Charles de Coster
Vlämische Legenden
Charles de Coster

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Herr Halewyn

I. Von den zwo Burgen

Herr Halewyn sang ein Lied. Und jegliche Jungfrau, so es vernahm, begehrte zu ihm zu gehen.

Nun will ich Euch, ihr wackern Flämen, die Geschichte von diesem Herrn Halewyn und von seinem Lied erzählen, auch von dem tapferen Fräulein Magtelt.

Es waren dereinst zwo stolze Burgen in der Grafschaft Flandern. In der einen saß der Ritter von Heurne mit Frau Gonde, seinem guten Ehgemahl, mit Toon dem Schweiger, seinem Sohn, und Magtelt, seiner liebreizenden Tochter; dazu Edelknaben, Knappen, Schildträger, Reisige und das ganze Ingesinde. Von diesen ward Anne-Marie, ein Mägdlein aus adligem Geschlecht, so dem Fräulein Magtelt diente, sonderlich geliebt.

Von allem, was von der Arbeit seiner Bauern kam, nahm der Herr von Heurne nichts als das Beste. Und die Bauern sagten von ihm, das wäre eines gerechten Mannes Tun, nur nach Bedarf zu nehmen, wenn man alles rauben kann.

In der andern Burg lebte Herr Halewyn der Arge, samt seinem Vater, Bruder, Mutter und Schwester und dem ganzen Troß seiner Raubgesellen.

Das waren schlimme Leute, des seid gewiß, und geprüfte Meister im Diebeshandwerk, Raub und Mord, und es war nicht ratsam, ihnen zu nahe zu treten.

 

II. Von Dirk, dem Raben

Besagtes Geschlecht stammte in gerader Linie von Dirk, dem ersten Halewyn, welcher der Rabe zubenannt war, dieweil er auf Beute so erpicht war wie der Rabe auf Aas. Und dieweil er ganz schwarz gekleidet ging, er und seine Schar.

Selbiger Dirk, so zur Zeit der großen Kriege lebte, schlug in der Schlacht gleich dem Blitze drein. Mit einem wuchtigen Streithammer, seiner einzigen Waffe, welcher auf einer Seite spitz zulief, brach er Lanzen, zerschlug Spieße und zerriß Panzerhemden, als wären ihre Maschen aus Tuch. Und keiner vermochte ihm zu widerstehen. Und also schreckte er den Feind; und wer einmal Dirk und seine schwarzen Söldner in großer Anzahl, kühn und beherzt, mit Heulen und Krächzen gegen sich ausrücken sah, der vermeinte sich schon vor dem Kampfe des Todes.

War die Niederlage vollbracht und das Mehrste der Beute fortgeschafft (davon Dirk das Leuenanteil nahm und niemals für die Armen etwas übrig ließ), so ließen die Barone und ihre Mannen ihn und die Seinen sich über das Schlachtfeld zerstreuen und gingen von dannen, mit den Worten: »Dem Raben die Brosamen.«

Keiner hätte sich zu bleiben getraut, denn er wäre sonder Verzug zerstückelt und umgebracht worden. Und alsobald begannen des Dirk Leute ihre Rabenarbeit, hackten die Ringfinger ab, auch den Verwundeten, so um Hilfe schrien, und schlugen Kopf und Arme ab, um sie bequemer auszuziehen. Und sie schlugen und mordeten einander auf den armen Entseelten, und dies um eine Halsberge, einen elenden Riemen aus gesottenem Leder oder um noch geringere Sachen. Und verweilten etliche Male drei Tage und drei Nächte auf dem Schlachtfelde.

Wenn die Toten gänzlich entblößt waren, so luden sie den Plunder auf Karren, um ihn fortzuschaffen. Und kehrten zu Dirks Burg zurück, um allda Schmaus und große Schwelgerei zu halten. Unterwegens schlugen sie Ackerleute und griffen Weiber und junge Dirnen, so sie nur im geringsten hübsch waren, und taten damit nach ihrem Belieben. Also lebten sie in stetem Kampf, plünderten und raubten Hab und Gut derer, so sich nicht wehren konnten; und fragten im übrigen nichts nach Gott und Teufel.

Dirk der Rabe wurde sehr stolz auf seine Macht, zumal ihn Seine Gnaden der Graf in Ansehung seiner Siege mit der Herrschaft Halewyn samt der hohen und niedern Gerichtsbarkeit belehnet hatte. Und ließ sich ein schönes Wappen malen, darauf ein großer, kohlschwarzer Rabe auf güldenem Grunde zu sehen war, mit dieser Inschrift: »Dem Raben die Brosamen.«

 

III. Von Herrn Halewyn und seiner Aufführung in jungen Jahren

Jedoch diesem starken Raben erwuchs keine Brut von seiner Art. Denn durch absonderliche Fügung wurden sie Leute von Feder und Schreibzeug, wußten nichts mehr von der edlen Kriegeskunst und verachteten die Waffen. Diese großen Gelahrten verloren gar bald die Hälfte ihrer Herrschaft. Denn jedes Jahr raubte ein starker Nachbar ihnen ein Stück davon.

Und sie erzeugten magere, schwächliche Kinder von bleichem Antlitz, welche sich in Winkeln verkrochen nach der Schreiber Gewohnheit, und allda saßen sie trübsinnig auf ihren Hintern und murmelten Klagen und Litaneien. Und also ging die Mannheit in dem Geschlechte verloren.

Siewert Halewyn, der Arge, dessen Geschichte ich erzählen will, war gleich ihnen häßlich, schwächlich, kümmerlich und von mürrischem Angesicht, ja noch mehr.

Und gleich ihnen verkroch und verbarg er sich gern in den Winkeln, floh die Gefährten, geriet in Wut, so er Lachen hörte, war voll übler Laune, hob niemalen das Haupt gen Himmel wie ein adliger Mann, sondern betrachtete ohn Unterlaß seine Schuhe, heulte ohne Anlaß und greinte ohne Ursach, und war nichts, das ihn ergötzte. Dazu war er feig und grausam und fand von Kindesbeinen Freude daran, Kätzlein und Hündlein, Sperlinge, Grasmücken, Finken, Nachtigallen und allerlei Tierlein zu peinigen, zu ängsten und zu verwunden.

Ja, selbst da er groß geworden, traute er sich kaum auf Wölfe loszugehen, ohngeachtet seines guten Spießes. Aber nicht sobald war das Tier erlegt, so durchbohrte er es wie rasend mit hundert Stichen.

Und also kam er in das Alter, sich zu beweiben.

 

IV. Wie Herr Halewyn ein Weib nehmen wollte, und was die Damen und Fräuleins davon redeten

Darum, weil er der Älteste seines Hauses war, mußte er an des Grafen Hof gehen, um allda ein Weib zu nehmen. Aber ein jeder, der seine große Häßlichkeit wahrnahm, spottete dort sein, sonderlich die Damen und Fräuleins, welche lachend untereinander sprachen:

»Ei, so sehet doch den schönen Ritter. – Was ist sein Fürhaben? – Er kommt uns zu freien, vermeine ich. – Welche will ihn für vier Burgen, ebensoviel Herrschaften, zehntausend Hörige und so viel Gold, als der Freier schwer ist? Keine. – Ei, jammerschade! Sie würden mitsammen schöne Kinder zeugen, wenn sie dem Vater gleichsähen. – Ei, hat er schöne Haare. Der Teufel strählte sie ihm mit einem Nagel; schöne Nase, gleicht einer runzligen Pflaume, und schöne Augen von feurigem Blau, gar trefflich mit Rot umsäumet. – Wird er nicht greinen? Das wäre mir holde Musik.« –

Und da Herr Halewyn die Damen also reden hörte, vermochte er ihnen nicht ein Wörtlein zu erwidern, maßen ihm vor Grimm, Schmach und Schmerz die Zunge geschwollen war.

Dessen ohngeachtet wollte er bei jedem Turnier Lanzen brechen, doch er ward allemal mit Schanden geschlagen, und die Damen, so sie ihn fallen sahen, klatschten stürmisch und riefen: »Ruhm dem Unhold! Dem alten Raben mangelt der Schnabel.« Also verglichen sie ihn mit Dirk, dem ruhmreichen Ahnherrn der Halewyns, welcher zu seiner Zeit mächtig und waffentüchtig gewesen war. Und immer, wenn er solche Schmeichelreden vernommen, kehrte Herr Halewyn in seine Burg zurück.

 

V. Warum der Ritter Halewyn, vom Turnier heimkehrend, den Teufel anrief

Da er nach dem dritten Turnier besiegt heimkehrte, stunden sein Vater, Mutter, Bruder und Schwester an der Zugbrücke. Und der Vater sprach:

»Hei, sehet doch meinen schönen Sohn, Siewert den Schwachen, Siewert den Gebrandmarkten, Siewert den Kreuzlahmen, welcher gleich einem verprügelten Hunde mit eingekniffenem Schwanz vom Turnier heimkehrt.«

Und die Mutter sprach:

»Ich sehe gar wohl. Seine Gnaden der Graf hat dir die güldene Kette um den Hals gehängt und dir vor allem Volke die Akkolade gegeben, dieweil du im Turnier so kühn auf den Rücken turniert bist, so wie es ehedem der Ritter von Beaufort so trefflich mit dir gemacht hat. So wahr Gott lebt! das war ein ruhmvoller Fall!«

Und die Schwester sprach:

»Heil, Erstgeborener, welche Kunde bringst du? Du warst gewißlich Sieger; sehe ich es doch an deinem frohlockenden Antlitz. Wo aber ist die Schärpe von den Damen?«

Und der Bruder sprach:

»Wie ist euer ruhmreiches Befinden, Ritter Siewert Halewyn, der Ältere, vom Raben mit dem starken Schnabel der Nachkomme? Denn solcher Rabe zerhackt mit dem Schnabel Adler, Habichte, Geier, Gerfalken und Sperber sonder Mühe. Habet ihr nicht Durst, Durst wie ein Baron, wie ein Sieger, ich sage nicht Durst wie ein Höriger? Wir haben drinnen klaren Froschwein, so euer Gedärm von jeglicher Siegesglut kühlen wird.«

»Ha,« entgegnete der Ritter zähneknirschend, »so Gott mir Kraft gäbe, wollt' ich dich ein ander Liedlein singen lehren, mein Herr Bruder.«

So sprechend, zog er sein Schwert, um ihn zu schlagen, aber der Jüngere entwich und schrie:

»Heil dem Raben, der nicht mehr Rabe ist. Heil, Kapaun. Erhöhe unser Haus, ich flehe dich an, Siewert, der Siegreiche!«

»Ha,« sprach der Ritter, »warum ging dieser Schreihals nicht gleich mir zum Lanzenstechen? Aber er hätte sich nimmer unterfangen, maßen er einer der lumpigen Feiglinge ist, so bei anderer Werk zuschauen, die Arme kreuzen und der Schaffenden spotten.«

Alsdann stieg er von seinem Streitroß und verbarg sich in seinem Gemach und heulte allda vor rasender Wut, flehte zum Teufel, ihm kraft und Schönheit zu verleihen, und gelobte auf Edelmanns Wort, ihm als Gegenpfand seine Seele zu geben.

Er rief die ganze Nacht, schrie, heulte und wehklagte, ja, er gedachte gar, sich zu entleiben. Aber der Teufel kam nicht, sintemalen er anderes zu tun hatte.

 

VI. Von Ritter Halewyns unstetem Wandern

An jeglichem Tage, mochte es linde oder rauhe Luft, heller oder düsterer Himmel, Sturm oder sanfter Wind, Regen, Hagel oder Schnee sein, so irrte Ritter Halewyn allein durch Flur und Wald.

Und alle Kinder, die ihn sahen, entflohen und schrieen vor Furcht.

»Ha,« sprach er, »so bin ich denn gar häßlich.«

Und er irrte weiter.

Aber so er unterweges auf einen Hörigen stieß, dem Gesundheit oder Schönheit zu eigen war, griff er ihn an, und des Öfteren tötete er einen mit seinem Spieße.

Und jedermann fürchtete ihn und bat Gott, er wolle ihren Herrn gnädiglich aus dieser Welt nehmen.

Und in jeder Nacht rief Ritter Halewyn den Teufel an. Aber der Teufel kam nimmer.

»Ha,« sprach der Ritter wehklagend, »was gewährest du mir nicht Kraft und Schönheit in diesem Leben! Ich gebe dir meine Seele im künftigen. Das ist ein guter Handel.«

Aber der Teufel kam nicht.

Und er war immerdar unruhig, bang und trübsinnig, ward bald zum Greise und hieß allerwegen nicht anders denn der Herr Ungestalt. Und sein Herz schwoll von Haß und Grimm. Und er fluchte Gott.

 

VII. Vom Fürsten der Steine und von dem Liede

Zur Zeit der reifen Pflaumen streifte er durchs ganze Land und kam bis nach Lille; und da er nach seiner Burg heimkehrte, ritt er durch den Wald. Unterweges sah er im Dickicht an einem Eichbaum einen gar langen und breiten Stein.

Und er sprach: »Das soll mir ein guter Schemel sein, gar hold, darauf zu rasten und mich ein Weniges zu erfrischen.« Und er setzte sich auf den Stein und bat den Teufel abermals, er wolle ihm Kraft und Schönheit verleihen.

Indessen war es noch hellichter Tag. Die Vöglein, Grasmücken und Linken, sangen fröhlich in den Wäldern. Und die Sonne schien warm, und es wehte ein sanfter Wind, und Ritter Halewyn entschlief vor großer Ermüdung.

Da er bis zum Einbruch der Nacht geschlummert, ward er durch ein seltsam Geräusch jählings erwecket. Und beim Scheine des glänzenden Mondes und der hellen Sterne erblickte er eine Art Tier mit einem Fell gleichwie ein bemooster Stein. Dasselbige scharrte die Erde unter dem Stein auf und stieß etliche Male den Kopf in das Loch, das es gegraben hatte, gleich wie Hunde zu tun pflegen, so Maulwürfe suchen.

Ritter Halewyn, gedenkend, daß es ein wildes Tier sei, schlug es mit seinem Spieße.

Aber der Spieß zerbrach, und ein klein steinern Männlein hüpfte ihm auf die Schultern und schlug ihn mit seinen harten Händen gröblich auf die Wangen und sprach zischend und lachend:

»Suche, Siewert Halewyn; suche Sichel und Lied, Lied und Sichel. Suche, suche, Ungestalt!«

Und so sprechend, hüpfte er wie ein Floh auf dem Rücken des Argen, welcher sich bückte und den Stumpf seines Spießes in das Loch bohrte. Die steinerne Wange des Männleins kam seiner Wange nahe und seine beiden Augen erleuchteten das Loch besser denn eine Laterne.

Und dieweil es Halewyn mit seinen spitzigen Zähnen biß, ihn mit seinen Fäustlein schlug und ihn mit seinen Nägeln kneipte und zwickte, sagte das Männlein mir bittrem Lachen: »Ich bin der Fürst der Steine, ich hüte die schönen Schätze. Suche, Ungestalt, suche!«

So sprechend, schlug der Zwerg ihn über die Maßen. »Siewert Halewyn,« knurrte er lustig und spottete sein, »Siewert Halewyn hat Kraft und Schönheit vonnöten, Schönheit und Kraft; suche, suche Mißgestalt!« Und er riß dem Schlimmen die Haare in Büscheln aus, zerfetzte sein Kleid mit seinen Nägeln, also daß er ganz zerlumpt war, und sagte, in Lachen ausbrechend: »Kraft und Schönheit, Schönheit und Kraft; suche, suche, Ungestalt!« Und er hängte sich ihm mit seinen beiden Händen an die Ohren und schlug ihm mit seinen steinernen Füßen ins Gesicht, ohngeachtet der Ritter vor Schmerz schrie. Und das Männlein sagte: »Um Kraft und Schönheit zu kriegen, suche, Halewyn, suche Lied und Sichel, suche, Mißgestalt!« Und der Arge wühlte ohne Aufhören mit dem Stumpf seines Schwertes im Boden. Da plötzlich stürzte die Erde unter dem Stein und tat sich ein großes Loch auf, und Halewyn erblickte im Schein von des Männleins Augen ein Grabgewölbe, und darinnen lag ein Mann, zum Verwundern schön, und schien nicht tot. Und der Mann war weiß gekleidet und hielt in den Händen eine Sichel, und es waren Griff und Klinge von Gold.

»Nimm die Sichel«, sprach das Männlein und schlug ihm mit beiden Fäusten auf den Kopf.

Da Ritter Halewyn also getan, ward der Mann in der Erde zu Staub; und aus dem Staube ging eine weiße hohe Flamme herfür, und aus der weißen Flamme ein wunderlieblicher Sang.

Und siehe, da breitete sich im Walde ein Wohlgeruch von Zimmet, Weihrauch und Majoran aus.

»Singe«, sprach das Männlein, und der Arge wiederholte das Lied. Und seine rauhe Stimme wandelte sich in eine Stimme, lieblicher denn Engelssang, und er sahe aus dem Waldesgrunde eine Jungfrau herfürtreten von himmlischer Schönheit und gänzlich nackend; und sie setzte sich gegen ihm über.

»Ha,« sprach sie weinend, »Meister der güldenen Sichel, ich bin gar gehorsam gekommen. Laß mich nicht zuviel leiden, so du mein Herz raubest, du Meister der güldenen Sichel.« Darnach entschwand die Jungfrau im Waldesgrund; und das Männlein brach in Lachen aus, warf den Ritter Halewyn zu Boden und sprach:

»Du hast Lied und Sichel, also wird dir Kraft und Schönheit werden; ich bin der Fürst der Steine. Gehab dich wohl, Vetter!«

Und da der Ritter sich erhob, sah er nicht Männlein noch nackte Jungfrau mehr; und er schaute gar ängstlich die güldene Sichel an und erwog im Geiste, was der Mann in der Erde und die nackte Jungfrau bedeuteten, und ging mit sich zu Rate, zu welchem Ende Sichel und lieblicher Sang ihm dienen sollten. Da erblickte er unversehens auf der Klinge eine schöne Inschrift in feurigen Lettern.

Doch er konnte die Lettern nicht lesen, sintemalen er des Lesens und Schreibens unkundig war. Und er heulte vor rasender Wut, wälzte sich in den Büschen und schrie: »Zu Hilfe, Fürst der Steine, laß mich nicht hier in Verzweiflung sterben!«

Flugs kam das Männlein wieder, sprang ihm auf die Schulter, und dieweil es ihm ungezählte Nasenstüber gab, las es auf einer Seite der Klinge diese Inschrift:

»Liedlein ruft
Und Sichel schneidet.
In Jungfraunherzen findest du
Kraft, Schönheit, Ehre, Gold und Gut,
Von Jungfraunhänden den Tod.«

Und auf der andern Seite der Sichel las das Männlein des Weiteren:

»Wer du seist, der dieses liest
Und das Liedlein singen wird,
Frage recht, versteh und geh,
Keiner dich dann töten kann,
Liedlein ruft
Und Sichel schneidet.«

Nachdem es solches gelesen, verschwand das Männlein. Plötzlich hörte der Arge eine traurige Stimme sagen:

»Willst du Kraft und Schönheit suchen in Tod, Wut und Tränen?«

»Ja«, erwiderte er.

»Ehrsüchtig Herz, steinern Herz«, antwortete die Stimme. Dann vernahm er nichts mehr.

Und er betrachtete die Sichel, darauf die güldenen Lettern flammten, bis daß Herr Kreyant die Hennen weckte.

 

VIII. Was Herr Halewyn dem Mägdlein tat, welches Holz holte

Der Arge war gar frechgemut und ratschlagte mit sich selber, ob er die verheißenen Dinge in Mädchenherzen oder in Herzen mannbarer Jungfrauen fände und also seine große Begierde nach Ehre und Macht stillen könnte. Und also stellte er sich nicht fern von etlichen Hütten, allwo er Mägdlein jedes Alters wußte, und erwartete da den Morgen.

Bald nach Sonnenaufgang kam ein Dirnlein herfür, schwerlich neun Jahre alt, und war geschäftig, Holz zu suchen und zu schneiden.

Da ging er zu ihr, sang das Liedlein und wies ihr die Sichel. Da sie diese erblickte, schrie sie vor Furcht, wollte entrinnen und lief, so schnell sie vermochte. Er aber verfolgte und packte sie und führte sie mit Gewalt in seine Burg.

Als er einritt, erblickte er auf der Zugbrücke seine Frau Mutter, welche ihn fragte:

»Wohin willst du mit diesem Dirnlein, Ungestalt?«

Er antwortete:

»Will unserm Hause Ruhm bringen.«

Und die Edelfrau ließ ihn gehen, vermeinend, daß er irre sei.

Er trat in sein Gemach, öffnete dem Mägdlein die Brust unter dem Busen, welcher zu knospen begann, riß das Herz mit der Sichel heraus und trank das Blut. Aber er war darnach nicht stärker denn zuvor. Und weinte bittere Tränen und sprach: »Die Sichel hat mich betrogen.« Und er warf das Herz und den Leichnam in den Burggraben.

Da nun die Dame Halewyn diesen armen Körper und Herz ins Wasser fallen sah, befahl sie, daß sie ihr gebracht würden.

Und da sie sahe, daß der Körper unter der linken Brust aufgeschnitten und das Herz herausgerissen war, ergriff sie die Furcht, daß Siewert, ihr Ältester, Teufelswerk triebe.

Sie tat das Herz wieder in die Brust des Mägdleins und hieß sie gut und christlich einhüllen und ein schönes Kreuz auf das Gesichtstüchlein malen und darnach sie bestatten, und eine schöne Messe für ihr Seelenheil lesen.

 

IX. Vom Herzen der Jungfrau und von der großen Kraft des Ritters Halewyn

Da ward Halewyn mit einem Male tief betrübt und warf sich auf die Knie und sprach: »Wehe, ist der Zauber nichts wert? Ich habe gesungen, und doch kam sie nicht herbei auf mein Lied! Was heißest du mich nun tun, Herr Fürst der Steine? Soll ich die Nacht erwarten, so will ich es tun. Alsdann bist Du gewißlich nicht durch die Sonne gehindert, hast jegliche Macht, mir Kraft und Schönheit zu geben, und wirst mir die Jungfrau senden, die not tut.«

Und bei Nacht streifte er rund um die Hütten, sang und spähete, ob keine käme.

Im hellen Mondschein erblickte er des Klaas Tochter, eines armen Irren, der Hundeprügler benannt, dieweil er alle Hunde, so er antraf, böslich prügelte und schlug; denn er sagte, diese vermaledeiten Hunde hätten ihm all sein Fell geraubt und sollten es ihm wiedergeben.

Besagte Tochter wartete den Klaas trefflich und wollte nicht heiraten, ohngeachtet sie schön war; denn sie sagte: »Sintemalen er irre ist, kann ich ihn nicht verlassen.«

Und da man sie so rechtschaffen befand, gab ihr der eine von seinem Käse, der andere von seinen Bohnen und ein dritter Walfischzunge, und so lebten sie mitsammen, ohne zu darben.

Der Arge stund unbeweglich am Waldsaum und sang. Und die Maid ging geradenwegs dem Liede nach und fiel vor ihm auf die Knie.

Er ging nach seiner Burg, sie folgete ihm und ging mit ihm hinein, ohne ein Wort zu sagen.

Auf der Stiege begegnete er seinem Bruder; der kam von der Eberjagd heim und sprach höhnend zu ihm:

»Will der Ungestalt uns einen Bankert machen?« Und zu der Maid: »Ei, Fräulein, so sehr bist Du entbrannt zu meinem häßlichen Bruder, daß Du ihm also ohne Wort folgtest? Nimm lieber mich, so wirst Du bessere Kurzweil haben.«

Doch er schlug ihn voller Grimm mit seinem Spieß ins Gesicht. Dann ließ er ihn und stieg hinauf in sein Gemach.

Nachdem er die Tür aus Furcht vor seinem Bruder verschlossen, entkleidete er die Magd ganz nackend, gleichwie die Jungfrau in seinem Traumbild. Und sie sagte, daß sie fröre. Da öffnete er ihr mit der güldenen Sichel eilends die Brust unter dem linken Busen. Und während die Magd in Todesnöten schrie, kam das Herz von selbst auf die Klinge. Und der Arge erblickte das Männlein, welches aus den Steinen der Mauer hervorkam und hohnlachend rief:

»Herz auf Herz, das ist Kraft und Schönheit. Halewyn wird die Jungfrau auf dem Galgenacker erhenken, und der Leichnam wird allda verbleiben bis zur Stunde des Gerichts.« Dann verschwand er in der Mauer.

Der Ritter legte das Herz auf seine Brust und fühlte, wie es stark schlug und sich an seine Haut heftete, und plötzlich ward sein gekrümmter Leib gerade, und sein Arm gewann solche Kraft, daß er, da er's versuchte, eine schwere eichene Bank zerbrach. Und da er sich in einem Spiegelglas beschaute, sah er sich so schön, daß er sich nicht erkannte.

Und in seinen Adern fühlte er das Feuer kraftvoller Jugend flammen, und da er in die Halle hinabstieg, sah er seinen Vater, Mutter, Bruder und Schwester beim Nachtmahl. Keiner von ihnen erkannte ihn, außer an der Stimme, die nicht verändert war.

Und die Mutter stund auf und lehnte sich an ihn, um ihn recht zu betrachten.

Und er sprach zu ihr: »Weib, ich bin wahrhaftig Dein Sohn Siewert Halewyn, der Unüberwindliche.«

Aber sein Bruder, welchen er zuvor ins Gesicht geschlagen, ging auf ihn los und sprach: »Verflucht seiest Du, Unüberwindlicher.« Und stieß sein Messer nach ihm. Aber die Klinge zerbrach am Körper des Argen wie Glas. Da er das sah, packte ihn der Jüngere um den Leib, aber der Arge riß ihn los und schleuderte ihn fort wie einen Wurm.

Alsbald stürzte sich der Jüngere auf ihn mit dem Kopfe voran, wie ein Widder. Aber kaum hatte er den Ritter mit dem Kopfe berührt, so entstund daran eine große Wunde, und das Blut floß ihm über sein Antlitz.

Und Vater und Mutter und Schwester und der blutende Bruder fielen vor ihm auf die Knie und flehten ihn an, daß er sie reich mache, da er so gewaltige Stärke habe.

»Das werde ich tun«, sprach er.

 

X. Wie der Arge einen lombardischen Goldschmied beraubte und von den artigen Reden der Damen und Fräuleins

Des andern Tages kleidete Halewyn sich an und wappnete sich mit der Sichel, denn er verschmähte andere Waffen, maßen er durch Zauber gefeit war. Und er nahm den Leichnam der Jungfrau und erhenkte ihn auf dem Galgenfeld.

Dann ritt er von dannen nach der Stadt Gent.

Und die Damen, Fräuleins und Bürgertöchter, so ihn auf seinem schwarzen Rappen vorbeireiten sahen, sprachen untereinander: »Wer ist dieser schöne Ritter hoch zu Roß?«

»Das ist«, erwiderte er mit großem Stolz, »Siewert Halewyn, ehedem der Ungestalt.«

»Ei geht doch,« sagten die Kühnsten, »Ihr spottet, Ritter, es sei denn, Ihr wäret durch eine Fei verwandelt.«

»So ist's,« sprach er, »und überdies habe ich Umgang mit ihr gepflogen, und dasselbe werde ich mit Euch tun, so es mir gefällt.«

Ob dieser Rede ergrimmten die Edelfrauen und Fräuleins nicht im geringsten.

Und er begab sich zu einem lombardischen Goldschmied, welcher ihm zu unterschiedlichen Malen sechsundzwanzig Goldgülden dargeliehen hatte. Aber der Goldschmied erkannte ihn nicht.

Er sagte ihm, daß er der Ritter Halewyn sei.

»Ach,« sprach der Goldschmied, »ich bitte Euch inständigst, Herr, wollet mir die sechsundzwanzig Goldgülden zurückzahlen.«

Aber Halewyn lachte voller Hohn. »Führe mich in das Gemach, wo Du dein Gold versteckst.«

»Herr,« sprach der Goldschmied, »mit nichten werde ich das tun, ohngeachtet ich Euch hoch in Ehren halte.«

»Hund,« erwiderte er, »so Du mir nicht gehorchest, werde ich dich stracks töten und in Stücke hauen.«

»Ha,« sprach der Goldschmied, »lärmet nicht also in meinem Haus, Herr, denn ich bin weder Knecht noch Höriger, sondern gemeinfreier Bürger. Und wenn anders Ihr hier Gewalt brauchen wollet, so werde ich mich zu rächen wissen, des seid gewiß.«

Da schlug Halewyn zu, und der Bürger schrie um Hilfe. Als die Gesellen das hörten, kamen sie, sechs an der Zahl, herbei und da sie den Argen erblickten, griffen sie ihn an.

Er aber schlug sie gleichwie den Goldschmied und befahl ihnen, ihm kund zu tun, wo das Gold verborgen sei.

Solches taten sie und sprachen dabei zueinander: »Dieser ist der Teufel.«

Und der Goldschmied weinte: »Herr, nehmet nicht alles!«

»Ich werde nach meinem Willen tun«, sprach der Arge und füllte seinen Säckel.

Also nahm er dem Goldschmied mehr denn siebenhundert schöne Besamtaler.

Und da er sahe, daß er nicht nachließ mit Wehklagen, schlug er ihn abermals gewaltig und verbot ihm, so laut zu heulen. Und er sagte, ehe denn der Mond sich erneute, wolle er ihm das Doppelte nehmen.

 

XI. Von dem hoffärtigen Wappen des Ritters Halewyn

Und der Arge ward der reichste, mächtigste und gefürchtetste Baron in der ganzen Grafschaft.

Und er lästerte und sagte, er wäre Gott gleich. Und achtete das alte Wappen von Dirk und seinen Wahlspruch zu gering für seine Größe.

Darum so ließ er von Brügge Maler kommen, ihm ein neues und besseres Wappen zu machen. Besagte Maler verbargen, wie er es befohlen, den alten Raben in einem Felde des Wappens und auf schwarzem und silbernem Feld malten sie ein blutrot Herz und güldene Sichel mit dem Wahlspruch: »Keiner bezwingt mich

Besagtes Wappen ließ er auch auf ein großes Banner konterfeien, welches auf dem Hauptturm der Burg wehte. Desgleichen über dem Tor aus Stein gehauen, und auf seiner Tartsche, welche er sehr groß fertigen ließ, auf daß sein hoffärtiger Wahlspruch besser ins Auge fiele. Und auf seinem Gewaffen, Kleidern und allem, wo er ihn anbringen konnte.

 

XII. Wie Herr Halewyn wider einen Ritter von Engelland turnierte

Nun geschah es zu jener Zeit, daß der Graf von Flandern ein Turnier öffentlich ausrufen ließ. Und lud alle seine Ritter und Barone zum Lanzenstechen nach Gent.

Er ging hin und ließ seine Tartsche dort aufstellen. Da aber die Ritter und Barone diesen hoffärtigen Wahlspruch und den Umfang der Tartsche wahrnahmen, dünkten sie sich über die Maßen beleidigt.

Und ein jeder von ihnen kämpfte wider ihn und ward besiegt.

Es war aber allda ein stolzer Ritter aus Engelland, der ritt mitten in die Schranken, wo Herr Halewyn aufrecht und hoffärtig stund.

»Wohlan,« sprach er, »Herr Unbesiegbar, es gefällt mir übel. Dich da so grimmig postieret zu sehen und daß Du uns allesamt bezwingest. Willst Du wider mich kämpfen?«

»Ja«, sprach der Ritter.

»So ich Dir obsiege, sollst Du mein Leibeigener sein, und ich werde Dich mit mir nach Cornwallis führen.«

»Ja«, sprach der Ritter.

»Und ich werde Dich heißen, meinen Pferden die Hufe einfetten und den Stall ausmisten. Mögest Du bei dieser Arbeit unüberwindlich sein.«

»Ja«, sprach der Ritter.

»Und so Du nicht unüberwindlich bist, wird der unüberwindliche Knüttel Dich in unüberwindlicher Art durchbläuen.«

»Ja«, sprach der Ritter.

»Aber so Du mich besiegest, ist dieses Dein Teil: zwanzighundert Besamtaler, welche in der Pallas Deines Herrn, des edlen Grafen von Flandern liegen, der ganze Panzer meines Rosses von feinem Mascheneisen; sein schöner Sattel aus Kernholz vom Speierlingsbaum, mit Leder wohl bezogen. Auf den Sattelbögen sind zehn wackere Ritter gemalt, so einander bekämpfen, und Unser Herr und Heiland, wie er den Teufel aus dem Leibe eines Hoffärtigen treibet. Dazu mein Helm aus feinem Schmiedeeisen und oben drauf ein stolzer Sperber aus übergüldetem Silber mit großen Flügeln. Selbiger nimmt es mit Deinem blutenden Herzen, Deiner schartigen Sichel und Deinem elendigen Raben auf, Deinem Wahlspruch zum Trotz. Wohlan, Herr Unüberwindlich, vermeinest Du unbesiegt die zwanzighundert Besamtaler, meinen Helm und meines Rosses Panzer zu gewinnen?«

»Ja«, sprach der Ritter.

Alsobald gab der Graf selbst das Zeichen, und sie rannten schier heftig wider einander. Und der Ritter von Engelland ward geworfen wie alle.

Da riefen alle Damen und klatschten: »Ruhm sei Siewert Halewyn, dem Tapferen, Siewert Halewyn, dem Flämen, Siewert Halewyn, dem Unüberwindlichen!«

Und da er zum Mahl in die Pallas des Grafen zurückkehrte, ward er von ihnen genugsam geküßt, geherzt und geliebkoset.

Und mit der Rüstung des Ritters von Engelland angetan, ritt er durch die Städte Brügge, Lille und Gent und raubte allerorten.

Und von jeglicher Fahrt brachte er gute Beute heim. Und fühlte sein Herz ohn Unterlaß von lebendiger Kraft schwellen und in seinem Busen pochen.

Alsdann kehrte er mit den zwanzighundert Besamtalern und dem Gewaffen des Ritters von Engelland nach seiner Burg zurück.

Da er ins Horn stieß, kam seine Mutter ihm entgegen und da sie ihn so von Gold strotzen sah, war sie vor Freuden verzückt und rief:

»Er macht uns reich, wie er gesagt hat.«

»Ja«, sprach der Ritter.

Und sie fiel ihm zu Füßen und küßte sie.

Solches tat auch der jüngere Bruder und sprach: »Herr Bruder, Du ziehest uns aus der Armut, ich will Dir dienen.«

»Das sollst Du«, sprach der Ritter. Dann trat er in die Halle. »Ich will zur Nacht essen. Du, Weib, wirst mir die Speise bringen, und Du, Mann, den Trunk.«

Und am nächsten Tage und an allen anderen heischte er von Vater, Mutter, Bruder und Schwester, wenn er aß und trank, wechselweis Aufwartung wie von Leibdienern.

 

XIII. Vom verdorrten Herzen und der Dame Halewyn

Doch eines Morgens, da er in seiner Burg das Frühmahl aß, dieweil sein Vater und seine Schwester nach Brügge gegangen waren, kornfarbenes Scharlachtuch für Gewänder zu kaufen, und sein Bruder und seine Mutter ihm demütiglich dienten, ward er mit einem Mal über und über kalt, denn das Herz schlug nicht mehr. Und da er die Hand an die Brust legte, berührte er verdorrte Haut.

Alsbald fühlte er, wie sein Gesicht einfiel, seine Schultern herabsanken, sein Rücken sich krümmte und sein ganzer Leib zusammenschrumpfte.

Er blickte seine Mutter und seinen Bruder wechselweis an und sah sie hohnlachen und untereinander reden: »Siehe da, unser Herr kehrt in seine frühere häßliche Haut und in sein früheres häßliches Antlitz zurück.«

»Ha, edler Herr,« sprach der Bruder und kam ihm dreist nahe und redete gar frech, »soll ich Euch mit diesem Clauwaert aufwarten, um Euch zu beleben? Mich dünkt, Eure frühere Kraft verläßt Euch.«

»Willst du sie kosten?« sagte der Ritter und schlug ihn mit der Faust, aber er tat ihm nicht mehr Leids denn eine Fliege.

Da der jüngere Bruder solches ersah, ward er dreist und setzte sich neben seinen Bruder auf die Bank.

»Herr,« sprach er, »Ihr habet, deucht mir, der Blutwurst genug; jetzt ist's an mir zu essen.«

Und er nahm ihm die Wurst aus dem Napf.

»Herr Sohn,« sprach die Mutter, »Ihr solltet mir, die ich alt bin, mit Fug diesen alten Wein kredenzen, welchen Ihr für Euch allein behaltet.«

Und sie nahm ihm den Becher aus der Hand.

»Herr Bruder,« sprach der Jüngere, »Ihr habet, vermeine ich, zuviel an diesem Schöpsenviertel mit gezuckerten Kastanien; ich möchte es essen, nichts für ungut.«

Und er setzte das Schöpsenviertel vor sich hin.

»Herr Sohn,« sprach die Mutter, »Ihr habt, vermeine ich, wenig Geschmack für dieses schöne Backwerk aus Gerste und Käse; gebet mir davon, so es Euch beliebt.«

Und der Ritter, ganz verblüfft, gab es ihr.

»Herr Bruder,« sprach der Jüngere, »es ist schon lange Zeit, daß Ihr da sitzet wie ein Kaiser. Würde es Euch nicht belieben, Eure Beine wieder gelenk zu machen, indem Ihr uns bedienet?«

Und der Ritter erhob sich und bedienete sie.

»Herr Sohn,« sprach die Mutter, »ich sehe Euch jetzund gelehrig. Würde es Euch belieben, mich um Vergebung zu bitten, daß Ihr mich so lange gezwungen habt, wie eine Leibmagd dazustehen und Euch zu trinken und zu essen zu geben, mich, Eure Mutter?«

Und der Ritter fiel ihr zu Füßen.

»Herr Bruder,« sprach der jüngere Bruder, »es beliebe Dir, auch mir zu Füßen zu fallen und sie zu küssen, sintemalen ich hier zuvor Knechtsdienste bei Dir verrichtet habe.«

»Ich will nicht«, sprach der Ritter.

»Du willst nicht?«

»Ich will nicht«, sprach der Ritter und wich einen Schritt zurück.

»Komm her«, sagte der Bruder.

»Ich will nicht«, antwortete der Ritter.

Da griff der Jüngere ihn an und warf ihn sonder Mühe zu Boden, hub an ihn zu prügeln, zu schlagen und mit dem güldenen Sporn sein Gesicht zu zerfleischen, und sprach dazu: »Räche dich, Siewert Halewyn, der Unüberwindliche. Keiner hat Macht über Dich denn ich allein. Du hast uns lange gleich Leibeigenen gehalten; jetzo halte ich Dich und zertrete Dich wie Käse unter dem Fuß. Warum machst Du keine Bocksprünge oder entfleuchst wie ein Vogel, Siewert der Gefeite?« Und beim Schlagen geriet er noch mehr in Wut, zog sein Messer und sagte: »Ich zerstückle Dich, so Du nicht um Gnade schreist.«

»Ich will nicht«, sagte der Ritter.

Aber da die Mutter dies hörte, nahm sie aus dem Feuer flugs eine Handvoll glühender Asche, ohngeachtet der Hitze, warf sie dem Jüngeren in Augen und Mund und sagte: »Du sollst meinen Ältesten nicht töten, du böser Jüngster!«

Und derweil er vor Schmerz heulte und von der Asche geblendet war, nahm ihm die Edelfrau das Messer fort. Und er drehte sich immerfort um sich selbst und spannte die Arme, suchend, wen er schlüge. Da warf ihn die Edelfrau zu Boden, schloß ihn in das Gemach ein und ging hinaus, ihren Ältesten hinterdrein ziehend. Darauf, ob sie gleich durch das Alter geschwächt war, trug sie Halewyn auf ihren Schultern in den Turm, gleichwie der Hirt mit den Schafen tut (denn er war ganz von Sinnen). Da pflegte sie sein und verband sein Gesicht und seine Brust, welche zerrissen und blutend waren, und bei sinkender Nacht verließ sie ihn.

 

XIV. Von der großen Schwäche des Ritters Halewyn und von den Tagen und Nächten, so er im Walde verbrachte

Da der Arge allein und ein wenig erquickt war, erhob er sich und war gar guter Dinge, als er die Sichel an seinem Gurt fühlte. Er öffnete die Türe und horchte, ob er nichts vernähme und ob sein Bruder nicht da wäre. Und da die Nacht schwarz war, rutschte er auf seinem Gesäß die Stiege hinunter. Denn er war dermaßen kreuzlahm von Schlägen und Stößen, daß er sich nicht aufrecht halten konnte; und solchermaßen gelangte er bis an die Zugbrücke, welche noch nicht aufgezogen war, und schritt hinüber.

Und gar mühselig schleppte er sich in den Wald.

Aber derweil er zu schwach war, vermochte er nicht bis zu den Hütten zu gehen, welche gut zwei Meilen weiter gen Norden lagen.

Da legte er sich auf das Laub und sang.

Aber keine Jungfrau kam, denn das Lied konnte nicht so weit dringen.

Und also verging der erste Tag.

Da die Nacht hereinbrach, fiel ein kalter Regen, danach ihn das Fieber packte. Dessen ohngeachtet wollte er nicht in seine Burg zurückkehren, aus Furcht vor seinem Bruder. Zitternd und mit klappernden Zähnen schleppte er sich gen Norden und erblickte auf einer Waldblöße ein schönes Mägdlein mir roten Wangen, frisch, artig, geputzt. Er sang, aber das Mägdlein kam nicht.

Und also verging der zweite Tag.

In der Nacht fiel abermals Regen, und er vermochte sich nicht zu rühren, also erstarrt war er. Er sang, aber keine Jungfrau kam. In der Morgenfrühe, da der Regen nicht nachließ und er auf dem Laube lag, kam ein Wolf herzu und beschnüffelte ihn, vermeinend, daß er tot sei. Aber da der Ritter ihn erblickte, schrie er gar erschröcklich, und der Wolf lief entsetzt von dannen. Da überfiel ihn der Hunger, aber er fand nichts zu essen. Um die Vesper sang er wiederum, aber keine Jungfrau kam.

Und also verging der dritte Tag.

Um Mitternacht hellte sich der Himmel, und es ging ein warmer Wind. Und ob er gleich über die Maßen an Hunger, Durst und Mattigkeit litt, wagte er doch nicht zu schlafen. Am Morgen des vierten Tages erspähte er ein Mägdlein, so ihn eine Bürgerstochter dünkte und auf ihn zukam. Da sie ihn erblickte, wollte sie entweichen, aber er schrie gar laut: »Zu Hilfe, ich bin vor Hunger und Fieber halbtot!« Da kam die Dirne näher und sprach: »Mich hungert auch.«

»Bist du Jungfrau?« fragte er. »Ach,« sagte sie, »ich mußte von Brügge entweichen, denn der geistliche Herr will mich verbrennen, weil ich am Halse ein braunes Mal, groß wie eine Erbse, habe. Das kommt daher, sagt er, daß ich mit dem Teufel fleischlichen Umgang gehabt habe. Aber ich sah den Teufel nimmer und weiß nicht, wie er ist.«

Er hörte nicht zu und forschte abermals, ob sie Jungfrau wäre, und da sie stumm blieb, sang er sein Lied.

Aber sie regte sich nicht und sagte nur: »Ihr habt eine gar liebliche und starke Stimme für einen Mann im Fieber, an dem der Hunger nagt.«

Er sprach zu ihr: »Ich bin der Ritter Siewert Halewyn. Mach dich auf nach meiner Burg und frage nach der Herrin, meiner Mutter, und ohne mit irgend wem, wer es auch sei, zu reden, sage ihr, daß ihr leiblicher Sohn im Walde Hunger, Fieber und Ermüdung duldet und in Bälde den Geist aufgeben wird, so ihm nicht Hilfe kommt.«

Das Mägdlein machte sich auf, aber da sie aus dem Holze trat, sah sie auf dem Galgenfelde den gehenkten Leichnam der Jungfrau und lief vor Furcht weit fort. Da sie auf das Gebiet des Ritters von Heurne kam, bat sie in einer Hütte um Speise und Trank. Und erzählte da, wie sie den Ritter Halewyn dem Hungertode nahe gefunden habe. Aber ihr ward zur Antwort, daß besagter Ritter böser und grausamer sei denn der Teufel, und daß man ihn um deswillen von Wölfen und anderm wilden Getier müsse fressen lassen.

Und der Arge blieb in großer Sehnsucht und Angst liegen. Und also verging der vierte Tag.

Doch da er beim Anbruch des fünften das Mägdlein nicht zurückkommen sah, gedachte er, sie wäre vom Priester ergriffen und nach Brügge zurückgebracht worden, um allda verbrannt zu werden.

Und er war gar elend und kalt und sagte sich: »Ich werde bald sterben«, und verfluchte den Fürsten der Steine.

Dessenohngeachtet sang er um die Vesperzeit.

Er war dermalen am Rande der Straße.

Und er sah ein Mägdlein auf sich zukommen, welches vor ihm auf die Knie fiel.

Da tat er ihr, gleichwie er den andern getan hatte, und stund auf voll frischer Kraft, Tapferkeit und Schönheit. Ihr Herz auf das seine gelegt, machte er sich auf nach dem Galgenacker, trug den Leichnam dahin und hängte ihn neben die erste Jungfrau.

 

XV. Wie der Arge fünfzehn Jungfrauen aufs Galgenfeld henkte und grausame Beilager und gottlose Schwelgereien hielt

Der Ritter Halewyn bekam gewaltige Kraft und ward gefürchtet und tötete fünfzehn Jungfrauen, welche er allesamt auf dem Galgenfelde aufhenkte.

Und er führte ein lustig Leben, aß, zechte und feierte ohn Unterlaß.

Eine jegliche Dame, welche zur Zeit seiner Schwäche und Häßlichkeit sein gespottet, kam in seine Burg. Wenn er sie aber gebraucht hatte, so trieb er sie von hinnen gleichwie eine Hündin und rächte sich also gar abscheulich.

Und von Lille, Gent und Brügge kamen die schönsten Buhldirnen zu ihm, so ihr Abzeichen am Arme trugen, und dienten zu seinem und seiner Freunde Ergötzen. Unter denen waren die schlimmsten Diederich Paternoster, so benannt, weil er gern Kirchen heimsuchte. Stellin der Wolf, welcher in Schlachten nur die Gefallenen angriff, gleichwie Wölfe tun, und Balduin ohne Ohren, welcher, wenn er Gericht hielt, immer schrie: »Zu Tode, zu Tode!« und keine Verteidigung hören wollte.

In Gemeinschaft mit den schönen Freudendirnen hielten besagte Herren unablässig Gelage und Schmausereien und raubten den armen Bauersleuten schier alles, Getreide, Käse, Hennen, Hähne, Ochsen, Kälber und Schweine.

Wenn sie aber über Genüge gefressen hatten, warfen sie ihren Hunden die guten Fleischstücke und leckeren Kuchen vor.

Gaben den Sperbern, Falken und Lanettfalken die Hennen, Hähne und Tauben, auf daß sie sie erwürgten und in Stücke rissen, und die Füße ihrer Pferde ließen sie mit Wein schwemmen.

Oftmals bis gegen Mitternacht, ja, bis zum Hahnenschrei, schlugen Trommeln, pfiffen Schalmeien, sangen Baßgeigen, bliesen Trompeten, brummten Dudelsäcke zu ihrer Erlustierung.

 

XVI. Wie die Bürger der guten Stadt Gent den Jungfrauen auf Halewyns Gebiet Schutz gewährten

Indessen war in den Hütten der Hörigen Weinen, Hunger und großes Elend. Und die fünfzehnte Jungfrau ward auf Halewyns Gebiet ergriffen.

Die Mütter baten Gott, sie unfruchtbar zu machen oder zu geben, daß sie nur männliche Kinder hervorbrächten. Und die Väter murrten und unterredeten sich leise: »Ist's nicht ein Jammer, diese lieblichen, lichten Jugendblüten in Tod und Schande vergehen zu sehen?«

Und etliche sagten: »Lasset uns bei der Nacht in die gute Stadt Gent gehen, mitsamt all unsern jungfräulichen Töchtern, und allda die Sache den Bürgern vortragen und ihren gesegneten Schutz auf sie herabflehen. Und so wir dazu Erlaubnis erhalten, lassen wir sie in besagter Stadt. Und so werden sie nicht von unserm Herrn getötet.«

Jeglicher Bürger, dem dieses Fürhaben kund ward, erachtete es für gut, und wer eine jungfräuliche Tochter hatte, der machte sich auf nach Gent, erzählte der Gemeine das Geschehnis, und die guten Männer gewährten ihnen Schutz. Und sie ernährten besagte Mägdlein in ihrer Stadt. Also kehrten die Hörigen geruhiger nach dem Sitze des Argen zurück.

 

XVII. Was Ritter Halewyn an der Grenze seines Gutes tat

Es kam indessen ein rauher Winter, grimme Kälte und wütender Sturm.

Und das Herz der fünfzehnten Jungfrau schlug nicht mehr so stark auf Ritter Halewyns Brust.

Und er sang, aber keine kam; darob ward er gar traurig und zornig.

Aber er bedachte, daß in der Burg des Herrn von Heurne zwei Mägdlein seien, so im ganzen Lande für Jungfrauen angesehen wurden, und daß besagte Burg von seiner Herrschaft nicht mehr denn den fünften Teil einer Meile fern sei, und daß also die zwei Mägdlein ihn hören könnten und zu ihm kommen würden.

In jeder Nacht stellte er sich an der Grenze seines Gutes auf und sang nach besagter Burg hin, ohngeachtet der grimmen Kälte und des Schnees, der reichlich zu fallen anhub.

 

XVIII. Von den Fräulein Magtelt und Anne-Marie und Schimmel, dem wackern Schecken

Derweil der Arge umherstreifte, saßen Ritter Roel von Heurne und Dame Gonde, sein Gemahl, geruhig auf ihren Truhen vor einem guten Feuer von Eichenholz, waren wohlgekleidet und hatten Rauchwerk an ihren Gewändern, so dem Leibe große Wärme gibt. Sie plauderten mitsammen, wie alte Leute zu tun pflegen.

Aber Dame Gonde redete am meisten, dieweil sie ein Weib war.

Und sie sagte:

»Mein alter Mann, hörest du im Walde den Sturm heulen?«

»Ja«, entgegnete der Ritter Roel.

Und die Edelfrau sagte:

»Gott hat uns große Gunst erwiesen, da er uns bei so starker Kälte so schöne, wohlverwahrte Burg, so gute Kleidung und so helles Feuer gegeben hat.«

»Ja«. antwortete der Ritter.

»Aber er hat uns seine göttliche Huld noch weit mehr bewiesen, da er uns so gute und wackere Kinder gab.«

»Wahrlich«, sprach der Ritter.

»Denn«, sagte die Edelfrau, »niemand kann einen jungen Mann finden, welcher tapferer, wackerer, stolzer wäre und besser unsern Namen trüge als Toon, unser Sohn.«

»Ja«, sprach der Ritter, »er hat mich in der Schlacht vom Tode errettet.«

»Aber,« sprach die Edelfrau, »es ist ein Fehler bei ihm, daß er so mit Worten kargt, daß wir kaum den Klang seiner Stimme kennen. Und zu Recht hat man ihn den Schweiger zubenannt.«

»Besser ziemt dem Manne starkes Schwert denn gute Zunge.«

»Ich sehe Euch, Herr,« sprach die Dame, »in Gedanken versunken, denn Traurigkeit und Ernst sind zwei Lose des Alters. Aber ich weiß wohl ein Mägdlein, das Euch die Stirne glätten und Euch zum Lachen bringen würde.«

»Mag sein«, sagte der Ritter.

»Gewißlich,« sprach die Dame, »denn es komme nur Magtelt, unsere Tochter, in dieses Gemach, so werde ich sicherlich meinen Herrn und Gemahl fröhlich sehen.«

Da der Ritter dieses hörte, schüttelte er den Kopf und lächelte ein wenig.

»Ja, ja,« sagte die Edelfrau, »denn wenn Magtelt lacht, lacht auch mein alter Roel; wenn Magtelt singt, träumt mein alter Roel und wiegt den Kopf hin und her; und kommt sie hereingehüpft, so folgt er ihr mit den Augen und lacht bei jedem Schritt seines Herzblattes.«

»Fürwahr, Gonde«, sagte der Ritter.

»Ja, ja,« sagte die Dame, »denn wer ist hier Freude und Gesundheit? Nicht ich, die ich alt bin und meine Zähne stückweis verliere, noch auch du; wir sind beide altes Gerümpel, und der Schweiger ebensowenig, noch Anne-Marie, die Leibdienerin, die zwar sanft und gesunden Leibes, doch viel zu stille in ihrem Gebaren ist und nur lacht, wenn man sie zum Lachen bringt. Aber die uns ein glückliches Alter bereitet, die hier drinnen die Nachtigall ist, die allezeit läuft und fliegt, kommt und geht, hin und her springt, singt und klingt, fröhlich wie ein Glockenspiel in der Christnacht: das ist unser lieb Töchterlein.«

»So ist es«, sprach der Ritter.

»Ach,« sprach die Dame weiter, »was ist es ein schier großes Glück, solch Kind zu haben, wo wir alle beide schon immerdar kalte Füße haben. Denn ohne sie könnten wir die Zeit in Trübseligkeit verbringen, und die Kälte stiege von unsern alten Füßen zum Herzen und so kämen wir geschwinder unter die Erde.«

»Ja, Weib«, sprach der Ritter.

»Ach,« sagte die Dame, »jegliches andere Fräulein würde Minnedienst begehren, an des Grafen Hof gehen und da einen Gemahl nehmen. Aber die liebreizende Jungfrau denkt im geringsten nicht daran, sintemalen sie hier niemand liebt denn uns und die, so ihr ständig folget und gleich wie ihre Schwester ist, Anne-Marie, die Leibdienerin. Aber sie muß sie ein wenig zanken und ihr also zum Lachen verhelfen.«

»Wahrlich«, sagte der Ritter.

»Ja, ja,« sprach die Edelfrau, »und jedermann liebt und bewundert sie und hält sie in Ehren: Edelknaben, Knappen, Mannen, Leibdiener, Hörige und Bauern, so sehr ist sie voller Lachen und Fröhlichkeit, so geziemend und keusch ist ihr Gebaren. Selbst Schimmel, der schöne Renner, folgt ihr wie ein Hund. Ei, wenn er sie kommen sieht, wiehert er vor großer Freude, und sie allein bringt ihm Hafer und Gerste; von andern will er kein Hälmchen. Sie traktieret ihn wie einen Mann, und oftmals gab sie ihm schon eine große Kanne Clauwaert, welches er sehr gerne schlürfte. Sie hat ihn gelehrt, ihre Worte zu verstehen, aber sie darf nicht rauh zu ihm sein, ansonst scheint er zu weinen und blickt sie so traurig an, daß sie nicht widerstehen kann. Und wenn sie ihn ruft und sagt: ›Schöner Schimmel, braver Schimmel‹, und andere Schmeichelworte, und er solches hört, so erhebt er sich plötzlich, der hübsche Schecke, und kommt ganz nahe zu ihr, um sich besser schöntun zu lassen. Er duldet auf seinem Rücken niemand denn sie, und wenn er sie trägt, ist er stolzer als der Graf von Flandern an der Spitze seiner Barone und Ritter. Und so hat sie über einen jeden durch Fröhlichkeit, Güte und Sanftmut Gewalt.«

»Ja«, sprach der Ritter.

»Ach,« sprach die Dame, »möge doch der allgütige Gott unsern Herzenstrost bewahren, und mögen unsere alten Ohren allezeit diese junge Nachtigall singen hören.«

»Amen«, sprach der Ritter.

 

XIX. Wie Magtelt dem Ritter Roel das Lied vom Leuen und das Gedicht von den vier Hexen sang

Dieweil Ritter Roel und Dame Gonde sich also beredeten, war großer Schnee gefallen und hatte Magtelt und Anne-Marie über und über bedeckt. Denn sie kamen von Josses Weib zurück, welcher sie einen Adlerstein gebracht hatten, auf daß sie ihn sich an den linken Schenkel bände und also bei ihrem nahen Kindbett erleichtert würde.

Und die Mägdlein traten in die Halle zu Roel dem Tapferen und seinem guten Weibe.

Da Magtelt zu ihrem Vater kam, kniete sie nieder, ihn zu grüßen. Und der Ritter hob sie auf und küßte sie auf die Stirne. Aber Anne-Marie blieb demütiglich in einem Winkel, also wie es einer Magd ziemet.

Und es war erbaulich, die Mägdlein zu erschauen, wie sie völlig mir Schnee bedecket waren.

»Jesus Maria,« rief Dame Gonde, »sehet doch diese beiden Närrinnen, was haben sie gemacht, um ganz in Schnee gehüllt zu sein? Hurtig ans Feuer, Mägdlein, ans Feuer und trocknet euch.«

»Still, Weib,« sprach der Ritter, »du verweichlichst die Jugend; in meinen jungen Jahren ging ich unbekümmert durch Kälte, Schnee, Hagel, Donner und Sturm. So tue ich noch, wenn es vonnöten ist, und Magtelt soll das gleiche tun. Gnade Gottes! Nicht am Holzfeuer soll sich unsere Tochter erwärmen, sondern am Feuer der Natur, welches heiß in den Leibern von Alt-Roels Kindern brennt.«

Aber da Magtelt sahe, daß ihn der Zorn anwandelte, kniete sie zu seinen Füßen nieder und sprach:

»Herr Vater, uns ist im geringsten nicht kalt, sintemalen wir so viel gesprungen, getanzt und getollt und uns einander auf den Buckel geschlagen und gepufft haben, daß uns der Winter zum Lenz worden ist. Auch haben wir hübsche Lieder gesungen, und ich bitte Euch, verstattet mir, daß ich sie Euch vortrage.«

»Ich erlaube es, Töchterlein«, sprach der Ritter. Und Magtelt sang ihm das Lied von Roland von Heurne, dem Leuen, welcher vom heiligen Lande heimkehrte und ein herrlich Schwert mitbrachte. Auch das Lied von den vier Hexen, darin man Miauen von Katzen und Blöken eines Bockes hören kann, sowie das Geräusch, das er vorbringt, wenn er bei Regenwetter seinen Hintern aufmacht.

Und der Ritter vergaß seines heftigen Zornes.

Da Magtelt aufgehört hatte, befahl er das Nachtmahl aufzutragen und das Kreuz anzuzünden, welches flugs ein schönes Licht ausstrahlte, nämlich von den vier Lampen, so am Ende eines jeden Armes waren.

Und er hieß seine Tochter an seiner Seite niedersitzen. Anne-Marie setzte sich gleicherweise an den Tisch neben die Freifrau, welche sagte: »Nachbarschaft von Jugend wärmt das Alter.«

Und es ward ihnen an diesem Abend schönes, weißes Brot vorgesetzt, gesalzenes Ochsenfleisch, in der Esse bei schönem Rauch von Tannzapfen geräuchert, Wurst von Gent, welche, wie die Sage ging, von Balduin, dem Vielfraß, Bastard von Flandern, erfunden ward, Walfischzunge und alter Clauwaert.

Da sie das Mahl beendet und das Gebet gesprochen, gingen Magtelt und Anne-Marie in dem nämlichen Gemach schlafen, denn Magtelt liebte Anne-Marie gleich einer Schwester und wollte sie allzeit bei sich haben.

 

XX. Von der sechzehnten gehängten Jungfrau

Lachend, singend und Narretei treibend, entschlief Magtelt. Aber Anne-Marie fror ein wenig und konnte keinen Schlummer finden.

Und der Arge stellte sich auf die äußerste Grenze seines Gebietes. Da ertönte seine Stimme hell, sanft und wohlklingend.

Und Anne-Marie hörte sie, und ohne im geringsten daran zu denken, daß sie wenig bekleidet war, ging sie durch die Ausfallspforte aus der Burg.

Draußen traf sie der Schnee gleich Nadelstichen auf Gesicht, Brust und Schultern. Sie wollte sich wider diese grimme Kälte und diesen bösen Schnee schützen, aber sie vermochte es nicht, denn sie hatte sich zum Schlafen entkleidet. Und sie zog dem Liede nach und sie schritt mit ihren nackten Füßen über den Graben, des Wasser gefroren war. Und wollte auf den Rand klettern, welcher hoch und gar glatt war. Und sie fiel und schlug sich am Knie eine große Wunde.

Sie raffte sich auf und ging in den Wald, zerriß ihre nackten Füße an den Steinen, und an den Zweigen der Bäume ihren erstarrten Leib. Aber sie wandelte sonder Klage.

Als sie nun zu dem Argen kam, fiel sie vor ihm auf die Knie. Und er tat ihr, was er den andern getan.

Und Anne-Marie war die sechzehnte, so auf dem Galgenacker erhenket ward.

 

XXI. Wie Magtelt Anne-Marie allerorten suchte

Am folgenden Tag war Magtelt gleichwie jeglichen Morgen als erste wach und sprach ihr Gebet zum Herrn und zur heiligen Frau Magtelt, ihrer gnädigen Schutzpatronin.

Und nachdem sie gar inbrünstiglich für Ritter Roel, Frau Gonde, den Schweiger und das ganze Ingesinde und zuvor für Anne-Marie gebetet hatte, blickte sie nach deren Bett. Da sie die Vorhänge zur Hälfte geschlossen sah, vermeinte sie nicht anders, denn daß ihre Gesellin noch schliefe. Darum, so sprach sie, derweil sie ihr schönes Gewand anlegte und durch das Gemach ging oder sich im Spiegelglas beschaute:

»Holla, Anne-Marie, wach auf, wach auf, Anne-Marie! Wer lange schläft, kriegt spät Futter. Die Sperlinge sind schon wach und die Hennen haben schon gelegt. Wach auf, Anne-Marie, Schimmel wiehert im Stall, und die helle Sonne scheint auf den Schnee. Mein Herr Vater schmält das Hausgesinde, und meine Frau Mutter bittet dafür. Schmeckst du den leckeren Geruch von Bohnen und trefflichem Ochsenfleisch, mit Würze gesotten? Ich schmecke ihn, und habe großen Hunger darnach. Wach auf, Anne-Marie.« Aber länger vermochte das Mägdlein ihre Geduld nicht zu wahren und zog die Vorhänge vollends auf.

Da sie Anne-Marie nicht fand, sagte sie: »Ei, sehet doch die Schelmin! Ist sie ohne mich hinuntergegangen, und isset ohne mich Rindfleisch und Bohnen?«

Und hurtig sprang Magtelt die Stiegen hinunter und trat in die große Halle. Da sie den Ritter, ihren Vater erblickte, kniete sie nieder und bat um seinen Segen, und desgleichen tat sie bei Frau Gonde.

Aber die Edelfrau sagte zu ihr: »Wo ist Anne-Marie?«

»Weiß nicht,« antwortete Magtelt, »gewißlich hat sie uns zum besten und verbirgt sich in einem Winkel.«

»Solches ist nicht ihr Brauch«, sprach Ritter Roel. »Wenn einer ist, der hier im Hause die andern zum besten hat, so ist nicht sie es, sondern du, Töchterlein.«

»Herr Vater,« sprach Magtelt, »mit solcher Rede macht ihr mich bange.«

»Wohlan, so suche Anne-Marie«, sagte der Ritter. »Was uns angeht, Weib, so wollen wir essen. Unsere alten Magen können nicht so gut wie diese jungen auf ihre Nahrung warten.«

»Ach,« sprach die Edelfrau, »ich konnte nicht essen; geh, Magtelt, und bring uns Anne-Marie.«

Aber der Ritter füllte sich einen großen Napf voll trefflicher Bohnen und leckeren Ochsenfleisches und sagte unterm Essen, daß nichts den Weibern darin gleichkäme, daß sie so leichtlich den Verstand verlören, geängstet und verstört würden, und das um weniger denn nichts.

Dessen ohngeachtet war er ein wenig unruhig, blickte oftmals nach der Tür und sagte, das schalkhafte Mägdlein würde sich flugs zeigen.

Aber Magtelt war durch die ganze Burg gelaufen, kam zurück und sagte: »Ich habe Anne-Marie nicht gefunden.«

 

XXII. Wie Magtelt gar bitterlich weinte und von dem schönen Kleide des Fräuleins

Und Magtelt hatte großes Leid auf dem Herzen und weinete und rief mit Wehklagen: »Anne-Marie, wo bist du? Ich will dich wieder haben!« Und sie fiel vor dem Ritter Roel auf die Knie und sprach: »Gnädiger Herr Vater, gefällt es Euch, Gewappnete in guter Anzahl auszuschicken, auf daß sie Anne-Marie suchen?«

»Das will ich«, sprach er.

Die Reisigen machten sich auf, aber sie wagten nicht, auf das Gebiet Halewyns zu reiten, aus Furcht vor dem Zauber. Und bei der Heimkehr sagten sie: »Wir haben nichts von Anne-Marie gefunden.«

Und Magtelt legte sich aufs Bett und bat Gott den Allgütigen, ihr ihre sanfte Gesellin wiederzugeben.

Am zweiten Tage setzte sie sich an das Glasfenster und blickte ohne Rast noch Ruh in die Fluren und in den fallenden Schnee und spähte, ob Anne-Marie nicht käme. Aber Anne-Marie konnte nicht kommen.

Und am dritten Tage blutete ihr die Haut um die Augen vom vielen Weinen. Und da der Schnee nicht mehr fiel, wurde der Himmel klar, und die Sonne leuchtete droben und die Erde war gefroren.

Und alle Tage setzte sich die schmerzensreiche Magtelt an den nämlichen Platz, spähte in die Fluren hinaus, gedachte an Anne-Marie und redete kein Wort. Da der Ritter Roel sie so tief betrübt sah, sandte er nach Brügge, azurblauen Scharlach zu kaufen, auf daß sie sich daraus ein Gewand schnitte, und köstlich Gold von Cypern zur Borde und schöne güldene Knöpfe, gar zierlich geschmiedet.

Magtelt arbeitete emsig, derweil sie besagtes Kleid machte, aber sie wurde nicht ein wenig froh, wenn sie ihren schönen, zukünftigen Putz betrachtete.

Und so verging die Woche und Magtelt arbeitet alle Tage und redete kein Wort und sang nimmer und weinte viel.

Am fünften Tage, da das Gewand vollendet und mit köstlichem Golde von Zypern wohl umsäumet und mit schönen Knöpfen geschmückt war, hieß Frau Gonde sie es anlegen und zeigte ihr ihren prächtigen Putz in einem großen Spiegelglas. Aber Magtelt lachte nicht im geringsten, da sie sich so schön sah, denn sie gedachte an Anne-Marie.

Und die Edelfrau sahe, wie sie sich kränkte und stumm war; da weinte sie auch und sprach: »Seit unsere Magtelt nimmer singt, spüre ich des Winters und des Alters Frost um so mehr.«

Der Ritter klagte nicht, aber er war unwirsch und tiefsinnig und trank den lieben, langen Tag Clauwaert.

Und etliche Male geriet er in großen Zorn und befahl Magtelt zu singen und fröhlich zu sein.

Das Mägdlein aber sang dem alten Manne muntere Lieder, und alsbald ward er guter Dinge und Gonde desgleichen. Und so saßen sie mitsammen am Feuer und wiegten das Haupt.

Und sagten: »Die Nachtigall ist wieder kommen, und ihre Musik strömt Glut der Lenzessonne in unsere alten Knochen.« Und Magtelt, wenn sie gesungen hatte, ging und verbarg sich in einen Winkel und weinte um Anne-Marie.

 

XXIII. Von Toon dem Schweiger

Am achten Tage machte der Schweiger sich auf die Wolfsjagd. Und wie er das Tier verfolgte, kam er auf Halewyns Gut.

Um die Vesperzeit ging Frau Gonde aus der Halle, um in der Küche das Nachtmahl anzuordnen, und da sie die Tür auftat, sah sie Toon vorübergehen. Ihr däuchte, er wolle nicht eintreten, und trug das Haupt tief, gleich einem, der sich schämet.

Die Edelfrau ging auf ihn zu und sprach: »Mein Sohn, warum gehest du nicht hinein, deinem Vater, dem Ritter, guten Abend zu entbieten?«

Ohne Gegenrede trat der Schweiger in die Halle, murmelte kurze, zornige Worte zum Gruß und setzte sich in die dunkelste Ecke der Halle.

Und die Dame sprach zum Ritter: »Unser Sohn ist zornig, so glaube ich, maßen er sich fern von uns in den Schatten setzet, wider seine Gepflogenheit.«

Der Ritter sprach zum Schweiger: »Sohn, komm an das Licht, auf daß ich dein Antlitz sehe!«

Und da er gehorchte, sahen der Ritter, die Edelfrau und die schmerzensreiche Magtelt, daß er an Haupt und Hals blutete, die Augen senkte und nicht wagte, sie anzuschauen.

Die Dame schrie vor Schrecken, da sie das Blut gewahrte. Magtelt trat auf ihn zu und der Ritter sprach: »Wer hat meinem Sohne die Schmach angetan, so sein Gebaren bezeugt, wer ihm die Trübsal in die Seele und die Wunden am Körper gegeben?«

Der Schweiger antwortete und sprach: »Siewert Halewyn.«

»Warum«, sprach der Ritter, »war mein Sohn so vermessen, den Unüberwindlichen anzufallen?«

Der Schweiger gab zur Antwort: »Anne-Marie, auf dem Galgenacker Siewert Halewyns erhenket.«

»Wehe,« sprach der Ritter, »unsere arme Magd erhenket! Kummer und Schmach über uns!«

»Herre Gott,« sprach die Edelfrau, »du züchtigest uns hart!« Und sie weinte.

Aber Magtelt konnte nicht reden noch weinen, denn allzu groß war die Gewalt ihres Schmerzes. Sie blickte ihren Bruder starr an und ihr Antlitz ward hohl und bleich. Die Wunden ihrer Zähren bluteten an ihren Augen und ihr ganzer Leib erzitterte in heftigen Stößen.

Und der Schweiger war niedergesessen und weinte dumpf, gleich einem wunden Leuen.

»Ha,« sprach der Ritter und barg sein Gesicht, »sehet hier den ersten Mann aus dem Hause derer von Heurne, der weinet. Schmach über uns und keine Vergeltung, denn er hat Zauberkraft.«

Und der Schweiger stieß seine Finger in die Wunde seines Halses, also daß Blut ausströmte, aber er fühlte nichts von dem Schmerz.

»Toon,« sprach die Edelfrau, »besudle nicht also deine Wunde mit den Fingern, denn du wirst sie vergiften, mein Sohn.«

Aber der Schweiger schien sie nicht zu hören.

»Toon,« sprach die Dame, »tue es nicht, ich, deine Mutter, gebiete es. Laß mich all dies Blut abwaschen und diese schlimmen Wunden mit Balsam bedecken.«

Derweil sie geschäftig war, den Balsam zu bereiten und das Wasser in einem Wasserbecken zu erwärmen, ließ Toon nicht nach zu ächzen und zu schluchzen. Und voll Wut zerraufte er sich Haare und Bart.

Und Ritter Roel sagte, ihn ansehend: »Wenn der Mann weinet, so bedeutet es Blut und Schimpf, Schimpf ohne Rache. Halewyn besitzt Zauberkraft. Ha, Vermessener, tat es denn so not, in seine Burg zu gehen, dem Unüberwindlichen Trotz zu bieten?«

»Wehe, Herr,« sprach Frau Gonde, »seiet nicht so unwirsch zu dem Schweiger, denn er zeigte rechten Mut, da er Anne-Marie an dem Argen rächen wollte.«

»Wohl,« sprach der Ritter, »trefflicher Mut, so uns Schimpf ins Haus bringet.«

»Erzähle, Toon,« sprach die Dame, »erzähle deinem Vater, was sich begeben hat, ihm zu bezeugen, daß du sein würdiger Sohn blieben bist.«

»Ich befehle es«, sprach der Ritter.

»Herr Vater,« redete der Schweiger ächzend und mit stoßweisen Worten, »Anne-Marie erhenket, Siewert Halewyn bei dem Galgen. Er lachte. Ich rannte wider ihm und stieß meinen Spieß mit dem Zeichen des Kreuzes gegen seinen Bauch, den Zauber zu brechen; unüberwindlich. Er lachte und sprach: ›Ich werde Magtelt rauben.‹ Ich stieß nach ihm mit dem Messer, die Klinge drang nicht ein. Er lachte und sprach: ›Ich mag kein Kitzeln, hebe dich weg.‹ Ich ging nicht. Ich stieß mit Spieß und Messer zugleich, umsonst. Er lachte, und sagte abermals: ›Hebe dich weg.‹ Ich konnte nicht. Alsdann traf er mich mit der Spitze seines Spießes am Halse und an der Brust und schlug mich mit dem Schaft auf den Rücken wie einen Knecht. Er lachte. Die Sinne vergingen mir von den Schlägen. Und so geprügelt gleich einem Knechte, konnte ich ihm nicht widerstehen.«

Da der Ritter Toon reden gehört, war er minder ergrimmt, maßen er verstand, daß er nicht tollkühn gewesen. Auch zog er seinen großen Schmerz, sein bitteres Ächzen und seine tiefe Scham in Betracht.

Da nun Balsam und laues Wasser bereit waren, so verband Frau Gonde geschäftig die Wunden des Schweigers, sonderlich die am Halse, welche groß war.

Aber Magtelt weinte keinen Tropfen und bald ging sie schlafen, nicht ohne daß sie vom Ritter, ihrem Vater, und der Dame, ihrer Mutter, wäre gesegnet worden.

Zu dritt saßen sie lange Zeit mitsammen am Feuer, Vater, Mutter und Sohn, und waren ganz stumm, denn der Schweiger ächzte und konnte seine Niederlage nicht ertragen und die Edelfrau weinte und betete, und der Ritter verbarg sein Antlitz voller Scham und Trübsal.

 

XXIV. Wie Fräulein Magtelt guten Beschluß faßte

Ehe Magtelt sich zu Bett legte, betete sie leise. Und ihr Antlitz war hart und voller Zorn. Und da sie sich entkleidet hatte, legte sie sich zu Bette und zerwühlte etliche Male ihre Brust mit ihren Nägeln, als erstickte sie schier. Und ihr Atem war gleich dem Röcheln eines Sterbenden, denn sie war bitterlich traurig und betrübt. Aber sie weinte nicht.

Und sie hörte den starken Wind, den Vorboten des Schnees, über den Wald hinfahren und tosen, gleichwie Wasser, welches zur Zeit der großen Regengüsse steigt.

Und er warf dürres Laub und Zweiglein wider die Glasfenster, also daß sie anpochten wie Fingernägel von Abgeschiedenen. Und er heulte und pfiff gar jämmerlich im Kamin. Und die schmerzensreiche Jungfrau sah im Geiste Anne-Marie auf dem Galgenacker erhenket und ihren armen Leib von den Raben zerhackt, und sie gedachte der befleckten Ehre ihres tapferen Bruders und auch der fünfzehn armen Jungfrauen, welchen der Arge das Herz ausgerissen. Aber sie weinte nickt. Denn in ihrer Brust waren dörrender Schmerz, stechende Angst und bitterer Durst nach Rache. Und sie fragte unsere liebe Frau gar demütiglich, ob es ihr beliebe, den Argen noch lange die Jungfrauen im Lande Flandern töten zu lassen.

Da der Hahn krähte, stund sie aus ihrem Bett auf, und hell waren ihre Augen, stolz ihre Haltung und aufrecht ihr Haupt, und sie sprach: »Ich werde zu Halewyn gehen.« Und warf sich auf die Knie und bat den Allmächtigen, ihr Mut und Kraft zu verleihen, auf daß sie für Anne-Marie, den Schweiger und die fünfzehn Jungfrauen Rache nähme.

 

XXV. Von dem Schwert des Leuen

Bei Tagesanbruch ging sie zu Ritter Roel, welcher ob der Kälte noch im Bette lag.

Da er sie eintreten und vor ihm auf die Knie fallen sah, sprach er:

»Was begehrest du von mir, Herzenstrost?«

»Herr Vater,« sagte sie, »darf ich zu Halewyn gehen?«

Solches hörend, ward er schier erschrocken und erkannte, daß Magtelt, dieweil sie nicht von Anne-Marie lassen konnte, sie zu rächen begehrte. Und er sprach zu ihr voll Liebe und Zürnen:

»Nein, Tochter, nein, du nicht; wer dahin geht, kehrt nimmer wieder!«

Doch da er sie aus der Kammer gehen sah, glaubte er im geringsten nicht, daß sie ihm den Gehorsam versagen würde. Und Magtelt suchte Frau Gonde, welche in der Kapelle für Anne-Maries Seelenruhe betete. Und sie zupfte ihre Mutter am Kleide, um ihre Gegenwart kund zu tun.

Da die Dame ihr Haupt gewandt hatte, fiel Magtelt vor ihr auf die Knie und sprach:

»Mutter, darf ich zu Halewyn gehen?«

Aber die Edelfrau: »O nein, Tochter, nein, du nicht: wer dahin geht, kehrt nimmer wieder.«

Da sie solches sagte, öffnete sie die Arme und ließ den güldenen Apfel, den Handwärmer, fallen, also daß die ganze glühende Kohle auf den Estrich fiel. Dann hub sie an mit Seufzen, Weinen, Zittern und Zähneklappen. Sie umhalste ihre Tochter gar fest und wollte sie nicht gehen lassen. Aber sie glaubte im geringsten nicht, daß sie ihr den Gehorsam versagen würde.

Und Magtelt begab sich zu Toon. Selbiger war trotz seiner Wunden schon aus dem Bett aufgestanden, saß auf seiner Truhe und wärmte sich am Morgenfeuer.

»Bruder,« sprach sie, »darf ich zu Halewyn gehen?«

Solches sprechend stand sie gar kühnlich vor ihm.

Der Schweiger erhob das Haupt und sah sie gar strenge an, und harrte, daß sie ein Mehreres sagte.

»Bruder,« sprach sie, »Siewert Halewyn hat uns unsre sanftmütige Magd getötet, welche ich liebte; dasselbige hat er mit fünfzehn andern unglückseligen Jungfrauen getan, welche gar schimpflich auf dem Galgenacker hängen. Er ist dem Lande ein schlimmerer Verwüster denn Tod, Pestilenz und Krieg. In allen Hütten ist durch seine Schuld Weinen und groß Trauern. Bruder, ich will ihn töten.«

Aber der Schweiger blickte Magtelt an und sprach kein Wort.

»Bruder,« sagte sie, »du mußt es mir nicht weigern, denn mein Herz ziehet mich nach ihm hin. Erkennest du nicht genugsam, wie ich allhier traurig und betrübt bin, und wie ich vor Schmerz sterben werde, daß ich nicht tun kann, was ich muß. Aber wenn ich dorthin gehe, werde ich fröhlich und singend wie ehedem heimkehren.«

Aber der Schweiger sprach kein Wort.

»Ha,« sprach sie, »hast du Furcht um mich, der guten Ritter gedenkend, so ihn angriffen und schmählich von ihm besiegt wurden? Wahrlich, auch du, mein tapferer Bruder, welcher noch seine Male trägt! Wohl weiß ich, daß auf seiner Tartsche geschrieben stehet: ›Keiner bezwingt mich.‹ Aber was alle nicht vermochten, eine wird es können. Auf seine Kraft vertrauend, schreitet er prächtiger denn der Oliphant und stolzer denn der Leu und dünket sich unüberwindlich. Aber wenn das Wild sich sicher glaubt, hat der Jäger leichteres Spiel. Bruder, darf ich zu Halewyn gehen?«

Da Magtelt also gesprochen, siehe, da fiel mit einem Mal von der Wand, allwo es aufgehängt war, ein schönes Schwert, gar spitz und scharf und mit breiter Klinge am Stichblatt. Der Griff war von schönem Zedernholz vom Libanon, mit güldenen Kreuzlein wohl geschmücket; und in der Burg galt dieses Schwert für wundersam heilig und kräftig, maßen es Roland von Heurne, der Leu, aus dem Kreuzzug heimgebracht hatte. Und keiner wagte es zu tragen.

Dieses Schwert fiel zu Magtelts Füßen nieder.

»Bruder,« sprach Magtelt und bekreuzte sich, »das gute Schwert des Leuen ist mir zu Füßen gefallen. Darin erkenne ich Gott den Allmächtigen, der mir so seinen Willen zeiget. Du mußt ihm gehorchen, Bruder, und mich zu Halewyn lassen.«

Und der Schweiger bekreuzte sich gleichwie Magtelt und entgegnete:

»Es ist mir ganz eins, wohin du gehest, so du deine Ehre wahrest und deine Krone aufrecht trägest.«

»Bruder,« sprach sie, »habe Dank.« Und die edle Jungfrau zitterte gar heftig am ganzen Leibe. Und sie, die nicht einen Tropfen geweint hatte, da sie Anne-Maries Tod und den Flecken auf des Schweigers Ehre erfuhr, weinte jetzt Ströme von Tränen, welche ihren bittern Zorn schmolzen; und vor übermäßiger Freude in Schluchzen ausbrechend, sagte sie noch: »Bruder, Bruder, dies ist die Stunde Gottes! Ich schreite zur Rache!«

Und sie faßte das gute Schwert.

Da der Schweiger sie so tapfer sah, richtete er sich gerade auf und legte ihr die Hand auf die Schulter: »Geh«, sprach er.

Und sie machte sich auf.

 

XXVI. Von dem adeligen Aufputz des Fräuleins Magtelt

Sie ging in ihre Kammer und legte sich gar hurtig ihren schönsten Staat an.

Was zog die schöne Jungfrau über ihren Leib? Ein Hemde, feiner denn Seide.

Und womit bedeckte sie das feine Hemde?

Mit einem Kleid aus schönem blauen Scharlach von Flandern, darein das Wappen derer von Heurne wunderbarlich gewirket war; und die Säume am Hals und an den Füßen waren mit Gold von Zypern schön bestickt.

Womit gürtete die schöne Jungfrau ihren schlanken Leib?

Mit einem Gürtel von Löwenhaut, mit Gold überzogen.

Was hängte die schöne Jungfrau über ihre schönen Schultern? Ihren großen Keirle von karmesinrotem Scharlach, welcher mit zyprischem Golde umsäumt war; und er verhüllte sie ganz, denn es war ein weiter Mantel.

Was setzte die schöne Jungfrau auf ihr stolzes Haupt? Eine schöne Krone von güldenen Platten, darunter die Zöpfe von gelben Haaren, so lang wie sie selbst, herunterhingen.

Was hielt die schöne Jungfrau in ihrer kleinen Hand? Das heilige, gute Schwert, so aus dem Kreuzzug stammte.

Also gekleidet ging sie in den Stall und schmückte Schimmel, das gute Streitroß, mit seinem Sattel für hohe Feste. Das war ein schönes Pferdezeug von Leder, mit unterschiedlichen Farben bemalet und mit Gold gar künstlich gezieret.

Und sie machten sich selbander auf durch den Schnee, welcher dicht fiel.

 

XXVII. Wie Ritter Roel und Frau Gonde den Schweiger fragten und was er zur Antwort gab

Da nun Magtelt auf dem Wege zu Halewyn war und die erste Stunde schon vergangen, fragte Frau Gonde den Ritter Roel und sprach: »Herr, wisset Ihr nicht, wo unsere Tochter ist?«

Der Ritter sagte, er wüßte es nicht, und sprach zum Schweiger: »Sohn, weißt du nicht, wo deine Schwester ist?«

Der Schweiger antwortete geruhig: »Magtelt ist ein tapferes Mägdlein; Gort führet gut, wen er führet.«

»Herr,« sprach die Edelfrau, »macht Euch nicht die Mühe, ihn zu fragen; denn da er schon sprach, so ist seine Zunge erlahmt.«

Aber der Ritter sprach zu Toon: »Sohn, weißt du nicht, wo unsere Tochter ist?«

»Magtelt«, erwiderte er, »ist eine schöne Jungfrau, und aufrecht trägt sie ihre Krone.«

»Ha,« rief die Dame, »mir ist gar bange; wo ist sie denn?« Und die Dame ging und suchte in der ganzen Burg.

Aber sie kam wieder und sprach zum Ritter: »Sie ist nicht daheim, sie hat unser Gebot mißachtet und ist zu Halewyn gegangen.«

»Weib,« sprach der Ritter, »das kann nicht sein; in diesem Lande waren die Kinder allzeit ihren Eltern gehorsam.«

»Toon,« fragte die Dame, »wo ist sie? Toon, weißt du es nicht?«

»Der Arge«, antwortete er, »fürchtet die schöne Jungfrau; Gott führet gut, wen er führet.«

»Roel,« rief die Edelfrau, »er weiß, wo unsere Magtelt ist!«

»Sohn, antworte«, sprach der Ritter.

Der Schweiger antwortete:

»Das Schwert vom Kreuzzug ist von der Wand gefallen zu Füßen der Jungfrau. Alles gelingt dem, welchen Gott lenket.«

»Toon,« schrie die Dame, »wo ist Magtelt?«

»Die Jungfrau«, sagte er, »reitet ohne Furcht, sie geht dem gewappneten Manne entgegen; Gott führet gut, wen er führet.«

Die Dame jammerte und sprach:

»Ach, unsere Magtelt wird sterben. Jetzt ist sie schon kalt; süßer Jesus! Das Schwert vom Kreuzzug vermag nichts wider Siewert Halewyn.«

Der Schweiger gab zur Antwort:

»Er schreitet in seiner Kraft und dünket sich unüberwindlich; aber wenn das Wild sich sicher glaubet, hat der Jäger leichteres Spiel.«

»Du Böser,« weinte die Dame, »hast du das Vöglein zum Geier gehen lassen, die Jungfrau zum Feind der Jungfrauen?«

Der Schweiger entgegnete:

»Die, welche nicht erwartet wird, wird kommen. Gott führet gut, wen er führet.«

»Herr,« sprach die Frau zum Ritter, »Ihr höret es genugsam, sie ist zu Halewyn gangen, und dieser Böse da hat es ihr verstattet.«

Ritter Roel trat zu Toon.

»Sohn,« sprach er, »wir hatten allhier nur eine Freude, das war unsere Magtelt. Du hast deine Macht mißbraucht, da du ihr verstattet, dorthin zu gehen. So sie diesen Abend nicht zurückgekehrt ist, verfluche und verbanne ich dich. Möge Gott mich alsdann erhören und dir in dieser Welt Salz und Brot und in jener deinen Platz im Paradiese nehmen.«

»Gott«, sagte der Schweiger, »wird das Schwert lenken. Möge dem, der Böses getan, Strafe werden.«

Gonde begann zu schreien, zu weinen und zu jammern. Roel befahl ihr zu schweigen und entsandte eine gute Schar Gewappneter gegen Halewyn.

Aber sie kehrten zurück, ohne Magtelt zu sehen, denn sie hatten nicht gewagt, auf Halewyns Gebiet zu reiten, aus Furcht vor dem Zauber.

 

XXVIII. Von Fräulein Magtelts Ausritt

Das edle Fräulein reitet und singt und bläst das Horn. Und sie ist schön von himmlischer Schöne, und ihr Antlitz ist rosig und frisch. Und aufrecht trägt sie ihre Krone. Und ihre kleine Hand hält unter ihrem Keirle das gute Schwert Rolands des Leuen mit festem Griff. Und ihre unerschrockenen Augen, so nach Herrn Halewyn im Walde spähen, sind weit offen.

Und sie lauschet, ob sie nicht die Tritte seines Rosses hört. Aber sie hört nichts in der dumpfen Stille, es sei denn den ruhigen Fall der Schneeflocken, welche sanft wie Federn fallen. Und sie sieht nichts, es sei denn die Luft, ganz weiß von Schnee, und weiß auch den sehr langen Weg, und weiß auch die blätterkahlen Bäume.

Was macht ihre hellbraunen Augen also flammen? Das ist ihr schöner Mut.

Warum trägt sie ihr Haupt und ihre Krone so gerade? Weil ihr Herz so große Kraft hat.

Was hebt ihr also die Brust? Der harte Gedanke an Anne-Marie, an den geschlagenen Schweiger und die großen Missetaten des Herrn Halewyn.

Und unablässig spähet sie, ob sie ihn nicht kommen sehe, und ob sie nicht das Stampfen seines Streitrosses höre.

Aber sie sieht nichts, denn allein die Luft, ganz weiß von Schnee, und weiß auch den sehr langen Weg, und weiß auch die blätterkahlen Bäume.

Und sie hört nichts denn allein inmitten der dumpfen Stille den stillen Fall der Schneeflocken, welche sanft wie Federn fallen.

Und sie singt.

Dann redet sie zu Schimmel und sagt: »Wir zwei, guter Schimmel, gehen zu einem Leuen. Siehst du ihn nicht in seiner Höhle auf die warten, so vorübergehen, und die Jungfrauen verschlingen?«

Und da Schimmel sie hört, wiehert er freudig.

»Schimmel,« sagt Magtelt, »du bist, das sehe ich, guter Dinge, dieweil du mit diesem guten Schwerte auf Rache für Anne-Marie ausziehst.«

Und Schimmel wiehert abermals.

Und Magtelt sucht den Ritter Halewyn durch den Wald. Und sie lauscht, ob sie nicht den Hufschlag seines Streitrosses höre, und späht, ob sie ihn nicht kommen sehe.

Aber sie sieht nichts, denn die Luft, ganz weiß von Schnee, und weiß auch den sehr langen Weg, und weiß auch die blätterkahlen Bäume.

Und sie hört nichts in der dumpfen Stille, denn allein den Fall der Schneeflocken, welche sanft wie Federn fallen.

Und sie stößt ins Horn.

 

XXIX. Vom Raben und Sperling, dem Hunde, dem Pferd und den sieben Echos

Da sie mitten im Walde war, sah sie in dem wirbelnden Schnee Ritter Halewyn auf sich zukommen.

Der Arge trug an diesem Tage ein schönes Gewand von blauem Scharlach, darauf war in Feldern sein häßliches Wappen gestickt. Um den Leib trug er einen schönen Gurt, mit güldenen Platten beschlagen, und an dem Gurt die güldene Sichel, und über dem Gewand ein schönes Oberkleid von weizenfarbenem Scharlach.

Er ritt auf einem Rotfuchs und kam auf Magtelt zu, und sie sahe, daß er schön war.

Vor dem Pferd trabte mit Gebell und großem Lärm ein Hund, ganz wie ein Wolf, und da er Schimmel erblickte, lief er auf ihn zu und biß ihn. Aber Schimmel gab ihm mit dem Huf einen herzhaften Schlag, also daß er mit seinem gebrochenen Bein einen traurigen Tanz tanzte und ein jämmerlich Lied sang.

»Ach,« dachte die edle Jungfrau, »möge Gott geben, wackerer Schimmel, daß ich es dem Herrn noch besser heimzahle, denn du dem Hunde.«

Und der Arge nahete ihr und sprach:

»Sei gegrüßet, schöne Jungfrau mit den hellbraunen Augen.«

»Sei gegrüßet,« sprach sie, »Siewert Halewyn, der Unüberwindliche.«

Da fragte der Arge: »Was führet dich auf mein Gebiet?«

»Mein Herz,« sprach Magtelt, »so mich zu dir ziehet. Ich wollte dich sehen und bin froh, daß ich dich von Angesicht erschauen kann.«

»So haben alle Jungfrauen getan und werden es tun, auch die schönsten, deren du eine bist«, antwortete er.

Dieweil sie redeten, lief der verwundete Hund gar geschwind neben dem Pferd und hängte sich an des Argen Oberkleid, gleich als wollte er ihn herunterreißen. Danach setzte er sich in den Schnee an den Wegrain, erhob den Kopf und heulte gar jämmerlich.

»Siehe,« sprach er, »mein Hund, welcher den Tod verbellt. Ist dir nicht bange, Mägdlein?«

»Ich stehe in Gottes Hut«, sprach sie.

Da sie ein weniges geritten und geredet, sahen sie in der Luft über sich einen großen Raben fliegen, und auf seinem Halse saß ein wütender, kleiner Sperling, der hackte ihn mit dem Schnabel, stach ihn, riß ihm die Federn aus und piepte in männlicher Wut. Verwundet und zerrissen flog der Rabe hin und her, nach rechts und nach links, aufwärts und abwärts, stieß blindlings wider die Bäume und krächzte vor Angst. Dann fiel er tot und mit gebrochenen Augen auf den Sattel des Argen. Da der ihn betrachtet hatte, warf er ihn auf den Weg. Der Sperling aber war auf einen Baum geflogen, schüttelte sein Gefieder und piepte lustig aus voller Kehle, zum Zeichen des Sieges.

»Ha,« sagte Magtelt und lachte dem Sperling zu, »du bist aus edlem Geschlecht, du niedlich Vöglein; komm her, ich werde dir schönen Käfig geben und dich mit dem feinsten Weizen, Hirse und Hanfsamen mästen.«

Aber Halewyn geriet in großen Zorn: »Kleiner frecher Bauer,« sprach er, »daß ich dich nicht in der Schlinge habe! Du solltest nicht lange deinen Sieg über diesen edlen Raben auspfeifen.«

Derweil piepte der Sperling ohn Unterlaß und schien also Halewyns zu spotten, welcher zu Magtelt sagte:

»Wagst du dich zu freuen und diesen Elenden zu preisen, da dir bewußt ist, daß mein Wappen den Raben meines ruhmreichen Ahnen Dirk trägt? Weißt du nicht, daß du gleich ihm nicht lange mehr pfeifen wirst?«

»Ich«, sprach sie, »werde so lange pfeifen, als es Gott meinem Herrn gefällt.«

»Du hast«, sprach er, »keinen Herrn denn mich, ich bin hier der einzige.« Plötzlich schüttelte ihn starker Frost, denn Anne-Maries Herz, ob es auch noch schlug, war gleich wie Eis auf seiner Brust. Da glaubte er, daß dieses Herz bald verdorren werde, und sagte zu Magtelt: »Du kommst zur rechten Zeit, schöne Maid.«

»Die Gott führet, kommen immer zur rechten Zeit«, sagte sie.

»Aber,« sprach er, »wer bist du, die allein durch mein Gebiet reitet, singt und ins Horn stößt und allhier so dreist lärmet?«

»Ich bin«, entgegnete sie, »das Fräulein Magtelt, Tochter Roels des Tapferen, Ritters von Heurne.«

»Und du frierst nicht, wenn du also durch diesen dichten Schnee reitest?« sagte er.

»Im Geschlecht derer von Heurne fror es nie einen«, antwortete sie.

»Und«, sprach er, »du hast keine Furcht, so nahe bei mir und auf meinem Gebiet zu sein, wohin keiner den Fuß zu setzen wagt?«

»Im Geschlecht derer von Heurne hatte nie einer Furcht«, sagte sie.

»Du bist ein tapferes Fräulein.«

»Ich bin«, sagte sie, »Tochter Roels des Tapferen, Herrn von Heurne.«

Er erwiderte kein Wort, und sie ritten etliche Zeit, ohne zu sprechen.

Plötzlich erhob er hochmütig das Haupt und sprach: »Bin ich denn nicht der Unüberwindliche, der Starke, der Schöne? Werde ich es nicht allzeit sein? Ja, denn alles kommt meinem siegreichen Glück zu Hilfe. Ehedem mußte ich in Frost, Schnee und Wind in der Finsternis singen, um die Jungfrauen herbeizurufen, und jetzt ist die fürnehmste, edelste und schönste am hellen Tage gekommen, durch kein Lied gerufen: stolzes Zeugnis wachsender Macht. Wer ist meinesgleichen? Niemand als Gott. Er hat den Himmel, ich habe die Erde und Macht und Triumph über alles, was lebet. Mögen Heere, Blitze, Donner, Stürme mich überfallen, wer kann mich bezwingen?«

»Ich«, antworteten sieben Stimmen zugleich auf seine schändliche Lästerung.

Diese Stimmen waren das Echo der sieben Riesen, welche jedwedes Geräusch siebenfach mit großer Kraft und starkem Ton zurückgaben.

Aber der Arge sprach: »Höret Herrn Echo, der des Unbezwinglichen zu spotten wagt.«

Und er brach in Gelächter aus.

Aber das Echo brach gleich ihm in Lachen aus, und viel länger, stärker und schrecklicher.

Und Halewyn schien des Lärmes froh zu sein und fuhr fort zu lachen, und nach ihm die sieben Echos.

Und es deuchte Magtelt, daß im Walde wohl tausend Männer verborgen wären.

Dieweil hatte der Hund Angst gekriegt und heulte so jämmerlich, daß es Magtelt deuchte, es wären im Walde wohl tausend Hunde, die in Todesangst schrieen. Auch das Pferd des Argen hatte Angst gekriegt und scheute vor dem Gelächter seines Herrn, dem jämmerlichen Geheul und seinem eigenen Wiehern, welche zusammentönten. Es schlug aus, bäumte sich aufrecht wie ein Mensch und legte vor Angst die Ohren an. Ohne Zweifel hätte es Herrn Halewyn abgeworfen, hätte er es nicht sporniert und mit Gewalt an dem Ort der sieben Echos vorbeigebracht.

Aber groß Wunder! Schimmel hatte sich nicht gerührt, obwohl er ein junges Roß war, das leicht erschrak.

Da der Lärm aufgehört hatte, setzten sie ihren Ritt fort und ließen unterwegs noch manch Wörtlein fallen.

Und sie kamen mitsammen zum Galgenacker.

 

XXX. Wie Magtelt zum Galgenacker kam

Da sah Magtelt die sechzehn Jungfrauen erhenket, und unter ihnen Anne-Marie, und alle waren mit Schnee bedecket.

Des Argen Roß bäumte sich abermals, schlug aus und legte zum Zeichen der Angst die Ohren an; aber Schimmel wieherte und schlug mit dem Hufe stolz den Schnee.

Und Halewyn sprach zu Magtelt: »Du hast einen gar wenig getreuen Freund, welcher in der Stunde, da du sterben mußt, vor Freuden wiehert.«

Aber Magtelt erwiderte kein Wort, blickte die armen Jungfrauen an und bat Gott den Allmächtigen um Beistand bei ihrer Rache.

Derweil stieg der Schlimme von seinem Roß ab, griff zur güldenen Sichel und ging auf Magtelt los.

»Deine Todesstunde ist gekommen«, sprach er. »Steige darum gleich mir ab.«

Und voller Ungeduld wollte er sie vom Schimmel herabziehen.

Aber Magtelt sprach:

»Laß mich allein absteigen, und so ich sterben soll, wird es ohne Weinen sein.«

»Du bist eine schöne Maid«, sprach er.

Und da sie abgestiegen war, sprach sie: »Herr, ehe du schlägst, lege dein weizenfarbenes Oberkleid ab, denn der Jungfrauen Blut springt stark heraus, und es wäre mir leid, wenn meines dir Flecken machte.«

Aber noch ehe er sein Oberkleid abgelegt, lag sein Haupt zu ihren Füßen.

Und Magtelt betrachtete den Leichnam und sprach: »Er wandelte voll Dünkels und wähnte sich unüberwindlich; aber wenn das Wild sich sicher glaubt, hat der Jäger leichteres Spiel.«

Und sie bekreuzte sich.

 

XXXI. Von den sechzehn Toten und dem Fürsten der Steine

Plötzlich redete das Haupt und sprach: »Geh an das Ende des Weges dort unten und blase hell in mein Horn, auf daß meine Freunde dich hören.«

Aber Magtelt antwortete:

»Ans Ende des Weges gehe ich nicht, in dein Horn blase ich nicht; Rat des Mörders befolge ich nicht.«

»Ha,« sprach das Haupt, »so du nicht die Jungfrau ohn Erbarmen bist, vereine mich mit meinem Körper und salbe meine rote Wunde mit dem Herzen, welches auf meiner Brust ist.«

»Ich bin die Jungfrau ohn Erbarmen,« sprach Magtelt, »deinem Körper vereine ich dich nicht, noch salbe ich deine rote Wunde mit dem Herzen, so auf deiner Brust ist.«

»Jungfrau,« sprach das Haupt weinend und mit großem Entsetzen, »Jungfrau, geschwind, geschwind, mach das Zeichen des Kreuzes auf meinem Körper und bringe mich in meine Burg, denn er wird kommen.«

Als das Haupt so redete, siehe da trat aus dem Holze der Fürst der Steine, setzte sich auf den Leichnam des Argen, nahm das Haupt in seine Hände und sprach:

»Heil dem Ungestalt; bist du jetzo nicht guter Dinge? Wie ist dein siegreich Befinden, Herr Unbesiegbar? Die du nicht riefest, ist ohne Lied gekommen: die Jungfrau Ohnefurcht, in deren Händen Tod ist; aber du mußt abermals ein hübsches Liedlein singen, das Liedlein, das die Jungfrauen herbeiruft.«

»Ach,« sprach das Haupt, »zwinge mich nicht zu singen, Herr Fürst der Steine, denn ich weiß wohl, daß es mir jetzt harte Pein ist.«

»Singe,« sprach der Fürst der Steine, »singe, Memme, die nicht geweint hat beim bösen Tun und jetzo angesichts der Strafe weinet. Singe, Ungestalt.«

»Ach,« bat das Haupt, »erbarme dich, Herr.«

»Singe,« sprach der Fürst der Steine, »singe, denn dies ist die Stunde der Vergeltung.«

»Herr Fürst,« sagte das Haupt, »sei nicht so hart in meiner schlimmen Stunde.«

»Singe, Ungestalt, singe, dies ist die Stunde der Vergeltung«, sprach der Fürst der Steine.

»Ha,« sprach das Haupt weinend, »ich werde singen, dieweil du mein Herr bist.«

Und das Haupt sang das Zauberlied.

Und mit einem Male breitete sich in der Luft ein Wohlgeruch von Zimmet, Weihrauch und Majoran aus.

Und die sechzehn Jungfrauen, da sie das Lied hörten, stiegen vom Galgen herab und traten auf den Leichnam Halewyns zu.

Magtelt bekreuzte sich, da sie sie vorübergehen sah, aber sie hatte keine Furcht.

Und die erste Jungfrau, so des armen Irren, Klaas des Hundeprüglers Tochter war, nahm die güldene Sichel und schnitt in die Brust des Argen unter dem linken Busen und zog einen schönen, roten Rubin heraus. Da sie ihn auf ihre Wunde gelegt hatte, schmolz der Rubin und floß als ein schönes, rotes Blut in ihre Brust.

Und das Haupt stieß einen lauten Schrei aus, schier schmerzlich und kläglich.

»Also«, sprach der Fürst der Steine, »haben die armen Jungfrauen geschrien, da du sie schändlich vom Leben zum Tode brachtest; sechzehnmal hast du gemordet; sechzehnmal sollst du sterben, über den Tod hinaus, den du schon erlitten. Dein Schrei ist der Schmerz des Leibes, welchen die Seele verläßt. Sechzehnmal machtest du ihn ausstoßen, sechzehnmal sollst du ihn ausstoßen. Singe, Ungestalt, die Jungfrauen und die Vergeltung zu rufen.«

Und das Haupt sang das Zauberlied, derweil die erste Jungfrau geruhig dem Gehölze zuging, gleich einer lebendigen Kreatur.

Und die zweite Jungfrau kam zu des Argen Leichnam und tat wie die erste.

Und das Haupt schrie abermals in Todesnöten.

Und auch bei ihr wandelte sich der Rubin in schönes Blut.

Und sie ging gleicherweise nach dem Gehölz und wandelte gleich einer lebendigen Kreatur.

Also taten die sechzehn Jungfrauen, und bei allen wandelte sich der Rubin in ein schönes Blut.

Und sechzehnmal sang das Haupt den Zaubergesang und sechzehnmal schrie es in Todespein.

Und eine nach der andern ging jegliche Jungfrau in die Tiefe des Waldes.

Und die letzte, welches Anne-Marie war, trat zu Magtelt, küßte ihr die rechte Hand, welche das Schwert gehalten, und sprach: »Gesegnet seist du, die sonder Furcht kam, uns vom Zauber zu erlösen, und die uns ins Paradies führet.«

»Ach,« sprach Magtelt, »mußt du soweit fortgehen, Anne-Marie?«

Aber Anne-Marie schritt, ohne sie zu hören, gleich den anderen Jungfrauen in die Waldestiefe und wandelte geruhig im Schnee gleich einer lebendigen Kreatur.

Dieweil das Haupt weinte und wehklagte, trat aus dem Walde das Mägdlein von neun Jahren, welches zuerst von dem Argen war getötet worden. Sie trug noch ihr Leichentuch und fiel vor dem Männlein, dem Fürsten der Steine, auf die Knie.

»Ach,« sagte sie und küßte das Haupt gar zärtlich, streichelte und liebkoste es und trocknete seine Zähren, »armer Böser, ich will Gott den Allgütigen, der die Kindlein erhöret, für dich bitten.«

Und das Mägdlein betete also:

»Herr, siehe, wie grausam er verwundet ist. Ist es deiner Rache nicht genug, daß er sechzehnmal gestorben ist? Ach Herr, süßer Heiland, und du, heilige Frau Maria, die du lauter Güte bist, erhöret mich und vergebet ihm.«

Aber das Männlein richtete sich unversehens auf, stieß das Dirnlein zurück und sagte gar unwirsch zu ihm: »Dieses Haupt ist mein, es fragt nichts nach deinen Gebeten; gehe drum, kleine Bauerdirne, pack deine Lumpen und laufe, von wannen du kamest.«

Und das Mägdlein ging wie die anderen Jungfrauen von hinnen in die Tiefe des Waldes.

Da tat er die Hand in die Brust des Argen und zog ein steinern Herz herfür. Dann sagte er mit einer Stimme, so wie Wipern zischte und wie tausend Kieselsteine unter dem eisenbeschlagenen Schuh des Söldners rasselte: »Herz des Ehrsüchtigen, steinern Herz, zu deinen Lebzeiten warst du feige und darum grausam; du ließest dir nicht genügen an den Gütern, die Gott in seiner himmlischen Güte dir reichlich verliehen hatte. Du begehrtest nicht Güte, Mut noch Gerechtigkeit, sondern Gold, Macht und eitle Ehren; du liebtest nichts, nicht Vater noch Mutter, noch Bruder noch Schwester, und also hast du, um zu größerer Macht und höherer Herrschaft zu gelangen, sonder Scham alle aus dem Lande Flandern getötet. Sodann warest du beflissen, die Schwachen zu morden. Du sogest dein Leben aus ihrem Leben und dein Blut aus ihrem Blute. So tat und wird allezeit tun das scheußliche Gewürm schändlicher Ehrsüchtiger. Gelobt sei Gott, welcher durch die Hand dieser schwachen und liebreizenden Jungfrau dir den Hals vom Rumpfe getrennt und dich aus der Welt geschafft hat.«

So sprechend, hatte er das Herz in den Schnee geworfen und trat mit großer Verachtung darauf, stieß es mit dem Zuge fort wie ein gemeines Ding und sprach unter grimmem Lachen mit seiner knarrenden Stimme:

»Stein bist du. Stein wirst du bleiben durch tausend Jahre, aber lebendiger Stein, leidender Stein. Und wenn Menschen kommen werden, dich zu zersägen, zu zwicken, zu Staub zu zermahlen, so wirst du das alles erdulden, ohne klagen zu können. Herz des Ehrsüchtigen, steinern Herz, leide und dulde, Vetter.

»Du hast dem armen Volk sein Brot genommen, darum wirst du tausend Jahre hungern; du hast es frieren lassen, darum sollst du auch frieren. Herz des Ehrsüchtigen, steinern Herz, leide und dulde, Vetter.

»Du wirst der Stein des Herdes sein und brennen; Stein der Straße, und man wird auf dir wandeln; Grundstein der Kirche, und du wirst die ganze Wucht des Baues tragen. Und du sollst jegliches Übel, Marter und Ängste erleiden. Herz des Ehrsüchtigen, steinern Herz, leide und dulde, Vetter.«

Da er solches gesprochen, stieß der Fürst der Steine des Argen Herz mit dem Fuße vor sich her und verschwand im Walde.

Da schaute Magtelt das Haupt an und sahe, daß es die Augen weil offen hatte. Sie nahm es auf, wusch es mit Schnee und trug es, auf Schimmel reitend, von dannen. Pferd und Hund aber ließ sie bei dem Leichnam des Argen; und der Hund heulte leise und das Roß blickte ihn schmerzverstört an.

Da sie das Haupt ergriff, hatte der Hund geknurrt, aber nicht zu beißen gewagt. Und dieweil sie von dannen ging, blieben Hund und Pferd bei dem Leichnam, gar traurig, betrübt und mit Schnee bedeckt, welcher nicht aufhörte zu fallen. Und sie schienen den Herrn zu bewachen.

 

XXXII. Wie Vater, Mutter und Bruder ihren Sohn und Bruder suchten und ihn nicht fanden

Singend und blasend reitet das Edelfräulein. Und ihr Herz ist freudenvoll, denn es gedenket an Anne-Marie, an die fünfzehn Jungfrauen und an den Schweiger, die alle gerächt sind. Und ihre Hand hält unter dem Mantel das gute Schwert und das Haupt des Argen. Und Schimmel trabt hurtig, denn er hat Eile, in den Stall zu kommen.

Da Magtelt halbwegs war, sahe sie im Schneegestöber einen alten Mann auf einem Rappen auf sich zukommen.

Und der alte Mann sagte:

»Schöne Jungfrau, die so schnell reitet, hast du nicht meinen Sohn Halewyn gesehen?«

Aber Magtelt sprach:

»Ich ließ deinen Sohn Halewyn in gutem Stand, wie er sich im Schnee mit sechzehn Jungfrauen erlustigte.«

Der alte Mann ritt von dannen.

Und da sie noch weiter geritten war, sahe sie im Schneegestöber ein junges und munteres Edelfräulein auf weißem Zelter auf sich zukommen.

Und das Fräulein sagte:

»Schöne Jungfrau, die so schnell reitet, hast du nicht meinen Bruder Halewyn gesehen?«

Aber Magtelt sprach:

»Reite weiter zum Galgenacker, allda wirft du deinen Bruder gleich den sechzehn Jungfrauen wohl aufgeputzt sehen.«

Und das Fräulein ritt von dannen.

Noch weiter auf dem Wege sahe Magtelt im Schneegestöber auf einem Rotfuchs einen jungen Mann mit hoffärtiger und harter Miene auf sich zukommen.

Und der junge Mann sprach:

»Schöne Jungfrau, die so schnell reitet, hast du nicht meinen Bruder Halewyn gesehen?«

Aber Magtelt sprach:

»Dein Bruder ist ein schöner Herr, so schön, daß um ihn sechzehn Jungfrauen Schildwach stehen und wollen ihn nicht lassen gehen.«

Und der junge Mann ritt von dannen.

Da sie noch weiter auf dem Wege kam, sahe sie im Schneegestöber eine alte Edelfrau auf sich zukommen, mit rotem Gesicht und offenbarlich kerngesund, ohngeachtet ihres hohen Alters.

Und die alte Edeldame fragte:

»Schöne Jungfrau, die so schnell reitet, hast du nicht meinen Sohn Halewyn gesehen?«

Aber Magtelt sprach:

»Dein Sohn Siewert Halewyn ist tot; siehe hier sein Haupt unter meinem Mantel und sein Blut, welches dunkel auf mein Gewand fließt.«

Und die alte Edeldame schrie:

»Hättest du dieses Wort zuvor gesagt, du wärest nicht so weit gekommen.«

Aber Magtelt sprach:

»Wohl dir, garstiges Weib, daß ich dir deinen Körper lasse und dich nicht steif mache, wie deinen Sohn.«

Und die alte Frau erschrak und entwich.

Und es ward Abend.

 

XXXIII. Von dem Fest in der Burg derer von Heurne und von dem Haupt, so auf die Tafel gesetzt ward

Da Schimmel hurtig getrabt war, so kam Magtelt vor ihres Vaters Burgtor und stieß allda ins Horn.

Josse von Ryhove, welcher am selbigen Abend die Wacht hatte, verwunderte sich, sie zu sehen. Dann rief er: »Gott sei gedankt, unser Fräulein ist heimgekehrt.«

Und das ganze Ingesinde eilte herbei und rief gleichermaßen mit großem Lärmen und schallender Stimme:

»Unser Fräulein ist heimgekehrt!«

Da Magtelt in die Halle trat, ging sie zu Ritter Roel und fiel vor ihm auf die Knie:

»Herr Vater,« sprach sie, »sehet hier das Haupt Siewert Halewyns.«

Der Ritter nahm das Haupt in die Hände und betrachtete es und ward dermaßen froh, daß er zum ersten Male weinte, seit er Augen hatte.

Und der Schweiger stund auf, ging zu Magtelt und küßte ihre rechte Hand, so das Schwert getragen, und weinte gleichermaßen und sprach: »Dank dir, die mir Rache bringt.«

Frau Gonde war wie ein trunkenes Weib und konnte sich nicht fassen, so gewaltig war ihre Freude. Endlich brach sie in Schluchzen aus, zerschmolz in Tränen und herzte und drückte Magtelt gar fest an sich:

»Ach, ach!« rief sie, »küsse mich, küsse mich, mein Herzenstrost! Sie hat den Argen getötet, das sanftmütige Mägdlein; die Nachtigall hat den Falken besiegt! Meine Tochter ist wieder daheim, daheim ist meine Tochter! Halleluja! Dank sei Gott, welcher die alten Mütter liebt und sie nicht kinderlos sehen will. Halleluja! Sehet hier Magtelt die Schöne, Magtelt die Fröhliche, Magtelt die Sangreiche, Magtelt die Ausgelassene, Magtelt die Ruhmreiche, Magtelt die Sieghafte, Magtelt meine Tochter, mein Kind, mein Alles, Halleluja!«

Und Magtelt lächelte ihr zu, liebkoste und streichelte sie gar sanft mit den Händen.

Und Frau Gonde weinte vor großer Freude und ließ es geschehen, ohne ein Wörtlein zu sagen.

»Hei!« sprach Ritter Roel, »nimmer sah ich mein Weib bei solchem Freudenfest!« Dann rief er plötzlich:

»Fest! An diesem Tage soll ein Freudenfest bei uns sein, das große Freudenfest derer von Heurne!«

Und er öffnete die Türe, seine Edelknaben, Knappen, Mannen und das ganze Ingesinde zu rufen. Aber sie standen alle davor und wagten nicht einzutreten.

»Heißa,« sprach der Ritter mit seiner stärksten und fröhlichsten Stimme, »wo sind die Köche und Köchinnen? Wo sind die Kessel, Pfannen und Tiegel? Wo sind die Humpen, Fäßlein, Krüge, Flaschen und Becher? Wo ist Clauwaert, einfach und doppelt gebraut, wo ist alter und junger Wein? Wo sind Schinken und Würste, Walfischzungen und Rindslenden, Fleisch aus der Luft, Fleisch aus dem Wasser, Fleisch aus den Wiesen? Ich will, daß heute alles dieses auf die Tafel komme, denn es soll ein Freudenfest bei uns sein, wie nimmer erhöret worden, ein fürstlich, königlich, kaiserlich Fest, denn«, und so sprechend ergriff er das Haupt des Argen bei den Haaren, »unsere liebe Tochter hat mit ihrem Händchen Ritter Siewert Halewyns Kopf abgehauen!«

Da sie solches hörten, schrien alle wie Donnergetöse: »Gelobt sei Gott! Heil unserem Fräulein!«

»So gehet nun«, sprach der Ritter, »und tuet, wie ich gesagt habe.«

Da man das köstliche Mahl auftrug, ward das Haupt auf die Tafel gesetzt.

Am andern Tage ward auf der Herrschaft derer von Heurne Fehde angesagt. Und der Ritter zog mit starker Macht aus, die Burg des Argen zu stürmen. Und alle Freunde, Genossen und Anverwandte des Argen wurden gehenket oder enthauptet. Und Seine Gnaden der Graf verlieh der Sippe derer von Heurne die Güter und Titel derer von Halewyn, ausgenommen das schändliche Wappen, und sie haben sie noch bis auf diesen Tag.

 


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