Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Das Verlangen, höher zu stehen und Paul gleichzukommen, gegen den sie einen eifersüchtigen Haß nährte, vor allem aber ihre Mutterliebe, die sie drängte, ihrer Tochter näher zu sein, hatten Roosje bewogen, Gent und das »Kaiserwappen« zu verlassen, die erste und einzige Quelle ihres Wohlstandes.
Sie hatte sich in IxellesVorstadt von Brüssel. Hier steht jetzt ein Denkmal de Costers. niedergelassen, in der düstren Edinburger Straße, und bewohnte dort ein zweistöckiges geschlossenes Haus, über dessen grauer Tür ein prächtiges Kupferschild prangte, das in zierlichen Elzevirbuchstaben jedermann erzählte, daß die Witwe Servaes van Steelandt ein Wein- und Likörgeschäft betrieb. Dies vornehme Servaes, dies aristokratische van Steelandt hatte damals in Gent ein gewisses Staunen erregt, als man es auf einem Wirtshausschild erblickte.
Die arme Roosje, die vereinsamte Mutter, hatte in der Befriedigung der Eitelkeit Ersatz für die schreckliche Leere ihres Herzens gesucht. Sie hatte sich ein »hübsches« Empfangszimmer und ein »hübsches« Speisezimmer eingerichtet, das eine mit weißen Tapeten mit großen blauen Blumen, das andere mit rot und grünen Tapeten auf braunem Grunde und einer kirschroten, weiß, blau und rosa bemalten Täfelung, die für Leute von Geschmack wie die Faust aufs Auge paßte. Eine Stutzuhr vom Trödler, die auf einem mit vergoldetem Kupfer beschlagenen Sockel stand, stellte Paul und Virginie dar, zwei gespreizte, alberne Gestalten, die unter dem Schutz eines Palmbaums an einem Felsen von der Größe eines Stücks Kandiszucker lehnten; ihre Körper waren aus Florentiner Bronze und die Kleider aus zartgrünem Metall. Der Fußboden, ohne Teppich, war grün angestrichen und mit Schwarz marmoriert. Alte Eichenmöbel aus der Zeit Ludwigs XVI., mit Blutstein gebeizt, um sie zu »konservieren«, blickten entsetzt auf sechs magere neue Mahagonistühle, die mit schwarzem Leder bezogen waren und in dem für ihre schmächtigen Maße allzu geräumigen Zimmer gleichsam hinter einander herliefen.
Das Ganze fratzenhaft, feucht, roh, kalt und dumm, ohne Feuer im Winter, ohne Blumen zu jeder Jahreszeit. Ein kränklicher Kanarienvogel, der ohne Licht, Luft und Sonne dicht an der Decke über einer Tür hing, verlor in diesem Dunstkreis sein Gefieder und sang seine kümmerlichen Liedchen, im Winter, wenn der warme Küchendunst heraufstieg, im Sommer, wenn die Morgensonne für ein paar Minuten flüchtig ins Zimmer fiel. Man mußte nur hören, wie sich dann sein trauriger Singsang belebte, wie er, fast ungestüm und fröhlich, mit schüchternem Flügelschlag den strahlenden Gast begrüßte, der ihm Leben und Wärme brachte.
Der Gefangene, der sich in einem luftlosen, sechs Fuß tiefen Kerkerloch verzehrt, der Hilfsschreiber, der für einen Hungerlohn in einem traurigen Bureau, einem kalten, stinkenden Stübchen schreibt und kritzelt, muß, wenn er einmal nicht an sich denkt, wohl manchmal an diese armen Vögel denken, die wegen ihrer wohlklingenden Stimme von Frauen gefangen gehalten werden, deren Trieb es zu sein scheint, alles, was sie lieben, in einen Käfig zu sperren, und denen in der Grausamkeit ihrer Liebe kein Kerker eng genug dünkt, um das, was sie lieben, zu hüten. Sie gleichen jenen Tyrannen, die Dichter eines Liedes wegen in ungesunde Verließe warfen. Tyrannen beide; die einen füttern ihren Gefangenen mit Leckerbissen, damit er seine Gefangenschaft liebt, die anderen kerkern ihn ein oder erwürgen ihn, damit er nicht singt; die einen fürchten, daß die Katze ihn frißt, wenn er entschlüpft, die anderen, daß die mutigen Lieder des Dichters im Volke jene männliche Kraft erwecken, die ihm die Schmerzen der Knechtschaft brennender macht und es anspornt, ihr Joch abzuschütteln.
Trotz dem Grün, Weiß, Grau, Rot und Rosa, der Bronze, den Mahagonimöbeln, den Nippsachen, der Täfelung und den Tapeten ihres Empfangszimmers und Speisezimmers, trotz dem kalten, glänzenden Kupferschild stellte sich kein Kunde ein.
Und Roosje, die neue Kalypso, deren Herz von einem edlen Schmerze, dem Schmerz über die Trennung von ihrer Tochter schwer war, weinte auch über das Scheiden des vielgestaltigen Odysseus, den man den Verbraucher nennt, und fühlte sich in ihrer fiebernden Ungeduld sehr unglücklich, daß sie nicht mehr Gastwirtin war.
Ihr geschäftlicher Schmerz linderte sich indes etwas, wenn ein Dorfschulze, ein Bürgermeister oder einer ihrer alten Stammgäste an ihrer Tür läutete und in ihrem »hübschen« Empfangszimmer um ein Faß, ein halbes Faß oder ein Viertelfaß Wein bis zum letzten flandrischen Heller feilschte. Sie verließen Frau Servaes, verwitwete van Steelandt, glücklich und stolz, den Preis beträchtlich herabgedrückt zu haben, und ahnten nicht, daß die Ware durch schlechten Saint George, trüben Orleans, Zucker, Spiritus, Zitronensäure und Sonnenblumenkerne gefärbt oder aufgebessert war.
Dann erlaubte Roosje Siska, bei Tisch ein paar Kartoffeln mehr aufzutragen und etwas Butter in die Sauce zu tun.
Aber an den anderen Tagen war sie todtraurig. Wenn sie nicht mehr an das Geld dachte, setzte sie sich an den weißen Holztisch in der Küche und stemmte die Ellenbogen auf; da schien sie weniger böse und ihre Tränen glommen nicht mehr von düsterem Feuer. Stumm sah sie zu, wie Siska, die gute, sehnige, männliche Siska in ihrem Reich waltete. Bisweilen stellte die sich vor Roosje hin, kreuzte ihre dicken Arme, rot wie rohes Rindfleisch, vor der Brust, öffnete sie bisweilen, um sich mit ihren dicken Fingern an der Nase zu kratzen, und verschränkte sie dann wieder mit einem kräftigen Ruck.
»Na, Baasin,« sagte sie, »ich weiß wohl, warum Sie sich so grämen, aber bedenken Sie, Ihr Geschäft ist noch nicht bekannt, die Bestellungen können nicht so kommen, als wenn Sie in der Zeitung ständen. Die Zeitungen, das ist großartig! Jeden Tag lese ich da die Namen von Verkäufern von Streichhölzern, Kesseln, Pfannen, Ofenrohren, Korsettstangen . . . lauter Leute, die nicht so vornehm sind wie Sie, Baasin. Wenn die Zeitungen sagen, die Ofenrohre von van Possevelde sind die besten auf der Welt, und die Kessel von van Zwyngenhove sind Blechtöpfe gegen die von van Gobbelsschroy – wer sollte das nicht aufs Wort glauben? Setzen Sie Ihren Namen auch in die Zeitungen.«
»Lassen die sich dafür bezahlen?« fragte Roosje, durch diesen Vorschlag gepackt, und der Schlüssel ihrer Geldtruhe hüpfte vor Habgier in ihrer Tasche.
»Ja, Frau, sie lassen sich bezahlen, aber jeder hat sein Geschäft, nicht wahr?«
»Ist's teuer?« forschte Roosje.
»Ich gehe fragen,« sagte sie.
Sie ging in der Tat fragen und kam voller Ärger und Wut zurück.
»Ob es teuer ist, Frau? Die hatten die Frechheit, für eine ganz kleine Zeile, ein Nichts, drei Franken zu fordern! Die Vernünftigsten gucken einem ins Gesicht und sagen: ›Einen Franken fünfzig, ja oder nein.‹ Und sie reden mit einem aus einem kleinen Käfig. Das nennen sie den ›belgischen Stern.‹ Wenn der Herr im Käfig ein Stern ist, so haben die Sterne jetzt graue Haare im Gesicht. Und keine ist billiger, außer ein paar lumpige Zeitungen, die noch fünfzehn Centimes, zwanzig Centimes, ja sogar fünfundvierzig Centimes für die Zeile zu fordern wagen. Aber man sieht an ihrem Bureau, dem reinen Hundestall, an den zerflederten Strohstühlen, dem wackeligen Tisch und der schäbigen Wand mit Zerrbildern gegen die Minister und Priester, daß sie ihr Papier nicht los werden, und wenn man ihnen nur fünf Centimes gäbe, wäre das noch zu viel für ihre dreckige Ware.«
Und Siska setzte sich atemlos und Roosje sagte: »Das sind Diebe.« Dann saßen beide in tiefer, stummer Entrüstung, Siska rot und keuchend, Roosje bleich und grimmig. Und eine Weile herrschte Schweigen.
Endlich sagte Roosje bitter: »Ja, die Kinder! Man glaubt, das liebt einen. Man bringt sie mit Schmerzen, mit Schreien, mit Todesgefahr zur Welt, gibt ihnen seine Milch, sein Blut, sein Leben. Man täte alles für sie. Die Jungens – ich weiß ja nicht, was das ist – aber sie sind alle nichtsnutzig gegen ihre Eltern. Die Mädchen . . . ja, die kenne ich. Grietje, Margarete, wie sie jetzt in der verwelschten großen Welt sagen, Grietje gedieh, liebte mich, war zärtlich zu mir, schien dankbar. Ich sah sie mit Freuden heranwachsen und schön werden. Als Kind war sie wie eine Blume des lieben Gottes. Als junges Mädchen sah ich sie rot und blaß werden. Eines Tages mußte ich so lachen, als sie ganz verdutzt war und große Angst hatte, und ein andermal, als sie zu mir sagte ›Mutter, ein Herr blickte mich so komisch an und sagte, ich wäre hübsch . . .‹ Sie war böse und lachte, daß man sie hübsch fand. Ein andermal schickte ich sie, etwas zu besorgen. Es war am Abend, sie war ganz allein, sechzehn Jahre alt und schön. Ich dachte an nichts. Sie kommt voller Zorn zurück, stolz wie eine beleidigte heilige Jungfrau, und hält in der Hand den Kellerschlüssel, einen großen Schlüssel. ›Mama,‹ sagt sie zu mir, ›ich gehe abends nicht mehr aus.‹ Sie wirft sich mir an den Hals. ›Nun, mein Lamm,‹ sage ich, ›was gibt's denn?‹ ›Mama, es waren da drei auf der Straße, drei Stutzer aus dem Wirtshaus, keine richtigen Herren – Zierbengel, wie man in der Stadt sagt. Einer, der auf mich zutrat, hatte Beine wie eine Zange. ›Fräulein,‹ sagte er zu mir, ›darf ich Ihnen meinen Arm anbieten, um Sie nach Hause zu bringen?‹ Ich sehe ihn an, ohne zu antworten, er weicht etwas zurück, vielleicht, weil ich wütend war. Ich will mitten zwischen ihnen hindurchgehen. Sie versperren mir den Weg. Ich hole meinen Schlüssel aus der Tasche, sehe ihnen ins Gesicht, halte ihnen den Schlüssel unter die Nase und sage: ›Dem Ersten, der sich rührt, schlag' ich die Zähne ein.‹ Ich war sehr wütend; bei ihren ekligen Fratzen dachte ich, sie wollten mich mit Kot bewerfen. Aber sie ließen mich vorbei und lachten feige. Ich gehe abends nicht mehr aus, Mama, ich bin ganz krank.‹ Und sie ging seitdem nicht mehr aus. Und da, mit einem Male, vernarrt sie sich in einen elenden Doktor, Gott weiß, ob er es überhaupt ist, hat nur noch Liebkosungen und Küsse für ihn und läßt ihre alte Mutter ganz allein in ihrem Loch wie einen räudigen Hund.«
Nun sprach Siska. »Frau,« sagte sie, »machen wir es nicht alle so? Als ich meinen Liebhaber hatte, der Arme, Gott hab' ihn selig, und er gefiel mir – glauben Sie, ich hätte ihn dazu zweimal ansehen müssen? Er hat mich nach einem Monat geheiratet. Ich war so stolz und so froh, daß ich an nichts mehr dachte, außer an meine Arbeit. Und wenn ich auf der Sankt-Peter-Straße mit den Mädchen heimkehrte, sang ich die Brabançonne und rief jedermann zu: ›Morgen bin ich Frau!‹ Die Vorübergehenden lachten über mich, aber ich lachte noch mehr über sie und dachte mir, daß ich morgen Frau sein würde. Es war eine schöne Hochzeit. Man sang Lieder und schenkte mir ein schönes Porzellanservice, Töpfe, Teller, fast einen ganzen Haushalt, aber die Bettlaken und Tischtücher hatte ich gekauft. Und mein Mann war so stolz, und hätte man mir gesagt, ich sollte an meine Mutter und an meine kleine Schwester denken, so hätte ich gesagt, es ist nicht möglich. Es sind noch keine sechs Wochen, daß die beiden zusammen sind, lassen Sie sie ein bißchen allein miteinander. Er ist gut, das weiß ich gewiß; das zeigt, wie er sie gerettet und Ihre zehntausend Franken ausgeschlagen hat.«
»Ja, um mich später zu beerben,« antwortete Roosje. »Du liebst mich nicht,« fügte sie hinzu, »da du ihn verteidigst.«
»Frau,« entgegnete Siska ärgerlich, »Sie werden sich eine andere nehmen müssen. Ich habe trotzdem alles für Sie getan, was ich konnte, ich arbeite hier für sechse.«
Da schwieg Roosje. Siska war eine billige Magd: sie bekam zehn Franken im Monat, aß wenig und war treu.
Der junge Mai schmückte die Wiesen mit Blumen. Paul und Margarete machten ihre Hochzeitsreise nicht nach London, Paris oder Wien, sondern verbargen sich auf dem Lande, in Ukkel, in einem reizenden Nest.
Es war ein schöner Mai, lau und sonnig. Sie fühlten sich von seinen Liebkosungen durchdrungen; die Blumen lächelten ihnen zu und schienen ihnen leuchtender als sonst. Jedem von ihnen dünkte die Stimme des andern wie Engelsgesang, Margarete fand Paul stolz und schön, ohne es ihm zu sagen, und Paul ging bisweilen hinter ihr her und bewunderte still ihre runden Hüften und braunen Haare, die im Licht rötlich schimmerten, ihre bräunliche Hautfarbe, ihren runden, festen Nacken, ihre etwas breiten Schultern, ihre kleinen Hände und Füße. Und liebestrunken sagte er ihr zärtliche Worte.
Sie liebten sich. Erste Freuden, vor denen jede andre Freude verblaßt, ein ungestillter Durst, eine Allgewalt, die unaufhörlich, ewig lieben will, Sehnsucht, Zukunftspläne, reizende Nichtigkeiten, die man sich höchst ernsthaft ins Ohr sagt, geheimnisvolle Verschwörungen, um eine Liebkosung mehr zu geben oder zu empfangen: damit verging ihr Leben, betört und berauscht.
Die blühenden Kastanienbäume, die Fliederbüsche, von denen sie große Sträuße raubten, die grünenden Ulmen, die Buchen mit den silbergrau bereiften Seidenblättern, die Sonne, die Nacht und die Sterne schienen sie zu lieben, wie sie sich liebten, sie in einen warmen, weichen Schleier zu hüllen.
Sie waren glücklich. Im Überschwang ihres Glückes forderten sie nichts von der Außenwelt und verhüllten sie mit dem leuchtenden Nebel, den unsere Augen über die Dinge breiten, wenn die Leidenschaft im Blute kocht, den Blick trübt und die Natur mit einem seltsamen Schleier bedeckt.
Sie ergingen sich auf den Feldern bei Ruysbroeck und blieben stehen. Der Himmel war wie im Hochsommer von tiefem Blau, das am Horizont blasser wurde. Weiße Wolken zogen darüber hin wie himmlische Wandrer, schoben sich bisweilen zwischen Himmel und Felder und warfen dunkle Schatten auf den Boden.
Die Landschaft war heiter. Zwischen dem Weg und den Wiesen rann ein rasches, rauschendes Bächlein, nicht tief, aber klar und aus reiner Quelle. Im Mittelgrund ragte eine mit hohen Buchen bestandene Böschung, im Hintergrund rahmten grünende Ulmen eine Flucht von Wiesen ein, die durch Hecken, Gräben oder Bäche getrennt waren. Am Horizont große Baumgruppen und eine lange, bewaldete Hügelkette, ein hübsches gotisches Schloß mit zierlichen Ecktürmchen, das alle seine Spitzbogenfenster dem Licht öffnete. Sperlinge zwitscherten lustig in den Bäumen, Lerchen stiegen mit frohem Lied gen Himmel, eine Grasmücke sang nach Herzenslust in einer Hecke, und das ernste, geheimnisvolle Volk der Insekten schien in diesem Monat der Liebe noch lebendiger zu leben. Schmetterlinge verfolgten sich und zogen launische Kreise durch die Luft; der Schmarotzer Kuckuck schien weniger traurig zu rufen. Auf den Triften standen Ochsen und Kühe behaglich und still und weideten das fette Gras; weiterhin, auf den Feldern, leuchteten die scharlachroten Blusen der arbeitenden Bauern wie große Mohnblumen. Die Sonnenstrahlen brachen sich in tausend Lichtfunken in den klaren Fluten des Baches; kleine graue Fische wimmelten im Wasser, und winzige Fliegen, wie Stahlperlen, zogen Halbkreise über der Strömung; Libellen jagten munter ihre Beute, und ernste Bienen beflogen die Uferblumen. Alles, Menschen, Ochsen und Kühe, Insekten und Fische, Vögel und Blumen, Bäume und Wiesen, Himmel und Sonne, waren so groß in ihrer sorglosen Beschaulichkeit, das Leben, das da Licht und Wärme, Liebe und Freude ist, zeigte sich in all diesen Wesen und Dingen so stark, so gut und so ernst, daß Grietje stehen blieb und fast feierlich sagte: »Gott, wie schön ist das alles!«
»Warum faltest du die Hände?« fragte Paul.
»Weil ich Lust habe zu beten. Wir sind nicht allein, in der Luft ist einer, den ich nicht sehe, der aber so gut ist und alles vermag. Der liebe Gott,« fuhr sie fort und erblaßte, als ob sie erschräke. »Aber er würde sehr böse sein, wenn du mich nicht immer liebtest.«
Morgens in ihrem Nest machte sie sich ihr Haar vor dem Spiegel, fand sich schön und sagte: »Ich müßte ein Bild von mir machen lassen.«
»Es ist da, im Spiegel,« sagte er und blickte sie verliebt an. »Aber hast du gut geschlafen, du Langschläferin?«
»Nein.«
Und mit dem verliebten, zärtlichen, dankbaren Lächeln, das Frauen für den haben, der sie glücklich macht, sprang sie mit einem Satze vom Spiegel an seinen Hals und umarmte ihn mehrmals. Dann setzte sie sich kokett, fast gefallsüchtig, wieder an den Spiegel und beendete ihre Frisur. Und das geglättete Haar nahm wieder seinen Glanz an und kräuselte sich von selbst unter dem Kamme zu Locken.
Margarete kam nicht mit schleppendem Gang und schleppendem Kleide zu Paul, wie es kalte Frauen tun; sie schob sich nicht matt und ruhig neben ihn wie eine Frau aus Holz, wie ein kalter Schatten, eine Frau, die sich mehr um ihre Kleidung kümmert als um das Glück, das sie ihrem Geliebten schenken könnte. Sie hatte nicht die gemessene, langsame, korrekte, ruhige Sprache, die die Ruhe der Seele und die kaltblütige Verstellung verrät. Ihre Liebkosungen waren nicht berechnet und ihre Küsse nicht gezählt. Nein, sie war lebhaft, unbesonnen, froh oder traurig, gut oder böse, launisch oder unterwürfig, je nachdem ihr Herz stärker oder schwächer schlug, je nachdem sie sich mehr oder weniger glücklich fühlte oder in tiefe Schwermut versank, weil die Falte eines Rosenblatts auf dem lachenden Lager ihres Glücks sie betrübte.
Paul liebte sie tief, aber sein Herz war in Trauer. Eine flüchtige Träne perlte zwischen den Wimpern dieses Mannes, der nur einmal, an einem Grabe, geweint hatte. Ernst und in sich gekehrt, dachte er an sein jetziges Glück, das die Erinnerung an eine reinere, holdere, fast größere Liebe belebte. Margarete war erstaunt, weinte heiße Tränen, da sie ihn traurig sah, und fragte sich, was ihren Freund so betrüben könnte. Plötzlich entsann sie sich, ergriff seine beiden Hände und sagte: »Ich liebe sie so sehr!«
Beseligt hörte Paul diese treuherzige, etwas schwermütige Stimme, die wie der nächtliche Sang einer Nachtigall in einer Zypresse klang. Und er ließ sich zum Leben zurückführen und zu seinem Glücke, über dem stets ein geliebter Schatten schwebte.Es ist ein zartes Denkmal der Sohnesliebe, das der Dichter hier seiner Mutter setzt. Sie war 1869, als diese Erzählung entstand, gestorben.
Sie gaben viel Geld aus. Paul war zwar ziemlich wohlhabend, aber diesen Wohlstand mußte ihm seine Arbeit liefern. Das war ihm unmöglich, Herz und Kopf gingen andere Wege. Er dachte an die Kunst, die Wissenschaft und Philosophie. Kalte, fremdartige, pedantische Dinge, so dachte er, neben diesem reizenden, ausgelassenen Wesen, das er so gern mit dem holden lateinischen Namen nannte, der Perle bedeutet. War sie nicht Margareta, die Perle der Perlen im strahlenden Schrein seiner Freuden? Ihr Schlafzimmer ging in Pauls Zimmer, wo er sich höchst ernsthaft den Anschein gab, die schwierigsten Studien zu treiben. Kein Marterwerkzeug fehlte, weder Papier noch Federn noch Tinte noch dicke Bücher.
Margarete schlief manchmal bis in den Tag hinein. Hatte Paul »tüchtig gearbeitet«, so stand er auf, ging mit Doktorwürde zu ihr und sprach mit ihr. Sie erwachte, aber kokett beim Erwachen, wie es jeder Frau zusteht, blieb sie still und regungslos liegen, mit feuchten, halb geschlossenen Augen, griff mit beiden Händen nach den seinen und gab ihm einen ganz kurzen, heißen, feuchten Kuß. Welch holde Augenblicke vergingen bei diesen Zärtlichkeiten!
War sie aufgestanden, so fand sie Vergnügen daran, Paul zu necken, ihn am »Arbeiten« zu hindern. Wenn sie Orangen aßen, die zu dieser Jahreszeit selten sind, sagte sie: »Essen wir eine zusammen.«
»Meinetwegen,« sagte er, tat, als ob er schmollte, und rührte sich nicht in seinem Lehnstuhl.
»Da,« sagte sie und zerteilte eine der goldenen Früchte mit dem Nagel. Dann sah sie vergnügt zu, wie er die Schale ungeschickt abzog. War die Orange verzehrt, so zerriß sie die Schale zu kleinen Stücken und warf sie ihm ins Gesicht, bis er sich rührte und nicht mehr arbeitete.
Schließlich mußte er aufstehen und mit ihr spielen. Sie zwang ihn dazu. Der glückliche Unglückliche verlangte nichts Besseres. Sie kämpften miteinander – ein holdes Ringen. Alle Schalen, die Margarete nicht aufheben konnte, flogen zum Fenster hinaus; das war vereinbart. Blieb eine auf dem Boden liegen, so stürzte sie sich darauf und er gleichfalls, in dem Wettstreit, wer sie zuerst erwischte. Sie hatte eine reizende Art, sie mit ihrem bloßen Fuß aufzuheben, indem sie sie mit der Zehe an die Fußsohle drückte.
Er gab sich zu allem her, wie ein verzogenes Kind. Allmählich flogen die Stücke eins nach dem andern auf den Rasen. Dann las sie die hingefallenen Kerne auf. Wie hell lachten die beiden dabei! Wie weideten sich seine Blicke an ihrer holden Jugend, die ganz Liebe war, noch schamhaft in der Ehe!
Dann kam ihm ein schwermütiger Gedanke. »Gott gebe,« sagte er zu sich, »daß ich sie nie verliere!« Und er ließ seine Augen in einen Abgrund hinabtauchen.
Plötzlich flog ihm ein großes Stück Orangenschale, wohlgezielt wie eine Backpfeife, an die Nase oder ans Auge. Sie lief lachend auf ihn zu und umarmte ihn. Dann legte sie sich wieder ins Bett, um sich von der großen Anstrengung zu erholen.
Sie war unerschöpflich in Erfindungen, um ihn zu stören, brachte ihm Früchte, Blumen, alles, was sie fand, tat die Sträuße in Wasser, in eine Tasse oder in ein Wasserglas und stellte sie neben sein Tintenfaß, ja bisweilen stellte sie auch Stühle, Säbel und Karabiner auf seinen Arbeitstisch. Das geschah, um sich an seinen Hals zu hängen, ihn zu umarmen, ihn »Donnerwetter« zu nennen, denn das war Pauls Lieblingsfluch, wenn er ungeduldig war.
Sie sagte dann stets in reizendem Kampfe zwischen der Pflicht, ihn »arbeiten« zu lassen, und der Liebe zu ihm; »Ja, ich muß gehen. Ich gehe aber nicht, wenn du mich nicht hinauswirfst. Wirf mich hinaus, Donnerwetter!« Er hätte es gern »gewollt«, hatte aber nicht die Kraft dazu.
Und doch ging sie bisweilen. Das geschah, wenn sie geschworen hatte, verständig zu sein. Paul sah in seiner trocknen Arbeit stets ihre blassen, aber lebensfrischen Wangen, ihre braunen, lebhaften Augen. Das war der Sonnenstrahl seines Arbeitszimmers.
Eines Tages gingen sie Arm in Arm zwischen zwei Pappelreihen auf einer neugebauten, noch ungepflasterten Straße, am Ufer eines tief eingeschnittenen, etwas schlammigen Baches, der an einem blühenden Obstgärten entlang floß. Kühe rieben sich dort schwerfällig das Maul an den Stämmen der Obstbäume.
Eine junge Dame kam aus einem nahen Schloß und ging an ihnen vorbei. Sie war dunkelhaarig, schlank, elegant, in Hellbraun und Schwarz gekleidet. Ihr Gesicht war schön und nicht allzu mager, aber ihre großen, langbewimperten Augen waren von schwachen, kaum geschwungenem Brauen umzogen, die Nase etwas zu lang, mit dünnen, geblähten Flügeln, der Mund zu fein, das kleine Kinn zu scharf abgesetzt und die Hände und Füße zu lang und zu schmal. Das alles gab ihr das harte, berechnende Aussehen einer verschlagenen, energischen, leidenschaftlichen Frau, der kein Leid und keine Freude des Lebens unbekannt ist. Ihre Art von Schönheit stand in merkwürdigem Gegensatz zu der Margaretes.
Ein großer falber Windhund sprang vor ihr auf dem Weg hin und, her wie ein roter Blitz.
Als sie Paul und Margarete sah, lächelte sie, Paul lächelte auch. Dann ging sie vorüber. Margarete ließ den Arm ihres Gatten los und ging zehn Schritte voraus. Als er nachkam, blieb sie stehen.
»Was hast du?« fragte er.
»Nichts.«
»Warum bist du traurig?«
»Ich bin nicht traurig.«
»Bist du krank?«
»Nein.«
»Aber was hast du denn?«
»Nichts.«
Er schloß sie in die Arme; sie war mürrisch und seufzte. »Umarme mich,« sagte er.
Sie gab ihm einen raschen, flüchtigen Kuß. In ihren Augen standen Tränen.
»Ich kann doch nicht dafür, daß du weinst, nicht?«
»Was brauchst du,« sagte sie ärgerlich und sich aufrichtend, »alle Frauen, die vorbeigehen, anzusehen? Warum hast du gelacht?«
»Sie lächelte, weil sie uns glücklich sah, und ich, weil ich sah, daß sie uns verstand. Bist du eifersüchtig?«
»Das brauche ich dir nicht zu sagen.«
Fortan war sie weniger zutraulich und ein wenig traurig.
Paul wollte einige Charakterstudien machen, nicht zu seinem Vergnügen, aber aus jener den Männern der Wissenschaft eigenen Neigung, auf den Grund der Herzen zu dringen, wenn auch nicht immer, um klar darin zu sehen. Anspruchsvoll, bisweilen hart, wie die wahrhaft liebenden Männer, gab er so viel, daß er dafür das Ideal forderte. Diese Schwäche, die wir alle mehr oder weniger haben, ist die Folge einer falschen Erziehung, die uns nichts als Götter, Halbgötter, Helden, Engel und Jungfrauen vorführt. Margarete, die ihre junge Seele nicht an diesen trüben Quellen getränkt hatte, verlangte vom Leben nichts als das Leben, von der Liebe nichts als das Glück, und von ihrer Jugend nichts als das Recht, sich so zu geben, wie sie war.
Auf ihren Spaziergängen trug sie bei feuchtem Wetter gern einen hübschen Umhang ohne Kragen, braun und schwarz mit goldigem Einschlag, sehr üppig. Er stand ihr entzückend.
Eines Tages glaubte sie, sie müßte schlechter Laune sein und ihren Kopf durchsetzen. Schon ganz angekleidet, sah sie Paul zu, wie er im Zimmer in Hemdärmeln hin und her ging und häufiger nach ihr sah als nach dem Kleiderständer, von dem er das kleine, kurze und sehr unbequeme Kleidungsstück loshaken mußte, das die Schneider Schiffsjacke nennen. Endlich fand er es und öffnete die Tür zum Hinausgehen.
Margarete hatte schwarze Winterstiefel aus lackiertem Ziegenleder mit Stahlknöpfen angezogen. Plötzlich setzte sie sich und knöpfte sie wieder auf. Paul zog seine Handschuhe an und sah ihr zu. Auch sie sah ihm fest ins Gesicht und sagte energisch:
»Du sollst mir meine Stiefel zuknöpfen.«
»Sie sind zugeknöpft.«
»Nein,« sagte Margarete, »sieh doch!«
»Warum hast du sie aufgeknöpft?«
»Darum.«
Wollte sie ihn auf die Probe stellen? War es Laune, Kinderei, Mutwille? Spielte sie? Ihre Miene war nicht sehr gut. Er blickte auf den hübschen Fuß, wollte sich bücken, zauderte und sagte:
»Nein.«
»Warum nein?« fragte Margarete arglistig.
»Warum ja?«
»Ich weiß nicht, aber ich will . . .«
»Ich will nicht . . .«
»O, doch, ja, bitte . . .«
»Ich will nicht.«
»Was macht dir das aus?«
»Nichts, aber ich will nicht.«
»Nimm meinen Umhang um.«
»Nein.«
»Nur um zu sehen, wie er dir steht.«
»Ich will ihn nicht umnehmen.«
»Bist du böse auf mich?«
»Nein, Margarete.«
»Dann nimm meinen Umhang um.«
»Nein.«
»Dann geh' ich nicht aus.«
»So bleibe hier.«
»Willst du ohne mich ausgehen?«
»Ja.«
»Ich will nicht, daß du ohne mich ausgehst.«
»Ich will es aber.«
»Du bist heute recht häßlich.«
Sie tat, als ob sie weinte.
»Liebste,« sagte Paul, »komm, knöpfe dir deine Stiefel zu und erlaube mir, daß ich deinen Umhang nicht umtue.«
»Wenn dich die Dame mit dem Windhund darum bäte, du tätest es für sie, nicht wahr?«
»Nein.«
»Also nimm meinen Umhang um und knöpfe mir meine Stiefel zu.«
»Nein.«
Paul ging im Zimmer umher. Margarete stampfte mit dem Fuß, nahm ihren Umhang wieder um, knöpfte sich die Stiefel zu und schien verstimmt. Plötzlich lachte sie laut auf, sprang Paul an dem Hals und sagte zu ihm: »Hättest du mir gehorcht, ich hätte dich nie mehr angesehen.«
Margarete fütterte die Spatzen, die mit Vorliebe in den nahen Kastanienbäumen schwatzten oder sich zankten. Besonders hatte sie zwei Weibchen ins Herz geschlossen, die manchmal zur Essenszeit kamen und ihr die Krumen ans der Hand pickten. Flogen sie dann mit einer dicken Brotkrume im Schnabel davon, so schossen die Männchen, die oben auf der Gartenmauer in Schwarmlinie hockten, von allen Seiten wie Geschosse auf sie zu und schnappten den Weibchen im Fluge die Brotkrume fort. Diese kehrten dann zurück und verlangten zum zweitenmal Futter.
»Warum,« fragte Paul, »legst du nicht etwas Brot auf die Fensterlehne? Dann könnten die Männchen mit den Weibchen am selben Tisch essen.«
»Was brauche ich,« sagte sie, »diese dicken ausgehaltenen Burschen zu füttern? Ich mag die artigen Weibchen lieber, die mir aus der Hand fressen.«
Ein andermal entschlüpfte Margarete ein bezeichnendes Wort. Es handelte sich um einen zahmen Sperling, der sich mit dem Mädchen angefreundet hatte und ihm selbst auf die Straße folgte. Dies etwas traurige Tierchen nistete stets in den Falten des Taschentuchs seiner Liebsten oder saß auf ihrem Kopfe und piepste sein Liedchen. Margarete wollte auch solch einen Vogel haben, aber ihre Wahl fiel auf einen, der zu wohl und munter und daher weniger gehorsam war. Sie war eifersüchtig auf das Mädchen.
»Ich habe,« sagte sie eines Tages zu ihrem Gatten, »Jeannettes Spatzen viel lieber als den meinen. Er ist kränker, aber viel zutunlicher.«
Eines Tages führte ihr Heimweg sie am Kanal von Ruysbroeck entlang. Die Dämmerung sank, eine schöne, stille, feierliche Julidämmerung. Der völlig durchsichtige Himmel gemahnte an die Unendlichkeit. In dieser schwermütigen Stunde, wo die Arbeit aufhört und die Ruhe beginnt, dringt ein hehres Gefühl in die Seele.
Paul und Margarete sahen Arbeiter, die singend heimkehrten. Sie kamen in die Stadt und hörten Mädchen, Frauen und Kinder auf den Türschwellen singen. Sie bemerkten, daß in all diesen Liedern der Mollton vorherrschte und daß sie unwillkürlich gedämpft waren. Drehorgeln und ein paar lärmende Taugenichtse, die gemeine Gassenhauer grölten, unterbrachen die erhabene Serenade, die diese armen Leute der Natur darbrachten, indem sie nach vollbrachter Arbeit ihre Gedanken auf Flügeln des Gesanges dahinschweifen ließen.
In dieser schwermütigen Stunde waren Siska und die alte Roosje zusammen. Siska briet Kartoffeln in einem Rest von Fett, der von dem Sonntagsfleisch übrig war, und Roosje, in einen alten Schal gewickelt, aus dem ihre bloßen, sehnigen Arme hervorsahen, blickte wütend die dicke Magd an, deren Gesicht vom Feuer gerötet war.
Sie beschlossen gerade eine heftige Unterredung, die schon lange dauerte: so wenigstens schien es nach Siskas ungewöhnlicher Erregung, nach ihren Gebärden, die wenig zu ihrer Arbeit paßten, und nach Roosjes wütenden Blicken.
»Ich verbiete es dir,« sagte Roosje. »Solltest du dich unterstehen, mir nicht zu gehorchen, so werfe ich dich auf die Straße, und da magst du sehen, wie du ohne mein Testament weiterkommst.«
Bei der Neuigkeit, daß sie, das arme Mädchen, im Testament einer reichen Frau stand, war Siska einen Augenblick freudig verblüfft. Trotzdem hätte sie ihrer Herrin lieber nicht gehorcht. In ihrer friedlichen Seele tobte ein Kampf zwischen dem Wunsche, Roosje des Testaments wegen gefällig zu sein, und ihrer Gewohnheit, Margarete, die sie liebte, gegen Roosje in Schutz zu nehmen.
»Frau,« sagte sie zaghaft, »sie wird so traurig sein, wenn sie das erfährt . . . Es ist recht häßlich von ihr, daß sie Sie nicht besuchen kommt . . . Aber schließlich ist sie doch jung verheiratet . . . Ich sagte es Ihnen schon: kurz nach meiner Heirat ging ich nur noch zu meiner Arbeit, und wenn sie zu Ende war, holte ich meinen Mann ab. Das hindert freilich nicht, daß Frau Margarete . . .«
»Frau?« unterbrach Roosje.
»Verzeihung,« sagte Siska, »Fräulein Grietje. Das hindert freilich nicht, daß sie gegen Sie sehr hartherzig ist.«
»Nicht wahr?«
»Ja, recht hartherzig, Frau.« – Das war wegen des Testaments. – »An ihrer Stelle hätte ich das nicht getan. Das ist ein Zeichen vom schlechtem Charakter, eine Tochter, die ihre Mutter nicht liebt.«
Statt Siska recht zu geben, wurde Roosje vor Wut ganz blaß.
»Was!« rief sie, »du, die ich im Schweiße meines Angesichts ernähre!« – Siska kannte diese Ernährung: in der Woche Kartoffeln in Essig und Sonntags ein Lot Fleisch. – »Was,« sagte Roosje streng und hart, »du, die ich im Schweiße meines Angesichts ernähre, du, die du alle Monate zehn Franken von deinem Lohne an deine Eltern schickst. (»Ich verdiene sie redlich,« dachte Siska.) – Du wagst hier vor mich zu treten und schlecht von Grietje zusprechen? Ich darf von ihr sagen, was ich will, du nicht, verstehst du, Tellerwäscherin?«
»Jeder tut, was er kann, Frau, und von dem Fett, das da dran ist, werden mir die Hände nicht weich werden. Ich habe Frau Margarete lieber als Sie, verstehen Sie? Sie war gut, sie lachte mit mir, und Sie ranzen mich immer nur an. Sagen Sie mir noch weiter Frechheiten, so lasse ich Sie sitzen, mitsamt Ihren Tellern, verstehen Sie mich? Sie haben kein Herz. Wer arbeitet denn für drei, wäscht, näht, bügelt, macht die Einkäufe, sorgt für Sie wie eine Mutter? Doch wohl ich? Und Sie werfen mir die lumpigen zehn Franken vor, die ich verdiene? Wo anders kriege ich fünfzehn, zwanzig, ja fünfundzwanzig, sobald ich will. Für den Lohn find' ich überall eine Stellung.« Und sie krämpelte sich die Ärmel auf. »Wer die Arme hier sieht, der weiß auch, was sie leisten können. Wenn ich hier bei Ihnen bleibe und mich wie einen Hund behandeln lasse, so geschieht das nur, weil Sie gut zu Frau Margarete waren. Das beweist, daß Sie hier etwas haben. (Siska wies auf ihr Herz.) Wenn nicht, sag' ich Ihnen offen, regt voor de fuist, gerade vor der Faust weg, ich lasse Sie ohne Zaudern sitzen.«
Damit drehte sie Roosje den Rücken und warf, vor Entrüstung zerstreut, eine Schaufel Kohlen in die schmorenden Kartoffeln. Dann wandte sie sich wieder zu Roosje um, aber in der Verwirrung, in die ihre Entrüstung sie versetzt hatte, sah sie die dicken Tränen nicht, die eine nach der andern aus den Augen der Alten quollen und auf den Tisch fielen.
»Siska,« sagte diese, »geh, wenn du willst; laß die arme alte Mutter allein, die kein Kind mehr hat. Laß mich sterben, laß mich draufgehen! Wozu taugt man noch, wenn man alt ist? Liebe die Frau Margarete, meinetwegen! Aber mich . . . da meine Tochter mich verläßt, da mich alles verläßt, mußt du mich wohl auch verlassen.«
Nun weinte Siska.
»Baasin und Herrin, grämen Sie sich nicht, ich liebe Sie auch, glauben Sie's mir, und alles, was ich sagte, war nur im Zorn gesprochen.«
Damit warf sie sich der alten Roosje an den Hals. Und Roosje weinte Freudentränen, daß sie nicht allein auf der Welt war.
Dann kamen sie überein, geräuschlos auszuziehen und die Gardinen an den Fenstern zu lassen, bis sie eine neue Wohnung gefunden hätten. Beide schworen, nie wieder einen Fuß in das Haus des »Lumpendoktors« zu setzen, der alle Liebe und alle Gedanken Grietjes in Beschlag nahm, die nun die lieblose Frau Margarete geworden war.
Als Roosje diesen Entschluß faßte, wurde sie blaß und wollte nichts essen, obwohl Siska von ihrem Gelde Olje Koekens gekauft hatte, um die durch die plötzlich aufgeschütteten Kohlen verdorbenen Bratkartoffeln zu ersetzen.
Nichts deutete bei Margarete auf baldige Mutterschaft, obwohl sie von Juno geschaffen schien, ohne Schmerzen zu gebären. Aber Paul war sicher, bald Vater zu sein, und in seinen Träumereien räumte er fortan der Liebe, die er schon für sein künftiges Kind empfand, einen Platz neben der Liebe für Grietje ein.
In dem Gedanken, daß sein Kind Fehler und Vorzüge der Mutter erben werde, beobachtete er, wie Margaretes Geist sich angesichts der Natur entwickelte. Er wollte ihr keine Liebe zur Natur predigen und war zufrieden, wenn sie Verständnis dafür bewies. Wenn das Kind erst groß genug wäre, um die Dinge zu begreifen, würde Margarete in ihm die Verehrung des Wirklichen, Guten und Schönen merken: das wußte Paul. Sie besaß jene starke Lebensweisheit, die zwar stets des Unbekannten eingedenk ist, das sich unsern Blicken unablässig darbietet und zugleich entzieht, und die doch das Leben so ansieht, wie es ist, nicht um ein anderes zu träumen, sondern um das von ihm zu fordern, was es bieten kann, Mühe und Arbeit, aber auch tiefe, dauernde Befriedigung, und mit ihr die Heiterkeit der Seele und die starke Hoffnung, den Stern und Leuchtturm der wackeren Herzen. Und diese Lebensweisheit würde sie ihrem Kinde mitteilen.
Eines Tages gingen Paul und Margarete am Ufer eines der herrlichen Teiche von Rouge-Cloître. Sie sahen eine weiße Schnecke durch den Staub kriechen, die sich den Rücken an der Sonne wärmte und ein Recht aufs Leben zu haben glaubte. Das harmlose glückliche Tierchen bewegte sanft seine Fühler und schien Gott zu danken, daß der Sand so warm, die Luft so lau und das Wetter so schön war. Plötzlich kam aus den Grashalmen, die sich zur Seite bogen, rasch, flink und behende ein Käfer hervor, die Kiefer zusammengeklappt wie eine verzahnte Zange, und mit einem funkelnden, goldpunktierten Panzer bedeckt. Es war ein schönes Insekt, aber stumpfsinnig und blutdürstig wie alle Mörder im Sold der Natur. Die Schnecke erblickt ihn, zieht ihre Fühler ein und will entfliehen. Aber es ist zu spät. Der Käfer öffnet seine Zangen und versetzt der Schnecke zwei tiefe Schnitte ins Fleisch. Sie krümmt sich langsam, ihr Todeskampf ist so träge, wie es ihr Leben war. Nach ein paar schlaffen Zuckungen stirbt sie.
»Schrecklich,« sagte Margarete, »soll ich das böse Tier zertreten?«
»Beeile dich nicht,« versetzte Paul.
Der Käfer zerriß die Schnecke mit seinen Zangen und betastete ihr frisches Fleisch mit seinen Fühlern, während er sie verzehrte. Er schwoll zusehends auf und fraß immer weiter, aber mit weniger Kraft und Gier. Bald hatte er das blöde Aussehen eines dicken Finanzmanns, der in den fetten Wonnen einer guten Verdauung schwelgt.
Plötzlich kam leise und vorsichtig, über den Staub hinschleichend, ein kleinerer, behenderer Käfer, der Hunger hatte. Er stürzte sich auf den Leichnam der Schnecke, der satte Käfer wollte ihn verteidigen, und im Nu hatte sich ein Kampf entsponnen, ein heißer, roher Kampf, wie der Aufeinanderprall zweier Maschinen. Die Leiber bewegten sich nicht, die beiden Köpfe, die sich berührten, schienen nur Augen zu haben, um ihre Blöße, den Leib zu decken. Die Zangen verwickelten sich ineinander; der satte Käfer verlor die eine und umkrallte den Angreifer heftig mit den Füßen. Ihn loszulassen, wäre das eigene Todesurteil gewesen. Aber der hungrige Käfer machte plötzlich eine so heftige, rasche Bewegung, daß sein gesättigter Gegner auf den Rücken fiel und die Beine von sich streckte. Er erlitt das Los der Schnecke und wurde wie sie aufgeschlitzt. Bevor der Sieger seinen Schmaus begann, betastete er abwechselnd sein noch lebendes Opfer und die Reste der Mahlzeit des Besiegten, aber er zauderte nicht lange, entschied sich für die Schnecke, deren Fleisch ihm zarter schien, und ließ seinen halb aufgefressenen Feind in den Qualen eines gräßlichen Todeskampfes enden.
»Ach!« sagte Margarete und zertrat die Schnecke und die beiden Käfer mit dem Fuße, »ist es gerecht von Gott, zuzulassen, daß der Starke immer den Schwachen frißt? Was hatte denn die Schnecke getan, daß sie den Tod verdient hatte?«
»Schau,« sagte Paul.
Ein Lamm, ein schönes kleines Lamm, das mit einem langen Strick an einen Pflock gebunden war, weidete die jungen Sprossen eines Schlehdorns ab.
»Wie schön ist es!« rief Margarete und streichelte es, »das arme gute Tierchen, sieh nur, wie artig es frißt. Wie zufrieden es aussieht, die Sonne auf dem Rücken und die Weide vor dem Munde! Sieh, es läßt sich durch mein Streicheln nicht stören. Ach, du Pflanzenfresser, ich möchte dich als Hund haben, du bist gut und hübsch, und ich mag dich gern, Lämmchen!«
»Kannst du mir sagen,« fragte Paul, »was dies Lamm getan hat, daß es verdient, von dir gegessen zu werden?«
»Von mir?« sagte Margarete entsetzt und zog die Hand von dem krausen Fell zurück.
»Von dir, ja. Hast du noch nie Hammelkeule oder Koteletten gegessen?«
»Du hast recht,« sagte Margarete, »aber ich kann nichts dafür, daß Gott die Steine nicht so zum Essen gemacht hat, wie das Lamm.«
In diesem Augenblick kam die Dame mit dem Windhund an ihnen vorbei. Sie trug ein graues Tuchkleid mit weißen Besätzen, einen Hut aus Reisstroh mit großen Flügeln und mit Rosen und Mohnblumen garniert.
Beide Frauen tauschten einen feindseligen Blick. Paul schien verlegen. Die Dame mit dem Windhund entfernte sich, und Margarete und Paul, der blaß geworden war, setzten ihren Spaziergang fort. Sie schwiegen lange, schließlich sagte Margarete dumpf:
»Die Frau ähnelt dem kleineren Käfer.«
»Von weitem,« versetzte Paul.
»Sie ist nicht gut. Was meinst du?«
»Nichts. Es ist mir einerlei.«
»Weißt du, wie sie heißt?«
»Ja.«
»Wie?«
»Gräfin von Zuurmondt und mit Vornamen Amelie.«
Roosje hatte ihren Fluchtplan noch nicht ausgeführt, und Margarete dachte immerfort an ihre Mutter. Am Morgen fragte sie sich: »Was tut sie jetzt? Sie macht selber das Frühstück, aus Angst, daß Siska zu viel Reisig in den Herd tut und zu viel Kaffee und zu wenig Zichorie in den Morgentrank. Sie ist vielleicht sehr traurig. Gegen Mittag wird sie das Essen kochen, und Siska wird nicht mehr die guten Bissen kriegen, die ich ihr gab. Arme Siska! Ich muß ihr ein paar Leckerbissen mitbringen.« Um ein Uhr sagte sie sich: »Es ist Essenszeit, warum kann ich ihr nicht unser Essen bringen? Es ist weit besser. Aber sie würde es ablehnen.« Dann fuhr sie in ihren Erinnerungen fort: »Nach dem Essen wird sie das Haushaltungsbuch, dann ihre Rechnungen in Ordnung bringen und ihre Strümpfe stopfen, dazu wird sie die Wolle von den abgetragenen nehmen. Dann wird sie aus Gewohnheit meine Winterkleider ausschütteln, in der Hoffnung, daß die Motten, die in der Wolle sitzen, herausfallen. Und dann wird sie vielleicht denken, daß ich sie nicht mehr liebe. O doch, doch, arme Mutter, so ganz allein! Aber sie wird es nicht mehr lange sein. Paul, wir wollen sie umarmen gehen.«
»Gehen wir,« sagte Paul.
Sie gingen in froher Stimmung zu Fuß hin und sahen vor Roosjes Haus die Gardinen und Vorhänge an den Fenstern, alles in schönster Ordnung. Sie schellten. Siska öffnete ihnen.
»Frau, Frau,« rief sie und vergaß die Tür ganz zu öffnen, so daß der Doktor und Margarete sie aufstoßen mußten. »Frau, Grietje kommt zurück, Fräulein Grietje.«
Eine harte und wütende Stimme antwortete:
»Was schiert mich das? Es ist zu spät!«
»Zu spät? Warum?« rief Margarete aus und sprang vier Stufen auf einmal hinauf. »Zu spät, Mama, zu spät?«
Und sie warf sich an Roosjes Hals.
»Ist er auch da?« fragte Roosje, sich den Liebkosungen ihres Kindes nur schlecht erwehrend.
»Ich bin da,« sagte Margarete, »ich, die dich so lange alleingelassen hat. Aber ich kann nichts dafür. Küsse mich, Mutter, küsse mich.«
Roosje gab ihr keinen Kuß, drückte sie aber unwillkürlich in die Arme und sagte:
»Laß dich von einem andern küssen, geh, was brauchst du meine alten Liebkosungen? Wenn man es sechs Wochen aushält, ohne seine Mutter zu sehen, kann man sie auch einen Monat, zwei Monate, immer allein lassen, bis sie unter der Erde ist, statt darüber. Du bist ja recht geputzt und recht schön, ganz in Seide, wenn's beliebt. Das Geld rollt nur so bei dir. Ich weiß nicht, wie du dich getraust, mich in meinen Lumpen zu umarmen. Wo ist er?«
»Hier, Mutter,« sagte der Doktor mit ernster, sanfter und leicht bewegter Stimme. Und er kam die Treppe herauf.
Roosje stand aufrecht und starr auf dem Flur. Er wollte sie umarmen, wie es Margarete getan. Sie stieß ihn zurück. »Ich lasse mich nicht von Männern umarmen.«
»Sind Sie denn nicht meine Mutter?« fragte er sanft.
»Ihre Mutter?« fragte Roosje verblüfft. »Ihre Mutter? Nein, das nicht!«
Und sie warf Paul einen Blick so tiefen Hasses zu, daß er erschrak.
Indessen drückte Siska, zugleich lachend und weinend, Margaretes Hände heftig: »Ha, Fräulein, Fräulein,« sagte sie, »Fräulein, Sie sind wieder da! Sie sind wieder da, Fräulein!«
Paul litt unter Roosjes Kränkung. »Wie?« sagte er sich, »ich komme zu dieser Frau, harmlos, zutraulich, liebevoll, will ihr die Arme um den Hals legen wie ein Sohn, ihr altes Herz an einem jüngeren wärmen, und sie behandelt mich wie einen Taugenichts!«
Das Blut summte ihm in den Ohren, ein brennender Schweiß netzte seinen Körper, seine Fäuste ballten sich, und er verspürte einen unwillkürlichen Drang, Roosje zu schlagen. Aber dieser kurzen Aufwallung folgte bald ein Gefühl schmerzlichen Unwillens. Er verzieh ihr.
Margarete, die Paul mindestens ebenso liebte wie ihre Mutter, war über diesen grausamen Empfang empört. Sie öffnete eine Tür im Oberstock und schob ihre Mutter und Paul in ein Zimmer. Dort richtete sie sich entschlossen auf und sah ihre Mutter fest an.
»Warum umarmst du ihn nicht?« fragte sie. »Warum empfängst du uns auf dem Gange? Warum läßt du uns nicht eintreten?«
»Weil . . .« versetzte die alte Frau. Dann ging sie auf Margarete los, ebenso aufrecht und entschlossen wie sie. »Mit welchem Rechte stellst du mich hier zur Rede? Wenn es mir nicht paßt, deinen Doktor zu umarmen, wenn ich ihn nicht in mein Haus lassen will, was geht's dich an?«
»Es geht mich wohl an, denn du bist ungerecht, er ist mein Mann und hat dir nur Gutes getan.«
»Gutes?« hohnlachte Roosje. »Was denn, wenn's beliebt?«
Es war der Haß, der aus ihr sprach, der grundlose Haß einer Frau, die, wenn sie Grund gehabt hätte, der Sonne zu grollen, ihr am hellen Mittag gesagt hätte: Du bist ein alter, halbblinder Mond und höchstens noch gut für die Rumpelkammer im Paradies.
»Willst du ihn umarmen, ja oder nein?« fragte Margarete.
»Nein.«
»Nein? Nein? Also du sagst nein. Schön, da du meinen Gatten nicht sehen willst, wirst du mich auch nicht mehr sehen.«
»Sei nicht hart,« sagte Paul.
»Ich hin nicht hart. Ich setze keinen Fuß mehr in dies Haus. Jetzt ist sie keine Mutter mehr, sondern eine böse Frau, die uns alle beide verwünscht. Nein, lieber sterben als wiederkommen.«
»Schön, komm nicht wieder,« sagte Roosje, die hinter diesem großen Zorn mit Recht einen listigen Versuch sah, sie mit dem Doktor wieder auszusöhnen. »Komm nicht wieder, wenn du nicht willst,« wiederholte sie mit tiefer Verachtung. »Ich kann ihn nicht riechen, ich verabscheue ihn, ich möchte ihn tot und zerstückelt sehen, und da du ihn mehr liebst als mich, geh!«
»Nein, ich liebe ihn nicht mehr als dich, Mutter, ich liebe ihn nur anders, das ist alles.«
»Willst du wohl gehen?« schrie Roosje, bei diesem Wort hochfahrend. »Willst du wohl gehen, oder ich verfluche dich!«
Und sie hob drohend die Hand gegen die Tochter.
»Ich habe dir nichts Böses getan, du hast kein Recht, mir zu fluchen.«
»Willst du gehen? Willst du mit ihm gehen? Du willst wohl, daß ich einen Schlaganfall kriege? Geh!«
»O Mutter, Mutter, was tust du da?« sagte Margarete.
»Geh!« sagte Roosje zitternd und bleich.
»Ich gehe, Mutter, ich gehe, aber das ist nicht recht.«
Beide gingen trostlos, die Stirn unter diesem unverdienten Haß gebeugt.
Kaum hatte Margarete ein paar Schritte gemacht, so kehrte sie um, klopfte an die Tür und sagte weinend:
»Mutter, öffne mir, öffne mir, Mutter, komm mich umarmen!«
Keine Antwort auf dies sanfte Flehen.
»Öffne mir, öffne mir, Mutter,« wiederholte Margarete.
»Die Frau hat es mir verboten,« sagte Siska, die Tür halb öffnend.
»Ich öffne dir, wenn du mir schwörst, ihn zu verlassen,« zischte Roosje.
»Ihn verlassen? Nein.«
Und Margarete holte Paul ein.
Beide gingen schweigend fort. Als sie im Freien waren, schienen die Vögel umsonst für sie in den Bäumen zu singen; umsonst hüpfte eine neugierige Grasmücke von Busch zu Busch, um sie vorbeigehen zu sehen; umsonst war aller Glanz des Sommers, waren alle Kräfte der Natur um sie her ungeheuer und zärtlich. Margarete weinte.
»Meine Mutter hat mich fast verflucht,« sagte sie. »Meine Mutter will, daß ich dich verlasse. Nein, ich verlasse dich nicht, nein, nie! Ich gehe nicht mehr zu ihr, nein! Das ist unrecht, das ist unwürdig!«
Acht Tage vergingen. Margarete lachte nicht mehr, sang nicht mehr und verlor ihre reizende Koketterie.
Gegen Mitte August empfing sie einen jener unauslöschlichen Eindrücke, die sich mit goldenen Lettern in das Leben jedes Mädchens prägen, das durch die Ehe zur Frau geworden ist. Es war zwei Uhr nachmittags. Margarete war seit zwei Tagen unruhig, ja zornig gewesen.
»Ich bin müde, ich habe keinen Hunger mehr und Kreuzschmerzen. Es ist recht verdrießlich,« setzte sie hinzu.
Sie legte sich hin. Paul stand am Kopfende ihres Bettes. Er blickte sie an, dann sagte er lächelnd: »Ich weiß, was es ist.«
Sie warf ihm einen verstohlenen, dankbaren Blick zu, dann errötete sie und verbarg ihr Gesicht hastig unter der Decke. Aber da es sehr heiß war, enthüllte sie bald wieder ihr strahlendes Antlitz, ihren runden Nacken, ihre weiße feste Brust, ihre üppigen Schultern, bog den Kopf und den Hals zurück, und mit ihren halbgeöffneten Lippen, zwischen denen ihre weißen Zähne schimmerten, lächelte sie verzückt dem zu, dem sie dies reine Glück dankte. Sie streckte ihre schönen bloßen Arme zu Paul hin, zog sein Gesicht mit beiden Händen an das ihre und gab ihm einen langen dankbaren Kuß. Dann stieß sie ihn sanft zurück und erhob ihre großen Augen gen Himmel, wie um Gott zu suchen und ihm zu danken.
Das war die geliebte, glückliche Frau, die erwachende junge Mutter, die im Geiste schon das Kind umarmt, das sie in ihrem Schoße werden fühlt, das war Margarete, schöner denn je, erhaben und verklärt durch die unendliche Mutterliebe, welche die Kleinen und Schwachen auf Erden kosend umfängt.
Aber an den folgenden Tagen kehrte ihre Traurigkeit wieder. Dann senkte sie den Kopf und sagte: »Arme Mama . . . böse Mama.«
Dann warf sie sich ihrem Gatten an den Hals und blickte ihn mit Augen so voll liebender Dankbarkeit an, daß sie auch einem Armen, den alles im Stich läßt, Hoffnung und Kraft gegeben hätten.
»Dich verlassen!« sagte sie, »nein, Paul, nein, nie!«
Und das Kind, diese Dichtung zu zweien, lebte in ihren jungen Köpfen. Würde es schön sein oder häßlich? Würde es lebend oder tot zur Welt kommen? Nein, es würde gut, schön, brav, reizend, geistreich sein, ein Herrenmensch, der über alle gebieten, alles beherrschen sollte. Wieviel kluge oder starke Männer, wieviel schöne Mädchen hat dieser Gedanke, diese hehre Leidenschaft geschaffen, ein höheres Wesen in die Welt zu setzen!
Roosje und Siska waren ganz allein. Auf die eisige Ordnung ihres kalten Hauses regnete es Verdruß, Verlassenheit und Trübsal. Es war gleichsam ein Schmerz in gut sitzendem Trauerkleid mit rosa Krawatte.
Siska kam zusehends herunter. So sehr sie an der alten Roosje hing, ihre Gegenwart begann tödlich auf ihr zu lasten. Stets das gleiche verkniffene Gesicht, die gleichen selbstsüchtigen Zornesausbrüche, die ewig mürrischen, harten Züge, die dünnen Lippen, die bei keinem Anlaß mehr lächelten und sich nur öffneten, um bittere Worte zu sprechen oder das scharfe Gift der Schlange Eifersucht zu spritzen. Der Gedanke, so weiterzuleben, immerzu, ohne irgendwelche Aussicht auf Änderung, war für die arme Siska qualvoll. Wenn sie schlafen ging, müde, sich den ganzen Tag lang zusammennehmen zu müssen, fuhr sie in ihrem Bette empor und tobte ihre Wut im stillen aus. Am nächsten Morgen war ihr Bettuch wie ein Strick zusammengedreht und bewies die Heftigkeit ihres Alpdrückens. Nachts im Traume stritt sie sich oft mit Roosje und prügelte sie weidlich. Aber beim Aufwachen schämte sie sich dieser nächtlichen Anfälle, und den ganzen Vormittag suchte sie das Böse, das sie nicht getan hatte, durch Sanftmut wieder gutzumachen.
Vielleicht hätte sie sich auf dem Boden erhängt, hätte sie nicht einen Tröster gehabt, einen schlauen, gefräßigen Maurer, der sich einbildete, sie hätte Ersparnisse und allerlei Leckerbissen für ihn, und ihr darum den Hof machte. Er lag auf dem Bürgersteig auf den Knien, mit gekrümmtem Körper, den Kopf tiefer als den Rücken, wie eine riesige Kröte, während Siska, auf einem Tisch hockend, ihm durch das vergitterte Zugloch der Küche zuhörte. Da er aber weder Zucker noch Kaffee noch Tabak noch Fleischbrühe noch irgendwelche Speisereste bekam, blieb er fort und suchte anderwärts nahrhaftere Abenteuer. Aber Siska starb nicht daran.
Eines Morgens kam sie schweren Herzens herunter, noch ganz traurig vom letzten Alptraum, in dem sie Roosje derart geschlagen hatte, daß sie zu einem Mohrrübenbrei verwandelt war. Da sah sie die Alte munter und beweglich mit kleinen Schritten in der Küche auf und ab gehen, sich die Hände reiben und heimtückisch lachen.
»Haha!« sagte sie, »haha! Ob dir das gut steht, Kind? Haha! Blühend und stark wie ein Mann, wahrhaftig. Ich habe ein schönes baumwollenes Halstuch gefunden. Da – ich schenke es dir. Es ist schön, was?«
Erschrocken sah Siska das Tuch an, das Roosje aus der Tasche zog. Es war ein blutrotes Baumwolltuch mit schwarzen Tupfen. Sie glaubte, ihre Herrin wollte sie durch dies Geschenk bestimmen, Paul zu ermorden.
»Ich soll doch nichts Böses dafür tun, nicht wahr, Frau?« fragte sie und zauderte, es anzunehmen.
»Ha, nein, einfältiges Mädchen,« sagte Roosje und nötigte es ihr auf. »Da ist noch ein Band, um einen Hut damit zu garnieren.«
Siska betrachtete das Band, das noch aus dem ersten Kaiserreich stammte und von zweifelhaftem, verstaubtem Gelb war.
»Einen Hut damit garnieren?« dachte Siska. »Ich mache mir nicht mal Strumpfbänder davon!« Trotzdem antwortete sie: »Ja, ja, Frau, das wird ein schöner Hut.«
Dann trug sie Roosje Milchkaffee und Butterbrot auf, Sie selbst wurde von Gewissensbissen gepeinigt, da sie an den nächtlichen Traum dachte. Sie setzte sich ans andere Ende des langen Tisches, schnitt sich eine riesige Brotschnitte ab und hielt sich nach der schrecklichen Missetat, die sie begangen, für unwürdig, sie zu essen, bestrich sie auch nicht mit Butter, tunkte sie aber in einer Anwandlung wütenden Hungers in das dampfende Naß und hatte sie bald wie eine Pille verschluckt.
Roosje war unzufrieden, als sie die große Brotschnitte so schnell verschwinden sah, vergaß aber den peinlichen Eindruck und tauchte ihre Butterschnitten nun auch mit wilder, triumphierender Genugtuung in ihren Kaffee. Die Art, wie sie hineinbiß, flößte Siska Grauen ein: jedesmal, wenn die spitzen Zähne der Alten in das unschuldige Gebäck bissen, wähnte sie, Roosje äße ein Stück vom Doktor.
»Haha!« kicherte Roosje, als sie fertig war, »das war bequem. Sie lebten da zu zweit und miteinander zufrieden. Ich habe sie vor die Tür gesetzt. Sie verlangten nichts Besseres, besonders er. Ich weiß es. Ja, Siska, ich bin ein Schaf, ein dummes Schaf, ein Erzschaf. Da leben sie nun auf dem Lande wie vornehme Leute, laufen umher, umarmen sich, sind glücklich, und ich . . . Aber ich habe sie in der Hand, ich nehme meine Rache. Wir werden sie besuchen gehen. Er wird es nicht wagen, der Mutter seiner Frau die Tür zu weisen. Sie werden es nicht wagen, ihre Faxen und Tändeleien vor mir zu treiben, schamlos zu leben wie die Turteltauben und sich von früh bis spät zu schnäbeln. Sie werden mich ertragen, mich streicheln müssen. Das kostet mir nichts. Du ißt, was du kannst, Geflügel, Fleisch, Kuchen, trinkst Wein, Bier, stopfst dich voll, betrinkst dich. Er wird schon merken, was ihm das kostet. Wir wollen die Börse dieses Bettelvolkes leeren. Und dann werden wir sehen, ob er noch die Mittel hat, so weiterzuleben und Landhäuser zu haben. Was, Siska?« . . .
Sie stand auf, trat dicht an Siska heran und sprach ganz leise zu ihr, während sie sich nach der Küchentür umsah, ob auch niemand anders zuhörte. »Suche herauszukriegen, wo die Kasse ist. Leere sie . . . und . . . Zittre nicht, nach ein bis zwei Jahren kann er sein Geld wiederkriegen. Inzwischen welche traurige Figur! Sie müßte dann hierherkommen und mich um Essen bitten. Ihn möchte ich krepieren sehen, weil er kein Glas Wasser hat, und ich gäbe ihm keins.«
Siska schauderte vor dem, was bevorstand. Dann brach sie in Schluchzen aus. »Frau, Frau,« sagte sie, »gehen Sie nicht hin! Die beiden haben Ihnen nie was Böses getan, sie lieben Sie, lassen Sie ihnen ihr Glück. Gehen Sie nicht hin, Frau! Das ist nicht recht. Gott im Himmel wird Sie strafen. Gehen Sie nicht hin, Frau!«
Roosje war einen Augenblick unschlüssig, dann nahm sie wieder eine falsche Heiterkeit an. »Sorge dich nicht, morgen reisen wir. Aber ich werde nicht so schlecht sein, wie du denkst.«
In der Nacht hatte Siska einen schrecklichen Traum. Roosje hatte dem Doktor den Kopf abgeschnitten und ihn zweifellos gekocht, denn er war ganz weiß und schwammig. Sie hatte ein großes Messer und eine große Gabel hineingesteckt und wollte ihn mit aufgeworfenen Lippen und blitzenden Zähnen verspeisen.
Am nächsten Morgen wären sie schon sehr früh aufs Land gefahren, hätte Roosje nicht so viele Kisten, Kasten und Schubladen abzuschließen, zu vernageln und zu verriegeln gehabt. Die kleinen Möbel, welche die Diebe (so fürchtete sie) wegen des Holzwertes hätten fortschleppen können, schraubte sie sämtlich mit den Füßen am Fußboden fest. Ihr Bargeld brachte sie auf die Bank, und alles, was sie an feinem Leinen und Silberzeug hatte, gab sie einem alten Juden, den sie als ehrlich kannte, gegen gute, vollgültige Bürgschaft zur Aufbewahrung. Schließlich setzte sie einen alten Soldaten, der eine Portierstelle suchte, unentgeltlich in ihre Wohnung, ließ ihm aber nur die Küche und Dachstube offen. Dann schloß sie alle Keller- und Zimmertüren doppelt zu und versiegelte sie.
Als sie so fast aller Sorge ledig war, dachte sie an weiter nichts mehr, als wie die Spinne ihr Netz zu weben, um ihren Feind darin zu verstricken.
Am folgenden Tag um vier Uhr nachmittags reisten die beiden Frauen ab. Roosje hätte nicht all die Bosheiten aufzählen können, die sie sich an diesen zwei Tagen ausgedacht hatte, um das junge Paar zu kränken, all die Giftpfeile, die sie abschießen wollte, den unaufhörlichen Verdruß, den sie ihm zu bereiten gedachte, um Kummer und Schmerz in das Haus ihres Feindes zu bringen.
Die Mücke, die fröhlich in der Sonne schwirrt, sieht das Netz nicht, in dem sie als zerrissenes Opfer ihr Leben lassen wird; der Vogel sieht die Schlinge des Jägers nicht, und die beiden armen Liebesleute, die miteinander umherstreiften, dachten nur daran, gut und glücklich zu sein und Gutes zu tun.
Die Liebe ist ein Gedicht. Sorglos lasen sie es zu zweit.
Es war an einem jener schönen Tage am Ende des August, wo man des Abends am feuchteren und kühleren Winde schon merkt, daß der Herbst naht. Es war Mittagszeit und herrliches Wetter. Der Himmel war von mildem Blau, noch gedämpft durch blasse Dünste. Am Horizont ballten sich weiße Lämmerwolken gleich himmlischen Betten für die Liebschaften der Engel. Eine unbestimmte Schwermut lag in der Luft. Die Schwermut der Übergangszeiten; schon vergilbten und vergoldeten sich die Bäume, als wollten sie an Stelle ihres Sommerkleides ein noch schöneres antun, um jenen lebendigen dreimonatigen Schlaf zu schlafen, um den viele Menschen sie beneiden könnten.
Paul und Margarete waren glücklich. Es war nicht das Glück der Dummen nach einer guten Mahlzeit, das gleichsam eine Gärung des Fleisches ist, sondern das wahre Glück der Liebenden, ein Glück, auf dessen Grunde immer eine Träne ruht wie eine Perle.
Sie gingen auf der Landstraße nach Paris, der berühmten Straße des Mittelalters, wo wilde Räuber von »artigen Frauen und Mägdlein« so wacker niedergemacht wurden, jener Straße, die zwischen zwei hohen, mit großen Bäumen bestandenen Böschungen dahinführt und zum Träumen einlädt, wo man immerfort gewärtig ist, eine Nixe mit Flügeln aus Seerosenblättern, eine grüne, sprechende Kröte oder einen verzauberten Maulwurf zu sehen, der einen verflucht oder segnet mit seinen zottigen Pfoten, die den Händen eines alten Advokaten gleichen, dessen Finger sich beim Graben unterirdischer Gänge unter dem Wege des Rechtes abgenutzt haben.
Margarete lehnte ihren schönen Kopf träumerisch lächelnd an Pauls Schulter.
»Margarete,« sagte er zu ihr, »über dieser kleinen Welt ist eine Macht, die man Zufall nennt, vielleicht mit Unrecht, denn ihre Wirkungen sind in Wahrheit nur die Folge einer fortlaufenden Reihe natürlicher Verkettungen. Die Art dieser Verkettungen kennen wir nicht, und da wir gleichzeitig das Wunderbare und Geheimnisvolle lieben, so haben wir sie uns in Gestalt eines heimtückischen, unbedachten, spöttischen und fast stets ungerechten Gottes versinnbildlicht . . .«
Diese Philosophie sagte Margarete nicht zu. Aber der reizende, gesunde Verstand ihres guten Herzens sagte ihr, daß denkende Männer in gewissen Augenblicken ein Redebedürfnis haben, sofern sie ihre Gedanken nicht dem Papier anvertrauen, was schlimm ist, oder gar einer Druckerei, was noch schlimmer ist. Auch glaubte sie bei aller Verliebtheit durchaus nicht, daß jedes Wort ihres Mannes ein Evangelium sei oder durch Ausdruck und Tonfall seine Liebe verkünden müsse, wenn auch in Gestalt von Philosophie und Beredsamkeit.
Sie lehnte den Kopf also an Pauls Schulter, und er sagte: »Ein Philosoph, etwas närrisch wie alle seines Schlages, verließ eines Tages die Stadt, in der viele Häuser gebaut wurden, um keinen Ziegel oder Baustein auf den Kopf zu kriegen. Er entfloh ins freie Feld und war sicher – als ob man auf dieser Welt einer Sache sicher sein könnte –, ja überzeugt, derart weniger Aussicht auf einen gewaltsamen Tod zu haben. Wohlan, keineswegs! Der Teufel Zufall wollte, daß in diesem Moment ein Adler auf eine Schildkröte herabstieß, sie hoch in die Luft emportrug und da er sie zu schwer fand, vielleicht auch aus Haß auf die Philosophie, sie dem Philosophen auf den Kopf fallen ließ, den sie glatt einschlug. Der Denker war sicher gewesen, dem Tod durch den Ziegel zu entgehen, aber auf den Tod durch die Schildkröte hatte er nicht gerechnet. Das ist der schlimme Zufall.«
»Eines Tages,« hauchte Margarete melodisch und begleitete ihre Rede mit Kopfbewegungen und Blicken, die ihr allein eigen waren, »eines Tages lag auf einem Bette ein junges Mädchen, das ein Doktor, dem die Biersuppe lieber war als die Medizin, zum Tode verurteilt hatte. Da trat in das Wirtshaus ein schöner junger Mann, dem die Frauen lieber waren als die Biersuppen. Hätte er keinen Durst gehabt, hätte ein anderes Wirtshausschild ihn früher verlockt, hätte er auch nur zehn Schritt weiter einen Freund erblickt, so wäre er an der Schwelle der Wirtschaft vorübergegangen und das junge Mädchen wäre lebendig begraben worden. Aber er trat ein, erweckte sie, liebte sie, nahm sie zur Frau und liebt sie noch, mehr als sie wert ist: das ist der gute Zufall.«
Paul schloß Margarete in seine Arme. Majestätisch und strahlend sah die Sonne zu, wie sie die holden Küsse dieser schönen Liebe tauschten.
Plötzlich sagte Paul: »Spielen wir selbst den Gott Zufall, aber den guten.« Er zog aus seiner Geldtasche ein Zwanzigfrankenstück und sah sich sorgfältig um, ob hinter den Hecken oder auf beiden Seiten des Weges niemand nahte. Sie waren allein. Paul ließ das Goldstück neben dem Schatten eines großen Buchenstammes zu Boden fallen.
Dann erstiegen beide die Böschung und schlüpften durch eine Öffnung, die ein Baum beim Herabstürzen in den Fichtenzaun geschlagen hatte, der das Anwesen des Herrn . . . umschloß. Unbekümmert um die Fangeisen und Selbstschüsse, vor denen ein Schild warnte, die aber, wie sie wußten, nicht vorhanden waren, versteckten sie sich im Gebüsch und warteten auf das Urteil des Zufalls.
Ein Herr und eine Dame tauchten an der Wegebiegung auf. Er war gut gekleidet; sein sicherer Schritt verriet den Geldmann. Eine dicke Kette schlang sich dreimal um seine breite Brust, die in seinen Magen überging, der seinerseits mit einem ansehnlichen Bauche verschmolz. Der Doktor sagte: »Viele Gänse, die auf den glühenden Rosten von Straßburg getanzt haben, sehen nicht so imposant aus wie er.«
»Er blickt zu Boden,« flüsterte Paul, »ach!«
»Er wird es sicher finden.«
»Warte.«
»Sie gehen auf das Geldstück zu.«
»Die Dame scheint nachdenklich; sie nimmt den Spazierstock des Mannes und schlägt damit taktmäßig auf den Boden . . .«
»Sie muß das Geldstück unfehlbar sehen.«
»Sie sind ganz nahe . . .«
»47,75 stehen die Métalliques. Soll ich welche kaufen?«
»Kaufen? Du bist wohl verrückt . . . Ich nähme sie kaum zu 42.«
»Vorüber, vorüber,« sagte Margarete und sprang dem Doktor an den Hals. »Sie haben nichts gesehen! Die braven Métalliques! Wie spaßhaft das ist!«
Über zehn Minuten blieb der Weg leer. Margarete wurde ungeduldig.
»Man möchte glauben, sie tun es absichtlich,« sagte sie.
»Wer?«
»Die Armen. Müßten sie nicht eine Meile weit das schöne Goldstück sehen, das nur aufgehoben sein will?«
Paul seufzte und sagte: »Wenn der Mensch stets sähe, wo sein Glück ist, ginge alles besser auf Erden.«
Ein Strahl fiel auf das Goldstück, und es leuchtete auf wie eine kleine Sonne.
Sie hörten Schritte und das Knarren eines schlecht geschmierten Rades.
»Da kommt jemand!« sagte Margarete. »Wer ist es wohl jetzt?«
Eine Bäuerin erschien, einen Karren vor sich herschiebend. Es war eine der herumziehenden Händlerinnen, die für 80 Heller hundert Stück Reisig verkaufen, die sie haben auflesen, beschneiden, binden, trocknen und in die Stadt fahren müssen.
»Wenn die Ärmste doch das Geld fände!«
»Ich glaube nicht, auf ihrer Stirn steht: ›Kein Glück.‹ Der Zufall will nicht.«
In dem Augenblick, wo die Frau an das Goldstück kam, schob sich eine weiße Wolke zwischen Erde und Sonne. Das Goldstück verlor seinen Glanz, und die Bäuerin ging vorüber.
Ein zerlumpter Knabe erschien auf der gegenüberliegenden Böschung, sprang geschwind wie ein Eichkätzchen auf den Weg, begann wie toll zu laufen und verschwand.
Ein kleines zerlumptes Mädchen kam hinterdrein. Es trug einen halb mit Kartoffeln gefüllten Sack, der ihm zu schwer war. Statt wie der Junge zu laufen, stieg es die Böschung halb hinunter und versteckte sich mit seinem Sack in einem ziemlich tiefen Loche, das von dichtem Gestrüpp verdeckt war. Von unten konnte niemand es sehen, noch weniger von dem Felde, wo es den Diebstahl begangen hatte.
Ein bis zwei Minuten darauf erschien oben auf der Böschung ein Bauer mit einer Heugabel. Er stellte sich an den Rand, gerade über dem Kopfe des Mädchens, und begann mit einer Reihe von Flüchen, untermischt mit furchtbaren Drohungen: »Kartoffeldiebe! Wenn ich euch kriege, bring´ ich euch um!« Dann drohte er mit der Faust den Hohlweg entlang, auf dem die Diebe nach seiner Meinung entflohen waren.
Der Doktor und Margarete hatten Mitleid mit der kleinen Diebin. Durch die Lücken im Gestrüpp sahen sie ihre großen schwarzen Augen leuchten und ihr wachsbleiches Gesichtchen sich von dem dunklen Grunde des Loches abheben. Trotz ihrer Dreistigkeit zitterte sie an allen Gliedern. Das geringste Geräusch konnte sie verraten. Sie wußte und fühlte es: hätte der Bauer sie erblickt, er hätte sie umgebracht oder wenigstens krumm und lahm geschlagen. Der Bauer blieb eine Minute lang stehen, blickte um sich, ohne zu sehen, was er suchte, und lief dann plötzlich auf sein Feld bis zu einer Stelle, von wo er die vier ungleichen Arme eines Kreuzweges übersehen konnte. Dort hielt er eine Zeitlang Umschau nach allen Seiten, sprang dann täppisch die halbe Böschung hinunter, glitt aus, rutschte auf seinem Gesäß weiter und faßte auf dem Hohlwege Fuß. Dann suchte er rechts und links, blickte in die Luft, schwor und fluchte und wühlte mit den Fingern in den Maulwurfslöchern. Hätte ihn die Wut nicht blind gemacht, so hätte er das Schlupfloch bemerkt, in dem die Kleine vor Furcht schlotterte. Aber er sah es nicht.
»Wie gut!« sagte Margarete.
Er kehrte wieder um und ging an dem Goldstück vorbei. Während er immerfort »Gott sei verdammt« und andere lästerliche Flüche ausstieß, ging er den Weg weiter bis zum Dorfe. An der Ecke war ein Wirtshaus »Zur alten Trompete«, wo sich dermaleinst die »Brüder vom guten Vollmondsgesicht«Vgl. die Geschichte »Die Brüder vom guten Vollmondsgesicht« in de Costers »Vlämischen Legenden«, Jena, E. Diederichs Verlag, und die Episode gleichen Inhalts in seinem »Tyll Ulenspiegel«, Buch I, Kap. 36, ebd. versammelt hatten. Dort kehrte er ein.
Die Kleine, die vielleicht seine Gewohnheiten kannte, glaubte wohl, er wäre trinken gegangen, wartete zwei Minuten, streckte den Kopf aus dem Gestrüpp hervor, versteckte ihre Kartoffeln in dem Loch, in dem sie gesessen hatte, kletterte die Böschung herab, machte mit ihrem Nagel ein Kreuz in das grüne Moos eines Kalksteins, der unter dem Versteck lag, und ging stracks auf das Goldstück zu.
Sie hatte bloße Füße. Trat sie auf das Goldstück, so mußte die plötzliche Berührung mit dem kalten Metall ihren Blick auf den Erdboden lenken. Die Wolke verschwand, das Goldstück glänzte. In diesem Augenblick brauchte die Kleine sich nur zu bücken, um es aufzuheben, aber sie drehte sich um, jedenfalls um zu sehen, ob der Bauer nicht aus dem Wirtshause kam. Sie kratzte sich am Bein, dann lief sie davon.
Ein schöner junger Mann, schwarz und verträumt, der richtige Romanheld, erschien gesenkten Hauptes am Ende des Weges. Von Zeit zu Zeit hob er die Stirn, als befände er sich unter vielen Menschen, und fuhr sich feierlich mit der Hand durch die Haare. Nachdem er den Bäumen derart seine große Würde gezeigt hatte, senkte er von neuem das Haupt.
»Wenn er sich oft die Haare streichelt,« sagte der Doktor, »ist das Goldstück gerettet, aber Vorsicht, wenn er den Kopf senkt.«
Der junge Mann blieb stehen, zog einen Taschenspiegel, betrachtete sich darin und senkte von neuem den Kopf. Dann ging er weiter, trat beinah auf das Goldstück, sah nichts und ging vorüber.
»Ha!« sagte Margarete, »das ist stark.«
»Durchaus nicht,« sagte der Doktor, »Narziß hat sich darin betrachtet.«
Nach dem einsamen Spaziergänger erschien ein recht schönes Paar, ein junger Mann und eine junge Frau. Sie trug ein weites, reiches schwarzes Seidenkleid, ein Jackett aus weißem Pikee und ein braunes Barett, das mit einer Spange aus Stahlperlen und einer Fasanenfeder geschmückt war. Es war etwas in die Stirn gesetzt und gab ihr ein keckes, kokettes Aussehen, das ihr reizend stand. Der junge Mann war groß, hatte kastanienbraunes Haar, breite Schultern, ein jugendliches, etwas müdes Gesicht, blasse Farbe und geschmeidige Bewegungen. Er war gut gekleidet, wenn auch für die Jahreszeit etwas zu warm.
Beide blieben stehen, um zu sprechen.
Sie: »Wollen wir uns hier nicht ausruhen?«
Er: »Ja, hier. Warum nicht? Das Gras ist trocken, der Schatten kühl, die Blumen duften, und die Vögel singen.«
Sie: »Sonderbar, wenn du sonst mit mir aufs Land gehst, hast du Hunger und Durst. Heute sind wir fast zwei Meilen gelaufen, ohne etwas zu genießen.«
Er: »Flora, der Magen ist launisch wie die Muskeln. An manchen Tagen ginge ich gern zehn Meilen in einem Zuge, und ein andermal möchte ich mich nicht für alles Gold der Welt von meinem Lehnstuhl rühren.«
»Du hast Hunger, du bist blaß, ja grün.«
»Wenn ich grün bin, dann ist's vom Widerschein der Blätter. Und was die Blässe betrifft: wenn alle, die blaß sind, hungrig sein müßten . . .«
»Du gähnst, wohl aus Langeweile?«
»Nein.«
»Bekümmert dich etwas?«
»Nein.«
»Ich habe dich schon froher und glücklicher gesehen . . .«
»Ich bin weder traurig noch unglücklich.«
»Du bist also verdrießlich?«
»Vielleicht.«
»Wie findest du mein Seidenkleid? Ernst hat es mir geschenkt.«
»Sehr schön.«
»Mein Jackett ist hübsch, nicht wahr? Meine Tante hat es mir geschenkt.«
»Ich muß dir wohl auch etwas schenken.«
»Du? Das hat keine Eile. Ich liebe dich ja nicht aus Eigennutz, das weißt du doch. Aber es ist wirklich komisch, daß du bei dieser Hitze keinen Durst hast.«
»Das Kamel lebt wochenlang ohne Essen und Trinken.«
»Warum blickst du auf deine Nägel? Das tust du sonst immer nur, wenn du schlechter Laune bist.«
»Du hast doch keinen Durst, nicht wahr?«
Sie, nach kurzem Zaudern: »Nein, ich habe da unten an der Quelle getrunken.«
Er: »Du hast keinen Hunger?«
»Ich esse, wenn ich zu Hause bin.«
»Von hier ist's noch eine Meile bis zu deinem Hause. Du hast Hunger, sag' ich dir.«
»Nein.«
»Doch.«
»Du bist heute recht komisch.«
Er, mit dem Finger auf eine Anemone weisend: »Willst du diese Blume?«
»Ja.«
Er kletterte die Böschung hinan, um die Blume zu pflücken, und stand gerade vor Margarete und dem Doktor, die ihn unbemerkt beobachteten. Er wühlte in seinen Taschen, kehrte das Futter um und sagte mit traurigem Lächeln: »Nichts!«
Flora rief ihm von unten zu: »Was suchst du denn in deinen Taschen?«
Er antwortete: »Ein silbernes Messer, ein Messer, das unser Heiliger Vater, der Papst, geweiht hat. Gott gebe dem alten Manne alles Gute!«
»Brauchst du ein Messer, um eine Blume zu pflücken?«
»Brauchen? Ob ich es brauche? Flora, wie beschränkt du bist! Es war geweiht, sag' ich dir, geweiht und wundertätig. Eine Blume, die mit seiner silbernen Klinge geschnitten ist, bleibt monatelang frisch. Dies Messer war für mich ein Schlüssel, mit dem ich überall Einlaß fand. Ich trug es bei mir an dem Tage, wo ich dich kennen lernte. Ich durchbohrte dir das Herz damit, Flora, und seit dem Tage wurdest du sanft. Du fühlst die Wunde nicht, denn es läßt nur den Stolz bluten.«
»Was erzählst du mir da?«
»Ich singe das Lied eines Mannes, der sein Messer verloren hat. Das gute Messer! Bei seinem bloßen Anblick brachte mir jedermann schrankenlose Freundschaft entgegen. Ich war im siebenten Himmel der Hochachtung bei meinem Kaufmann, meinem Bäcker, meinem Schneider. Sie verachten mich, Flora, seitdem ich mein Messer verloren habe. Ich bemühe mich, ohne sie auszukommen . . . Das ist schwierig.«
»Wie dumm du bist.«
»Flora, die Dummheit ist die Rast des Geistes. Hätte ich mein Messer noch, ich spräche laut und selbstgefällig, ich gäbe es auf, etwas zu lernen, ich studierte gründlich die Trüffeln, die Gänselebern, die Fettammern, die sechzig bis achtzig Sorten erlesener Weine, die auf den Weinbergen der fünf Erdteile reifen. Ich sagte: Pfui auf die Wissenschaft, pfui auf die Arbeit, pfui auf das Denken! Ich legte mir einen Bauch an, einen fetten Schmerbauch, und Flora fände mich nicht mehr dumm.«
Sie: »Ich will mich setzen.«
Er: »Wenn die Füße müde sind, so gibt es reizende Naturpolster, und Flora täte Unrecht, sich nicht darauf auszuruhen.«
Flora begriff diese Sprache nicht recht. Ganz verblüfft setzte sie sich und sagte: »Wenn all die Dummheiten, die du mir sagst, dich nicht durstig machen, so versichre ich dir, ich kriege Durst davon.«
»Ich werde also nicht mehr reden. Willst du diese Blume, ja oder nein?«
»Das ist mir einerlei.«
»Flora, hast du einen Magen?«
»Ja.«
»Nun, dann bist du weniger glücklich als das Rind . . . Das hat ihrer vier und stets die Füße im Napf.«
»Schweig und komme herunter.«
»Ich gehorche. Trotzdem fände ich gern mein Messer wieder.«
Er stieg langsam die Böschung herab. »Ach, mein Messer,« sagte er, »wer wird mir die Adresse meines Messers geben? Wer?« . . . Er hielt verblüfft inne, blickte einen Augenblick auf den Weg, machte einen Satz, bückte sich und richtete sich sofort wieder auf. »Ich habe es gefunden!«' sagte er. Und er faßte das Goldstück mit dem Daumen und Zeigefinger. »Siehst du, das ist das Messer, das Messer des lieben Gottes!«
»Was? Das Goldstück? Das sind doch zwanzig Franken.«
»Du Böse! Hast du denn nicht begriffen, daß ich diese zwanzig Franken nicht hatte? Der Zufall borgt sie mir heute. Sobald ich kann, werde ich sie ihm durch die Hand des Polizeikommissars zurückzahlen. Da ich sie nicht hatte, hocke ich seit acht Tagen zu Hause, esse so viel Graubrot, als ich zum Leben brauche, und schäme mich seit einer Stunde, daß du an meinem Arm Hunger und Durst hast.«
»Und du?«
»Ach, bei mir eilt das nicht. Das Wetter war schön, und ich hatte geschworen, ohne mein Messer nicht auszugehen. Aber ich ließ mich von der Sonne verführen, von den Feldern und von dir . . . Liebste. Ich ging also aus, meine Tasche war leer, aber sie lastete wie Blei auf meiner Fröhlichkeit. Jetzt sollst du essen, Kleine, essen und trinken, und du nicht allein. Ich sagte dir nichts von den düsteren Liedern vom Aufhängen, Sichertränken, Sichtotschießen, die mir mein schlaffer Magen sang. Es war wie ein Rabenflug, des Abends, bei Nacht, des Morgens, den ganzen Tag. Wie oft entschwand meinen Augen der tapfere Stern, den man Hoffnung nennt, hinter diesem düstern Schwarm. Flora, du sollst essen und trinken und Wein haben; du bist schwach, blaß und müde.«
»Aber was wird morgen aus dir?«
»Aus mir? Ein Tag des Glücks bringt mir vier Tage der Kraft. Du bist gut, du bist schön, und ich liebe dich. Du wirst essen und trinken. Wende nichts ein, schweige. Die Sonne scheint hell, die Vögel singen. Liebe mich und sprich nicht von dem andern, tu wenigstens so. Nicht wahr, ein Beefsteak ist dir lieber als eine Blume? Nun, mir auch. Komm.«
»Du bist ein guter Kerl.«
»Komm.«
Sie gingen mit raschen Schritten dem Wirtshaus zu, in das der Bauer eingekehrt war.
Paul blieb nachdenklich. »Ein Künstler,« sagte er, »der die unsicheren Erfolge der Zukunft für seinen Magen bezahlen läßt.«
»Armer Kerl!« sagte Margarete.
»Zu gut, um sich durchzusetzen,« bemerkte Paul schwermütig.
Paul und Margarete blieben beieinander, ohne aufzustehen, und träumten noch weiter von dieser Szene des wirklichen Lebens, die sich vor ihnen abgespielt hatte. Margarete sann nach, was sie ihrem Kinde, wenn es größer wäre, darüber sagen würde. Sie lehnte den Kopf noch immer träg an die Schulter ihres Mannes, dies Kopfkissen der liebenden Frauen, und nahm sich vor, dem Kleinen, denn es würde sicher ein Knabe sein, lieber das Buch von den großen und kleinen Straßen vorzulesen, als die Bücher, die im Laden zu kaufen sind. Ein Knabe! Welches Glück! Sie war nie leidend, und das Dienstmädchen sagte ihr, das bedeute einen Knaben. Er sollte Pauls Ebenbild werden, aber eigenwillig und kampflustig; er sollte seine kleinen und großen Freunde mit Faust und Stock weidlich durchprügeln, wie es ihr Mann als Knabe getan hatte. Zu diesem Zweck wollte sie ihrem Sohn einen dünnen, festen Rohrstock kaufen. »Und dann werden wir sehen,« sagte sie sich, »ob einer es wagen wird, ihm etwas zuleide zu tun.« Jedesmal, wenn er sich tüchtig gerächt hätte, ohne daß er den Streit angefangen hätte, wollte sie ihm ein Spielzeug oder ein kleines Geldstück schenken; andernfalls wollte sie ihn selbst schlagen, ohne Paul etwas davon zu sagen, und ihn dann in einen Schrank sperren. So gutmütig wie der, der eben das Goldstück aufgehoben hatte, sollte er nicht werden; das würde sie nicht dulden.
In solche Gedanken versunken, hörte sie plötzlich die Stimme eines alten Mannes. Er sprach langsam, korrekt, höflich. Eine junge, hochmütige, metallische, erregte Stimme antwortete ihm. Es war die Dame mit dem Windhund, die mit einem Mann in den Fünfzigern plaudernd vorüberging. Er trug einen Anzug und Schuhe von weißem Zwillich, schwedische Handschuhe und einen eleganten Strohhut.
Der Windhund lief vor ihnen her, mit der schwermütigen Miene, die diesen Tieren eigen ist. Er senkte den langen Kopf mit dem breiten Maul zu Boden, und wenn er die Lippen hochzog, sahen die spitzen Haken seiner langen Schneidezähne hervor. Seine scheinbare Sanftmut und der wiegende Gang seines langen, geschmeidigen Körpers gemahnten an eine Schlange oder einen Hecht, die so ruhig und harmlos dreinschauen, wenn sie auf ihre Beute lauern, bis zu dem Augenblick, wo ihre Muskeln, durch das Bedürfnis zu töten oder zu fressen gestrafft, zu Stahlfedern werden und sie auf das harmlose Tier losstürzen, das ihrer Kriegslist zur Beute bestimmt ist.
Die junge Frau sprach sehr laut.
»Nein,« sagte sie, stehenbleibend, mit erhobenem Kopf und mit dem Fuß stampfend, »nein, keine Ratschläge. Ich will, was ich will, und was ich will, geschieht.«
Ihr Begleiter war gleichfalls stehen geblieben. Er machte einen guten, verständigen und wohlgenährten Eindruck.
»Sie werden sich also nie ändern, Amelie?« sagte er.
»Nein. Ändert man denn seinen Charakter? Bisher habe ich alles gehabt, was ich wollte, alles, verstehen Sie? Warum sollte ich es nicht mehr haben? Und . . . wenn ich sie zerbrechen müßte wie ein Rohr . . .«
»Mit diesen zierlichen Armen?«
»Zierlich genug, um zu gefallen, mag sein; aber stark genug, um . . .«
»Tätlichkeiten! Frau Gräfin, überlassen Sie das Ihrem Kutscher. Ich übernehme die blöde und lachhafte Rolle Ihres Vertrauten, die Sie mir aufnötigen. Ich könnte Ihr Vater sein, und als solchem gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß Sie nicht bei Troste sind. Amelie, Sie sind im Begriff, etwas Schlechtes zu tun. Was haben Sie davon, sich in diesen Mann zu vernarren? Vor zwei Jahren locken Sie ihn zu sich, unter dem Vorwand eines Besuches, den er nicht ablehnen konnte. Sie mißbrauchen Ihre Stellung, Sie verführen ihn – das ist das rechte Wort. Er erwidert Ihre Leidenschaft mit Liebe, Ihre Laune mit Zärtlichkeit, gibt Ihnen mehr, als Sie ihm geben. Mit einem Male, nach einer Woche, einem richtigen Honigmondviertel, erscheint Frau Amelie wieder in der Welt, wieder als Witwe, munter, geputzt, getröstet. Haben Sie ihn verlassen? Was ist der Grund dieses jähen Bruches?«
Die Gräfin antwortete etwas beschämt:
»Ein Brief an einen Mann. Ich schrieb ihn in etwas zärtlichem Tone. Man soll eine Liebschaft nie abbrechen, sondern lösen. Der junge Mann nahm den fast fertigen Brief und las ihn. Stellen Sie sich vor, was er mir klipp und klar gesagt hat; ich wage es Ihnen kaum zu wiederholen! ›Gnädige Frau,‹ sagte er, ›Sie haben die Liebe in ihren verschiedenen Formen so oft genossen, daß ich fürchte, eines Tages in eine Bildergalerie zu geraten, deren Urbildern ich hier und da begegnen könnte. Auch fürchte ich, wenn sie mich an Ihrem Arm sehen, würde mich das Lächeln, womit sie ihren Gruß begleiten, nicht eben erfreuen. In der großen Welt und auch in der meinen, Frau Gräfin, haben manche Männer – und zu ihnen gehöre ich auch – die Krankheit zurückblickender Eifersucht. Ich habe auch noch eine andere, von der Sie mich nicht heilen könnten. Ich bin kein Glücksritter und suche nichts als Liebe, das ist das Ziel aller meiner Gedanken. Lieben, mein Herz an eine Frau hängen und sie glücklich machen, nicht mehr und nicht weniger. Betröge sie mich, wie Sie mich betrügen könnten, so würde ich sie ohrfeigen, daß ihr die Zähne herausflögen, wenn ich kein Messer hätte; und hätte ich eins, so stieße ich es ihr ins Herz und glaubte, Recht daran zu tun. Die Erinnerung an die teuren und süßen Augenblicke, die ich mit Ihnen verbrachte, werde ich stets bewahren, aber ich würde Sie zu sehr lieben, wenn ich Sie stets liebte. Genug, ich sage Ihnen, es ist besser, ich breche jetzt mit Ihnen als später: wir müssen uns fortan als Fremde betrachten.‹ Diese hochmütige Sprache schmetterte mich nieder, aber ich fand den jungen Mann recht schön während dieser Rede. Wir Frauen verbringen unser Leben damit, die Männer zu verlachen und darunter zu leiden; wir lieben wider Willen das, was der große Haufe verspottet, die Liebhaber mit den starken, naiven Leidenschaften, die im Notfall für uns sterben oder einen andern töten. Darum will ich ihn haben, und darum werd' ich ihn haben.«
»Ich zweifle daran. Sie sind schön, aber sie ist ebenso schön . . .«
»Sollen wir ihr die Augen ausreißen?«
»Wozu?«
»Um sie meinem Hunde zu geben.«
»Immer sachte! Aber nochmals: warum diese plötzliche Laune? Sie haben über ein Jahr nicht so ausgesehen, als ob Sie an ihn dächten, und nun . . .«
»Nun . . . nun . . .« Sie zauderte. »Ich erröte, ich weiß es, ich schäme mich vor Ihnen, aber ich werde es Ihnen sagen. Ich bin eifersüchtig, eifersüchtig auf sie, die ihn mir genommen hat.«
»Sie wollten ihn ja gar nicht mehr.«
»Ich hätte ihn noch wollen können, hätte ihn vielleicht geheiratet, mich unter meinem Stande verheiratet.«
»Ach, Frau Gräfin! Und jetzt . . . noch immer? Aber Sie können es zum Glück ja nicht mehr. Machen Sie Dummheiten, stellen Sie sich bloß, aber heiraten Sie nicht unter Ihrem Stande. Im übrigen handelt es sich gar nicht um Ehe, sondern um einen Ehebruch, und der ist fast stets abstoßend oder lächerlich.«
»Was liegt daran, wenn man liebt? Und Sie, der Sie mir eine Tugendpredigt halten, waren Sie in dieser Hinsicht stets ohne Makel?«
»Darum erlaube ich mir ja gerade, Ihnen Ratschläge zu geben. Lieben Sie ihn wirklich, wollen Sie nicht, daß jede Ihrer Freuden eine Qual ist, wollen Sie nicht einen Fetzen Ihres zerrissenen Herzens an jedem Dornbusch dieses engen und krummen Pfades zurücklassen, der Sie nach Ihrer Meinung zum Glück führen soll, so halten Sie inne, Frau Gräfin, und vergessen Sie dies unheilvolle Verlangen! Bedenken Sie, es ist ein namenloses Leiden, ein schon verschenktes Herz zu teilen, Liebkosungen zu empfangen, die eine Andere vor Ihnen erhielt, Worte zu hören, die nur der schwache Nachhall von denen sind, die ins Ohr einer angebeteten Andern geflüstert wurden. Mit diesem schmachvollen Glück mag sich begnügen, wer imstande ist, zu teilen, anstatt zu töten, wer schlaff ist wie eine Schnecke, ohne Gesicht, Geruch und Gefühl, wer Haare sehen kann, die im Liebesrausche zerwühlt sind, und sie noch zu liebkosen vermag, wer den bleichen Mut hat, an einem geliebten Körper den Duft zu atmen, den jemand anders zurück ließ, wer seinen schalen Mund über Lippen gleiten läßt, die noch von rechtmäßigen Küssen beben. Puh! Welch ein Ragout!«
»Ich sage Ihnen, ich will es, und weiß, wie ich es zu machen habe. Kommen Sie!«
Sie verschwanden.
Margarete hatte Paul unverwandt angeblickt. Mehrmals wollte er ein Geräusch machen oder sprechen, um dieses Gespräch zu unterbrechen. Doch sie zwang ihn, still zu bleiben und zu schweigen, indem sie ihm die Hand auf den Mund legte.
Sie stiegen die Böschung hinab und kehrten heim. Unterwegs sagte sie plötzlich nach langem Schweigen: »Ich hasse diese Frau.«
»Laß sie laufen,« antwortete Paul im Tone vollkommener Sorglosigkeit. Das beruhigte Margarete wieder und ließ sie den Zwischenfall vergessen.
Zur Essensstunde kehrten sie heim. Auf dem weißen Tischtuch prangten in Schalen aus Bergkristall Blumen und Früchte, schöne Pfirsiche, schöne Weintrauben. Die Köchin, verschwenderisch und feinschmeckerisch – zwei Eigenschaften, in denen die Kennzeichen des Berufes liegen – trug eine prächtige Gemüsesuppe mit Brotschnittchen auf, um ihnen das Herz zu erheitern, wie sie sagte. Dann kamen Pastetchen, nach denen sich Brillat-SavarinBekannter gastronomischer Schriftsteller. ein Jahr lang die Pfoten abgeleckt hätte.
Ein ungewohnter Lärm entstand im Vorflur.
»Sie kommen nicht herein!« rief die Stimme des Dienstmädchens. »Ich sage Ihnen, Sie kommen nicht herein!«
Sie hörten das Geräusch eines Kampfes und das Klatschen einer Ohrfeige. Dann flogen plötzlich, ohne daß angeklopft wurde, die beiden Flügel der Eßzimmertür krachend auf, und herein drangen Roosje und Siska, fast verschwindend unter der riesigen Rundung ihrer weiten Krinolinen. Die Alte war wütend, Siska bewahrte ihre gewohnte Ruhe. Beide waren kaum zu sehen inmitten der Schachteln, Nachtsäcke, Regen- und Sonnenschirme, Gummischuhe, Stiefel und Pantoffeln, die sie in den Armen trugen wie riesige Trauben, deren Beeren dank einem sinnreichen Bindfadensystem zusammenhielten. Siska hatte den kleinen Finger durch den Ring eines Käfigs gesteckt, in dem ein kleiner, vor Angst zitternder Kanarienvogel verblüfft Augen und Schnabel aufsperrte.
»Stellen wir sie dahin,« sagte Siska, auf die Schachteln deutend. Es waren neun Stück, die reine Pyramide. Der Käfig wurde auf eine Kommode gesetzt. Die Sonne fiel ins Zimmer, und der Vogel begann ohrenbetäubend zu singen. Sein fröhliches Zwitschern begleitete die schallenden, bissigen Worte, die Roosje zunächst an Margarete richtete.
»Na, das ist ja reizend . . . So also erlaubst du, daß deine Mutter empfangen wird! Ich mußte dem kleinen Schwein da eine Ohrfeige geben,« setzte sie hinzu, auf das Mädchen deutend. »Verstehst du, Schafsgesicht, dümmer als ein Kamel, verstehst du, Gans und Pute, die du bist? Ich bin die Mutter dieser ›Dame‹, ihre wirkliche Mutter, jawohl, obwohl sie es kaum zu merken scheint!«
Margarete war ebenso erschrocken und verblüfft wie der Doktor. Sie stammelte:
»Es ist recht, Mama, daß du gekommen bist, ich war besorgt um dich und recht traurig. Du wirst hier wohnen, wir haben ein schönes Zimmer für dich und ein sehr hübsches dicht daneben für Siska. Du hast uns etwas überrascht. Dein Eintritt war so bizarr.«
»Bizarr! Was ist das, bizarr? Etwa ein neues Wort? Ja, wir werden hier wohnen, verstehen Sie, kleines Perlhuhn?« sagte Roosje hochmütig zu dem Dienstmädchen.
»Mama,« sagte Margarete, indem sie Roosje umarmte, »wenn du das Kind nicht mehr mißhandeln wolltest – sie ist uns anhänglich.«
»Anhänglich, mißhandeln, was heißt das? Hab ich dich mißhandelt, kleine Gans? Antworte.«
Das Mädchen weinte und blickte mit großen traurigen Augen zu Margarete empor.
»Antworte nicht, Johanna,« sagte Margarete, »Mama ist ärgerlich, daß sie uns so plötzlich ins Haus fallen mußte.«
»Sie mußte mir aufs Wort glauben, diese Schimpfdrossel,« sagte Roosje, »und sehen, daß ich deine Mutter bin.«
»An dem Kostüm jedenfalls nicht,« dachte Johanna und lächelte unter Tränen.
»Ich glaube, du lachst noch, blödes Ding! Wage zu sagen, daß ich ihr nicht ähnlich bin!«
Das Mädchen nahm die Schachteln und ging hinaus, ohne zu antworten.
»Siska, geh hinterher,« schrie Roosje. »Laß sie nicht allein bei den Schachteln mit den Halstüchern und Bändern . . . Die Mädchen sind . . . geh doch, Siska.«
Siska mußte Margarete verlassen und ging mit Johanna hinaus.
Nun erst tat Roosje, als bemerkte sie Paul, obwohl sie ihn schon mit dem Blick ihrer bösen grauen Augen, die immerfort auf ihn gerichtet waren, viel grausamer gekränkt hatte als das Mädchen durch die Ohrfeige.
»Ei guten Tag, mein Herr Schwiegersohn,« sagte sie höhnisch lachend. »Aber guten Tag doch! Ich hätte Sie fast vergessen. Sie haben ja hier ein reizendes Nest. Die Kranken bringen wohl viel ein? Meine Frau Tochter war traurig, mich nicht mehr zu sehen; ich dachte ihr eine Freude zu machen, indem ich Sie hier für ein paar Tage belästige, mit Ihrer Erlaubnis selbstredend . . .«
»Sehr erfreut,« sagte Paul, »Sie werden mit uns essen. Siska, die sicher auch Hunger hat, wird das Nötige in der Küche finden.«
Unter allen andern Umständen hätte Roosje das Angebot natürlich gefunden, aber Paul hatte einen Wunsch, ein Verlangen geäußert: sie hielt sich also für berechtigt, sofort das Gegenteil zu verlangen.
»In der Küche? Lieber äße ich selbst in der Küche. Im »Kaiserwappen«, und das war ein geachtetes Schild, wurde die vornehme Welt nicht nachgeäfft. Siska und ich aßen in der Küche. Aber jetzt wollen die Bürgersleute sich gleich als hohe Herren und Damen aufspielen, sobald sie gelernt haben, die Augen zu verdrehen, den Hut abzunehmen wie ein Tanzmeister oder die Krinoline zu lüften, als ob eine Kohlenpfanne darunter wäre. Sei still, Kanarienvogel, oder ich erwürge dich in deinem Käfig. Da seht ihr, selbst der Vogel scheint sich über mich lustig zu machen.«
»Aber, Mama, der versteht dich doch nicht,« sagte Margarete; »er singt, weil geschrien wird.«
»Schweig, du bist auch so schnippisch wie die andern. Und so viel steht fest, wenn Siska nicht hier mit mir an diesem Tisch essen soll, so esse ich mit ihr in der Küche.«
Paul war verblüfft über diesen raschen Beginn der Feindseligkeiten. Ein Hund, der seit einer Stunde heult, das nächtliche Glockenspiel, das jemandem, der Leibschmerzen hat und schlafen möchte, in die Ohren schrillt, ein Griffel, der auf einer Schiefertafel quietscht, hätten Paul weniger gereizt als der sinnlose, erbarmungslose Haß dieser wütigen, unvernünftigen Frau. Roosjes Zorn war eine Krankheit; ihre harten Worte waren das Anzeichen eines hemmungslosen Wutausbruches.
Er schellte. Johanna kam. »Legen Sie vier Gedecke auf,« sagte er.
Roosje bedankte sich nicht. Pauls Ruhe erbitterte sie. Siska kam zurück und setzte sich tiefbeschämt an den Tisch. Ihre Herrin hatte es ihr streng befohlen.
Roosje und ihr Anzug standen in schreiendem Gegensatz zu der frischen, jugendlichen und heiteren Einrichtung. Paul besaß eine Künstlerseele und haßte die häßlichen und gewöhnlichen Formen. Der Anblick boshafter Menschen, die immer grotesk oder lächerlich sind, tat ihm weh. Für seine Schwiegermutter hegte er ein Gemisch von Achtung und Haß, ein Gefühl, das sich bald in Zuneigung verkehrt hätte, wenn die Alte gewollt hätte. Er begriff, warum sie so heftig und zänkisch war, und warum sie wider Willen darunter litt.
Daher seine Geduld. Trotzdem aber fand er, daß sie ebenso gut anderswo hätte sein können als in dem weichen, reizenden Nest, das er sich für sein Glück und seine Liebe bereitet hatte. – Das Kristall, die Früchte und Blumen, die Nachbildungen der schönsten Antiken, Bronzen von Barye, Gemälde von Alfred Stevens, Philippe Rousseau, Clays, weite, träumerische, tiefe Seestücke von Artan, seltsame, kraftvolle Skizzen von Félicien Rops, auf denen sich Gestalten mit spöttischer Miene in stolzer, prächtiger Zeichnung drängten, ein guter Dillens, ein paar holländische Studien von Schampheleer, Landschaften in süßen, kräftigen oder sanften Farben, aber vornehm wie die Seele des wahren Künstlers – das alles blickte in seiner überaristokratischen und – wie die Kunst selbst – souveränen Verachtung, ja mit einer Art Übelkeit auf die Regenschirme, Schachteln und riesigen Krinolinen und auch auf Roosje und ihre Wut, ihre bittre Galle, ihre kleinen boshaften, wilden, eifersüchtigen und fast grotesken Augen.
Eifersüchtig? Sie war es sogar auf den Anzug ihrer Tochter. Einen Augenblick wünschte sie sich zurück an ihren Kassentisch im »Kaiserwappen«, zu ihren Töpfen, Tassen, Krügen und halben Litern, zu dem Kreise von blöden oder verschmitzten Bauern, in deren Mitte sie sich wohlgefühlt hatte, selbst nach ihrem kalten Hause, in dem sie Wirtin und Herrin gewesen. Hätte sie kein Ziel vor sich gehabt, sie hätte das Haus ihrer Tochter sofort verlassen. Auch zauderte sie noch, ob sie sich modern anziehen und Margarete um ihren Rat bitten, oder ob sie ihre kleinbürgerliche Tracht beibehalten sollte, um Paul besser zu ärgern, wenn er seine »vornehmen Besuche« empfing. Schließlich faßte sie diesen zweiten Entschluß, der ihr leichter fiel.
Aber weder der Doktor, noch die Sonne, noch die Blumen, noch das Kristall, noch die Kunstwerke faßten einen Haß auf Siska, die demütige Begleiterin, die liebevolle Sklavin. So klobig sie auch war, die Güte adelte ihr Gesicht.
Johanna trug die berühmte Suppe mit Brotschnitten auf, über die Roosje staunte; aber sie schlang sie mit Wut herunter. Siska schluckte sie mit gutmütiger Gefräßigkeit.
Johanna trug die Pasteten auf. Siska sah zu, wie der Doktor und Margarete sie anschnitten, und versuchte es ebenso zu machen. Bald aber vergaß sie zu essen. Dicke Tränen fielen auf ihren Teller.
»Was hast du denn, Siska?« fragte Margarete sanft.
Siska antwortete verlegen und feuerrot, während sie sich die Augen mit ihrer schwarzen Seidenschürze, der Sonntagsschürze, abwischte: »Fräulein, Frau, ich möchte Sie so gern wieder umarmen!«
»Komm, Siska, komm,« sagte Margarete und stand auf, um ihr entgegenzugehen.
Eine Minute lang lagen beide Frauen einander in den Armen. Der Schall ihrer Küsse erfüllte das Eßzimmer wie ein Sturm überschwenglicher Freundschaft. Das machte Siska so kühn, daß sie ausrief: »Das ist viel besser als die Pasteten!« Dann trat sie auf Paul zu und zwinkerte ihm erst sehr freundschaftlich, dann sehr boshaft zu, um ihm anzukünden, daß sie ihm, Roosje zuliebe, etwas antun wollte. Hierauf preßte sie Daumen und Zeigefinger heftig zusammen, drehte sich, mit den Augen zwinkernd, zu Roosje um und kniff Paul bis aufs Blut. Dazu sagte sie halb zärtlich, halb grimmig: »Sie, Sie sind . . . ich sage nicht, was Sie sind, nein.« Sie hoffte, Roosje würde verstehen, daß sie »Taugenichts« meinte. Dann kniff sie Paul nochmals bis aufs Blut, und setzte sich siegesgewiß.
Paul verstand und rieb sich schweigend den Arm.
»Er hat zwei blaue Flecken,« flüsterte Siska Roosje ins Ohr.
Diese lachte höhnisch und hocherfreut, daß Siska ihren Feind so behandelt hatte. Sie verschlang mit Genugtuung die Pasteten wie Karabitjes und gab ihrer Sklavin unter dem Tisch einen boshaften, dankbaren Fußtritt.
»Hehe!« machte sie und streckte die Hand nach der Schüssel aus, auf der noch zwei dieser Leckerbissen lagen. Aber Paul war der Meinung, daß die Dienstboten im Lande Brabant stets ihren Teil vom Essen der Herrschaft haben müssen, und winkte, die Pasteten abzunehmen.
Roosje schien es nicht zu merken. In Erwartung des ersten Ganges ließ sie ihre Augen umherschweifen. Sie betrachtete den bescheidnen Wohlstand, der die Tapeten schmückte, riß scheinbar die Augen vor dem Kristall auf, tat, als verginge sie vor den Bronzen und höbe die Arme gen Himmel vor den alten Eichenholzmöbeln. Dann setzte sie sich ihre Brille auf, um die Güte des Tischzeugs zu prüfen. »Hm!« sagte sie, »hier geht es ja hoch her! Die Medizin nährt ihren Mann. Ob man die Kranken kuriert oder nicht, der Arzt kriegt sein Geld allemal.«
Margarete antwortete: »Es gibt solche, die die Leute umsonst auferwecken und zehntausend Franken ausschlagen, die sie hätten bekommen können.«
Roosje erwiderte nichts und sagte Siska ins Ohr: »Sie ist nun auch gegen mich, aber warte, sie werden schon sehen, was ich fertig kriege.«
»Was sagst du da, Mama?« fragte Margarete gereizt, weil sie sah, daß Roosjes tückische Angriffe ihren Gatten nervös machten.
Nun kam ein herrlich duftender Schmorbraten nebst gelben, mehligen, dampfenden Kartoffeln.
»Ich sagte,« entgegnete Roosje, »wenn man so gut ißt, dann ist es kein Wunder, wenn man so dick wird wie du.«
»Mama,« sagte Margarete errötend, »iß lieber . . .«
»Wer sagt dir, daß ich nicht essen will?« gab Roosje heraus. »Ich weiß einen, dem ich zu viel Freude machen würde, wenn ich nicht äße. Ich habe Appetit, wunderbaren Appetit für eine Frau in meinen Jahren, die nie einen Arzt noch Medizin gebraucht hat.«
»Nehmen Sie Schmorbraten?« fragte Paul, ihr die Schüssel reichend.
Roosje nahm sich, zerschnitt ihr Fleisch mit großem Unwillen und rief: »Magenbeschwerden!« obwohl niemand etwas davon gesagt hatte. »Magenbeschwerden, das mag bei den Laffen von Großstädtern stimmen, deren Magen so groß ist wie ein Schnapsglas. Meiner, so alt er ist, faßt fünf Liter.«
»Hier sind Kartoffeln,« sagte Paul.
»Ich nehme mir schon, Herr Schwiegersohn.«
Sie nahm sich die besten heraus, reichte Siska die Schüssel und flüsterte ihr zu: »Nimm wie ich die besten, die anderen sind für die da gut genug!«
Aber Siska, deren Blicke an Margarete hingen, nahm sich nur ein kleines Stück Fleisch und eine Kartoffel.
»Willst du dich zieren?« sagte Roosje und packte ihr eine doppelte Portion auf den Teller. Siska aß sie gehorsam auf.
Dann sagte sie Siska ins Ohr: »Ich werde ihnen das Essen verekeln. Warte mal.«
»Hehe,« sagte sie ganz laut, während sie sich Fleisch nahm und einen ganzen Haufen auf Siskas Teller tat, »hehe! etwas fett sind die Karbonaden, etwas fett. Ist es wahr, Herr Schwiegersohn, daß man im Sankt-Peters-Spital in Brüssel den Gehenkten, die man abgenommen hat, den Bauch aufschlitzt wie den Schweinen, um das Fett herauszunehmen, und daß dies Fett an die Hexen verkauft wird, die es um ein Uhr nachts beim Portier holen, einem bleichen, fetten Kerl, einem rechten Spitalsbraten, der immer wütend ist, wenn er nicht schläft?«
»Mama, Mama!« rief Margarete, »schweige doch bitte. Es ist ja, als ob du mir Würmer in den Teller wirfst!«
»Du ekelst dich wohl?« sagte Roosje. »Die Ärzte verkaufen das Zeug für achtzig Franken die Unze, und man ist noch nicht mal sicher, ob es wirklich Fett von Gehenkten ist. Da kann man sich nicht wundern, daß die Ärzte von Sankt Peter ihr Glück machen und wie die Könige leben.«
»In Belgien wird nicht mehr gehenkt,« antwortete Paul. »Man schlägt den Verbrechern jetzt den Kopf ab, aber auch das kommt bald aus der Mode.«
»Dann,« sagte Roosje, »läßt man die Gehenkten aus England kommen.«
Paul mußte wie toll lachen.
»Warum lachen Sie?« fragte die Alte empört.
Er hielt sich umsonst das Taschentuch vor, er lachte sich schief. Wenn er sie ansah, um sich wieder zu fassen, lachte er noch mehr, so grotesk und fratzenhaft kam sie ihm vor. Dies tolle Lachen ergriff auch Margarete und Siska. Es dauerte ziemlich lange, zu lange für Roosjes überreizte Eigenliebe. Sie sprang außer sich auf, wild wie eine Tigerin, und drohte Paul mit der geballten Faust.
»Das ist nichtswürdig, Herr Schwiegersohn, sich derart über eine alte Frau lustig zu machen. Sie brauchen nicht so stolz zu sein, weil Sie in der Schule waren, und schlichte Leute, die etwas Spaß machen wollen, zum Narren zu halten, de zot houden, wie man in Brabant sagt.«
»Du bist häßlich!« sagte Margarete zu Paul, der sich beruhigte, als er ihre Mutter so wütend sah.
Paul wurde wieder ernst.
»Ja, du bist häßlich!« wiederholte Margarete, um Roosje eine Freude zu machen.
»Nicht wahr, er ist häßlich,« wiederholte Roosje und brach in Zornestränen aus. »Er vergißt, daß ich deine Mutter bin – du darfst das nicht dulden!«
Margarete lief zu ihr, liebkoste sie, ließ sie aufstehen, nahm sie auf die Kniee und weinte heiße Tränen, weil sie ihre Mutter betrübt sah. Während sie ihrem Gatten den Rücken drehte, lachte Roosje, die ihm ins Gesicht sehen konnte, höhnisch und zerhackte mit dem Messer ein Stück Brot, das auf ihrem Teller lag. Und ihre kleinen spitzen Zähne blitzten zwischen ihren Lippen wie die eines hungrigen, tückischen Hais.
Margarete merkte bald, daß Roosje sich beruhigte, und setzte sich wieder an ihren Platz. Dann kamen Rebhühner. Das Wild, mit gerösteten Brotschnitten garniert, war für Roosje ein Anlaß zu wilder Aufregung.
»Es ist nichtswürdig,« sagte sie, »ja, nichtswürdig, Rebhühner zu essen, wo sie so teuer sind.«
Umsonst versuchte Margarete ihr klarzumachen, daß ein Schmuggler, ein großer Jäger, den Paul vom Hüftweh geheilt hatte, ihm ein halbes Dutzend geschenkt hätte.
»Sie sind also gestohlen,« sagte Roosje. »Gestohlenes Gut tut nicht gut. Den Schmuggler möcht' ich übrigens sehen, der sich den Spaß macht, halbe Dutzende von Rebhühnern zu verschenken, wo das Stück bis vier Franken fünfzig und fünf Franken kostet. Das ist alles gelogen. Klappen zyn geen oorden. Schnurren sind keine Heller, wie man bei euch in Brabant sagt. Und wären sie euch auch geschenkt worden, was nicht wahr ist, dann hättet ihr sie auf den Markt schicken sollen durch die kleine Dirne, der ich vorhin eine Ohrfeige gab, und die sicher auch ihr Teil an den Rebhühnern zu fünf Franken haben will. Ich werde es nicht so machen.«
Der Doktor nahm Roosje beim Wort und zerlegte kaltblütig die Rebhühner. Dies geschehen, beachtete er die Alte so wenig, als hätte sie auf der Spitze einer der Pyramiden gesessen, die nach Napoleons Wort nur darum seit vierzig Jahrhunderten dastanden, um seine Soldaten anzusehen. Als er sie zerteilt hatte, legte er die besten Stücke Margarete und Siska vor, und Roosje sah verblüfft, daß ihr Teller leer blieb.
In diesem Augenblicke verschwand ihr Zorn. Sie versuchte zu lächeln, wie um zu zeigen, daß sie auf den Scherz einginge. Sie wollte reden, aber in ihrer Verblüfftheit brachte sie kein Wort über die Lippen. Die Rebhühner verbreiteten einen köstlichen Duft. Sie nahm ihr Messer und beschrieb mit der Klinge Kreise auf ihrem leeren Teller. Das war ein erster Ruf an ihren Feind, ein Gnadenschrei auf dem Kampfplatz. Sie wollte edel und groß sein, dachte sie, und mit großem Zornesaufgebot vom Tisch aufstehen. Aber die verdammten Rebhühner reizten ihren Gaumen. Wie sollte sie dieser Versuchung widerstehen? Sie verlangte Brotschnitten. Paul legte ihr eine einzige vor. Die Sauce, mit der sie durchtränkt war, ließ ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen. Sie verlangte Apfelmus, aß es und flüsterte Siska zu: »Gib mir deinen Teller und sage, du hättest keinen Hunger mehr.«
Siska aß zerstreut und hungrig und hörte nichts. Bald war nichts mehr auf ihrem Teller.
Nun glaubte Roosje einen Kniff gefunden zu haben, um ihre Würde zu wahren.
»Wie schmecken die Rebhühner denn?« fragte sie Margarete.
»Willst du welche, Mama?«
»Ja, zum Versuchen, aber ich bin sicher, sie schmecken nicht.«
Paul legte Roosje eine starke Portion vor. Sie aß sie völlig auf und errötete vor Scham und Behagen. Als sie fertig war, sagte sie: »Das ist nicht so viel wert, nichts als Sehnen und Fasern!«
Paul schwieg. Margarete wurde traurig.
Siska wußte wohl, daß Roosje unrecht tat, aber Roosje war ihre Herrin. Siska fand es häßlich von Paul, daß er nichts sagte; das hätte Roosje so viel Freude gemacht, selbst wenn es ein scharfes Wort war. Aber Siska fand auch, daß Paul recht hätte zu schweigen, und blickte mit ihren dicken, guten, flehenden Augen abwechselnd auf die beiden Feinde, wie um sie zu bitten, ihre Feindschaft zu begraben. Unwillkürlich mußte sie weinen, als sie Margarete, das Pflegekind ihres guten Herzens, ihren Liebling, traurig werden sah.
Das Huhn und der Salat wurde aufgetragen.
Plötzlich wandte sich Siska zu Roosje, faßte einen großen Entschluß und sagte ernst mit ihrer gutmütigen Stimme: »Frau, was ich Ihnen sagen werde, muß ich Ihnen sagen. Ich weiß nicht, ob Sie Essig getrunken oder Wermut gegessen haben, aber Sie sind nicht gut und bringen Fräulein Grietje zum Weinen.«
»Schweig, Siska,« sagte Margarete.
»Nein, ich schweige nicht. Was ich sage, ist recht, und jeder kann sagen, was recht ist. Wenn man Leute sieht, wie Sie,« sagte sie zu Paul, »die alles tun, was sie können, um jemand gut zu bewirten – ich rede nicht von mir, ich gehöre in die Küche –, wenn man sieht, daß diesem Jemand gute Fleischgerichte und feine Pasteten vorgesetzt werden« (Siska konnte die Pasteten nicht vergessen), »dazu guter Wein; wenn man das alles ißt und trinkt,« sagte sie, zu Roosje gewandt, »und mit Undankbarkeit zahlt, so sage ich, das ist unrecht. Das Huhn da ist fett und fleischig und hat gewiß viel Geld gekostet. Nun, wenn das Huhn für Sie auf den Tisch gestellt wird, dann will man Ihnen eine Freude machen. Ich sage weiter nichts: wenn man Ihnen eine Freude machen will, so dürfen Sie es nicht mit Undank vergelten. Jetzt bitte ich Herrn Paul, Frau Margarete und Frau Roosje, sich die Hände zu geben und zu sagen, daß sie es nicht mehr tun werden.«
Man gab sich die Hände, und der Friede ward angesichts des Huhnes geschlossen. Zudem traten andre Erwägungen in Roosjes Pläne. Sie ärgerte sich bereits, daß sie nicht genug Schlauheit und Heuchelei gezeigt hatte.
Paul und Margarete drückten also Roosje herzlich die Hand und gelobten, sie würden es nicht mehr tun, aber sie wußten nicht, welches Verbrechen sie Siska zuliebe nicht mehr begehen sollten.
So endeten die denkwürdigsten Zwischenfälle dieser Mahlzeit, die nebst einer Anzahl von andren in Pauls Hause berühmt wurde.
Roosje ging hinauf, um sich hinzulegen. Siskas Zimmer lag neben dem ihren. Sie war es zufrieden, ließ es sich aber nicht anmerken.
Sie rief Siska, um mit ihr zu plaudern, während sie sich für die Nacht zurecht machte.
Eine Minute lang versuchte sie umsonst, das gute Mädchen wachzuhalten. Siska konnte ihrer Herrin beim besten Willen nicht länger zuhören. Zum erstenmal seit ihrem Hochzeitsschmaus hatte sie viel Wein getrunken. Der Schlaf überkam sie. Feuerrot und mit blinzelnden Augen hielt sie sich nur mit dem ganzen Aufgebot ihres Willens vor Roosje aufrecht, neigte den wackelnden Kopf, richtete ihn hoch, seufzte, stieß auf und schwankte auf den Stützen ihrer dicken Beine, als wären sie plötzlich aus Gummi gewesen. Von Zeit zu Zeit versuchte sie Mund und Augen zu öffnen. Vergebliche Anstrengungen! Statt jeder Antwort murmelte sie mechanisch ja und nein, was Roosje auch zu ihr sagen mochte. Sie war völlig verstört und drohte hintenüber zu fallen, je mehr sie sich an den Möbeln festhielt. So bat sie mit Beinen, Leib, Händen, Armen, Gesicht und Rücken um Gnade, und das mit so komischem, kläglichem und weinerlichem Ausdruck, daß Roosje verächtlich lächeln mußte und sagte: »Geh schlafen, du hast zu viel Wein in deinem leeren Schädel!«
Das begriff Siska. Sie hätte gern auf diese Schmähung geantwortet und machte ein paar vergebliche Versuche, sich mit Gebärden und Worten zu rechtfertigen. Dann entschloß sie sich, in ihr Zimmer zu gehen, zog sich aus, legte sich zu Bett und bekreuzte sich mechanisch, ehe sie einschlief.
Roosje sagte sich erbost, daß sie Siska auch mit einer Artilleriesalve von acht Geschützen nicht aus dem Schlafe erwecken könnte. Sie beschloß daher, sie bei gelegenerer Zeit über die Vorgänge und Worte zur Rede zu stellen, die sie bei Tische verletzt hatten, besonders über die, welche ihre Entrüstung jetzt auf die Spitze trieben.
Paul und Margarete schliefen in dem Zimmer unter Roosje. Sie hörten sie hin und her gehen, sahen aber nicht, wie sie den Wert der drei Matratzen abschätzte, die ihr Bett füllten, damit es weicher wäre, noch den Wert des Federbodens, der diese drei Matratzen trug, noch den des Auftritts vor dem Bett, noch den des feinen, schneeweißen Leinenzeugs, das noch einen frischen Wiesenduft bewahrte. Sie sahen nicht, wie sie sich über den Preis des wohlriechenden Stückes Seife in ihrem Seifennapf aufregte, wie sie den Schildpattkamm und alle Bürsten und Toilettengegenstände prüfte, wie sie mit wütiger Neugier ein englisches Handtuch, das unter den andern war, hin und her drehte, wie sie sich ärgerte, eine Karaffe spanischen Weins neben einem Wasserglas zu sehen, wie sie die Flasche mit heimlicher Befriedigung austrank, als ob jemand sie hätte beobachten können, kurz, wie sie für das Standbild des Hasses Modell stand und Gründe zu Groll und Entrüstung aus den zahlreichen Beweisen zarter Aufmerksamkeit sog, die ihre Tochter und ihr Schwiegersohn an sie verschwendet hatten.
Paul und Margarete hörten sie lange hin und her. gehen. Endlich schliefen sie ein. Sie wußten nicht, daß Roosje bis um drei Uhr morgens aufblieb und bald sitzend, bald auf und ab gehend, darüber nachgrübelte, wie sie sich für die ihr erwiesenen Aufmerksamkeiten und die Freude, die man ihr hatte bereiten wollen, rächen sollte.
Gegen fünf Uhr, im Morgengrauen, als Roosje schlief, glaubte sie zu träumen, daß Margarete, ganz weiß gekleidet, auf den Fußspitzen in ihr Schlafzimmer trat. Sie kam nachzusehen, ob sie ruhig schliefe, legte einen Strauß Sommer- und Herbstrosen auf ihre Steppdecke und verknüpfte so mit gemeinsamem Bande die kühleren, blasseren Blumen der Nebelmonate mit jenen, die bald aufhören sollten, sich den Küssen der Sonne zu öffnen.
Um acht Uhr morgens fand Roosje den Strauß auf ihrer Steppdecke. Sie erwachte, ohne zu wissen, wie spät es war, und rief Siska, die aus dem Nebenzimmer kam und ihr beim Anziehen half.
»Gehen wir jetzt hinunter,« sagte sie.
Von Siska gefolgt, trat sie stolz und grollend in das Eßzimmer, mit dem festen Vorsatz, ihrer Tochter eine Szene zu machen, weil sie gewagt hatte, des Nachts ohne ihre Erlaubnis in ihr Schlafzimmer zu kommen.
Paul war nicht da, auch Margarete nicht. Roosje schellte. Das Mädchen erschien mit einem großen Präsentierteller mit vergoldeten Rändern, auf dem duftender Kaffee, Gebäck, Buttersemmeln, Spiegeleier und eine Flasche Wasser standen. Das Wasser war so kalt, daß die Flasche ganz beschlagen war.
»Wo ist der Herr? Wo ist die Frau?« fragte Roosje. »Schlafen sie noch, die Faulpelze? Warum kommen sie nicht zum Frühstück? Warum leisten sie mir nicht Gesellschaft? Reizend, gleich am ersten Tage! – Was ist das alles? Weißbrot, Semmeln, Eier? Sie haben in Ukkel wohl eine Goldgrube gefunden? Wo sind sie?«
Inzwischen beschnupperte Siska dies Frühstück, das sie höchst lecker fand, mit gierig geblähten Nasenflügeln und suchte Roosje mit flehentlichen Gebärden zu beruhigen.
»So antworte mir doch, kleine Pute,« wiederholte Roosje.
»Frau,« sagte das Mädchen, »ich bin sowenig eine Pute wie Sie. Wäre ich es, so wäre ich immer noch besser, denn ich wäre nicht so zäh. Der Herr und die Frau sind seit fünf Uhr ausgegangen, sie haben mich beauftragt, Ihnen zu sagen, Sie möchten mit dem Frühstück nicht auf sie warten. Sie werden bald heimkommen. Das Frühstück ist aufgetragen; und wenn's gefällig ist . . .« Das Mädchen schob ihr einen Stuhl hin.
»Ich will nichts, weder dich, noch deinen Stuhl, noch das übrige. Trag' alles wieder fort und sage mir, wo sie sind.«
»Der Herr und die Frau geben mir keine Rechenschaft. Wenn Sie das Frühstück nicht wollen, trag' ich es wieder in die Küche.«
»Nun, Siska,« sagte Roosje, sich zu dem dicken Mädchen wendend, »was sagst du dazu? Da sind sie schon auf der Straße, die Nichtstuer! Anstatt in seinem Zimmer zu studieren, wie zwei große Männer, die ich kenne, treibt er sich herum. Ja, statt zu Hause zu bleiben und zu arbeiten, wie die ehrbaren Herren Krummjahn und ›Also weil‹-La Forêt, anstatt zu denken, zu grübeln und Gott um die Heilung der Kranken zu bitten, treibt er sich herum. So ist er, dieser Nichtstuer, dieser Zon-Klopper, der sich in der Sonne herumtreibt! – Wann ist er fortgegangen, du schnippisches Ding?«
»Um fünf Uhr früh.«
»Meine Tochter läuft mit ihrem Mann herum?«
»Ja, Frau, sie besuchen manchmal zusammen die Kranken. Während des Besuches wartet sie im Salon oder auf der Straße.«
»Kranke?« fragte Roosje. »Wenn man Kranke hat, wohnt man dann in Ukkel? Gibt es Kranke in Ukkel? Wer wird ihn hier aufsuchen?«
»Wer ihn braucht.«
»Gehen Sie hinaus.«
»Ich werde tun, was mir aufgetragen ist. Frau Margarete hat gesagt, sie käme erst um neun Uhr nach Hause, wenn Sie aber inzwischen frühstücken wollten . . .«
»Ich frühstücke nicht.«
»Doch, Frau, ich bitte Sie,« sagte Siska. »Es ist acht Uhr früh, seit vier Uhr bin ich auf und habe Hunger. Riechen Sie nur, wie gut der Kaffee riecht. Frühstücken Sie doch, Frau.«
»Ach, du willst essen, du,« sagte Roosje. »Ich ersticke vor Zorn. Trag' das weg, sag ich dir.«
»Hören Sie, Frau,« sagte Siska, die eine Hand auf Roosjes Arm und die andre auf das Brett legend, »hören Sie mich an. Ich ersticke nicht vor Zorn, habe seit vier Uhr Hunger und will essen. Frau Margarete hat gesagt, wir sollen mit dem Frühstück nicht auf sie warten. Sie wissen, was Sie mir selbst gesagt haben. Außerdem bin ich nicht hergekommen, um zu verhungern. Wenn Sie finden, daß starker Kaffee, Eier und Weißbrot, ja sogar Semmeln, zu viel des Guten sind, so finde ich, daß es grade gut genug ist, mich das Spülwasser und das trockne Brot vergessen zu lassen, das ich so lange gegessen und getrunken habe, Sie wissen, wo. Ich will Ihnen aber noch was sagen. Wenn Ihnen die Leute was Gutes tun, dann behandeln Sie sie, als ob sie Ihnen was Böses täten. Das ist nicht recht. An ihrer Stelle täte ich Ihnen Böses, um von Ihnen Gutes zu erhalten.«
»Geben Sie mir das Brett,« sagte sie zu dem Dienstmädchen, und dies gehorchte gern, um Roosje zu ärgern.
Roosje setzte sich vor ihren Teller, stützte den Arm auf und lehnte das Kinn in die Hand. Dadurch schoben sich alle Falten und Runzeln ihres kleinen bösen Gesichts nach oben. Es war wie ein Bündel, aus dem nichts hervorsprang als eine dünne Nase und zwei Augäpfel, die wie Katzenaugen im Dunkeln glänzten.
Siska stellte das Brett auf den Tisch, goß Roosje Kaffee ein, schnitt ihr ein Stück Weißbrot ab, bestrich es mit Butter, legte ihr drei Eier auf einen Teller und schob ihn ihr hin. Dann kümmerte sie sich nicht weiter um ihre Herrin, bediente sich selbst, aß das halbe Brot und fast alle Eier auf und trank die Kaffeekanne leer.
Sie sah nicht, wie Roosje angesichts dieses wunderbaren Appetits heimlich das wenige verschwinden ließ, was Siska ihr gelassen hatte. Brot, Eier, Weißbrot, Semmeln, Kaffee, alles verschwand. Roosjes Wünsche gingen in Erfüllung. In Erwartung eines Besseren gab sie die Lebensmittel ihres Schwiegersohns der Plünderung preis.
Roosje verachtete Paul tief. Seine Ruhe, sein Sanftmut erschienen ihr als Zeichen von Schwäche. Sie ahnte die wirkliche Kraft nicht, die sich unter diesem friedlichen, fast empfindsamen Wesen verbarg. Da er kein Pedant war, so war er in ihren Augen nicht einmal gelehrt. Sie kannte andere Kerle als diesen »Betteldoktor« unter den Stammgästen des »Kaiserwappens«.
Da war zunächst ein alter Schulmeister, ein Mann von gewisser Einbildungskraft, unzureichendem Verstand und falschem Urteil. Roosje verstand nichts davon und hielt ihn für einen großen Mann. Dieser große Mann hatte viel gelesen und behandelte gern historische Fragen. Aufbau und Zusammenhang der Gedanken, genaue Wiedergabe von Tatsachen, Daten, Namen geschichtlicher Personen – das alles klopfte umsonst an seinen Hirnkasten. Eintritt verboten. Etwas Namenloses hielt die Wacht davor.
Der andre Gegenstand von Roosjes glühender Bewunderung war ein Dichterling, der seit fünfundvierzig Jahren (er war sechzig alt) die Apokalypse in französische Verse zu bringen suchte. Gelehrte Erklärungen sollten sich in Fußnoten ausbreiten, um die Wahrscheinlichkeit und Wirklichkeit der in der Dichtung verkündeten Tatsachen zu erläutern. Er hatte schon zahllose Blätter bekritzelt. Übrigens konnte er weder Griechisch noch Lateinisch, das er verkehrt las, noch Hebräisch, das er von links nach rechts las. Trotzdem zitierte er seine Lieblingsdichtung bei jeder Gelegenheit, und von der Höhe der »zwölf Tore, die zwölf Perlen waren« und der »Stadt, die keiner Sonne noch des Mondes bedarf, daß sie ihr scheinen«, und in die man »die Herrlichkeit und die Ehre der Heiden bringen wird«, beurteilte er die transzendentalen Fragen der Geschichte und der Politik, ja sogar die Volkswirtschaft und die Frage der Kinderarbeit in den Fabriken.
Diese zwei »berühmten« Gelehrten hatten stets Roosjes Bewunderung erregt. Wenn der Schulmeister Krummjahn – so genannt wegen seines krummen rechten Beines – seinen »Kapper« Genever bei ihr trank und dazu redete, war es Roosje, als sähe sie Bücher in dichten Reihen aus seinem Mund quellen.
Bisweilen kam auch der Dichter La Forêt mit dem Beinamen »Also weil«, da er stets mit dieser Wendung begann, um eine seiner Schlußfolgerungen auf die Apokalypse zu stützen, die er stets unterm Arm trug, mit wirren Haaren ins »Kaiserwappen« und bestellte mit verhaltener Begeisterung seinen »Kapper«. Die störrische weiße Locke, die auf seiner Stirn wallte und sich beim Kerzenlicht mit gelblichem Widerschein färbte, gemahnte Roosje in ihrem katholischen Empfinden an den heiligen Johannes selbst, der eine der feurigen Zungen, die sich auf die Häupter der Apostel herabgesenkt hatten, als Stirnschmuck trug.
Weder »Also weil« noch Krummjahn lachten je, und ihr feierliches Benehmen flößte Roosje Respekt ein.
Eines Abends war sie bei einer sehr fesselnden Zwiesprache zugegen, bei der Krummjahn und »Also weil«-La Forêt nicht der gleichen Meinung waren. Es handelte sich um die vier apokalyptischen Tiere, deren eines den sieben Engeln sieben Schalen voll Gottes Zorn reicht, so wie um andre Dinge, die nach »Also weils« Ansicht sich auf Belgien bezogen und die Plagen bedeuteten, die auf das Land im allgemeinen und Gent im besonderen herabregnen sollten.
Krummjahn behauptete, Gottes Zorn sei kein Ding, das sich wie Gerstenbier oder Uitzet in Flaschen und Fässer füllen oder aus goldnen Schalen und Maßkrügen trinken lasse. Da prügelte der zornmütige »Also weil« ihn weidlich durch und überzeugte ihn durch eine Reihe heftiger Faustschläge und andrer Püffe, daß er unrecht hätte, die Logik und die Weissagungen der Apokalypse anzuzweifeln.
Krummjahn ging früh zu Bett und rieb sich seine Schwielen. »Also weil« aber, der ihm das Leid angetan hatte, behandelte ihn fortan mit geheimer, ingrimmiger Verachtung und betrachtete ihn als ungebildeten Menschen, der zu plump war, um sich je zu höheren Sphären aufzuschwingen.
Roosje hegte für beide eine große Verehrung. Das Volk hat ja immer Ehrfurcht vor den Pedanten, und Frau Servaes, verwitwete van Steelandt, gehörte trotz ihres adligen Namens zum Volke. Vor diesen Leuchten der Wissenschaft erblich das bescheidene Wissen des Doktors wie ein Nachtlicht vor zwei Sonnen.
Paul und Margarete gingen durch Stadt und Land, über Berg und Tal, auf Straßen und Gassen und suchten aus den Bildern des Lebens eine Lehre zu ziehen, die später ihrem Sohne zugute kommen sollte; denn daß es ein Sohn sein würde, spürte Margarete, da sie sich so wenig leidend fühlte.
Einmal waren sie in der Minoritenstraße. Am Platz vor dem Brunnen lag ein Haufen Salatblätter, Pflaumenkerne, Lumpen in allen Farben und Kehricht aus den Häusern der Nachbarschaft. Drei arme alte Hunde liefen schweigend darauf zu, durchstöberten ihn, fanden nichts darin und schlichen betrübt fort, wie sie gekommen waren. Sie hatten ohne große Hoffnung etwas Nahrung gesucht, und als sie nichts fanden, waren sie gar nicht enttäuscht, denn sie waren an Enttäuschung gewöhnt. Paul und Margarete folgten ihnen.
Nichts war so traurig und zugleich so mutig wie das Gesicht dieser drei armen Tiere. Sie waren hochbeinig und hager; ihr schäbiges Fell verriet, daß sie Muscheln oder Sand hatten ziehen müssen, wenig oder gar kein Futter bekommen hatten und als schwächlich oder krank weggejagt waren. Der dritte war kleiner und älter und trug um den Hals noch einen Strick, der in eine Schleife auslief. Die Schleife war zweifellos an einem Stein befestigt gewesen, von dem das Tier sich auf dem Grunde eines Teiches befreit hatte. Es schien bisher als Rentner gelebt zu haben, denn sein Fell war nicht schäbig. Sein Gang war weniger entschlossen als der seiner Gefährten.
Sie kamen zu dritt an einen andern Haufen und fanden da ein paar alte Häute und Fischgräten. Die letzteren waren bald verschwunden. Dann machten sie sich hastig an die Häute und hielten ihr mageres Mahl. Über die Häute gebeugt, zerrten sie mit ihren schwachen Kräften daran und blickten sich scheu nach rechts und nach links um wie Diebe, die ertappt zu werden fürchten. Sie waren so wenig gewöhnt, zu essen, daß sie vielleicht glaubten, ihre Nahrung zu stehlen.
Ein armes Weib, im Arm ihren Lumpenkorb, kam aus der Krankenstraße und bog in die Minoritenstraße ein. Sie lief auf den Haufen zu und stöberte darin. Die drei Hunde ließen sich nicht stören. Sie hatten mit ihren Lumpen nichts zu schaffen. Erst wollte sie sie wegjagen, da knurrten sie. Nun bekam sie Angst und gab sich mit ihrem Platze zufrieden.
Das Gesicht der Frau hatte den gleichen Ausdruck wie das der Hunde. Außer dem stark verdunkelten Abglanz höheren Geistes, der stets auf der Menschenstirn leuchtet, war sie wie die drei Tiere traurig, von gewohnheitsmäßiger Traurigkeit, und verschüchtert durch die gewohnte schlechte Behandlung und allgemeine Verachtung. Auch sie glaubte etwas Böses zu tun, indem sie ein paar Lumpen von einem Kehrichthaufen auflas.
Plötzlich trat aus einem Privathaus ein dicker Herr, ein vergnügter Mann, der offenbar gut gespeist hatte und nun seine Geliebte besuchen wollte. Ihm folgte ein prächtiger weißer Neufundländer mit glattem, wohlgewaschenem Fell. Er ging wie sein Herr mit dem festen Schritt wohlgenährter Wesen. Kaum hatte er die drei Köter erblickt, als er wild und toll auf sie losschoß. Ängstlich, mit eingeklemmtem Schwanz, hielten die drei armen Köter ihr Stück Haut mit der Pfote fest und rührten sich nicht. Sie schienen den reichen, wohlgenährten Hund mit dem weißen Fell anzuflehen, ihnen ihren ärmlichen Raub zu lassen.
Der Neufundländer ging verächtlich um sie herum und beschimpfte sie in ihrer Sprache. Sie verstanden ihn und knurrten. Und er verstand, daß sie böse waren, und knurrte gleichfalls. Sein Herr sprach gegenüber der Minoritenkirche mit einer Dame. Der Neufundländer schien zu zaudern, auf welchen der drei er sich stürzen sollte. Aber der eine ließ ihm keine Zeit zur Entscheidung, und zwar der kleinste, der früher so wohlgenährt gewesen war wie der Angreifer. Er sprang ihm an die Kehle. Mit einem einzigen Ruck warf dieser den Armen mit zerfetzten Ohren und blutendem Maul auf den Kehrichthaufen. Die zwei andern wollten auf ihn losstürzen, aber der Herr pfiff seinem siegreichen Hunde und der wandte sich mit hochgetragenem Schweif und gespannten Muskeln von seinem schwachen Gegner ab, der schreiend entfloh, nach zehn Schritten stehen blieb und von da den Sieger in seiner Sprache beschimpfte.
Auf den Lärm kam ein Polizist angelaufen.
»Was machst du da, du Aas?« fragte er das Weib. »Ich stecke dich ins Loch, wenn ich dich nochmals dabei fasse, wie du Lumpen aus diesem Haufen aufliest!«
Die Ärmste gab keine Antwort, warf dem Polizisten einen haßerfüllten, doch ängstlichen Blick zu und ging langsam fort, wie ein Wesen, das an jeden Schimpf und jede Kränkung gewöhnt ist.
Margarete traten die Tränen in die Augen.
»Du weinst?« sagte Paul.
»Ach,« sagte sie, »arme Frau, arme Hunde! Gib mir dein Geld, alles, was du hast!«
»Ich behalte etwas, um Leber für die Hunde zu kaufen,« entgegnete Paul.
Margarete lief der Frau nach und schüttete ihr den Inhalt seiner Börse in die Hände. Dann kehrte sie zu ihrem Gatten zurück, der sich umsah.
»Nirgends ein Metzger,« sagte er. »Aber da ist wenigstens ein Bäcker.«
Er ging hinein und kaufte Brot. Die drei Hunde waren zu dem Haufen zurückgekehrt. Paul gab ihnen Brot und sprach freundlich mit ihnen.
Dann ging er und gab Margarete den Arm. Sie sagte: »Sie laufen uns nach. Aber warum preßt du so die Lippen zusammen? Bist du böse?«
»Ich habe ein seltsames Gefühl. Frau, wenn wir je einen Sohn haben, wie ich hoffe, wollen wir ihn alles lehren, was wir wissen, alles, was wir zusammen gesehen haben. Machen wir ihn zum wackeren, starken, mutigen Menschen. Er soll nützlich und lebenstüchtig werden. Wir wollen ihm die Welt zeigen, wie sie ist, die Welt, wo die List ihren Laden auftut und die Gewalt ihn verteidigt. Aber unser Sohn soll nie arm sein! Er soll nie aus dem Wohlstand in Not herabsinken, auch nicht vorübergehend. Denn sonst würde er sehen, wieviel Härte und Grausamkeit die Welt unter ihrem Honiglächeln verbirgt. Ach, ich wage es nicht auszudenken, Margarete! Er könnte von Natur schwächlich, verschwenderisch, leichtsinnig sein, könnte sich zu Grunde richten, verarmen und untergehen. Arm sein heißt von jedermann und jederzeit ungestraft beschimpft, geschlagen, angegriffen, verunglimpft, geschmäht und verleumdet werden. Bleibt ihm etwas Stolz und er sucht Arbeit, ohne sich zu erniedrigen, so macht man ihm ein Verbrechen aus dieser notwendigen Tugend, die man seinen Dünkel nennen wird. Liebt er weiße Wäsche und saubere Kleider, so wird man von ihm sagen, er sollte lieber seinen Bäcker bezahlen, als so viel Geld für seine Wäscherin ausgeben. Die Idioten, die über ihn herfallen, begreifen ja nicht, was dieser letzte Schein von Wohlstand bedeutet, der ihn noch von weitem mit der Welt der Glücklichen verknüpft, aus der er so tief herabgesunken ist. Lebt er als Künstler oder Gelehrter von trocknem Brot und Wasser, um sein Werk zu vollenden, so sagen sie, er sollte sich lieber anwerben lassen und eine Flinte auf die Schulter nehmen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie dumm und roh die Welt sich meist in das Leben derer einmischt, die da leiden und nichts verlangen als Zeit, um sich aufzurichten. Sinken sie infolge von Mangel und unfruchtbaren Kämpfen zu Boden wie Löwen, die vor Erschöpfung sterben und nicht mehr beißen können, so kommen alle herbei und geben ihnen den Eselsfußtritt. Margarete, diese Hunde, dies arme Weib, dieser Polizist, dieser Neufundländer, dieser dicke Reiche – das ist das Leben, wie es jetzt ist und wohl immer sein wird. Alles für einige, nichts oder fast nichts für die andern! Aber lege dem Kinde keinen Haß ins Herz. Sage ihm, daß der Mensch, der sich groß dünkt, nicht mehr ist als das Tier, sobald man seinem Vorteil zu nahe tritt. Sage ihm, daß ein jeder Mühe hat, seine Nahrung zu finden, und daß jeder ein Anrecht darauf hat.«
»Mich friert bei deinen Worten, Geliebter.«
»Besser,« sagte Paul, »die Mutter friert, als daß der Sohn hungert.«
Infolge einer unerwartet ausgebliebenen beträchtlichen Zahlung fehlte es eines Tages im Hause des Doktors an Geld. Zu stolz, seine Patienten mit Rechnungen zu drängen, ließ er ihnen stets Zeit, ihm sein Honorar zu schicken.
Am nächsten Tage war sein Geburtstag. Er hatte schon eine Woche im voraus viele Gäste zu »Schmaus und Gelage« eingeladen. Um acht Uhr kam Margarete in Roosjes Schlafzimmer. Die Alte hörte ihre Tochter an, dann legte sie die Hand auf die Türklinke und öffnete und schloß die Tür immerfort, wie um Margarete aus ihrem Zimmer zu treiben. Diese stand flehend vor ihr.
»Aber Mama,« sagte sie, »zweihundert Franken machen dir doch nichts aus. Wir brauchen grade soviel. Du hast doch mehr in deiner Schublade.«
»Nicht einen Groschen, nicht einen Heller! Was, zweihundert Franken für einen Tag! Ich habe ein halbes Jahr gearbeitet, um die Hälfte, ein Viertel zu verdienen! Zweihundert Franken . . .!«
»Es ist sein Geburtstag, Mama. Der ist nur einmal im Jahre!«
»Ja, einmal! Und alle Tage teure Früchte, Geflügel, Hühner! Und alle diese Möbel und diese Bilder, und euer Schloß und eure Dienstboten! Das alles kostet nichts, was?« Dann wies sie mit dem Finger auf das Bett und die Stühle aus Rosenholz und die Tapeten und betastete alles. »Und Kaschmirgardinen und Kaschmirsteppdecken« (sie waren aus Baumwolle) . . . und ein Teppich unter meinen Füßen, schöner als der schönste, der je auf dem Spieltisch im »Kaiserwappen« lag, und goldene Leuchter und Spiegel und chinesisches Porzellan. Das ist ein Zimmer für eine Königin! . . .«
»Mama, es ist dein Zimmer. Wir haben alles aus dem Hause zusammengeholt, um es recht schön zu machen.«
»Das ist mir einerlei! Nicht einen Franken, nicht einen Heller!«
»Mama, ich versichere dir, es sind keine fünf Franken im Hause.«
»Das geht mich nichts an.«
»Ich muß tausend Dinge bar bezahlen: Früchte, Gebäck, Eis.«
»Früchte, Gebäck, Eis!« Roosje geriet in wütenden Zorn. Bleich und mit geballten Fäusten ging sie auf ihre Tochter los. »Eis, was? Du Bettlerin! Eis! Und von mir verlangst du das Geld dafür, um es diesem Lumpenkerl in den Schnabel zu stecken, diesem Habenichts, diesem Verschwender und Schuldenmacher! Eis! Aber lieber drehte ich ihm mit meinen alten Fingern den Hals um! Eis! Ha! Ja, so sind sie alle, diese schönen Herren. Eis! Geh nachsehen, ob dein Eis kommt! Sowas hat ein Schloß, Dienstboten, sowas wirbelt Staub auf und bespritzt die Leute mit Dreck! Eis! Bezahlt er auch nur seinen Schneider? Er trägt jede Woche wenigstens einen neuen Anzug. Eis, und Geld borgen! Da, schau« – und sie zupfte an den Falten ihres Puffärmels – »da, das ist Baumwolle zu dreißig Heller, Schweizer Baumwolle, aber ich habe keine Schulden! Bin ich jemals vor einem gekrochen wie ein Hund und habe ein verschämtes Gesicht gemacht, um mir Geld zu borgen?«
»Mama, uns ist man Geld schuldig. Wir haben wenigstens zwanzigtausend Franken Außenstände . . .«
»Zwanzigtausend Franken! Hahaha!« rief Roosje und brach in boshaftes Gelächter aus.
Margarete hörte die Eifersucht auf ihren Gatten heraus, diese traurige, wilde, unwillkürliche Eifersucht, dies Feuer, das die Alte verzehrte. Das Lachen dauerte lange und endete mit einem fast sanften Lächeln. Margarete glaubte ihre Mutter bereits umgestimmt und fiel ihr um den Hals.
»Mama, arme Mama!« sagte sie, indem sie sie umarmte und mit Küssen bedeckte.
»Willst du mich wohl lassen!« rief Roosje, sich aufrichtend, »willst du . . . Ich weiß, warum du mich umarmst: wegen meines Geldes. Du sollst aber mein Geld nicht erben! Ich werde mich in eine Lebensrente einkaufen, und so wird er es wenigstens nicht kriegen! Zwanzigtausend Franken Einnahme? Hahaha!«
»Mama, lach nicht so, sieh dir lieber meine Bücher an.«
»In die Bücher schreibt man, was man will.«
»Mama, allein Herr von C . . ., der hier nebenan wohnt, der Baron, schuldet ihm siebzehnhundert Franken.«
Roosje platzte von neuem heraus.
»Ah! Ah! Siebzehnhundert Franken! Und wofür? Hahaha! Dieser Lausekerl, der Besuch für einen Franken, und siebzehnhundert Franken!«
»Aber Mama, für drei Entbindungen allein und für die Behandlung.«
»Siebzehnhundert Franken? Haha! Er hat die Dame wohl von einer Kirche entbunden?«
»Ich bitte dich, Mama, laß mich nicht so in der Verlegenheit.«
»Nichts, keinen Heller. Du hast deine alte Mutter für einen Taugenichts, einen Verschwender verlassen, und nachher kommst du in seinem Namen, denn er hat dich beauftragt . . .«
»Mutter, wofür hältst du ihn?«
»Ich halte ihn für das, was er ist, für einen liederlichen Menschen, der dich aufs Stroh bringen wird, dich und deine Kinder.«
»Aber Mama, die Gäste kommen, man wird uns für arm halten, wir werden in schlechten Ruf kommen. Paul wird seine Patienten verlieren. Komm, Mama, gute, böse Mama!«
Margarete ergriff ihre Hände und bedeckte sie mit Küssen. Roosje ließ es geschehen. Einen Augenblick war sie gerührt, ihre Züge entspannten sich, sie blickte ihre Tochter an, ihre Augen wurden ein wenig feucht, aber der unbeugsame Haß der armen Eifersüchtigen wachte über ihr Mutterherz. Sie lächelte wieder, aber mit scheußlichem Lächeln, und sagte mit grimmiger Ruhe: »Weißt du, was man tut, wenn man keine zweihundert Franken hat und viele Leute erwartet? Man geht zum Bauern, bestellt gutes Schwarzbrot, Rettiche und ein Viertelpfund Butter, da man ja ein Fest feiern will. Man gibt jedem Gast eine dicke Schnitte, eine Scheibe Rettich, Pfeffer und Salz und sagt zu ihnen: Heute ist das Fest mager; wir sind arm. Aber an dem Tage, wo wir zweihundert Franken haben, um sie zum Fenster hinaus und euch in den Rachen zu werfen, werden wir es euch sagen!«
»Mama, ich bitte dich!«
»Nichts, nichts, nichts, nichts!«
»Mama! . . .«
»Willst du fünfzig Heller?«
In diesem Augenblick wurde an der Gittertür des Landhauses geklingelt. Kurz danach klopfte das Hausmädchen an Roosjes Zimmertür.
»Ist die gnädige Frau da?« fragte sie beim Eintreten.
»Ja,« antwortete Margarete und trat hinter der Tür hervor.
»Der Diener des Herrn Barons ist da und bringt dies Päckchen für den Herrn oder die gnädige Frau.«
Margarete öffnete es zitternd. Es enthielt fünfzehn Hundertfranknoten der Bank von Frankreich und vier grüne Fünfzigfrankscheine der Belgischen Nationalbank.
»Ach Mama, wie bin ich zufrieden!« sagte Margarete, indem sie die Quittung unterschrieb. »Du siehst wohl, ich habe nicht gelogen, Mama!«
Sie sprang Roosje an den Hals und diese biß sich verdrießlich in die Lippen, aber beim Essen war sie gegen Paul fast ehrerbietig.
Paul und Margarete gingen sorglos durchs Leben und berauschten sich gegenseitig an ihrer Jugend und Schönheit. Sie liebten sich wie Kinder, suchten und flohen sich, liefen im Haus, im Garten, überall hintereinander her. Sie spielten. Wenn es schellte und Margarete in Abwesenheit des Mädchens öffnen wollte, ging Paul hinterher, und Roosje hörte hinter der Tür im Vorflur den Schall zweier kräftiger, fest sitzender Küsse.
Angesichts dieser schönen Liebe stand ihre eigene Vergangenheit wieder vor ihr auf. Auch sie hatte geliebt und war glücklich gewesen. Besonders erinnerte sie sich eines Tages, den sie mit ihrem Liebsten, der dann ihr Gatte wurde, auf dem Lande verbracht hatte.
Es war an einem Kirmestag. Sie gingen ins Freie hinaus und ließen den Festplatz, der an einem Teiche lag, das Gequietsch, das Bumbum und Trara der Geigen, Trommeln und Trompeten hinter sich. Lange schweiften sie allein durch die Natur, auf den Wegen durchs blühende Korn, unter dem weiten, unendlichen Himmel. Das Wetter war gewitterschwül und der Abend begann zu sinken, als sie auf den Festplatz zurückkamen.
Sie setzten sich auf eine der für Spaziergänger bestimmten Bänke und schauten verträumt, Hand in Hand, auf das prächtige Bild, das die Teiche boten, aber es war ihnen nur ein Rahmen, der ihre Liebe umspannte. Das Becken des einen Teiches war höher als das des andern; ein Damm trennte beide. In dem unteren Teich bebten die Schilfbüschel unter dem Hauche des lauen Abendwindes. In dem oberen glänzte das tiefe Wasser hell auf. Beide waren von Ulmen und Pappeln eingefaßt und in einigen Buchten der geschweiften Ufer von Weiden und Akazien umsäumt, aus denen das rote Dach eines Häuschens oder der anmutige Umriß einer kleinen Villa sich abhob. Der Himmel war stahlblau, die Sonne sank in violetten Wolken zum Horizont herab, hinter dem ihre Scheibe schon halb verschwand, und ein ungeheurer Strahlenfächer tat sich in der Unendlichkeit auf. In den Buden erglühten die Lichter, und ihr Widerschein in den Teichen glich langen, aufrecht stehenden feurigen Schlangen. Der Lärm der Blechmusik, der Trommeln, der Schellenbäume, das Geschrei der Seiltänzer, der Papageien und Adler, das Gebrüll der Löwen, das Heulen der Tiger in ihren Käfigen war betäubend. Die mit rotem Flitterstoff bezogenen Karussells drehten sich schwindelnd und feenhaft im Lichtschein. Männer, Frauen, Mädchen und Knaben lachten, pfiffen und sangen. Es war der seltsame Lärm der Menge, stets vom rohen Ton der aufgestachelten Leidenschaften übertönt.
Sie blieben allein auf ihrer Bank sitzen, in sich und in ihre Liebe versunken.
Leute aller Stände kamen an ihnen vorbei, unter anderem eine junge Frau mit zwei Kindern, die ihrem Manne den Arm gab. Zwei Dienstmädchen, richtige Dirnen, gingen rotglühend hinterdrein. Im Vorbeigehen verschlangen sie Roosjes Liebhaber mit den Blicken. Roosje litt schweigend und nicht ohne Stolz unter diesen bacchantischen Gelüsten. Dann kam eine Frau von fünfzig Jahren, lang, dürr und mager, die mit zu den anderen gehörte. Sie blickte Roosje mit einer Miene an, die verächtlich sein sollte, aber nur neidisch war, und sagte in bitterem Tone: »Das ist der Weg der Verliebten.« Roosjes Liebhaber hörte diese Worte nicht; sie wiederholte sie ihm. »Was geht uns das an?« sagte er. »Die Frau ist eifersüchtig.«
»Hältst du denn alle Frauen für eifersüchtig?«
»Ja, und dich besonders.«
Das stimmte.
Sie standen auf und gingen sacht weiter, eine tiefere Einsamkeit suchend. Sie stützte sich gern auf seinen starken Arm, legte beide Hände hinein und fühlte mit der einen, wie seine Muskeln sich spannten. Im Gehen knipste er mit den Fingern und sagte plötzlich: »Ich brenne.«
»Wieso?« sagte sie und tat, als verstände sie ihn nicht.
Er seufzte tief und antwortete: »Ja, und ich liebe dich.«
»Wem gilt dieser Seufzer?« fragte sie.
»Dir!«
»Und andern?«
»O nein, du kennst mich nicht. Ein Frauenzimmer kann man für einen Augenblick lieben, wenn sie schön von Gestalt ist, und sie dann gleich wieder laufen lassen.« Er war Bildhauer. »Aber du, in dir ist mein Herz, mein ganzes Wesen. Oh, ich liebe dich!« Und er umarmte sie sanft, und gab ihr jene innigen Küsse, die mehr als Sinnenliebe sind. »Ich liebe dich für deine Güte, deinen Mut.« Sie arbeitete wie ein Pferd und mehr als das, vierzehn Stunden täglich. »Ich liebe dich für dein gutes Herz, und du bist schön.«
Seine Stimme liebkoste sie, als hätte sie mit allen Poren den Wein der wahren Liebe eingesogen, die ganz Güte, ganz Zärtlichkeit, ganz Bewunderung ist. Auch sie »brannte« und ließ sich bewundern.
Sie betraten einen jener dunklen Pfade, den Liebende so gern aufsuchen und der sich in der Leere der nächtlichen Felder zu verlieren schien. Hinter ihnen drang der schrille Lärm aus den Buden, deren Besitzer ihr möglichstes taten, um durch schreiende Farben die Augen der Zuschauer zu blenden und die Ohren durch den wilden Lärm der Trommeln und den schrillen Klang der Blechmusik zu zerreißen.
Sie aber waren in der Stille, in der Liebe, in der Nacht. Sie gingen langsam, eng aneinander geschmiegt, eine wonnige, süße Berührung.
»Nie,« sagte sie leicht bebend, »waren wir so weit weg im Dunkeln.«
»Ich bin bei dir, stark wie zehn und bewaffnet.«
Das war nicht wahr, sie wußte es, aber ihre Hand, die in seinem Arme lag, fühlte das Spiel seiner eisenharten Muskeln.
Neben ihnen im Teich, der wie eine beschlagene Silberscheibe dalag, spiegelten sich die schwarzen Umrisse der Bäume, das rote, mit Goldflittern besäte Tuch der Karussells, die Lichter, die im Spiel der Wellen zitterten, und der graublaue Himmel, an dem die blauen Sterne erglommen. Sie blieben stehen. Die Nacht hüllte sie in Schatten. Sie hatte Angst vor ihm.
»Gehen wir uns die Buden ansehen,« sagte sie.
»Ich mag die vielen Menschen nicht,« entgegnete er, »bleibe bei mir.«
Sie wollte nicht, fürchtete sich vor ihrer eigenen Angst und vor den Leuten, die vorübergehen konnten. Da spielte sie die Zornige und sagte mit weiblicher List:
»Du führst mich nie dahin, wo etwas zu sehen ist, ich bin immer ganz allein; führe mich zu den Buden!«
Sie kehrten zurück zu dem Jahrmarktsplatz, diesem wahren Hexensabbat von Seiltänzern, tosender Blechmusik, Lärm und Lichtern. Noch waren sie ziemlich weit ab und fast allein auf der schmalen Straße, die am Teich entlang führte. Sie senkte den Kopf und wurde traurig. Er bemerkte es bald.
»Wieder mal!« sagte er mit sanftem Vorwurf. »Auch ich habe Kummer, aber vergesse ich ihn nicht bei dir? Mut, Rose.«
»Du bist ein Mann.«
»Das weiß ich. Aber da ich ein Mann bin und dich liebe, mußt du mir gehorchen. Willst du wohl lachen, aber sofort? Nun?«
Sie lachte und sprang ihm an den Hals. Die Liebe bezwang sie.
Der Lärm und das Licht der Buden wurde deutlicher. Sie mischten sich unter die Menge. Sie wollte nach der vordersten Reihe. Er war fast sanft, wenn er allein war, aber wenn sie an seinem Arme hing, wurde er so heftig wie ein Hahn, der seine Hühner anführt. Die Menge machte ihnen Platz.
Es war eine herrliche Bude, vor der sie stehen blieben. Erst sahen sie Polichinell auftreten, in schwarzem Sammetkleid mit Flittern, die im Lampenlicht blitzten. Er ging auf den Absätzen, die Schuhspitzen in der Luft. Dann kam ein Mädchen, Mutter Gigogne, und kleine schwarzgekleidete Kerle mit rotem Gesicht, die um sie herum tanzten. Über irgendeine Anspielung lachte die Menge, besonders aber über die schmalen Hüften der kleinen Kerle und die Röte ihrer dicken Gesichter. Dann verschwanden sie in einem Wirbel. Nun lief Polichinell wieder über die Bühne, wie vorher auf den Absätzen und die Fußspitzen in der Luft, wieder tiefernst und in seinem flitterbesetzten Sammetkleid. Dann kam nochmals die Frau mit den kleinen Kerlen, schürzte sich die Röcke auf und verwandelte sich unter dem Beifall der Menge in einen Ballon – ein mechanisches Meisterwerk. Der Ballon erhob sich, von dem gleichen Wirbel getragen, zur Decke der Bühne. Die Menge klaschte abermals Beifall. Der Vorhang fiel und zeigte eine Landschaft von lauter schwarzen Backsteinhäusern, die sich von einem roten Rasen und einem schokoladenfarbenen Himmel abhoben.
Die Frösche und Kröten setzten ihre ernste, schwermütige Unterhaltung fort. Die Pappeln und Buchen spiegelten ihre dunklen Umrisse im stillen Wasser mit seinem metallischen Widerschein, und die Sterne, bleich wie die Liebe, schimmerten am blaugrauen Himmel. Eine Nachtigall sang über ihnen und auch in Roosjes Herz. Sie fühlte sich geliebt; sie sah, daß alles ringsum den Rahmen ihres Glückes bildete, und schweigend und anbetend blickte sie auf ihren Mann, ihren stolzen Geliebten, auf dessen Arm sie sich mit verschränkten Händen schwer stützte, ohne daß er es zu merken schien.
Da er sah, daß sie müde war, wollte er sie tragen. Sie verbat es sich nachdrücklich, wohl wissend, daß er es doch tun würde, aber nicht lange, und vor allem aus weiblicher Eitelkeit, denn sie wollte nicht aussehen wie ein Kind in den Armen der Amme. Und dann hätte man auch beim Schein einer tückischen Laterne sehen können, daß an ihrem einen Schuh das Schnürband sich gelöst hatte.
Sie entfernten sich wieder vom Jahrmarktsplatz.
»Sieh,« sagte er, plötzlich beredt und poetisch werdend, »sieh da den Stern, die Venus, den hellen Stern, den Stern der Liebe und Hoffnung, sieh! Wer ihn nicht in seinem Gehirn hat, mitten in seinen Schmerzen, seinem Verdruß, seinen Kämpfen, der ist tot, und man kann ihn vor die Hunde werfen.«
Sie küßte ihm zum Zeichen ihrer Hörigkeit die Hände und erwartete eine bündigere Sprache, einen Heiratsantrag, wie es die Mädchen aus dem Volk und auch die anderen stets von den Männern erwarten, die ihnen ihre Liebe erklären.
»Du wirst nie allein sein, und dieser Arm, auf den du dich stützt . . .«
Er vollendete den Satz nicht, aber er bedeckte sie mit Küssen. Sie fuhr fort, ihm die Hand zu küssen, war fast glücklich; aber die Überlegung, die die Frauen nie verläßt, das Gefühl vom Leichtsinn und der Rohheit der Männer, ließen keine reine Freude aufkommen, obwohl ihr pochendes Herz sie zur Liebe rief. Von den Feldern her wehte ihnen der berauschende Duft des blühenden Korns entgegen.
»Ich bin so müde,« sagte sie.
Sie traten in einen der Gärten am Rande des Teiches, einen Garten mit Bäumen und Sträuchern, die zu Lauben hergerichtet und durch niedrige Hecken voneinander getrennt waren. Auf den Bänken erkannten sie die an einander geschmiegten Schatten von Liebespaaren; sie hoben sich von der unbestimmten Helle ab, die vom Himmel herabfiel und von dem Teiche zurückstrahlte. Tiefe Stille herrschte, als wäre der Garten menschenleer. Ein weißgekleideter Knabe, der geräuschlos hin und her lief, stach wie ein Gespenst von der Dunkelheit ab.
Die beiden Glücklichen errieten die Streitereien, die Eifersuchtsszenen, die Schmerzen und Küsse im Dunkeln. Wie viele Verliebte saßen dort, die das Glück suchten und es in der finsteren Einsamkeit, in der nächtlichen Stille fanden! Draußen rauschten die Blätter, zirpten die Grillen, quakten die Frösche und zischten die Kröten. Von Zeit zu Zeit hörten sie auch schwere Schritte auf dem Wege und die Stimme eines bierberauschten Lümmels, der einen schmutzigen Gassenhauer sang, bei dem Roosje errötete. Ihr Geliebter war empört darüber. Sie liebten sich mit reiner Liebe, die auch in ihren heftigsten Wallungen sanft und groß war. Sie saßen Aug' in Auge im bleichen Schimmer der grauen, lauen Sommernacht, Hand in Hand, Mund auf Mund, sie auf seinen Knien.
Die Wärme des Himmels und des Bodens, die Ruhe der Bäume, die ihr schlafendes Laub senkten, entfachte in ihnen die Glut der Liebe. Für sie war alles Wonne, Zärtlichkeit, Güte! Die gemeine Welt des täglichen Kampfes verschwand. Sie berauschten sich an den Geräuschen der Liebesnacht, dem Duft der Kornfelder, an allen Stimmen, jedem Atemzug der Natur.
Und nun nichts mehr als die Einsamkeit, das Alleinsein, die Eifersucht! Nichts mehr, nicht mal ihr Kind, das ein anderer ihr genommen hatte. Nichts mehr als in einem Winkel des Kirchhofs das vermoderte Gerippe des Mannes, den sie so heiß geliebt hatte. Nichts als die Leere, die schreckliche Leere, und der quälende Anblick vom Glück eines verabscheuten Mannes.
Nein, sie mußte ein Ende machen. Roosje wollte glücklich sein, geliebt und geliebkost von ihrer Tochter, stets mit ihr allein, ohne den »Taugenichts« von Gatten im Hause. Ja, wenn nötig, wollte sie ihr einen goldenen Palast bauen, um Margarete darin aufzunehmen.