Michael Georg Conrad
Schicksal
Michael Georg Conrad

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Michael Georg Conrad

Schicksal

(1885)

Endlich war er angelangt. Er nahm den breitrandigen grauen Filzhut ab und fächelte sich damit. »Die Nachmittags-Kaffeestunde im Hofgarten ist vorüber, wie es scheint...«

Unter den Arkaden war es in der Tat stille geworden. Nur die müden Schenkmädchen machten sich noch dort zu schaffen. Es waren meist aufgeschossene, bleichsüchtige, flachshaarige Dinger, die in ihren enganliegenden Baumwollkleidchen mit den häßlichen schwarzen Wachstuchschürzen wie in einem abgegriffenen Futteral aus dunklem Pappendeckel steckten.

Eine und die andere hatte in der Gegend, wo bei ausgewachsenen, gesunden Frauen der verlockend schwellende Busen thront, auf einer kümmerlich ausgestopften Wölbung ein verwelktes Blumensträußchen befestigt. Das machte einen bunten Fleck, setzte ein melancholisches rotes oder gelbes Licht mit einem grünlichen Rand auf die wollene Einöde. Kirchhofsblümchen über einem Grab, das die lebendig eingesargten Träume von Glück und Liebe und Lust einer zum Elend geborenen Mädchenseele deckt.

Die Mädchen trugen das Kaffeegeschirr ab und sammelten die umherliegenden Zeitungen. Dann stellten sie die eisernen, weißangestrichenen Stühle und Tischchen gruppenweise gegeneinander, damit das Wasser von der geneigten Platte ablaufen kann, falls die Nacht Regen brächte. Diese in frostigem Weiß schimmernden Möbelgruppen, die über die Arkaden hinaus auf den grauen Kies des Gartens unter die notdürftig grünenden Kastanien und Linden von jüngstem Wuchs oder hinsiechender Greisenhaftigkeit zusammengerückt waren, machten den ungemütlich langweiligsten Eindruck von der Welt, wie ihn eben nur die strapazierten Utensilien eines Feldlagers hervorrufen können, wo mit plumpen weißen Tassen und Kuchentellern von der zweifelhaftesten Porzellangüte täglich zur festgesetzten Stunde von einem ebenso gemischten als langweiligen Publikum die reizlose Kaffeeschlacht inszeniert wird.

»Ist das eine trostlose Welt!« seufzte der einsame Spaziergänger, der unter den Arkaden stehen geblieben war und das Gartenbild mit den hantierenden Schenkmädchen an dem verstaubten Juliabend mit traurigen Augen betrachtete. Einige hungrige Spatzen schlugen sich unter den Stühlen um die letzten Brotsämchen und erhoben dabei ein mörderisches Geschrei im höchsten Diskant.

Jetzt kehrte sich der Einsame gegen die Wand, wo in langer Reihe die berühmten Rottmannschen Fresken einen Schimmer von der poesieerfüllten lichtüberströmten Natur des Südens, von den berückend schönen Gestaden Italiens in die graue Welt des Nordens zauberten. Zu dieser späten Stunde waren die Bilder bereits mit den braunen Blechplatten der Schutzläden zugedeckt, welche der letzten Zerstörung dieser Kunstwerke wehren sollten. Wie viel hatten nicht schon Nässe und Staub und Mauerschwamm und ruchlose Hände an diesen sonnigen Farbenträumen des genialen Malers verdorben! Wie lange war es her, daß der einsame Spaziergänger diese Bilder zum letztenmal gesehen? Eine Ewigkeit. Er kam ja eben von jenseits der Berge zurück wie aus einem Grabe, ein Abgeschiedener, ein Verschollener, den in der Heimat keiner mehr kennen mochte. Und seine Augen brannten, als ob sie mit dem flammenden Verlangen glühender Sehnsucht das lackierte Blech durchdringen und die Abbilder von den himmlischen Wundern des Südens, über die er in seiner übermütigen Jugend so beißend gespottet, in die schönheitsdurstige Seele saugen könnten.

Italien – was galt ihm damals Italien, dem Landschaftsfanatiker, der nordisch-naturalistischen Ketzergemeinde! Feldmoching, das war sein Paradies, sein gelobtes Land!

Aber das verlästerte Italien hat blutige Rache an ihm genommen. Über zehn Jahre hat es ihn in seinen Sirenenbanden gehalten, ihm den Witz aus dem Gehirn, die Ketzerideale aus der Seele, das Mark aus den Knochen gepreßt. Und jetzt, zurückgekehrt in die Heimat, ein geschlagener Mann, ein verlotterter Künstler, ein armseliger, nichts vermögender Phantast, steht er vor den verhüllten Rottmannfresken unter den Arkaden des Hofgartens, während sein Geist vor der entschwundenen italienischen Schönheit auf den Knien liegend und eine verzehrende Sehnsucht nach dem Lande empfindet, das ihm so grausam mitgespielt... Er fühlt es, daß ein Unerreichbares, ihm auf ewig Versagtes wie ein schleichendes, aber sicher tötendes Gift seinen letzten Rest von Energie angefressen hat. Es gibt auch in der Heimat keine Erlösung mehr für ihn aus eigener Kraft...

Warum mußte er überhaupt heimkehren? Warum mußte er, der für die Freunde und Kunstgenossen seiner Jugend dank einer Zeitungsnotiz längst in ein besseres Jenseits befördert war, jetzt wieder von den Toten auferstehen und als ein Gespenst des Lebens unter den wirklich Lebendigen erscheinen?

Er wußte es nicht. Müßige Frage an das Schicksal einer problematischen Natur, die stets nur Spielball der wechselnden Stimmungen, der widersprechenden Impulse gewesen war von Anfang an und nie zu eigener Herrschaft des Charakters sich aufzuschwingen vermochte, so sehr sie auch in der Wollust der Sklaverei die Stärke des siegenden Reizes feierte und zugleich beklagte und verhöhnte...

In der Nähe des Bahnhofes, in einem äußerst bescheidenen Gasthause der Dachauerstraße hatte er vor einer Stunde sein Absteigequartier genommen und seine geringen Effekten zurückgelassen. Nachdem er noch im »Fremdenblatt« den Wohnungsanzeiger durchgesehen und sich eine billige Stube im vierten Stock des Petersgäßchens hinter dem Marienplatz auf die Papiermanschette notiert hatte, um morgen den Preis zu erfragen und entsprechenden Falles dort sich sofort in aller Stille einzumieten, zog es ihn hierher in den Hofgarten unter die klassischen Arkaden. Kein einziges bekanntes Gesicht hatte er unterwegs getroffen. Seine Vaterstadt war ihm so fremd geworden, daß ihm eine Landschaft auf dem Monde nicht fremder hätte erscheinen können. Und wie maschinenmäßig, wie seelenlos, wie häßlich und verwittert ihm die Dinge und Menschen und ihr Verkehr vorkamen! In dem ausgegrabenen Pompeji hätte er einen stärkeren Eindruck des Lebens und seelenvollere Regung empfunden, als hier. Selbst die Luft schien ihm in München stille zu stehen, und der Himmel wie ein staubiger Glassturz über den wüsten Erdenkloß gestülpt...

»Ist das eine trostlose Welt!« seufzte der müde Einsame wiederholt. Dann ging er ein paar Schritte vorwärts. Als ihm gerade ein Schenkmädchen den Weg vertrat, kam ihm plötzlich der Drang, es anzusprechen. Sah er recht? Das war auch gar nicht wie die andern, die er vorhin aus der Ferne betrachtete, und die einen so tieftraurigen Eindruck auf ihn gemacht. Es war besser gekleidet und sah gesund und energisch drein. Er bestellte ein Gläschen Kognak.

Bis das Mädchen mit dem befohlenen Getränk zurückkam, hatte er sich einen Stuhl unter einem alten Kastanienbaum neben dem plätschernden Schwanthalerschen Nymphenbrünnlein zurechtgestellt.

»Hier!«

Er nippte, dann betrachtete er sich das Mädchen, das vor ihm stehen geblieben war, eine Serviette unter dem Arm.

»Legen Sie die Serviette weg; sie kleidet Sie nicht«, bat er.

Das Mädchen betrachtete den Gast mit dem abgelebten, sonnenverbrannten Gesicht, aus dem ein unruhiges Auge unter buschiger, zuweilen nervös zuckender Braue hervorglühte. Jedenfalls ein Künstler und ein verbummelter und unglücklicher obendrein. Aber er hatte etwas Gewalttätiges in seiner weichen Art, etwas Faszinierendes in seinem unsteten Blick, etwas Herrisches in seiner Bitte, was mit seiner gebeugten, schlaffen Gestalt nicht recht zusammen gehen wollte. Das Mädchen konnte sich auf diese singuläre Erscheinung nicht gleich einen Vers machen, aber es gehorchte instinktiv und versteckte die Hände mit der Serviette sofort hinter dem Rücken. Ihre Figur gewann dadurch unendlich. Die knospenden Brüste und die Hüften traten kühn heraus.

Er nickte zufrieden. Was war's nur, was ihn veranlaßte, mit den Augen die Kontur der vor ihm stehenden Schenkmamsell von Kopf bis zu Fuß fragend abzusuchen, dann jede Einzelheit des Gesichts sinnend zu betrachten? Er wollte sie doch nicht malen? Sie würde sich auch bedanken.

Das Mädchen errötete und wollte sich abwenden. Was ging sie denn der fremde Mensch an? Und wie er sie fixierte, das war wirklich peinlich. Er ist doch kein Untersuchungsrichter? Er soll seinen Kognak trinken und bezahlen und sie in Ruhe lassen, der Narr!

Sie drehte sich so resolut auf dem Absatz herum, daß der Kies knirschte.

Er rief sie zurück: »Fräulein!«

»Sie wünschen?« antwortete sie mit einer halben Wendung des Körpers.

Jetzt ward er verlegen und fand nicht gleich das Wort.

»Sagen Sie mir gefälligst, woher sind Sie?«

Sie machte jetzt wieder Kehrtum und lief davon, als ginge sie die Frage nichts an. Der Mensch war wirklich aufdringlich. Man konnte ihr doch nicht zumuten, daß sie zu dieser Stunde jedem Neugierigen auf so persönliche Fragen Red' und Antwort stehe, einfach weil er sich bei seinem faden Kognak langweilt? Und so ein abgerissener Künstler obendrein, wie sie in München dem Hundert nach herumlungern!

»Fanny, komm' heraus, der Herr will zahlen!« rief sie durch die Arkaden in die Tür des Schenklokals hinein – und verschwand.

»Donnerwetter, nein, ich will nicht bezahlen; ich will einen andern Kognak!« Und er stürzte den Rest des Getränks hinab. »Fräulein! Fräulein!«

Nach einer Weile kam das erste Schenkmädchen wieder mit einer Flasche zurück, füllte das Gläschen und stellte die Flasche auf den Tisch, ohne den aufgeregten Gast anzusehen.

Nun nahm er sich zusammen, lüftete den Hut und sprach halblaut in bittendem Tone:

»Verzeihen Sie, ich wollte nichts Ungebührliches. Ich bin fremd hier, ganz fremd. Komme sehr weit her, vom andern Ende der Welt. Aber ich habe... ich habe ferne Verwandte... und da ist es eine so merkwürdige Ähnlichkeit... etwas, das an... an eine Nichte von mir erinnert, die ich in meiner Jugend gesehen und seitdem nicht mehr...«

»O wir haben keinen Künstler in unserer Familie noch in unserer ganzen Verwandtschaft«, fuhr ihm jetzt das Mädchen in die verlegene Rede.

»Es kommen wohl immer etliche Künstler hinaus in unsre Gegend nach Feldmoching und Dachau...«

»Sie sind also von Feldmoching, liebes Kind, nicht wahr?« fragte er rasch. Sie stutzte. »Freilich bin ich von Feldmoching, das wird wohl keine Schand' sein.«

»Im Gegenteil, das ist eine sehr geschätzte Gegend... das ist ehrenvoll... das interessiert mich ganz ungemein, sehen Sie, liebes Kind. Haben Sie nicht eine ältere Schwester, eine viel ältere, denn Sie sind ja noch sehr jung, kaum mehr als fünfzehn Jahre...«

»Kaum. Wie wissen Sie das?« Und das Mädchen legte seine Wildheit ab und lächelte.

»O das errät man ja. Aber Sie haben noch eine Schwester, der Sie ähnlich sehen müssen, und die vielleicht noch einmal so alt ist wie Sie, nicht wahr, liebes Kind?«

»Ich habe keine Schwester. Ich habe überhaupt keine Eltern mehr. Ich war das einzige Kind. Die Mutter ist tot...«

»Und der Vater?« Bei dieser Frage schlug ihm eine jähe Röte um die Augen.

»Nun, der Vater ist jedenfalls auch tot... Ich hab' ihn nicht mehr gekannt...«

»Und wie heißen Sie?«

»Franziska Donaubauer.«

Der Name gellte ihm in die Ohren, als höre er die Posaunen des jüngsten Tags. Kein Zweifel, die Ahnung hatte ihn nicht betrogen...

Inzwischen war der Wirt unter die Tür getreten und Fanny, die Zahlkellnerin, herbeigekommen.

Ohne das zweite Gläschen Kognak berührt zu haben, legte er ein Markstück auf den Tisch und entfernte sich rasch, einen vielsagenden Blick als Gruß auf Franziska werfend.

Er schritt quer durch den Hofgarten. Als er sich aber am Eingang der Königinstraße sah, kehrte er plötzlich um... Langsam ging er den Weg zurück, den er gekommen... In der Nähe des Kaffees blieben ihm die Füße schier am Boden haften. Er schlich mehr, als er ging, durch die stillen Arkaden.

*

Es war in der Tat ein verstaubter, unerquicklicher Juliabend. Die Sonne hatte sich vor ihrem Untergang breit in die Maximiliansstraße gelegt und wie ein elektrischer Riesenreflektor die Häuserfassaden, die Trottoire und den Fahrweg der ganzen Länge nach, vom Max-Josephs-Platz bis zum Maximilianeum auf dem jenseitigen Isarufer, mit glühenden Strahlenbüscheln förmlich gepeitscht. Die Trambahn-Schienen leuchteten wie eine Parallele von Rasiermesserschneiden. Nachdem die Sonne hinter den hochgegiebelten Häusern der Perusa- und Theatinergasse wie hinter einem Schirm versunken, glühte die hohe Staubwolke zwischen der Häuserzeile noch lange nach, wenn sich auch unter dieser zitternden Glutschicht in der eingepreßten Atmosphäre allmählich ein frischerer Luftzug bemerkbar machte. Die Leinwandschutzdächer vor den Magazinen wurden jetzt in die Höhe gewunden; die Hausdiener erschienen mit großen Gießkannen auf dem Trottoir, um den Staub zu löschen; die Türen und Fenster der Läden und Kaffeehäuser wurden weit geöffnet, um die erfrischte Abendluft einströmen zu lassen. Auch die Spaziergänger sammelten sich nach und nach auf der beliebten Promenade der Maximiliansstraße; es kam wieder Leben und fröhlicher Tumult in die halberstickte Straßenwelt. Die Kutscher vor dem Postpalast ließen sich von fliegenden Kellnerinnen die Batterie der Maß- und Seidelkrüge aus dem »Franziskaner« mit »frischem Stoff« füllen, schnitten ihren ermatteten Gäulen, die mit tiefhängenden, schläfrigen Köpfen und krummen Beinen dastanden, kleine schwarze Brotlaibchen vor und warfen auch den herbeiflatternden Tauben, die in wilden Scharen unter den hohen Bogenhallen der Post, des Hoftheaters und der etwas entfernteren Feldherrnhalle nisten, reichliche Brocken zu und fanden den gewohnten Bockhumor wieder.


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