould holten sich ihre Erziehung wie auch ihre Frauen immer in England), Charles Gould also war der Meinung, er habe sich, wie jeder andere Mann, in den gesunden Menschenverstand eines Mädchens verliebt, doch konnte dies wohl nicht der Grund sein, aus dem zum Beispiel der ganze Stab der Vermessungsabteilung vom jüngsten der Jungen bis zu dem gereiften Oberhaupt so häufig Gelegenheit nahm, zwischen den Gipfeln der Sierra des Hauses der Frau Gould zu gedenken. Sie natürlich hätte leise lachend und mit einem überraschten Weiten ihrer grauen Augen beteuert, daß sie durchaus nichts für die Herren getan habe – hätte ihr jemand erzählt, wie innig ihrer an der Schneegrenze, weit oberhalb Sulacos, gedacht wurde; dann aber hätte sie sehr bald, unter dem reizenden Vorgeben, ihren Witz anzustrengen, eine Erklärung gefunden: »Natürlich, es mußte ja für die Jungen eine solche Überraschung sein, hier draußen so etwas wie einen Willkomm zu finden, und ich denke mir auch, daß sie Heimweh haben. Ich denke mir, jedermann muß immer ein wenig Heimweh haben.«
Leute, die an Heimweh litten, taten ihr immer leid.
Im Lande geboren, wie sein Vater vor ihm, mager und lang, mit feuerrotem Schnurrbart, scharfgeschnittenem Kinn, klaren blauen Augen, nußbraunem Haar und schmalem, frischem, rotem Gesicht, sah Charles Gould wie ein Neukömmling aus der Heimat aus. Sein Großvater hatte für die Sache der Unabhängigkeit unter Bolivar gefochten, in jener berühmten Englischen Legion, die der große Befreier auf dem Schlachtfeld von Carabobo als Retter seines Landes begrüßt hatte. Einer von Charles Goulds Onkeln war in den Tagen der Föderation der erwählte Präsident eben der Provinz von Sulaco gewesen (die sich damals Staat nannte) und späterhin an die Kirchenmauer gestellt und auf Befehl des barbarischen Unionisten-Generals Guzman Bento erschossen worden. Es war derselbe Guzman Bento, der später, als lebenslänglicher Präsident, wegen seiner erbarmungslosen, grausamen Tyrannei berüchtigt wurde und im Volksglauben eine Art Apotheose fand – als blutdürstig spukendes Gespenst, dessen Körper vom leibhaftigen Teufel aus dem Mausoleum im Hauptschiff der Himmelfahrtskathedrale in Sta. Marta entführt worden war. So wenigstens pflegten die Priester das Verschwinden des Leichnams der barfüßigen Menge zu erklären, die herbeiströmte, um mit frommem Schauder das Loch in dem häßlichen Ziegelbau vor dem Altar anzustarren.
Guzman Bento grausamen Angedenkens hatte eine Unzahl Menschen außer Charles Goulds Onkel zum Tode verurteilt; doch mit einem Märtyrer für die Sache der Aristokratie zum Verwandten galt Charles Gould den Oligarchen von Sulaco (dies war die Bezeichnung zu Guzman Bentos Zeit; nun nannten sie sich Blancos und hatten den Gedanken an den Bundesstaat fallen lassen), galt also Charles Gould den Familien reiner spanischer Abstammung als einer der ihren. Eine solche Familiengeschichte gab Charles Gould den unbestreitbarsten Anspruch, als Costaguanero zu gelten; sein Aussehen aber war so eindeutig, daß er in der Sprache des gemeinen Volkes einfach der »Inglez« blieb, der Engländer von Sulaco. Er sah englischer aus als ein Zufallstourist, obwohl diese Art ketzerischer Pilger in Sulaco völlig unbekannt war. Er sah englischer aus als die letztgekommene Gruppe junger Eisenbahningenieure, als irgend jemand auf den Jagdbildern in den Nummern des »Punch«, die etwa zwei Monate nach Erscheinen in den Salon seiner Frau gelangten. Es verblüffte geradezu, ihn so geläufig spanisch sprechen zu hören (kastillanisch, wie die Eingeborenen sagen), oder die Indianer-Mundart der Bevölkerung. Seine Aussprache war nie englisch gewesen; aber in all diesen Goulds von Costaguana, seinen Vorfahren – Befreiern, Forschern, Kaffeepflanzern, Kaufleuten, Revolutionären –, steckte wohl etwas so Unzerstörbares, daß er, der einzige Vertreter der dritten Generation, in einem Erdteil, der seinen eigenen Reitstil hat, sogar noch zu Pferde völlig englisch aussah. Das soll nicht in der spöttischen Art der Llaneros von ihm gesagt sein – der Leute von den großen Ebenen, die meinen, daß niemand außer ihnen selbst zu Pferde zu sitzen verstehe. Charles Gould ritt, um den landläufigen Ausdruck zu gebrauchen, wie ein Zentaur. Das Reiten bedeutete ihm keine besondere Art von Leibesübung; es war eine natürliche Fähigkeit, wie das gewöhnliche Gehen für alle Leute mit gesunden Sinnen und Gliedern; trotzdem aber sah er, wenn er neben dem ausgefahrenen Ochsenweg nach der Mine galoppierte, in seinen englischen Kleidern und im englischen Sattel so aus, als wäre er in eben dem Augenblick in seinem leichten, schnellen »Pasotrote« kerzengerade aus einer grünen Wiese von der anderen Seite der Welt herübergekommen.
Sein Weg führte an der altspanischen Straße entlang, dem volkstümlich so genannten Camino Real – als Tatsache und Namen das einzige Überbleibsel eines Königtums, das der alte Giorgio Viola haßte und von dem nicht einmal mehr ein Schatten im Lande geblieben war; denn die große Reiterstatue Karls IV. am Eingang der Alameda, die sich weiß von den Bäumen abhob, war dem Landvolk und den Stadtbettlern, die auf den Stufen rings um den Sockel schliefen, nur als das Steinerne Pferd bekannt. Der andere Carlos, der unter raschem Klappern von Hufen auf dem holprigen Pflaster nach links abbog – Don Charles Gould in seinen englischen Kleidern –, paßte gleich wenig in seine Umgebung, schien sich damit aber wesentlich vertrauter zu fühlen als der königliche Reiter, der auf dem Sockel über den schlafenden Leperos sein Pferd zügelte und den Marmorarm zu der Marmorkrempe seines Federhuts erhob.
Das wettergepeitschte Standbild des reitenden Königs mit der Andeutung einer grüßenden Gebärde schien den politischen Veränderungen, die es sogar seines Namens beraubt hatten, mit unergründlichem Gleichmut die Stirne zu bieten; doch auch der andere Reiter, dem Volke wohlbekannt und sehr lebendig auf seinem schieferfarbenen Tier mit weißem Auge, auch er trug sein Herz durchaus nicht offen auf dem Umschlag seines englischen Rocks. Er bewahrte sein inneres Gleichgewicht, als fände er immer noch seinen Ruhepunkt in der leidenschaftslosen Beständigkeit des privaten und öffentlichen Herkommens in der europäischen Heimat. Er blieb gleich unbewegt vor der aufreizenden Art, in der die Damen von Sulaco ihre Gesichter mit Perlpuder bestäubten, bis sie wie Gipsmasken mit herrlich lebendigen Augen aussahen, wie vor dem Stadtklatsch und den ewigen politischen Umwälzungen, den unaufhörlichen »Rettungen des Landes«, die seiner Frau als ein dummes, blutiges Spiel voll Mord und Raub erschienen, mit furchtbarem Ernst von entarteten Kindern gespielt. In den ersten Tagen ihres Daseins in Costaguana pflegte die kleine Dame verzweifelt die Hände zu ringen, weil sie sich außerstande sah, die öffentlichen Angelegenheiten des Landes so ernst zu nehmen, wie die gelegentliche Grausamkeit der Begleitumstände es verlangte. Sie sah darin eine Komödie leeren Wahns, doch kaum etwas Echtes, außer ihrer eigenen sprachlosen Entrüstung. Charles, der in aller Ruhe seinen langen Schnurrbart drehte, pflegte jedes Gespräch über den Gegenstand abzulehnen. Nur einmal sagte er ihr, in aller Freundlichkeit:
»Meine Liebe, du scheinst zu vergessen, daß ich hier geboren bin.«
Diese wenigen Worte brachten sie zum Schweigen, als hätten sie eine plötzliche Offenbarung bedeutet. Vielleicht machte ja die bloße Tatsache, im Lande geboren zu sein, einen Unterschied. Sie hatte von jeher das größte Vertrauen zu ihrem Gatten. Er hatte zunächst durch seinen völligen Mangel an Sentimentalität ihre Einbildungskraft gereizt, durch eben die Gemütsruhe, die sie in Gedanken als ein Zeichen besonderer Lebenstüchtigkeit gedeutet hatte. Don José Avellanos, ihr Nachbar von jenseits der Straße, ein Staatsmann, Dichter, Mann von Bildung, der sein Land an verschiedenen europäischen Höfen vertreten (und als Staatsgefangener zur Zeit des Tyrannen Guzman Bento Unsagbares erduldet hatte), pflegte in Doña Emilias Salon zu erklären, daß Carlos alle englischen Charaktervorzüge mit einem wahrhaft patriotischen Herzen vereine.
Frau Gould erhob die Augen zu ihres Gatten magerem, rotbraunem Gesicht und konnte bei diesen Worten über seinen Patriotismus, obwohl er sie gehört haben mußte, kein leisestes Zucken entdecken. Er war vielleicht eben nach der Rückkehr von der Mine vom Pferde gestiegen; er war englisch genug, um der heißesten Tageszeit nicht zu achten. Basilio, in weißleinener Livree mit roter Schärpe, war im Patio einen Augenblick hinter dem Herrn niedergekniet, um ihm die schweren Sporen abzuschnallen; und dann war wohl der Señor Administrator die Treppe hinauf in die Galerie gegangen. Reihen von Topfpflanzen, längs des Geländers zwischen den steinernen Bogenpfeilern aufgestellt, schlossen mit ihren Blättern und Blüten den Corrédor von dem darunterliegenden Viereck ab, dessen gepflasterte Fläche den wahren Herdstein eines südamerikanischen Hauses bildet, und auf der der Wechsel von Licht und Schatten den ruhigen Ablauf des häuslichen Lebens anzeigt.
Señor Avellanos hatte die Gewohnheit, den Patio fast täglich um fünf Uhr nachmittags zu durchqueren. Don José wählte für seine Besuche die Teestunde, weil die englische Tageseinteilung in Doña Emilias Hause ihn an die Zeit erinnerte, wo er in London als bevollmächtigter Minister am Hofe von St. James gelebt hatte. Er liebte Tee nicht; und gewöhnlich schaukelte er in seinem amerikanischen Stuhl, die kleinen, glänzend beschuhten Füße auf der Fußrast gekreuzt, sprach unaufhörlich mit einer liebenswürdigen Geläufigkeit, die bei einem Mann seines Alters geradezu wunderbar wirkte, und hielt dabei lange Zeit die Tasse in der Hand. Sein kurzgeschorenes Haupt war schneeweiß; seine Augen kohlschwarz.
Beim Anblick von Charles Gould, der den Salon betrat, pflegte er leicht zu nicken und seine rednerische Periode zu Ende zu führen, dann erst sagte er etwa:
»Carlos, mein Freund, Sie sind von San Tomé in der vollen Tageshitze hereingeritten. Immer der wahre englische Tätigkeitsdrang. Nicht? Wie?«
Dann trank er den Tee in einem Schluck hinunter. Diese Handlung wurde unweigerlich von einem leisen Schaudern und einem unfreiwillig gemurmelten »brrrr« begleitet, das von dem hastigen Ausruf »ausgezeichnet!« nicht ganz übertönt wurde.
Dann reichte er die leere Tasse in die Hände seiner jungen Freundin zurück, die sich ihm lächelnd entgegenstreckten, und fuhr fort, sich über die patriotische Natur der San-Tomé-Mine zu verbreiten – einfach um des Vergnügens willen, sich selbst fließend sprechen zu hören, wie es schien, während sein zurückgelehnter Körper in einem Schaukelstuhl, wie sie aus den Vereinigten Staaten kommen, hin und her wippte. Hoch über seinem Kopf wölbte sich die weiße Decke des größten Wohnraums in der Casa Gould. Die Höhe des Raumes verkleinerte die schweren spanischen Stühle aus braunem Holz, mit Ledersitzen und geraden Rücklehnen, und die europäischen Sitzmöbel, die niedrig, über und über gepolstert herumstanden, wie fette kleine Ungeheuer, zum Bersten gemästet mit Stahlfedern und Roßhaar. Auf kleinen Tischen standen Nippsachen herum, über Marmorkonsolen waren Spiegel in die Wände eingelassen, Teppiche lagen unter den zwei Gruppen von Lehnstühlen, in deren jeder ein tiefes Sofa den Vorsitz führte; kleinere Läufer lagen da und dort auf dem roten Ziegelfußboden; drei Fenstertüren, die von der Decke bis zum Boden reichten, führten auf einen Balkon und waren von den senkrechten Falten der dunklen Vorhänge eingerahmt. Die Pracht vergangener Tage atmete noch zwischen den vier hohen Wänden, die zart primelfarben getönt waren; und Frau Gould, mit dem kleinen Kopf und den schimmernden Flechten, saß in einer Wolke von Musselin und Spitzen vor einem dünnbeinigen Mahagonitischchen und sah wie eine Fee aus, die aus Silbergerät Zaubertränke ausschenkt.
Frau Gould kannte die Geschichte der San-Tomé-Mine. In früheren Tagen hauptsächlich durch Peitschenhiebe auf Sklavenrücken bearbeitet, war ihr Ertrag mit dem Vollgewicht an Menschenfleisch bezahlt worden. Ganze Indianerstämme waren bei dem Betrieb zugrunde gegangen; und dann wurde die Mine aufgegeben, denn sie hatte aufgehört, bei dieser primitiven Methode ertragreich zu sein, wie viele Leichname man auch in den Schlund warf. Später geriet sie in Vergessenheit. Nach dem Unabhängigkeitskriege wurde sie neu entdeckt. Eine englische Gesellschaft erhielt die Betriebserlaubnis und fand eine so reiche Ader, daß weder die Ansprüche der aufeinanderfolgenden Regierungen, noch die gelegentlichen Überfälle von Werbeoffizieren auf die allmählich herbeigezogene Bevölkerung von bezahlten Bergleuten die Ausdauer der Unternehmer erschüttern konnten. Schließlich aber hatten sich während des langen Wirrwarrs von Pronunziamentos, die auf den Tod des berüchtigten Guzman Bento folgten, die eingeborenen Bergleute, von Sendboten aus der Hauptstadt aufgewiegelt, gegen ihre englischen Arbeitgeber empört und sie bis auf den letzten Mann ermordet. Das Beschlagnahmedekret, das unmittelbar darauf im »Diario Official« von Sta. Marta erschien, begann mit den Worten: »In gerechtem Zorne über die schamlose Unterdrückung durch Fremde, die sich weit eher durch schmutzige Geldgier als durch die Liebe zu einem Lande leiten ließen, in das sie als bettelhafte Glücksjäger gekommen waren, hat die Bergarbeiterschaft von San Tomé . . .« usw. und schloß mit der Erklärung: »Das Staatsoberhaupt hat beschlossen, von dem ihm zustehenden Begnadigungsrecht in vollem Maße Gebrauch zu machen. Die Mine, die nach jedem Gesetz, internationalem, menschlichem und göttlichem Gesetz, nunmehr der Regierung als Nationaleigentum zufällt, soll geschlossen bleiben, bis das im heiligen Kampf für die Grundsätze der Freiheit gezogene Schwert sein Werk getan und das Glück unseres geliebten Landes gesichert hat.«
Und das war für lange Zeit das letzte Wort über die San Tomé-Mine. Welche Vorteile sich jene Regierung von der Beschlagnahme erhofft hatte, ist jetzt unmöglich zu sagen. Costaguana wurde mit Mühe dazu gebracht, den Familien der Opfer eine lächerliche Geldentschädigung zu zahlen, und dann verschwand die Angelegenheit aus dem diplomatischen Notenwechsel. Später aber erinnerte sich eine andere Regierung an jene wertvolle Erwerbung. Es war eine gewöhnliche Costaguana-Regierung, die vierte in sechs Jahren – doch wußte sie ihre Möglichkeiten richtig zu beurteilen. Sie erinnerte sich der San Tomé-Mine in der geheimen Überzeugung, daß sie im Besitze des Staates wertlos bleiben mußte, doch mit einem genialen Blick für den verschiedenen Gebrauch, der von einer Silbermine zu machen ist, abgesehen von dem mühsamen Prozeß, das Metall unter Tag zu gewinnen. Der Vater von Charles Gould, durch lange Zeit einer der wohlhabendsten Kaufleute von Costaguana, hatte bereits einen beträchtlichen Teil seines Vermögens in Zwangsdarlehen an die aufeinanderfolgenden Regierungen eingebüßt. Er war ein ruhig urteilender Mann, der es sich nie träumen ließ, seine Forderungen einzutreiben, und als ihm plötzlich, zum völligen Ausgleich, die dauernde Betriebskonzession der San Tomé-Mine angeboten wurde, da kannte seine Bestürzung keine Grenzen. Die Regierungskniffe waren ihm vertraut. Tatsächlich lag die Absicht bei der ganzen Geschichte, wenn auch zweifellos insgeheim reiflich erwogen, in der Fassung des Dokuments, das ihm zu dringender Unterschrift vorgelegt wurde, offen zutage. Der dritte und wichtigste Paragraph bestimmte, daß der Konzessionsinhaber der Regierung sofort den Staatsanteil an dem schätzungsweisen Ertrag der Mine für fünf Jahre im voraus erlegen sollte.
Herr Gould, der Vater, suchte sich gegen diese gefährliche Gunst mit vielen Gegengründen und Vorstellungen zu wehren, doch ohne Erfolg. Er verstand nichts vom Bergbau; er hatte keine Möglichkeit, seine Konzession auf den europäischen Markt zu bringen. Betriebsvorrichtungen in der Mine bestanden nicht mehr. Die Gebäude waren niedergebrannt worden, die Pläne vernichtet, die Arbeiterbevölkerung war seit langen Jahren aus der Nachbarschaft verschwunden; sogar die Straße lag unter einem wuchernden, tropischen Pflanzenwuchs so gründlich wie auf dem Meeresboden begraben; und der Hauptstollen war wenige hundert Meter vom Eingang eingestürzt. Man konnte nicht mehr von einer verlassenen Mine sprechen; es war eine wilde, unzugängliche Felsenschlucht der Sierra, wo Überreste verkohlter Balken, ein paar Haufen Ziegelschutt und einige formlose, rostige Eisenstücke unter dem verfilzten Dickicht dorniger Schlingpflanzen zu finden gewesen wären, das den Boden überdeckte. Herr Gould, der Vater, wünschte nicht den dauernden Besitz dieser trostlosen Örtlichkeit. Tatsächlich genügte ihr bloßes Bild, wenn es in stillen Nachtstunden vor seinem geistigen Auge aufstieg, ihn in schlaflose, hitzige Erregung zu versetzen.
Es ergab sich nämlich, daß der damalige Finanzminister ein Mann war, dem Herr Gould vor Jahren einmal unglückseligerweise ein kleines Darlehen verweigert hatte, mit der Begründung, daß der Bewerber ein berüchtigter Spieler und Betrüger und überdies mehr als nur verdächtig war, in einem abgelegenen Landbezirk, wo er damals als Richter wirkte, einen wohlhabenden Farmer angefallen und beraubt zu haben. Nun, nachdem er es zu einer hohen Stellung gebracht, hatte jener Politiker die Absicht geäußert, dem Señor Gould, dem armen Mann, Böses mit Gutem zu vergelten. Er wurde es nicht müde, diese Absicht immer wieder in den Salons von Sta. Marta zu betonen, mit sanfter und unerbittlicher Stimme und mit so listigen Blicken, daß Herrn Goulds beste Freunde diesem allen Ernstes rieten, von jedem Versuch, die Sache durch Bestechung aus der Welt zu schaffen, abzusehen. Es wäre sinnlos, es wäre vielleicht sogar nicht ungefährlich gewesen. Das war auch die Meinung einer stattlichen, etwas lauten Dame französischer Abstammung, der Tochter, wie sie sagte, eines hohen Offiziers (officier supérieur de l'armée), der innerhalb der Mauern eines säkularisierten Klosters, hart neben dem Finanzministerium, eine Wohnung eingeräumt war. Dieses blühende Geschöpf schüttelte bedauernd den Kopf, als geziemend, unter Überreichung eines passenden Geschenkes, wegen des Falles Gould bei ihr vorgesprochen wurde. Sie war gutmütig, und ihr Bedauern echt. Sie war der Auffassung, daß sie kein Geld für etwas annehmen könne, das zu vollbringen sie außerstande war. Herrn Goulds Freund, der mit der heiklen Sendung betraut war, pflegte späterhin zu erzählen, sie sei die einzige ehrliche Persönlichkeit in enger oder loser Verbindung mit der Regierung gewesen, die ihm je vorgekommen sei. »Nichts zu machen«, hatte sie in ihrem munteren, leicht heiseren Ton gesagt und dann Ausdrücke gebraucht, die eher für ein Kind unbekannter Eltern als für die verwaiste Tochter eines hohen Offiziers gepaßt hätten: »Nein, nichts zu machen. Pas moyen, mon garçon. C´est dommage, tout de même. Ah! Zut! Je ne vole pas mon monde. Je ne suis pas ministre – moi. Vous pouvez emporter votre petit sac.«
Sie biß sich kurz auf die karminroten Lippen und beklagte dabei wohl innerlich die unbeugsame Starrheit der Grundsätze, die den Verkauf ihres Einflusses auf die höchsten Kreise bestimmten. Dann fügte sie bedeutsam und leicht ungeduldig hinzu: »Allez et dites bien à votre bonhomme – entendez-vous? – qu'il faut avaler la pilule.«
Nach einer solchen Warnung blieb nichts weiter übrig, als zu unterschreiben und zu zahlen. Herr Gould hatte die Pille geschluckt, und es war, als hätte sie ein schleichendes Gift enthalten, das unmittelbar auf sein Gehirn wirkte. Er wurde mit einmal von der Mine besessen, und da er in Unterhaltungsliteratur ziemlich belesen war, so verschmolz ihm die Mine mit dem Bild des Alten vom Meere, den er auf den Schultern mit sich zu schleppen hatte. Er begann auch von Vampiren zu träumen. Herr Gould übertrieb vor sich selbst die Nachteile seiner neuen Stellung, weil er sie gefühlsmäßig betrachtete. Seine Stellung in Costaguana war nicht schlechter als zuvor. Aber der Mann ist ein hoffnungslos beharrliches Geschöpf, und die außergewöhnliche Neuheit dieses Angriffs auf seine Börse beleidigte Goulds Zartgefühl. Jedermann rings um ihn wurde von den tollen Mörderbanden geplündert, die nach dem Tod von Guzman Bento ihr wildes Spiel von Regierung und Umsturz trieben. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß, wenn auch die Beute mitunter bei weitem nicht den Erwartungen entsprechen mochte, doch gewiß keiner der Burschen, der gerade im Besitz des Präsidentenpalastes war, so stümperhaft sein würde, durch den Mangel an einem Vorwand einen Mißerfolg zu verschulden. Der erstbeste Oberst der bloßfüßigen Armee von Vogelscheuchen, der des Wegs kam, vermochte mit größter Bestimmtheit jedem bloßen Zivilisten gegenüber seine Ansprüche auf eine Summe von zehntausend Dollar zu begründen; wobei er vielleicht die unwandelbare Hoffnung hatte, keinesfalls weniger als etwa tausend zu bekommen. Herr Gould wußte das sehr gut, hatte sich mit Entsagung gewappnet und auf bessere Zeiten gehofft. Doch in Form eines gesetzlichen, geschäftlichen Vorgehens beraubt zu werden, das war für seine Vorstellungskraft unerträglich. Herr Gould, der Vater, hatte einen Fehler in seinem weisen und ehrenwerten Charakter: er legte zuviel Gewicht auf die Form. Dieser Fehler ist unter Menschen sehr verbreitet, deren Ansichten durch Vorurteile eingeengt sind. Für ihn lag in der Sache eine Heimtücke umgebogener Gesetzlichkeit, die durch die moralische Erschütterung seine kräftige Gesundheit untergrub. »Es wird mich noch umbringen«, sagte er oft und oft an jedem Tage; und tatsächlich begann er von da ab an Fieber, an Leberbeschwerden und besonders an der quälenden Unfähigkeit zu leiden, noch an irgend etwas anderes zu denken. Der Finanzminister hätte sich die Wirkung seiner ausgeklügelten Rache wohl kaum besser wünschen können. Sogar Herrn Goulds Briefe an seinen vierzehnjährigen Sohn Charles, der damals zur Erziehung in England weilte, sprachen schließlich kaum noch von etwas andrem als der Mine. Er jammerte über die Ungerechtigkeit, die Verfolgung, den Schimpf; er füllte ganze Seiten mit der Aufzählung der unseligen Folgen, die sich von jedem Gesichtspunkte aus dem Besitz der Mine ergaben, mit allerlei trüben Schlußfolgerungen, mit Worten des Grauens vor der anscheinend ewigen Dauer des Fluchs; denn die Konzession war ihm und seinen Nachkommen für immer zugesichert worden. Er beschwor seinen Sohn, niemals nach Costaguana zurückzukehren, niemals einen Anspruch auf sein Erbe zu erheben, weil der Fluch der niederträchtigen Konzession darauf lastete; keinen Heller davon anzurühren, gar keine Anstalten dazu zu machen; zu vergessen, daß es ein Amerika gab, und in Europa eine kaufmännische Laufbahn zu ergreifen; und jeder Brief schloß mit bitteren Selbstvorwürfen, weil er, der Vater, zu lange in dieser Höhle von Dieben, Schurken und Räubern verweilt habe.
Sich wiederholt sagen zu lassen, daß infolge des Besitzes einer Silbermine die eigene Zukunft vernichtet ist, bedeutet im Alter von vierzehn Jahren kein allzu einschneidendes Erlebnis, wenigstens nicht in bezug auf den Hauptteil der Feststellung; in der Form aber liegt doch ein gewisser Anreiz zu verwunderter Aufmerksamkeit. Im Laufe der Zeit begann der Junge, neben der anfänglichen Bestürzung über die ärgerlichen Jeremiaden und dem ehrlichen Mitleid für den Vater, die Sache in all den freien Augenblicken zu überdenken, die ihm Spiel und Arbeit ließen. Innerhalb eines Jahres etwa hatte er aus dem gewissenhaften Lesen der Briefe die endgültige Überzeugung gewonnen, daß es in der Sulacoprovinz der Republik Costaguana, wo der arme Onkel Harry vor vielen Jahren von Soldaten erschossen worden war, eine Silbermine gab. In enger Verbindung mit dieser Mine gab es auch etwas, das die »unbillige Gould-Konzession« genannt wurde, offenbar auf dem Papier geschrieben, das sein Vater dringend »zerreißen« und Präsidenten, Mitgliedern des Gerichtshofs und Staatsministern »ins Gesicht werfen« wollte; und dieser Wunsch hielt an, obwohl die Namen der Leute, wie der Junge bemerkte, selten durch ein ganzes Jahr dieselben blieben. Der Wunsch (da ja die ganze Sache unbillig war) erschien dem Jungen durchaus natürlich, obwohl er den Grund, warum sie so unbillig war, nicht einsehen konnte. Späterhin, mit wachsender Weisheit, kam er dazu, die reine Wahrheit der Sache aus dem phantastischen Beiwerk des Alten vom Meere, der Vampire und Ghouls herauszuschälen, das dem Briefstil seines Vaters den prickelnden Reiz eines schaurigen Märchens aus Tausendundeiner Nacht gegeben hatte. Und schließlich gelangte der zum Mann heranwachsende Junge zu einer gleich engen Vertrautheit mit der San Tomé-Mine wie der alte Mann selbst, der jenseits des Weltmeers diese klagereichen und wütenden Briefe schrieb. Man hatte ihn bereits mehrmals schwere Geldstrafen zahlen lassen, weil er es unterließ, die Mine in Betrieb zu nehmen, berichtete er; abgesehen von anderen Summen, die ihm als Anzahlung auf künftige Staatsanteile erpreßt worden waren, mit der Begründung, daß ein Mann mit einer so wertvollen Konzession in der Tasche der Regierung der Republik eine Geldhilfe nicht versagen dürfte. Die Reste seines Vermögens flögen gegen wertlose Quittungen davon, schrieb er wütend, während er allgemein als Mann bezeichnet wurde, der es verstanden habe, aus der Notlage seines Landes ungeheure Vorteile für sich herauszuschlagen. Und der junge Mann in Europa empfand stetig wachsende Anteilnahme für eine Sache, die einen solchen Wust von Worten und Leidenschaft hervorzurufen vermochte.
Er dachte jeden Tag daran, doch ohne Bitterkeit. Es konnte für seinen armen Vater wohl ein unglückliches Geschäft sein, und die ganze Geschichte warf ein eigentümliches Licht auf die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Costaguana. Die Ansicht, die er sich bildete, schloß bei allem Mitgefühl mit dem Vater die ruhige Überlegung nicht aus. Seine persönlichen Gefühle waren nicht verletzt worden, und es ist ja schwer, die richtige, dauerhafte Entrüstung für die körperlichen oder geistigen Nöte eines anderen Wesens aufzubringen, und wäre dies andere Wesen auch der leibhaftige Vater. Als er sein zwanzigstes Jahr erreicht hatte, da war auch Charles Gould seinerseits dem Bann der San Tomé-Mine verfallen. Doch es war eine andere Art von Verzauberung, die seiner Jugend besser entsprach und neben der sich Hoffnung, Kraft und Selbstvertrauen behaupten konnten, an Stelle der müden Entrüstung und Verzweiflung. Nach seinem zwanzigsten Jahre sich selbst überlassen (bis auf die strenge Weisung, nicht nach Costaguana zurückzukehren), hatte er seine Studien in Belgien und Frankreich in der Absicht fortgesetzt, die Diplom-Prüfung als Bergingenieur zu machen. Doch diese wissenschaftliche Seite seiner Arbeiten stand ihm verschwommen und unvollständig vor Augen. Minen hatten für ihn dramatische Bedeutung gewonnen. Er studierte ihre Eigentümlichkeiten von rein persönlichem Gesichtspunkte aus, so wie jemand die menschlichen Charaktere zu studieren vermöchte. Er besuchte sie mit der Neugierde, die man beim Besuch berühmter Persönlichkeiten empfinden mag. Er besuchte Minen in Deutschland, Spanien und Cornwall. Aufgelassene Betriebe zogen ihn besonders an. Ihre Verlassenheit ging ihm zu Herzen, wie der Anblick menschlichen Elends, dessen Ursachen so verschiedenartig und tiefgründig sind. Sie konnten wertlos gewesen, sie konnten aber auch nur mißverstanden worden sein. Seine künftige Frau entdeckte als erste und wohl auch einzige dieses geheime Empfinden, das die stark gefühlsmäßige, fast stumme Einstellung dieses Mannes auf die dingliche Welt beherrschte. Und sofort fand ihre Neigung zu ihm, die mit ausgebreiteten Fittichen wie einer der Vögel geruht hatte, die von ebener Fläche schwer auffliegen können, den erhabenen Punkt, von dem aus sie sich in die Himmel aufzuschwingen vermochte.
Sie hatten einander in Italien kennengelernt, wo die künftige Frau Gould mit einer alten, blassen Tante lebte, die lange Jahre zuvor einen ältlichen, verarmten italienischen Marchese geheiratet hatte. Sie trauerte nun um den Mann, der es verstanden hatte, sein Leben dem Kampf für die Unabhängigkeit und Einheit seines Landes zu weihen und in seiner Freigebigkeit so überschwenglich zu sein wie einer der Jüngsten, die für die gleiche Sache fielen; für die Sache, unter deren Überbleibsel auch der alte Giorgio Viola zählte – so wie nach einer siegreichen Seeschlacht eine zerbrochene Spiere unbeachtet davontreiben mag. Die Marchesa, nonnenhaft in ihren schwarzen Gewändern, mit dem weißen Band über der Stirne, fühlte ein stilles, abgeschiedenes Dasein in einem Winkel im ersten Stock des alten, verfallenen Palastes, dessen große, leere Hallen zu ebener Erde, unter gemalten Decken, Getreide, Hühner und sogar Vieh zusammen mit der ganzen Familie des Pächters beherbergten.
Die beiden jungen Leute hatten sich in Lucca getroffen. Nach diesem Zusammentreffen besuchte Charles Gould keine Minen mehr, obwohl sie einmal zusammen im Wagen zu ein paar Marmorbrüchen hinausfuhren, wo die Arbeit insofern an Bergbau erinnerte, als sie auch darin bestand, die wertvollen Rohstoffe der Erde zu entreißen. Charles Gould erschloß ihr sein Herz nicht in wohlgesetzter Rede. Er fuhr einfach mit seinem Denken und Tun in ihrer Gegenwart fort. Hierin liegt die wahre Aufrichtigkeit. Eine seiner häufigen Bemerkungen war: »Ich denke mir manchmal, daß der arme Vater eine falsche Ansicht über diese San-Tomé-Sache hat.« Und sie erörterten diese Ansicht lange und eingehend, als hätten sie über den halben Erdball weg einen Dritten damit beeinflussen können; in Wirklichkeit aber erörterten sie sie, weil sich die Liebe in jeden Gegenstand einzuschleichen und noch in weitentlegenen Gesprächen zu leben vermag. Aus diesem natürlichen Grund waren diese Gespräche der Frau Gould während ihrer Verlobungszeit lieb. Charles fürchtete, daß Herr Gould, der Vater, seine Kräfte vergeudete und mit den fortwährenden Anstrengungen, die Konzession loszuwerden, seine Gesundheit untergrub. »Ich glaube fast, daß dies nicht die rechte Art ist, in der die Sache angefaßt werden sollte«, grübelte er laut vor sich hin, wie im Selbstgespräch. Und wenn sie ein offenes Erstaunen darüber äußerte, daß ein Mann von Charakter seine Tatkraft an Winkelzüge und Durchstechereien wenden sollte, da pflegte Charles Gould mit verständnisvollem Eingehen auf ihre Verwunderung zu erwidern: »Du darfst nicht vergessen, daß er dort drüben geboren ist.«
Sie machte sich mit ihrem raschen Verstand daran, das auszudenken, und gab dann, vielleicht nicht ganz folgerichtig, eine Antwort, die er aber als durchaus vernünftig gelten ließ, weil sie es ja tatsächlich auch war: »Nun gut, und du? Auch du bist drüben geboren.«
Er war um die Entgegnung nicht verlegen:
»Das ist etwas andres. Ich bin zehn Jahre weg gewesen. Vater hat nie eine so lange Ruhepause gehabt; und es ist nun mehr als dreißig Jahre her.«
Sie war die erste, der gegenüber er die Lippen öffnete, nachdem er die Nachricht von seines Vaters Tod erhalten hatte.
»Es hat ihn getötet!« – sagte er.
Er war mit der Nachricht geradewegs aus der Stadt hinausgegangen, gerade vor sich hin, in der Mittagssonne, auf der weißen Straße, und seine Füße hatten ihn mit ihr zusammengeführt, in der Halle des verfallenen Palastes, einem prachtvollen, entblößten Raum, von dessen kahlen Wänden da und dort ein Damastfetzen, schwarz vor Altersmoder, niederhing. Die Einrichtung bestand in einem vergoldeten Armstuhl mit zerbrochener Lehne und einem achteckigen Säulenständer mit einer schweren Marmorvase darauf, die mit gemeißelten Masken und Blumengirlanden geschmückt und von oben bis unten zersprungen war. Charles Gould war über und über bedeckt mit dem weißen Staub der Straße, der auf seinen Schuhen, seinen Schultern und der Mütze mit zwei Schirmen lag. Darunter hervor lief ihm das Wasser übers Gesicht, und mit der Rechten umklammerte er einen dicken eichenen Knotenstock.
Sie stand vor ihm, sehr bleich unter den Rosen auf ihrem großen Strohhut; in Handschuhen, einen hellen Sonnenschirm in der Hand, so wie sie im Begriff gewesen war, ihm bis an den Fuß des Hügels entgegenzugehen, wo drei Pappeln an der Mauer eines Weingartens standen.
»Es hat ihn getötet!« wiederholte er. »Er hätte noch viele Jahre vor sich haben müssen. Wir sind eine langlebige Familie.«
Sie war zu bestürzt, um irgend etwas sagen zu können; er sah mit starrem, forschendem Blick die gesprungene Marmorvase an, als hätte er beschlossen, sich ihre Form auf ewig einzuprägen. Erst als er plötzlich herumfuhr und zweimal hervorstammelte: »Ich bin zu dir gekommen . . . Ich bin geradewegs zu dir gekommen . . .«, ohne den Satz vollenden zu können – da erst kam ihr der ganze Jammer dieses einsamen, zerquälten Todes in Costaguana voll zum Bewußtsein. Er faßte ihre Hand, führte sie an die Lippen, und daraufhin ließ sie ihren Sonnenschirm fallen, streichelte ihm die Wangen, murmelte dazu »Armer Junge« und begann sich unter der niederhängenden Krempe ihres Hutes die Augen zu trocknen, sehr klein in ihrem einfachen, weißen Kleid, fast wie ein verlassenes Kind, weinend inmitten der verfallenen Größe des edlen Raumes; er aber, an ihrer Seite, war wieder in die unbewegliche Betrachtung der Marmorvase versunken.
Nachher machten sie sich zu einem langen Spaziergang auf, der schweigend verlief, bis Charles plötzlich ausrief:
»Ja! Wenn er's nur richtig angepackt hätte!«
Und dann blieben sie stehen. Überall lagen langgestreckte Schatten auf den Hügeln, auf den Straßen, auf den eingezäunten Olivengärten; die Schatten von Pappeln, breitästigen Kastanienbäumen, Bauernhöfen und Steinmauern; und durch die Luft zitterten dünne, flinke Glockenschläge, wie der klopfende Puls des Sonnenuntergangs. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, wie aus Überraschung darüber, daß er sie nicht mit dem gewohnten Ausdruck ansah. Der gewohnte Ausdruck war der unbedingter Anerkennung und Aufmerksamkeit. Er bezeugte dadurch ihre Macht, ohne an eigener Würde einzubüßen. Dieses schmächtige Mädchen mit den kleinen Füßen, kleinen Händen, dem kleinen Gesicht, auf dem so lieblich die schweren Haarflechten lasteten; mit dem ziemlich großen Mund, dessen Lippen sich in einer Art öffneten, die Offenheit und Großmut zu verkünden schien: dieses Mädchen hatte die verwöhnte Seele einer erfahrenen Frau. Vor allen Dingen und über alle Schmeicheleien hinaus wachte sie sorgsam über ihren Stolz auf den Mann ihrer Wahl. Der sah sie nun tatsächlich überhaupt nicht an; sein Ausdruck war gespannt und entrückt, wie ja nicht anders zu erwarten, bei einem Mann, der sich darin gefällt, am Kopf eines jungen Mädchens vorbei ins Leere zu starren.
»Nun ja. Es war unbillig. Sie haben ihm übel mitgespielt, dem armen alten Herrn. Oh, warum hat er mir nicht erlaubt, zu ihm zurückzukehren! Aber nun werde ich wohl wissen, wie ich die Sache anpacken muß.«
Nachdem er diese Worte mit ungeheuerer Selbstsicherheit gesprochen hatte, blickte er zu dem Mädchen nieder und wurde sofort eine Beute von Betrübnis, Unsicherheit und Angst.
Das einzige, was er nun zu wissen wünschte, sagte er, war, ob ihre Liebe stark genug wäre, ob sie den Mut haben würde, mit ihm weit weg zu gehen? Er legte ihr diese Frage mit angstzitternder Stimme vor, denn er war ein entschlossener Mann.
Ja, ihre Liebe war stark genug. Ja, sie wollte mit ihm mit. Und sofort hatte die künftige Gastgeberin aller Europäer in Sulaco das körperliche Gefühl, daß die Erde unter ihren Füßen wich, alles schwand, sogar noch die Glockentöne. Als ihre Füße wieder auf den Boden trafen, da läutete die Glocke im Tale immer noch. Das Mädchen griff sich mit den Händen ans Haar und sah schnell atmend die steinige Halde hinauf und hinunter. Die war erfreulich menschenleer. Unterdessen stieg Charles mit einem Fuß in einen trockenen, staubigen Graben und holte den aufgespannten Sonnenschirm herauf, der mit kriegerischem Lärm, wie von Trommelwirbeln, von ihnen weggehüpft war. Charles reichte ihn geziemend und leicht verlegen der Besitzerin.
Sie machten sich auf den Heimweg, und nachdem sie die Hände unter seinen Arm geschoben hatte, waren seine ersten Worte: »Es ist ein Glück, daß wir uns in einer Hafenstadt werden niederlassen können. Du kennst den Namen, es ist Sulaco. Ich bin so froh, daß der arme Papa das Haus erworben hat. Er hat dort vor Jahren ein großes Haus gekauft, einfach nur, damit es immer eine Casa Gould in der Hauptstadt des Landesteiles geben sollte, der früher einmal die Westliche Provinz hieß. Ich habe als kleiner Junge einmal mit meiner lieben Mutter ein ganzes Jahr dort gelebt, während der arme Papa eine Geschäftsreise durch die Vereinigten Staaten machte. Du sollst die neue Herrin der Casa Gould sein.«
Und später, in der unbewohnten Ecke des Palazzo über den Weinbergen, den Marmorbrüchen, den Pinien und Oliven von Lucca, sagte er noch:
»Der Name Gould war in Sulaco immer hoch geachtet. Mein Onkel Harry war eine Zeitlang Oberhaupt des Staates und hat unter den ersten Familien einen großen Namen hinterlassen: damit meine ich die reinen Kreolenfamilien, die an den kümmerlichen Regierungspossen keinen Anteil nehmen. Onkel Harry war kein Abenteurer. In Costaguana sind wir Goulds keine Abenteurer. Er stammte aus dem Lande und liebte es, in seinen Anschauungen aber blieb er im Grunde doch Engländer. Er machte sich den politischen Wahlspruch der Zeit zu eigen. Es war Föderation. Aber er war kein Politiker. Er stand einfach für öffentliche Ordnung ein, aus reiner Liebe zu vernünftiger Freiheit und aus Haß gegen Unterdrückung. Er war kein Flunkerer. Er ging auf seine eigene Weise an die Arbeit, weil die ihm die rechte schien, genau so, wie ich jetzt das Gefühl habe, daß ich mich an diese Mine machen muß.«
In solchen Worten sprach er zu ihr, weil sein Gedächtnis erfüllt war von dem Land seiner Kindheit, sein Herz von dem Leben mit diesem Mädchen, sein Sinn von der San-Tomé-Konzession. Er fügte hinzu, er würde sie für einige Tage verlassen müssen, um einen Amerikaner ausfindig zu machen, einen Mann aus San Franzisko, der sich noch irgendwo in Europa aufhielt. Er hatte ihn einige Monate zuvor in einer althistorischen deutschen Stadt in einem Bergwerksbezirk kennengelernt. Der Amerikaner hatte seine Damen mit sich, schien sich aber einsam zu fühlen, während sie den ganzen langen Tag die alten Torwege und die Ecktürmchen der mittelalterlichen Häuser abzeichneten. Charles Gould fand mit ihm einen engen Berührungspunkt im Bergbau. Der andere Mann war an verschiedenen Bergwerken beteiligt, wußte etwas von Costaguana und hatte auch den Namen Gould schon gehört. Sie hatten sich mit einer Vertrautheit unterhalten, die durch den Altersunterschied zwischen ihnen ermöglicht war. Nun wollte Charles diesen geschäftstüchtigen und dabei umgänglichen Kapitalisten auffinden. Das Vermögen seines Vaters in Costaguana, das er für beträchtlich gehalten hatte, schien infolge der vielfachen Revolutionsbrandschatzungen dahingeschmolzen zu sein. Abgesehen von einigen zehntausend Pfund, die in England hinterlegt waren, schien nichts übriggeblieben als das Haus in Sulaco, ein nicht sehr klar umrissenes Ausbeutungsrecht für Wälder in einem wilden, abgelegenen Innenbezirk und die San-Tomé-Konzession, die seinem armen Vater bis zum Rand des Grabes treugeblieben war.
All dies erklärte er dem Mädchen. Es war spät, als sie sich trennten. Nie zuvor hatte sie sich ihm so bezaubernd gezeigt. All die schnelle Bereitschaft der Jugend für ein fremdartiges Leben, für Weite, für eine Zukunft mit einem Beigeschmack von Kampf und Abenteuer – ein unbestimmter Wunsch nach Aufbau und Eroberung –, all dies hatte sie mit tiefer Erregung erfüllt, die sie dem Erwecker mit hemmungsloser Zärtlichkeit lohnte.
Er verließ sie, um den Hügel hinabzugehen, und sobald er sich allein sah, wurde er nüchtern. Der unwiderrufliche Wechsel, den ein Tod in den alltäglichen Ablauf unserer Gedanken bringt, macht sich in einer unbestimmten und doch brennenden Betrübnis fühlbar. Es schmerzte Charles Gould, daß er nie mehr, durch keine Willensanstrengung, imstande sein würde, an seinen armen Vater so zu denken, wie er zu dessen Lebzeiten an ihn gedacht hatte. Nicht länger gehorchte das beseelte Bild dem Ruf des Sohnes. Diese Erwägung, die sein eigenes Daseinsgefühl eng berührte, erfüllte ihn mit einem schmerzlichen und verbissenen Tatendrang. Hierin trog ihn sein Instinkt nicht. In der Tat liegt Trost. Sie ist dem Nachdenken feind und schönen Träumen günstig. Nur in der Vollbringung unserer Taten vermögen wir das Gefühl zu finden, daß wir das Schicksal meistern. Für Charles Gould bildete die Mine offensichtlich das einzige Betätigungsfeld. Es konnte mitunter ein Gebot sein, auf die rechte Weise den feierlichen Wünschen der Toten nicht zu gehorchen. Charles beschloß in seinem Ungehorsam (zur Buße) so gründlich wie nur möglich zu sein. Die Mine hatte in der törichtesten Weise einen seelischen Zusammenbruch verschuldet; nun sollte ihr Betrieb zum ernsthaften, sittlichen Erfolg werden. Das war er dem Andenken des toten Mannes schuldig. Dies also waren die – genau gesagt – Gemütsregungen von Charles Gould. Seine Gedanken waren schon bei der Möglichkeit, in San Franzisko oder sonstwo ein starkes Kapital aufzunehmen; und gelegentlich kam ihm auch die allgemeine Überlegung, daß der Rat der Hingeschiedenen ein schlechter Führer sein müsse. Keiner unter ihnen konnte vorher wissen, welche ungeheuren Veränderungen der Tod eines einzelnen Menschen im ganzen Weltbild hervorzurufen vermochte.
Den letzten Abschnitt in der Geschichte der Mine kannte Frau Gould aus persönlicher Erfahrung. Es war im wesentlichen auch die Geschichte ihrer Ehe. Der Mantel der vererbten Machtstellung der Goulds in Sulaco hatte sich auf ihre schmächtigen Schultern gesenkt, doch litt sie es nicht, daß die Falten und Fältchen des fremdartigen Gewandes ihre eigene Lebhaftigkeit unterdrückten, die nicht aus bloßer Munterkeit, sondern aus scharfem Verstand herrührte. Dabei soll niemand glauben, daß Frau Gould etwa sehr männlich veranlagt gewesen wäre. Eine Frau von männlicher Veranlagung ist durchaus kein überlegenes Wesen; sie ist nur eine Spielart, in der sich die Unterschiede verwischt haben – merkwürdig durch ihre Unfruchtbarkeit und im übrigen ohne Bedeutung. Da Doña Emilias Verstand durchaus weiblich war, so führte er sie dazu, Sulaco zu erobern, einfach indem er ihr den rechten Weg für ihre Selbstlosigkeit und Anteilnahme wies. Sie konnte entzückend eine Unterhaltung führen, war aber nicht gesprächig. Da die Herzensweisheit mit der Aufstellung oder Widerlegung von Theorien so wenig zu tun hat wie mit der Verteidigung von Vorurteilen, so kann sie auch auf viel Worte verzichten. Die Worte, die sie ausspricht, haben den Wert von Werken der Rechtlichkeit, Duldsamkeit und Nächstenliebe. Die wahre Zärtlichkeit einer Frau äußert sich wie die wahre Männlichkeit eines Mannes in einer Art von Eroberung. Die Damen von Sulaco beteten Frau Gould an. »Sie sehen in mir immer noch etwas wie ein Ungeheuer«, hatte Frau Gould spaßhaft zu einem der drei Herren aus San Franzisko gesagt, die sie etwa ein Jahr nach der Heirat in ihrem Hause in Sulaco aufzunehmen gehabt hatte.
Es waren ihre ersten auswärtigen Besucher gewesen, und sie waren gekommen, um die San Tomé-Mine zu besichtigen. Frau Gould scherzte, wie es ihnen schien, sehr anziehend; und Charles Gould wußte nicht nur genau, was er wollte, sondern hatte sich außerdem auch als unermüdlicher Arbeiter erwiesen. Die Tatsache schuf bei den Herren die beste Stimmung gegenüber Charles Goulds Gattin. Eine unverkennbare Begeisterung, durch einen leise spöttischen Unterton gewürzt, ließ ihre Worte über die Mine den Besuchern geradezu bezaubernd erscheinen und brachte sie zu ernstem, nachsichtigem Lächeln, in dem ein gut Teil Verehrung lag. Hätten sie geahnt, wie sehr sie von einem idealistischen Zielbewußtsein erfüllt war, dann hätte sie vielleicht die Geistesverfassung der kleinen Dame mit der gleichen Bewunderung erfüllt wie ihre körperliche Unermüdlichkeit die spanisch-amerikanischen Damen. Sie wäre ihnen – nach ihren eigenen Worten – »als etwas wie ein Ungeheuer« erschienen. Doch die Goulds waren im wesentlichen zurückhaltende Menschen, und die Gäste nahmen Abschied, ohne ihnen im entferntesten andere Absichten zuzutrauen als die richtige Nutzung einer Silbermine. Frau Gould stellte ihren eigenen Wagen mit den zwei weißen Maultieren zur Verfügung, um die Gäste zum Hafen hinunterzufahren, von wo der Zerberus sie auf den Olymp der Plutokraten bringen sollte. Kapitän Mitchell hatte den Augenblick des Abschieds benützt, um Frau Gould vertraulich die Bemerkung zuzuflüstern: »Dies bezeichnet eine Epoche.«
Frau Gould liebte den Innenhof ihres spanischen Hauses. Aus einer Mauernische über der breiten Steintreppe blickte still eine Madonna in blauen Gewändern, das gekrönte Kind auf dem Arm. Gedämpfte Stimmen drangen in den frühen Morgenstunden vom Brunnenrand inmitten des Vierecks herauf, zugleich mit dem Stampfen der Pferde und Maultiere, die paarweise an die Zisterne zur Tränke geführt wurden. Ein Dickicht schlanker Bambusstämme neigte die schmalen Messerklingen seiner Blätter über die rechteckige Wasserfläche, und der fette Kutscher kauerte träge auf der Brüstung, die Halfterenden lässig in der Hand. Bloßfüßige Diener gingen ab und zu; aus dunklen, niederen Türen im Erdgeschoß kamen zwei Wäschermädchen mit Körben voll gebleichtem Leinen; der Bäcker, der auf großem Brett das für den Tagesbedarf gebackene Brot trug; Leonarda, die Kammerzofe, sehr selbstbewußt, in der über dem rabenschwarzen Kopf erhobenen Hand ein Bündel gestärkter Unterröcke, die blendend weiß im Sonnenschein glänzten. Dann humpelte noch der alte Pförtner herein, wusch das Pflaster auf, und das Haus war für den Tag bereit. Alle die luftigen Räume auf drei Seiten des Vierecks waren untereinander und mit dem Corrédor verbunden, von dessen schmiedeeisernem, mit Blumen bestandenem Gitter aus Frau Gould, wie die Herrin eines mittelalterlichen Schlosses, von oben her alles Kommen und Gehen der Casa überblicken konnte, dem der Widerhall unter dem gewölbten Torweg ein stattliches Gepräge gab. Sie hatte zugesehen, wie ihr Wagen mit den drei Gästen aus dem Norden wegrollte. Sie lächelte. Drei Arme griffen gleichzeitig nach drei Hüten. Kapitän Mitchell, der sie als vierter begleitete, hatte bereits eine pomphafte Rede begonnen. Dann verweilte Frau Gould müßig, näherte ihr Gesicht den Blütenbüscheln hier und dort, als wollte sie ihren Gedanken Zeit lassen, sie bei ihrem langsamen Schreiten durch die schmale Mittelstrecke des Corrédors einzuholen.
Eine befranste indianische Hängematte aus Aroa, mit bunter Federarbeit geschmückt, war mit Bedacht in einem Winkel aufgespannt, den die Morgensonne traf; denn die Morgen in Sulaco sind kühl. Die Blüten der »Flor de noche buena« flammten in großen Büscheln vor den offenen Glastüren der Empfangsräume. Ein großer grüner Papagei, smaragden schimmernd, in einem Käfig, der wie Gold glitzerte, schrie wild: »Viva Costaguana!«, flötete dann zweimal: »Leonarda, Leonarda!« in Frau Goulds eigener Stimme und rettete sich plötzlich in Reglosigkeit und Schweigen. Frau Gould ging bis zum Ende der Galerie und streckte den Kopf durch die Türe zum Zimmer ihres Gatten.
Charles Gould, den einen Fuß auf einem niedrigen Holzschemel, schnallte sich die Sporen an. Er wollte schnell zur Mine zurück. Frau Gould blickte durch den Raum, ohne einzutreten. Ein hohes, breites Büchergestell mit Glastüren war voll von Büchern; in einem andern aber, das keine Türen hatte und mit rotem Tuch ausgeschlagen war, hingen allerlei Feuerwaffen, Winchester-Karabiner, Revolver, ein paar Jagdgewehre und sogar zwei Paar doppelläufige Halfterpistolen. Dazwischen, für sich allein auf scharlachrotem Samt, hing ein alter Kavalleriesäbel, einst das Eigentum des Don Enrique Gould, des Helden der Westlichen Provinz; ein Geschenk von Don José Avellanos, dem erblichen Freund der Familie.
Im übrigen waren die weiß vergipsten Wände völlig schmucklos, bis auf eine Aquarellskizze des San-Tomé-Gebirges, eine Arbeit von Doña Emilias Hand. Mitten auf dem roten Ziegelfußboden standen zwei lange Tische, mit Plänen und Papieren beladen, einige Stühle und eine kleine Vitrine mit Erzproben aus der Mine. Frau Gould überflog der Reihe nach alle diese Dinge und ließ dabei die Frage laut werden, warum wohl die Reden dieser reichen, unternehmenden Leute über die Aussichten des Betriebs und die Sicherheit der Mine sie so ungeduldig und zappelig machten, während sie doch mit ihrem Gatten über die Mine stundenlang mit immer gleichbleibendem Interesse und Vergnügen sprechen konnte.
Und mit einem ausdrucksvollen Senken der Augenlider fügte sie hinzu:
»Wie fühlst du dich denn dabei, Charley?«
Dann hob sie, überrascht von ihres Gatten Schweigen, die Augen, weit geöffnet, wie schöne, blasse Blumen. Er war mit dem Anschnallen der Sporen fertig, zog nun seinen Schnurrbart mit beiden Händen aus und sah von der Höhe seiner langen Beine in sichtlicher Zufriedenheit mit ihrer Erscheinung auf sie herunter. Das Bewußtsein, so angesehen zu werden, behagte Frau Gould.
»Es sind sehr bedeutende Leute«, sagte er.
»Ich weiß. Aber hast du auch ihren Reden zugehört? Sie scheinen nichts von allem verstanden zu haben, was du ihnen gezeigt hast.«
»Sie haben die Mine gesehen, und davon haben sie sicherlich etwas verstanden«, warf Charles Gould ein, in Verteidigung der Gäste; und dann nannte seine Frau den Namen des Bedeutendsten der drei, er war als Finanzmann wie als Industrieller bedeutend. Sein Name war vielen Millionen Menschen vertraut. Er war so bedeutend, daß er niemals so weit von seinem Arbeitsgebiet weggereist wäre, hätten ihm nicht die Ärzte mit versteckten Drohungen zu einem längeren Urlaub zugeredet.
»Herrn Holroyds religiöses Gefühl«, fuhr Frau Gould fort, »nahm empörten Anstoß an den buntgeschmückten Heiligen in der Kathedrale. Er sprach von Götzendienst vor Holz und Flitterkram. Aber mir kam es vor, daß er seinen eigenen Gott als etwas wie einen einflußreichen Partner betrachtete, der seinen Gewinnanteil in Form immer neuer Kirchenbauten bezieht. Auch das ist eine Art von Götzendienst. Er hat mir gesagt, daß er jedes Jahr einige Kirchen stiftet, Charley.«
»Kein Ende davon«, sagte Herr Gould und staunte innerlich über die Beweglichkeit ihres Gesichts. »Über das ganze Land. Er ist berühmt für diese Art von Freigebigkeit.«
»Oh, er rühmt sich nicht«, erklärte Frau Gould gewissenhaft. »Ich glaube, er ist wirklich ein guter Mensch – aber so beschränkt! Ein armer Chulo, der einen kleinen Arm oder ein Bein aus Silber opfert, um seinem Gott für eine Heilung zu danken, ist genau so vernünftig und dabei ergreifender.«
»Er vertritt ungeheure Eisen- und Silberinteressen«, bemerkte Charles Gould.
»O ja! Die Religion von Silber und Eisen. Er ist ein sehr höflicher Mann, obwohl er furchtbar feierlich dreinschaute, als er zuerst die Madonna im Stiegenhaus erblickte, die ja nur bemaltes Holz ist; aber er hat keine Bemerkung gemacht. Mein lieber Charley, ich habe diese Leute untereinander reden hören. Ist es möglich, daß sie wirklich den Wunsch haben, gegen einen ungeheuren Lohn Wasserträger und Holzfäller zu werden für alle Länder und Völker der Erde?«
»Ein Mann muß auf ein Ziel hinarbeiten«, meinte Charles Gould obenhin.
Frau Gould runzelte leicht die Brauen und besah sich ihn von Kopf zu Fuß. In seinen Reithosen, den Ledergamaschen (einem Kleidungsstück, das nie zuvor in Costaguana gesehen worden war), einem Norfolkrock aus grauem Flanell und mit dem mächtigen, flammroten Schnurrbart erinnerte er weit eher an einen Kavallerieoffizier, der sich auf seine Güter zurückgezogen hat. Der gesamte Eindruck sagte Frau Goulds Geschmack zu. »Wie mager der arme Junge ist«, dachte sie. »Er überarbeitet sich.« Doch war es nicht zu leugnen, daß sein feingeschnittenes, kühnes, rotes Gesicht und die ganze langgliedrige Erscheinung den Eindruck von Vornehmheit erweckten. Und Frau Gould lenkte ein.
»Ich wollte nur wissen, was du dabei fühltest«, murmelte sie.
Nun war Charles Gould während der letzten zwei Tage viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, zweimal nachzudenken, bevor er sprach, als daß er hätte seinen Gefühlen übergroße Aufmerksamkeit zuwenden können. Da er sich aber mit seiner Frau gut vertrug, so fand er ohne Schwierigkeit eine Antwort.
»Die besten meiner Gefühle sind in deiner Obhut, meine Liebe«, sagte er unbefangen; und in diesem etwas dunklen Satz lag so viel Wahrheit, daß er im Augenblick für die Frau eine vertiefte, dankbare Zärtlichkeit empfand.
Frau Gould übrigens schien die Antwort durchaus nicht dunkel zu finden. Ihr Gesicht hellte sich auf; doch er hatte schon den Ton gewechselt.
»Aber es gibt eben Tatsachen. Der Wert der Mine – als Mine – steht außer Frage. Sie wird uns sehr reich machen. Die Einrichtung des bloßen Betriebs hängt von technischen Kenntnissen ab, die ich habe – die zehntausend andere Männer in der Welt auch haben. Die Sicherheit aber, das Fortbestehen des Unternehmens, das Leuten – Fremden, in gewisser Beziehung –, die Geld hineinstecken, Gewinn abwerfen soll: die sind ganz in meine Hände gegeben. Ich habe einem reichen, angesehenen Mann Vertrauen eingeflößt. Das scheint dir ganz natürlich, nicht wahr? Nun, ich weiß nicht. Ich weiß nicht, wieso es gekommen ist; aber es ist Tatsache. Diese Tatsache macht alles möglich, denn ohne sie wäre gar nicht daran zu denken, die Wünsche meines Vaters außer acht zu lassen. Ich hätte nie über die Konzession verfügt – so wie etwa ein Börsenspieler ein kostbares Betriebsrecht verwertet – gegen Bargeld und Aktien, um vielleicht, wenn möglich, reich zu werden, jedenfalls aber, um sofort bares Geld in die Tasche zu bekommen. Nein. Selbst, wenn es tunlich gewesen wäre – was ich bezweifle –, hätte ich es nicht getan. Der arme Vater hat es nicht verstanden. Er fürchtete, ich würde mich an das elende Ding hängen, auf eine solche Gelegenheit warten und dabei mein Leben verzetteln. Das war der eigentliche Grund seines Verbots, das ich mit Überlegung übertreten habe.«
Sie schritten den Corrédor auf und nieder. Der Kopf der Frau reichte gerade zu seinen Schultern. Sein niederhängender Arm lag um ihre Hüften. Seine Sporen klirrten leise.
»Er hatte mich zehn Jahre lang nicht mehr gesehen. Er kannte mich nicht. Er hat sich zu meinem Besten von mir getrennt und wollte mich durchaus nicht zurückkommen lassen. In seinen Briefen sprach er immer davon, von Costaguana wegzugehen, alles im Stich zu lassen und zu entfliehen. Aber er war eine zu kostbare Beute. Sie hätten ihn beim ersten Verdacht in eines ihrer Gefängnisse geworfen.«
Wieder klirrten die Sporen. Er beugte sich im Gehen über seine Frau. Der große Papagei sah ihnen aus schräggehaltenem Kopf mit großen, starren Augen nach.
»Er war ein einsamer Mann. Schon als ich zehn Jahre alt war, pflegte er mit mir wie mit einem Erwachsenen zu reden. Während ich in Europa war, schrieb er mir jeden Monat. Zehn, zwölf Seiten jeden Monat meines Lebens, durch zehn Jahre, und schließlich kannte er mich doch nicht! Denk' doch nur – zehn volle Jahre fort; die Jahre, in denen ich zum Mann wurde. Er konnte mich nicht kennen. Oder glaubst du, daß es möglich war?«
Frau Gould schüttelte verneinend den Kopf – wie es ihr Mann, angesichts der Kraft seiner Beweisgründe, nicht anders erwartet hatte. Sie aber schüttelte verneinend den Kopf einfach deshalb, weil ihrer Ansicht nach niemand ihren Charley – als das, was er wirklich war – kennen konnte, außer ihr selbst. Das war unverkennbar, man konnte es mit Händen greifen. Es brauchte keinen Beweis, und der arme Herr Gould, der Vater, der zu früh gestorben war, als daß er noch von ihrer Verlobung hätte erfahren können, blieb für sie eine zu schattenhafte Gestalt, als daß sie ihm besonderes Wissen irgendwelcher Art hätte zutrauen mögen.
»Nein, er hat es nicht verstanden. Nach meiner Meinung hätte diese Mine nie einfach nur eine verkäufliche Sache sein können. Niemals! Nach all dem Jammer, den der alte Herr durchzumachen hatte, hätte ich die Sache niemals nur für Geld allein angehen mögen«, fuhr Charles Gould fort, und sie lehnte zustimmend ihren Kopf an seine Schulter.
Diese beiden jungen Leute gedachten des Lebens, das so jammervoll geendet, als gerade sie beide einander in all dem Glanz hoffnungsfroher Liebe gefunden hatten, die selbst den besonnensten Gemütern als ein Triumph des Guten über alle Übel der Erde erscheint. Der unbestimmte Gedanke einer Rechtfertigung hatte sich in ihren Lebensplan gedrängt. Daß er so unbestimmt war, um selbst der Stütze eines Beweisgrundes entraten zu können, machte ihn um so stärker. Er war in dem Augenblick vor ihnen aufgetaucht, in dem das Hingabebedürfnis der Frau und der Tatendrang des Mannes aus dem schönsten aller Träume ihren stärksten Antrieb empfingen. Eben das Verbot machte den Erfolg zur Pflicht. Es war, als hätten sie sich sittlich verpflichtet gefühlt, ihre eigene kraftvolle Lebensanschauung gegenüber dem aus müder Verzweiflung entstandenen Irrtum zu behaupten, und wenn ihnen der Gedanke des Reichtums vorschwebte, so doch nur deshalb, weil er mit dem an jenen andern Erfolg verknüpft war. Frau Gould war von frühester Kindheit an Waise und ohne Vermögen; in geistiger Atmosphäre aufgezogen, hatte sie über die Möglichkeiten großen Reichtums niemals nachgedacht. Sie lagen in so weiter Ferne, und sie hatte nicht gelernt, sie erstrebenswert zu finden. Allerdings war ihr auch tatsächlicher Mangel fremd geblieben. Sogar noch die wirkliche Armut ihrer Tante, der Marchesa, hatte für einen vornehmen Sinn nichts Unerträgliches: sie paßte augenscheinlich zu einem großen Kummer; sie hatte die Erhabenheit eines Opfers, das einem hohen Ideal dargebracht wird. So fehlte also in Frau Goulds Charakter selbst der entschuldbarste Anflug von Nützlichkeitssinn. Der tote Mann, dessen sie mit Zärtlichkeit gedachte (weil er Charleys Vater) und mit einiger Ungeduld (weil er schwach gewesen war) – er mußte völlig ins Unrecht gesetzt werden. Auf keine Weise sonst war es denkbar, ihr eigenes Wohlergehen ohne einen Makel auf seiner einzig wesentlichen, der unwirklichen Seite zu erhalten.
Charles Gould allerdings war gezwungen worden, den Gedanken an den Reichtum ziemlich in den Vordergrund zu stellen; doch betrachtete er ihn als ein Mittel, nicht als Ziel. Wenn die Mine kein gutes Geschäft war, dann konnte er sie nicht anrühren. Auf diese Seite des Unternehmens mußte er das Hauptgewicht legen. Hier bot sich ihm der Hebel, um Leute mit Kapital in Bewegung zu setzen, und Charles Gould glaubte an die Mine. Er wußte alles, was darüber zu wissen war. Sein Glaube an die Mine war ansteckend, wenn er auch nicht durch große Beredsamkeit gestützt wurde; aber die Geschäftsleute sind häufig sehr heißblütig und phantasievoll, wie Liebhaber. Sie lassen sich weit häufiger, als man annehmen sollte, von einer Persönlichkeit gefangennehmen; und Charles Gould, in seiner unerschütterlichen Zuversicht, wirkte durchaus überzeugend. Überdies war auch den Männern, mit denen er etwas zu tun hatte, die Tatsache völlig vertraut, daß aus einem Bergwerk in Costaguana ein schönes Stück Geld herauszuholen war. Die großen Geschäftsleute wußten das recht gut. Die wahre Schwierigkeit, es dahin zu bringen, lag anderswo. Und gegen diese Schwierigkeit hatte sich Charles Gould mit einer Ruhe und einer unerschütterlichen Entschlußkraft gewappnet, die sogar noch in seiner Stimme mitklangen. Die Geschäftsleute wagen manchmal Handlungen, die dem gemeinen Menschenverstand töricht erscheinen mögen: sie fassen ihre Entschlüsse auf Grund sehr menschlicher Augenblickseingebungen. »Ganz recht«, hatte der bedeutende Mann gesagt, dem Charles Gould in San Franzisko, während seiner Heimreise, seine Gesichtspunkte dargelegt hatte. »Nehmen wir an, der Minenbetrieb in Sulaco würde in die Hände genommen, dann wären daran beteiligt: erstens einmal das Haus Holroyd, gegen das nichts einzuwenden ist; zweitens Herr Gould, Bürger von Costaguana, gegen den desgleichen nichts einzuwenden ist; und endlich die Regierung der Republik. Insoweit hat die Sache Ähnlichkeit mit der Erschließung der Salpetergebiete von Atacama, an der gleichfalls ein Finanzunternehmen, ein Herr namens Edward und – eine Regierung beteiligt waren; oder vielmehr zwei Regierungen – zwei südamerikanische Regierungen. Und Sie wissen, was daraus wurde. Krieg wurde daraus; ein verheerender, langwieriger Krieg wurde daraus, Herr Gould. In unserem Falle haben wir immerhin den Vorteil, daß wir es nur mit einer südamerikanischen Regierung zu tun haben, die auf ihre Beute aus der Sache lauert. Das ist ein Vorteil; aber es gibt ja auch Abstufungen in der Niedertracht, und diese Regierung ist die Costaguana-Regierung.«
So sprach der bedeutende Mann, der Millionär, der Mann, der Kirchen in einem Ausmaß zu stiften liebte, das der Größe seines Geburtslandes entsprach – der gleiche, dem gegenüber sich die Ärzte in bösen und versteckten Drohungen ergingen. Er war ein schwergliedriger, gesetzter Mann, dessen Anlage zur Beleibtheit die Weiten eines schwarzen Gehrocks mit Seidenaufschlägen mit übermenschlicher Würde erfüllte; sein Haar war eisengrau, seine Augenbrauen noch schwarz, und sein massiges Profil glich dem eines Cäsarenkopfes auf einer altrömischen Münze. Doch seine Abstammung wies nach Deutschland, Schottland und England, mit weit zurückliegenden Einschlägen von dänischem und französischem Blut, und hatte ihm zugleich mit dem Temperament eines Puritaners zu unersättlicher Eroberungslust verholfen. Er gab sich seinem Besucher gegenüber durchaus offen, mit Rücksicht auf die warme Empfehlung, die dieser aus Europa gebracht hatte, und auch wegen einer unvernünftigen Vorliebe für Lebensernst und Entschlossenheit, wo immer er sie traf und auf welches Ziel sie auch gerichtet sein mochten.
»Die Regierung von Costaguana wird ihre Trümpfe nicht leichtfertig aus der Hand geben – vergessen Sie das nicht, Herr Gould. Was ist nun dieses Costaguana? Es ist ein Faß ohne Boden für zehnprozentige Anleihen und andere Narrenstücklein. Durch lange Jahre ist europäisches Kapital mit beiden Händen hineingeworfen worden. Unsres nicht, allerdings. Wir hierzulande sind gerade noch schlau genug, um nicht aus dem Hause zu gehen, wenn es regnet. Wir können stillsitzen und warten. Natürlich werden wir eines Tages einschreiten. Wir können nicht drum herum. Aber das hat keine Eile. Sogar die Zeit selbst muß auf das größte Land in Gottes weiter Welt warten. Wir werden für alles und jedes das Zeichen geben; für Industrie, Handel, Gesetzgebung, Journalismus, Kunst, Politik und Religion, von Kap Horn bis hinauf nach Smith' Bay und noch weiter, wenn sich auf dem Nordpol irgend etwas zeigt, was die Beschlagnahme lohnt; und dann werden wir alle Muße haben, die entlegenen Inseln und Erdteile in die Hand zu nehmen. Wir werden die Angelegenheiten der Welt lenken, ob es die Welt will oder nicht. Die Welt kann nichts dagegen tun – und wir selbst ebensowenig, nehme ich an.«
Damit meinte er seinen Glauben an das Schicksal in Worte zu kleiden, wie sie seiner geistigen Fassungsgabe entsprachen, die in der Darstellung allgemeiner Gedankengänge wenig geschult war. Seine Fassungsgabe beschränkte sich auf Tatsachen, und Charles Gould, dessen Einbildungskraft dauernd von der einen großen Tatsache einer Silbermine erfüllt war, hatte gegen diese Auffassung über die Zukunft der Welt keine Einwendungen zu machen. Wenn sie ihm einen Augenblick lang widerstrebt hatte, so nur deshalb, weil die plötzliche Aufrollung so weitreichender Möglichkeiten die in der Gegenwart zur Rede stehende Sache zum Nichts herabminderte. Er selbst, seine Pläne und der ganze Mineralreichtum der Westlichen Provinz schienen plötzlich jeden Anflugs von Größe entkleidet. Der Eindruck war peinlich. Aber Charles Gould war nicht dumm. Er merkte schon, daß er gefiel; dieses schmeichelhafte Bewußtsein half ihm zu einem leisen Lächeln, das sein mächtiger Partner als ein Lächeln bescheidener und bewundernder Zustimmung deutete. Auch er lächelte leise; und sofort überlegte Charles Gould mit der geistigen Beweglichkeit, die man in Verteidigung einer teuern Hoffnung entfaltet, daß gerade die augenscheinliche Unwichtigkeit seines Vorhabens ihm zum Erfolg verhelfen würde. Er selbst und seine Mine würden Unterstützung finden, weil es damit nicht viel auf sich haben konnte für einen Mann, der seine Taten an einem so ungeheuren Schicksal maß. Und Charles Gould fühlte sich durch diese Erwägung nicht erniedrigt, da die Sache für ihn selbst so groß blieb wie nur je. Keines andern noch so weitreichende Auffassung vom Schicksal vermochte seiner eigenen Sehnsucht nach der Erschließung der San-Tomé-Mine etwas anzuhaben. Im Vergleich zu den scharfumrissenen Grenzen des eigenen Ziels, das mit Sicherheit in absehbarer Zeit zu verwirklichen war, erschien der andere Mann vorübergehend als ein weltfremder Träumer ohne Bedeutung.
Der Große Mann, massig und wohlwollend, hatte ihn gedankenvoll betrachtet; als er das kurze Schweigen brach, da geschah es, um zu bemerken, daß in Costaguana die Konzessionen in Schwärmen durch die Luft flögen. Jede einfältige Seele, die gerade nach einem Hereinfall verlangte, konnte eine solche Konzession auf den ersten Schuß herunterbringen.
»Unsern Konsuln wird damit der Mund gestopft«, fuhr er fort, ein Glitzern ehrlicher Geringschätzung in den Augen. Doch im Augenblick war er wieder ernst. »Ein gewissenhafter, aufrechter Mann, der sich zu Durchstechereien, Verschwörungen und Winkelzügen nicht hergibt und saubere Hände behalten will, bekommt sehr bald seine Pässe. Verstanden, Herr Gould? Persona non grata. Das ist der Grund, warum unsere eigene Regierung niemals genau unterrichtet ist. Andrerseits muß Europa aus diesem Erdteil draußengehalten werden, und für ein richtiges Einschreiten von unserer Seite ist die Zeit noch nicht gekommen, möchte ich sagen. Aber wir hier – wir sind ja nicht die Regierung dieses Landes, noch auch sind wir einfältige Seelen. Ihr Unternehmen ist schon recht. Die Hauptfrage für uns ist, ob der zweite Mann, und das sind Sie, vom rechten Schlage ist, um dem unwillkommenen Dritten, dem einen oder andern aus dem großmächtigen Räubergesindel, das die Regierung von Costaguana in Händen hält, Widerpart zu halten. Wie denken Sie darüber, Herr Gould, he?«
Er beugte sich vor, um forschend in Charles Goulds Augen zu sehen, die seinem Blick standhielten. Charles Gould dachte an die große Kiste mit seines Vaters Briefen und ließ die angesammelte Verachtung und Bitterkeit vieler Jahre im Ton seiner Antwort mitklingen:
»Soweit die Kenntnis dieser Leute, ihrer Methoden und Politik in Frage kommt, kann ich für mich gutstehen. Diese Kenntnis ist mir seit meinen Knabenjahren eingepfropft worden. Es ist herzlich unwahrscheinlich, daß ich etwa aus einem Übermaß an Optimismus in Fehler verfalle.«
»Herzlich unwahrscheinlich, wie? Das ist recht. Takt und ein steifes Rückgrat – das werden Sie nötig haben; und Sie können ruhig die Stärke ihres Rückhaltes ein wenig übertreiben. Nicht zu sehr, natürlich. Wir werden mit Ihnen gehen, solange die Sache glatt läuft. Aber wir wollen nicht in ernste Schwierigkeiten kommen. Das ist der Versuch, den zu machen ich bereit bin. Es ist ein wenig Gefahr dabei, und wir wollen sie auf uns nehmen; wenn aber Sie an Ihrem Ende nicht durchhalten, so werden wir unseren Verlust tragen, natürlich, dann aber – die Sache fallen lassen. Diese Mine kann warten; sie war schon einmal geschlossen, wie Sie wissen. Sie müssen sich klarmachen, daß wir unter keinen Umständen dafür zu haben sein werden, gutes Geld dem schlechten nachzuwerfen.«
So hatte damals der mächtige Mann gesprochen, in seinem eigenen Privatkontor in einer großen Stadt, wo andere Männer (sehr bedeutend auch sie, in den Augen einer ahnungslosen Menge) dienstfertig auf einen Wink von seiner Hand warteten. Und mehr als ein Jahr später, während seines unerwarteten Erscheinens in Sulaco, hatte er nochmals seine unverbindliche Haltung mit einer Offenheit betont, wie sie ihm sein Reichtum und sein Einfluß erlaubten. Er hatte sich dabei vielleicht um so weniger Zurückhaltung auferlegt, als das, was getan, mehr noch die Art, in der es nacheinander getan worden war, ihm die augenscheinliche Überzeugung verschafft hatte, daß Charles Gould sehr wohl fähig war, »an seinem Ende durchzuhalten«.
»Dieser junge Bursche«, dachte er, »kann vielleicht noch eine Macht im Lande werden.«
Dieser Gedanke schmeichelte ihm, denn bisher hatte er über diesen jungen Burschen seinen Vertrauten keinen anderen Aufschluß geben können als diesen:
»Mein Schwager hat ihn in einem dieser alten deutschen Nester getroffen, in einem Bergwerksgebiet, und hat ihn mit einem Brief zu mir geschickt. Er ist einer von den Costaguana-Goulds, reinblütigen Engländern, doch alle im Lande geboren. Sein Onkel hatte sich auf die Politik geworfen, war der letzte Landespräsident von Sulaco und wurde nach einer Schlacht erschossen. Sein Vater war ein großer Geschäftsmann in Sta. Marta, versuchte sich von Politik fernzuhalten und starb, zugrunde gerichtet, nach einer Reihe von Revolutionen. Und da habt ihr ganz Costaguana in drei Worten.«
Natürlich war er ein zu großer Mann, als daß ihn selbst seine Vertrauten hätten über seine Beweggründe ausfragen können. Der Außenwelt wurde es freigestellt, ehrfürchtig über den verborgenen Sinn seiner Handlungen zu grübeln. Er war ein so großer Mann, daß die freigebige Begönnerung der »reineren Formen des Christentums« (die sich so kindlich im Kirchenstiften äußerte und Frau Gould solchen Spaß machte) seinen Mitbürgern als Ausdruck einer frommen und demütigen Gesinnung erschien. In seinen eigenen Kreisen aber, in der Finanzwelt, wurde das Aufgreifen einer Sache wie dieser San-Tomé-Mine zwar mit Achtung, doch auch als Anlaß zu leiser Heiterkeit angesehen. Es war die Laune eines Großen. In dem großen Holroydbau (einem Riesengebilde aus Eisen, Glas und Steinblöcken, an einer Straßenkreuzung, zuoberst von den Spinnweben der Telegraphendrähte gekrönt) tauschten die Vorstände der Hauptabteilungen mürrische Blicke und gaben einander damit zu verstehen, daß sie in die Geheimnisse der San-Tomé-Sache nicht eingeweiht waren. Die Post aus Costaguana (sie war nicht groß – ein mittelschwerer Umschlag) wurde uneröffnet geradewegs in das Zimmer des Großen Mannes getragen, und nie waren von dorther Weisungen wegen der Erledigung erfolgt. Die Beamten flüsterten untereinander, daß er persönlich antwortete – und die Antworten nicht einmal diktierte, sondern wirklich eigenhändig schrieb, mit Feder und Tinte, und, so mußte man wohl annehmen, in seinem Privatkopierbuch kopierte, das uneingeweihten Augen verschlossen war. Ein paar vorwitzige junge Leute, unbedeutende Rädchen in der elf Stock hohen Werkstatt, machten kein Hehl aus der Meinung, daß der Große Chef zu gutem Ende doch eine Dummheit gemacht habe und sich ihrer nun schäme; andere, ältlich und gleichfalls unbedeutend, doch voll romantischer Verehrung für das Geschäft, das ihre besten Jahre verschlungen hatte, raunten einander wissend zu, es sei ein schwerwiegendes Anzeichen; der Holroydverband gedenke nach und nach die ganze Republik Costaguana mit Stumpf und Stiel einzusacken. Tatsächlich aber hatten die recht, die ein Steckenpferd darin sahen. Es reizte den Großen Mann, sich persönlich um die San-Tomé-Mine zu bemühen; es reizte ihn so sehr, daß er sich durch die Vorliebe für dieses Steckenpferd bei der Wahl des Zieles für den ersten größeren Urlaub bestimmen ließ, den er seit einer erstaunlichen Reihe von Jahren nahm. Es war kein großes Unternehmen, das er dort auf die Beine gestellt hatte, keine Bahngesellschaft, kein Industriekonzern, sondern ein Mann! Ein Erfolg hätte ihm aus erfreulich neuen Gründen viel Spaß gemacht; andrerseits fühlte er aus dem gleichen Grund die Verpflichtung, beim ersten Anzeichen, daß die Sache schiefging, alles hinzuwerfen. Einen Mann kann man abschütteln. Unglückseligerweise hatten die Zeitungen über das ganze Land seine Reise nach Costaguana ausposaunt. Wenn ihm die Art Spaß machte, in der Charles Gould vorankam, so mengte er doch in die Zusage seiner Hilfe verstärkten Grimm. Sogar noch bei der letzten Unterredung, etwa eine halbe Stunde, bevor er aus dem Innenhof, den Hut in der Hand, hinter Frau Goulds weißen Maultieren abfuhr, hatte er in Charles Goulds Zimmer gesagt:
»Machen Sie auf Ihre eigene Weise fort, und ich werde Ihnen zu helfen wissen, solange Sie an der Stange bleiben. Aber Sie können versichert sein, daß wir gegebenenfalls wissen werden, Sie rechtzeitig fallen zu lassen!«
Darauf hatte Charles Gould nur geantwortet:
»Sie können die Maschinen absenden, sobald Sie wollen.«
Und dem Großen Mann hatte diese unbeirrbare Selbstsicherheit gefallen. Das ganze Geheimnis war, daß diese unverbindlichen Abmachungen Charles Gould sehr zusagten. So behielt die Mine ihre eigene Art, die er ihr schon als Knabe angedichtet hatte; und alles hing von ihm allein ab. Es war eine ernste Sache, und er nahm sie grimmig ernst. »Natürlich«, sagte er zu seiner Frau über diese letzte Unterredung mit dem abgereisten Gast, während er mit ihr langsam den Corrédor auf und ab schritt, von den aufgeregten Blicken des Papageis verfolgt, »natürlich kann ein Mann von solchem Schlage eine Sache aufnehmen oder fallen lassen, wann es ihm beliebt. Er wird durchaus nicht unter dem Gefühl einer Niederlage zu leiden haben. Mag er sich zurückziehen oder vielleicht auch morgen sterben: aber die großen Silber- und Eiseninteressen werden ihn überleben und eines Tages auf Costaguana zugleich mit dem Rest der Welt die Hand legen.«
Sie waren nahe bei dem Käfig stehengeblieben. Der Papagei schnappte das eine Wort auf, das zu seinem Wortschatz gehörte, und fühlte sich zur Einmengung bewogen. Papageien sind sehr menschlich.
»Viva Costaguana!« kreischte er mit größtem Selbstbewußtsein, plusterte gleich darauf seine Federn auf und stellte sich hinter den glitzernden Gitterstäben schlafend.
»Glaubst du das, Charley?« fragte Frau Gould. »Es erscheint mir als der schrecklichste Materialismus, und . . .«
»Meine Liebe, es bedeutet mir gar nichts«, unterbrach sie ihr Gatte in ruhigem Ton. »Ich mache Gebrauch von dem, was ich sehe. Was soll es mir ausmachen, ob die Stimme des Schicksals aus ihm spricht oder ob er einfach Blech daherredet? In beiden Amerikas wird ein gut Teil Gerede der einen oder andern Art erzeugt. Die Luft scheint der Gabe der Deklamation günstig. Hast du vergessen, wie der liebe Avellanos durch lange Stunden fortmachen kann . . .«
»Oh, aber das ist etwas anderes«, widersprach Frau Gould, beinahe entrüstet. Die Anspielung war nicht am Platze. Don José war ein lieber, guter Mann, der sehr gut sprach und begeistert war für die Größe der San-Toém-Mine. »Wie kannst du sie vergleichen, Charley?« rief sie vorwurfsvoll. »Er hat gelitten – und hofft doch noch.«
Für Frau Gould war die Arbeitstüchtigkeit der Männer – die sie nie bezweifelte – so auffallend, weil sie sich bei sehr vielen Anlässen so schwachköpfig zeigten.
Charles Gould versicherte ihr mit müder Ruhe, die ihm unverzüglich die besorgte Anteilnahme seiner Frau sicherte, daß er keine Vergleiche ziehe: er sei letzten Endes selbst Amerikaner und könnte vielleicht beide Arten von Beredsamkeit verstehen, »wenn der Versuch der Mühe wert wäre«, fügte er grimmig hinzu. Doch habe er die Luft Englands länger geatmet als irgendeiner seiner Verwandtschaft durch drei Generationen, und so bitte er, ihn entschuldigen zu wollen. Auch sein armer Vater habe beredt sein können. Und er fragte seine Frau, ob sie sich noch an eine Stelle aus einem der letzten Briefe seines Vaters erinnerte, wo Herr Gould überzeugend ausgesprochen hatte, daß »Gott mit einem bösen Auge auf diese Länder sehe, sonst würde er wohl einen Hoffnungsstrahl durch eine Ritze in dem Vorhang von Lug und Trug, Blutvergießen und Verbrechen senden, der über die Königin unter den Erdteilen gespannt sei.«
Frau Gould hatte es nicht vergessen. »Du hast es mir vorgelesen, Charley«, murmelte sie. »Es war ein ergreifender Ausspruch. Wie tief dein Vater die furchtbar traurigen Dinge empfunden haben muß!«
»Er wollte sich nicht berauben lassen. Es brachte ihn zur Verzweiflung«, sagte Charles Gould. »Aber das Bild ist treffend genug. Was wir hier brauchen, ist Gesetz, Treu und Glaube, Ordnung, Sicherheit. Jeder kann über diese Dinge Vorträge halten, aber ich setze meinen Glauben in die materiellen Interessen. Laß die nur einmal festen Fuß fassen, und sie werden sich schon selbst die Lebensbedingungen schaffen, die sie zu ihrem Fortbestehen brauchen. Das ist es, was das Geldmachen hier angesichts der Gesetzlosigkeit und der Unordnung rechtfertigt. Es ist gerechtfertigt, weil die Sicherheit, die es verlangt, auch einem unterdrückten Volk zugute kommt. Eine bessere Gerechtigkeit wird folgen. Da hast du den Hoffnungsstrahl.« Sein Arm drückte ihre schlanke Gestalt einen Augenblick lang an sich. »Und wer weiß, ob in diesem Sinn nicht vielleicht die San-Tomé-Mine der kleine Spalt in der Dunkelheit werden mag, den je zu sehen mein armer Vater bezweifelt hatte?«
Sie sah bewundernd zu ihm auf. Er war tüchtig; er hatte ihrer unbestimmten, selbstlosen Sehnsucht feste Form gegeben.
»Charley«, sagte sie, »du bist herrlich ungehorsam.«
Er verließ sie plötzlich im Corrédor, um seinen Hut zu holen, einen weichen, grauen Sombrero, ein Nationalkleidungsstück, das unerwartet gut zu seiner rein englischen Tracht paßte. Er kam zurück, eine Reitpeitsche unter dem Arm, und knöpfte sich die Hundslederhandschuhe zu. Sein Gesicht spiegelte seine entschlossenen Gedanken wider. Seine Frau hatte ihn an der Treppe erwartet, und bevor er sie zum Abschied küßte, beendigte er das Gespräch:
»Wir sollten es uns unerbittlich klarmachen«, sagte er, »daß es für uns kein Zurück gibt. Wo könnten wir das Leben neu beginnen? Wir stecken nun auf Gedeih und Verderb hier fest.«
Er beugte sich sehr zärtlich und ein wenig reuig über ihr emporgewandtes Gesicht. Charles Gould war so tüchtig, weil er sich keiner Selbsttäuschung hingab. Die Gould-Konzession hatte sich ihres Lebens zu wehren, mit all den Waffen, die in dem verrotteten Sumpf gerade zur Hand waren; inmitten einer Bestechlichkeit, die so allgemein war, daß sie fast schon wieder gegenstandslos wurde. Charles Gould war bereit, nach seinen Waffen zu greifen. Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, als hätte ihn die Silbermine, die seinen Vater getötet hatte, weiter vorgelockt, als er hätte gehen sollen; und mit der schlüssigen Logik des Gefühls empfand er, daß der Wert seines eigenen Lebens unlösbar mit dem Erfolg verknüpft war. Es gab kein Zurück.