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L Lisa stand in dem langschleppenden weißen Brautkleide vor dem Spiegel. Vor zwei Stunden war sie auf dem Standesamt nach Recht und Gesetz die Gattin des Barons Ronald von Stolle-Hechingen geworden. Nun sollte die kirchliche Einsegnung der Ehe stattfinden. Lisas Tante, Frau Konsul Limbach, stand vor ihr und betrachtete sie durch ihre Stiellorgnette mit kritischen Blicken. Sie gab der Jungfer, die noch um Lisa beschäftigt war, in vornehm lispelndem Ton Anweisungen, was noch an dem Kleide geordnet werden mußte.

Lisa selbst sagte kein Wort dazu. Sie stand in gerader, gezwungener Haltung da und blickte mit großen, verträumten Augen in den Spiegel. Ein scheues, verklärtes Lächeln huschte zuweilen um ihren Mund, und leise Seufzer entstiegen ihrer Brust, als sei sie zu eng für das, was sie empfand. Sie war keine Schönheit, die blasse, scheue Lisa. Ihre mittelgroße Gestalt war entschieden noch zu schlank und unentwickelt; die Linien entbehrten der Rundung. Dieser Eindruck wurde noch durch eine steife, gezwungene Haltung verschärft. In ihrem Wesen lag etwas Gedrücktes, Unselbständiges, wie man es bei Menschen findet, die sich nicht frei entwickeln konnten. – Ihr Gesicht war zu farblos und besaß wenig Reiz. Zwar hatte sie wunderschöne dunkelblaue Augen, reiches, braunes Haar und einen hübsch geschnittenen Mund; aber die Lippen lagen meist fest aufeinander, die Augen verbargen sich zu oft unter den Lidern, und das Haar war straff und unkleidsam über die Stirn zurückgenommen. Es bildete am Hinterkopf einen dicken, abstehenden Knoten und gab dem Kopf eine unvorteilhafte Form.

Diese von Frau Konsul Limbach für ihre Nichte gewählte Frisur legte für die Geschmacklosigkeit und den mangelnden Schönheitssinn dieser Dame beredtes Zeugnis ab.

Die Jungfer hatte versucht, der Konsulin wenigstens für heute die Erlaubnis abzuringen, der jungen Braut eine gefälligere, moderne Frisur machen zu dürfen. Sie schlug einen locker fallenden, welligen Scheitel vor, und Lisa hatte bei dieser Bitte mit scheuem Verlangen in die kalten, immer halbgeschlossenen Augen der Tante geblickt. Sie fand ihre eigene Frisur greulich und unschön und hätte ihr Haar schon längst gern anders geordnet. Aber Tantes Befehl verbot das ein für allemal. Auch heute schüttelte sie, die Lippen vornehm kräuselnd, den Kopf.

»Frisieren Sie die Frau Baronin wie alle Tage, Minna. Derartige Frisuren passen für Kellnerinnen und Ladenmädchen, oder für Künstlerinnen, – aber nicht für eine wirklich vornehme Dame.«

Lisas Lippen zuckten bei diesen Worten. Sie hätte gern gesagt, daß viele Damen der Gesellschaft sich so frisierten, weil es Minna für sie in Vorschlag gebracht; aber ein Blick in Tante Hermines kaltes, strenges Gesicht hielt sie davon ab. Sie wußte ja aus Erfahrung, daß Tante nie von dem abging, was sie bestimmte. Sie nannte das Konsequenz, ihr Gatte bezeichnete es jedoch im stillen als Starrköpfigkeit.

Wie immer, ordnete sich Lisa auch heute dem despotischen Willen der Tante unter. Die Jungfer suchte mitleidig durch Brautkranz und Schleier die strengen Linien der Frisur zu mildern. Dazu lag heute ein leises Rot auf den sonst so blassen Wangen, und die Augen strahlten intensiver. So sah die junge Braut nicht gar so reizlos aus.

Lisa legte auch nicht viel Gewicht auf Äußerlichkeiten. Schließlich war es gleich, ob sie so oder so frisiert war, – ihrem Ronald gefiel sie doch. Er liebte sie, wie sie war; ihm galt ihre Seele mehr als ihr Äußeres. Sonst hätte er sie doch nicht zum Weibe begehrt, – er, ihr höchstes, Bestes im Leben, ihr herrlicher Ronald, ihr Gatte!

Welch ein wunderbares, unfaßbares Glück, daß er sie liebte, sie, die unscheinbare stille Lisa, die weder schön noch glänzend, weder besonders geistreich noch interessant war! Nie wäre es ihr eingefallen, an seiner Liebe zu zweifeln. So unverdient und märchenhaft ihrem bescheidenen Sinn ihr Glück erschien, so demütig sie sich auch vor der Größe desselben beugte, nie suchte sie nach einem anderen Grund für seine Werbung. Daß er sie liebte und zur Frau begehrte, war ihr ein holdes Wunder, dem sie sich mit gläubigem Herzen beugte.

Es kam ihr nie in den Sinn, daß vielleicht ihr Reichtum ihn dazu bewogen haben konnte. Reichtum war ihr so etwas Gewohntes, Gleichgültiges. Weil sie es immer besessen hatte, kannte sie die Macht des Geldes nicht. Sie wußte so wenig vom Leben überhaupt und ahnte nicht, daß Geld ein viel mächtigerer Faktor war als Liebe.

Das einzige Gute hatte Tante Hermines Erziehung bei ihr erzielt, daß sie nicht stolz auf die Macht des Geldes pochte wie andere Erbinnen. Lisa wußte wohl, daß ihr die Eltern ein sehr großes Vermögen hinterlassen hatten, daß sie einst auch Onkel und Tante Limbach und auch noch eine Schwester ihres Vaters, Frau von Rahnsdorf, beerben würde. Aber der Begriff, daß sie mit diesen Aussichten eine glänzende Partie war, ging ihr vollständig ab. Dazu hatte sie Tante Hermine viel zu sehr in Bescheidenheit und Demut erzogen. Tante Hermine war einst ein sehr armes adeliges Fräulein gewesen, und obgleich sie bei ihrer Verheiratung sehr wohl mit dem Vermögen ihres Gatten gerechnet hatte, liebte sie es, wegwerfend vom ›schnöden Mammon‹ zu sprechen. Sie verherrlichte die Geburtsaristokratie sehr auf Kosten der Geldaristokratie. Da nun Lisa nicht gleich ihrer Tante adeliges Fräulein war, sondern nur ein reiches bürgerliches Mädchen, so fiel es ihr nicht ein, diesen Reichtum als etwas besonders Erstrebenswertes anzusehen.

Zu ihrer heimlichen Beschämung mußte sie sich indessen eingestehen, daß sie gar nicht das hohe Glück zu würdigen verstand, eine Baronin Stolle-Hechingen zu werden. Die Tante führte ihr dies Glück täglich vor Augen; aber Lisa wußte ganz genau: wenn ihr Ronald irgendein Schulze oder Lehmann gewesen wäre, sie hätte ihn ebenso liebgehabt und wäre ebenso stolz gewesen, seine Frau zu werden. Aber das durfte Tante um Himmels willen nicht wissen; und auch Ronald hätte sie das nicht zu sagen gewagt, wenn er auch gar nicht stolz auf seinen Namen pochte, wie es Tante immer tat.

Die Konsulin hatte Lisa in ihrer despotischen Weise erzogen, seit diese als achtjährige Waise in ihr Haus kam. Lisa war der Gegenstand einer Erziehungsmethode, die jede persönliche Eigenart erstickt und willensschwache Menschen schafft. Sie war erfüllt von dem Bewußtsein, daß es ihre Pflicht war, sich bedingungslos der Tante unterzuordnen, gleichviel, ob sie Lust dazu hatte oder nicht. Tante Hermine war vom Unfehlbarkeitsteufel besessen, und das schüchterne Kind glaubte an diese Unfehlbarkeit. Wenn sich später auch leise Zweifel daran einstellten, so war Lisa doch inzwischen so willenlos gemacht worden, daß sie nie zu revoltieren wagte.

Onkel Karl, Frau Herminens Gatte, war viel zu gutmütig, friedliebend und bequem, um seiner Gattin gegenüber seinen Willen zur Geltung zu bringen. Er war zwar mit ihrer Erziehungsmethode gar nicht einverstanden; aber er traute sich doch nicht genug pädagogische Fähigkeiten zu, um einzugreifen. Außerdem blieb ihm bei seinen ausgedehnten Geschäftsverbindungen wenig Zeit, sich um Lisa zu kümmern.

Äußerte er jedoch einmal sein Mißfallen an der sklavischen Unterdrückung jeder Willensregung seiner Nichte, dann sah ihn seine Gattin mit dem erstauntesten, kältesten und vornehmsten Blick an, den sie auf Lager hatte, und sagte:

»Lieber Karl,« – ›lieber‹ wurde stark betont. »Ich wünsche, daß du mir überläßt, Lisa zu einer wahrhaft vornehmen und wohlerzogenen jungen Dame zu erziehen. Davon verstehst du nichts. Da der Himmel uns leider selbst ein Kind versagte, will ich die Tochter deines Bruders mit all der Sorgfalt erziehen, die ich einer eigenen Tochter widmen würde. Ich hoffe, du machst mir mein schweres Amt nicht durch gedankenlose und gefährliche Weichherzigkeiten noch schwerer. Du weißt, ich wurzle noch mit allen Fasern in dem Boden, dem ich entstamme. In meiner Familie, in der Familie der Freiherrn von Schlorndorf, werden alle jungen Damen in dieser wahrhaft vornehmen, bescheidenen Weise erzogen.«

Damit wurde Karl Limbach stets zum Schweigen gebracht. Wenn seine Gattin die Geborene von Schlorndorf ins Treffen führte, war er geschlagen. Nicht, weil er diese wohledle Familie so sehr ehrfurchtsvoll zu betrachten pflegte, sondern weil seine Gattin, wenn sie dies Thema anschnitt, überhaupt kein Ende fand und sich so in Selbstberäucherung gefiel, daß er trotz seiner Friedfertigkeit wild wurde. Eheliche Szenen waren ihm aber verhaßt; deshalb gab er dann meist lieber Fersengeld.

Solange seine Frau noch jung und hübsch war, hatte er ihr zuweilen den Gefallen getan, sich überzeugen zu lassen, wie beneidenswert er sei, eine Geborene von Schlorndorf zur Frau bekommen zu haben. Später wurden ihm diese Ergüsse langweilig, und jetzt trieben sie ihn in die Flucht.

So war Lisa den Erziehungsprinzipien ihrer Tante auf Gnade und Ungnade überliefert.

Sie besaß zwar noch eine Tante, die energisch genug war, um Frau Hermine nachdrücklich genug den Standpunkt klarzumachen; aber Frau von Rahnsdorf hatte sich vollständig mit ihrer Schwägerin überworfen, und jeder Verkehr zwischen ihnen hatte aufgehört.

Anna von Rahnsdorf war seit Jahren Witwe, und da sie auch keine Kinder besaß, hätte sie Lisa sehr gern zu sich genommen. Hermine hatte das jedoch zu hintertreiben gewußt. Sie nahm Lisa hauptsächlich in ihr Haus, um ihre Schwägerin, die sie haßte, zu ärgern. Dadurch war die Feindschaft der Schwägerinnen noch verstärkt worden.

Zwar hatte Hermine einwilligen müssen, daß Frau von Rahnsdorf zu Lisas Hochzeit eingeladen wurde, aber diese hatte abgelehnt, zu kommen.

Während Lisa noch vor dem Spiegel stand, wurde ein Brief für sie gebracht. Errötend schaute sie auf die Adresse:

»Frau Baronin Elisabeth Stolle-Hechingen.« Wie sonderbar fremd und doch vertraut ihr dieser neue Name erschien.

»Von wem ist der Brief, Lisa?« fragte die Konsulin ungeduldig. »Du mußt dich beeilen, wenn du ihn noch lesen willst.«

Lisa öffnete ihn und blickte nach der Unterschrift.

»Von Tante Anna,« sagte sie erstaunt.

Die Konsulin machte ein verkniffenes Gesicht, und in ihren kalten Augen zuckte es bösartig auf. Wie unwillkürlich streckte sie die Hand aus, um Lisa den Brief fortzunehmen. In demselben Augenblick wurde sie in einer wichtigen häuslichen Angelegenheit abgerufen. Mit einem unschlüssigen Blick auf den Brief in Lisas Hand rauschte sie hinaus. Die junge Frau las den Brief nur flüchtig durch und faltete ihn dann schnell zusammen, um ihn in einer kleinen Ledertasche zu bergen, die zu ihrer Reisetoilette gehörte. Sie wollte ihn später, auf der Reise vielleicht, noch einmal aufmerksam durchlesen, da ihr der Inhalt wichtig erschien. Jetzt konnte sie sich nicht näher damit befassen, da Tante Hermine jeden Augenblick zurückkehren konnte. Diese durfte den Brief um keinen Preis lesen, weil er durchaus nicht in schmeichelhaften Ausdrücken von ihr sprach.

Die Konsulin kehrte wirklich gleich darauf zurück.

»Nun, wo hast du den Brief, Lisa?« fragte sie hastig.

Die junge Frau blickte scheu und beklommen auf.

»Ich habe ihn schon fortgelegt, Tante; er war nur für mich bestimmt.«

»Nur für dich bestimmt? Was soll das heißen?« fragte die Konsulin scharf.

Lisa war betreten.

»Es war ein Glückwunsch zu meiner Hochzeit.«

Die Konsulin blickte sie mißtrauisch an; aber ehe sie noch etwas erwidern konnte, wurde an die Tür geklopft, und eine klare Männerstimme rief draußen: »Bist du fertig, Lisa?«

Ein strahlendes Leuchten flog über das Gesicht der bräutlichen Frau. Sie eilte zur Tür und öffnete. Ein großer, schlanker Offizier stand auf der Schwelle. Lisa sah mit strahlender Innigkeit zu ihm auf. Er war eine vornehme, elegante Erscheinung. Schlanke, sehnige Figur, gebräunter Teint, rassige, festgefügte Züge und klare graue Augen vereinigten sich zu einem sympathischen Ganzen. Der kleine, gestutzte Lippenbart war etwas heller als das soldatisch verschnittene Haupthaar.

Seine Augen fingen den strahlenden Blick Lisas auf, und einen Augenblick zog sich seine Stirn wie im Schmerz zusammen.

»Du bist da,« sagte Lisa mit einem so warmen, jubelnden Ausdruck, daß seine Stirn sich rötete.

Er führte ihre kleine schmale Hand ritterlich an die Lippen. Dann sah er mit einem Lächeln in ihr Gesicht, einem Lächeln, dem sie nicht anmerkte, wie gezwungen es war.

»Es ist Zeit, Lisa. Wir müssen fort,« sagte er mit freundlicher Ruhe. Schnell begrüßte er noch die Konsulin; dann zog er Lisas Arm durch den seinen und führte sie hinaus. Die Konsulin gab der Jungfer noch Weisung, mit dem Reisekostüm der jungen Frau um sechs Uhr im Hotel Fürstenhof zu sein, um dieser beim Umkleiden zu helfen.

Die Hochzeitsfeier des jungen Paares wurde in diesem vornehmsten Hotel abgehalten, weil eine solche Menge Einladungen dazu ergangen war, daß die Räume der Villa Limbach nicht ausgereicht hätten. Außerdem liebte Frau Hermine große Umwälzungen im Haushalt nicht.

Da viele Gäste von auswärts geladen waren, hatten diese auch zugleich im Hotel Wohnung genommen.

Etwas verstimmt darüber, daß sie den Brief ihrer Schwägerin nicht zu lesen bekommen hatte, fuhr die Konsulin neben ihrem Gatten nach der Petrikirche, wo die Trauung des jungen Paares stattfand.

* * *

Die Hochzeitsgesellschaft saß in dem großen Festsaal des Fürstenhofes in fröhlicher Stimmung an der festlich geschmückten Tafel. Man hatte sich bereits am Abend vorher mit den sympathischen Festteilnehmern angefreundet, und die formelle Steifheit war unter der Einwirkung des Weines verschwunden.

Außer einigen Mitgliedern der freiherrlich Schlorndorfschen Familie waren noch verschiedene Vertreter der Geburtsaristokratie anwesend. Unweit des Brautpaares saßen Mutter und Schwester des Bräutigams. Die verwitwete Baronin von Stolle-Hechingen sah mit frohen Augen auf ihren stattlichen Sohn, war doch durch seine Verbindung mit der reichen Erbin eine schwere, drückende Last von ihrer Seele genommen.

Lotte Hechingen, Ronalds Schwester, eine bildhübsche schlanke Blondine, blickte jedoch zuweilen besorgt in das ernste Gesicht des Bruders. Sie war von Kind auf seine Vertraute gewesen und wußte, daß er nicht mit freiem, leichtem Herzen in diese Ehe ging.

Neben Lotte saß Kurt Mallwitz, Ronalds bester und intimster Freund und Regimentskamerad. Er unterhielt sich eifrig und angeregt mit seiner reizenden Tischnachbarin. Seine Augen sahen dabei mit Wohlgefallen in Lottes Gesicht.

Sie sprachen von schönen, vergangenen Tagen, die sie gemeinsam verlebt hatten. Als Kadett hatte Kurt Mallwitz seinen Freund Ronald zuweilen nach Hechingen begleiten dürfen. Es war schon damals teure Zeit auf Hechingen gewesen; aber Ronalds Vater hatte noch immer gehofft, sein Stammgut halten zu können. Jedenfalls hatte sich das Jungvolk die Stimmung nicht durch drohende Zukunftsbilder trüben lassen. Schön, wunderschön war es immer gewesen in den Ferien. Sie zehrten noch jetzt davon.

Die beiden jungen Menschen verkehrten in einem heiter freundschaftlichen Ton miteinander, der nur zuweilen, in unbewachten Augenblicken, ein ernsteres Gepräge erhielt. Dann blickten sie sich seltsam weich und tief in die Augen, selbstverloren, selbstvergessen. – Aber schnell retteten sie sich wieder hinter den neckenden, lustigen Ton.

Sie wußten ganz genau voneinander, daß sich hinter diesem leichten Geplänkel etwas anderes, viel wertvolleres versteckte; aber sie wußten auch, daß sie sich das nicht sagen durften, daß sie nie einander angehören konnten. Denn sie waren beide sehr arm.

Kurt Mallwitz erhielt von einem Vetter seiner Mutter eine schmale Zulage. Seine verwitwete Mutter lebte bei diesem Vetter, dem Majoratsherrn von Brachwitz auf Brachwitz, als Hausdame.

Brachwitz hatte zwar keine Kinder. Sein einziger Sohn war vor Jahren auf einem Ritt tödlich verunglückt, und der Schmerz darüber hatte auch der Mutter desselben das Leben gekostet. Aber Brachwitz war Majorat und fiel nach dem Tode des jetzigen Besitzers an eine Seitenlinie. Mallwitz hatte also keine Hoffnung, jemals in eine bessere Vermögenslage zu kommen.

Trotz dieser Aussichtslosigkeit liebten sich Lotte Hechingen und Kurt Mallwitz. Aber sie waren tapfer und vernünftig und wußten, daß sie vom Schicksal nichts Unmögliches ertrotzen konnten. Vorläufig waren sie auch noch jung und lebensfroh genug, um sich an der Gegenwart genügen zu lassen, und eins half dem andern, damit die Herzen nicht zu schwer wurden.

Lotte Hechingen war heute auch zu sehr mit ihres Bruders Schicksal beschäftigt, um viel an das eigene zu denken. So lieb sie auch die scheue, stille Lisa mit dem weichen, warmen Herzen gewonnen hatte, fürchtete sie doch, daß ihr Bruder nicht mit ihr glücklich werden würde, weil sein Herz einer andern gehörte. Ronald liebte Lili Sanders, Lottes Pensionsfreundin. Lili, die Tochter eines vermögenslosen Majors, war ein bildschönes, anmutiges Geschöpf voll Geist und Temperament; und wenn sie auch kaum so gut und großherzig war wie Lisa, so stellte sie diese doch durch ihre äußeren Vorzüge zu sehr in den Schatten. Ronald würde Lili wohl so bald nicht vergessen, wenn er auch viel zu ehrenhaft war, um sich nicht gegen diese heimliche Neigung zu wehren.

Außer Lotte wußte nur Kurt Mallwitz um diese Herzensangelegenheit Ronalds.

Lotte seufzte leise, und Mallwitz blickte sie forschend an.

»Was ist Ihnen, Baroneß?«

»Ach, Herr von Mallwitz, Sie wissen ja, wie ich mich um Ronald sorge. Schauen Sie ihn an, wie blaß er aussieht.«

»Sie sehen in Ihrer Sorge vielleicht mehr als ich. Ein bißchen ernst sieht er aus; aber das ist doch kein Wunder bei einem so ernsten Schritt,« suchte er sie zu trösten.

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, nein; mir brauchen Sie nichts vorzumachen, Herr von Mallwitz. Wir zwei wissen doch, wie es um ihn steht.«

»Ja, – aber wir können ihm mit aller Trübsal nicht helfen. Machen Sie nicht ein so bekümmertes Gesicht, liebe Lotte. Morgen abend muß ich wieder in die Garnison zurück, und da möchte ich mir die Erinnerung an Ihr frohes, lachendes Gesicht mitnehmen. Wenn ich dann abends allein auf meiner Bude sitze, dann denke ich an Ihr frohes Lachen und bilde mir ein, ich sei wieder als froher Kadett in Hechingen.«

Sie nickte verträumt.

»Das alte liebe Hechingen! Wie ich mich manchmal danach zurücksehne.«

»Und nun hausen fremde Menschen dort in den traulichen Räumen. Daran darf man gar nicht denken. Und die herrliche große Wiese hinter dem Park! Wir spielten dort so wunderschön, – Räuber und Prinzessin und dergleichen. Jetzt soll eine große Konservenfabrik dort stehen; der neue Besitzer verwendet Obst und Gemüse nutzbringend.«

»Ja,« erwiderte Lotte seufzend, »und sie soll viel Geld einbringen.«

»Das sagen Sie beinahe schwärmerisch, als wenn Geld etwas ganz märchenhaft Poetisches wäre,« neckte er.

Sie nickte eifrig.

»Es ist auch etwas Märchenhaftes, das liebe Geld. Eine goldene Wünschelrute ist es, mit der man sich so viel Gutes und Schönes herbeizaubern kann. Diese Erkenntnis haben aber immer nur Leute, die nicht im Besitze dieser Wünschelrute sind.«

»Was würden Sie sich wohl mit solch einer famosen Wünschelrute herbeizaubern, Baroneß?« fragte er lächelnd.

Sie sann mit drolliger Wichtigkeit nach.

»Ein stolzes Schloß am Meer,« sagte sie dann lachend.

»Und einen Prinzen dazu?«

»O – der käme dann von selbst, wenn ich Schloßherrin wäre.«

Er sah ihr voll ernster Weichheit in die Augen.

»Ich glaube, er käm' schon, wenn die Kraft der Wünschelrute für eine kleine feste Hütte ausreichte, meinen Sie nicht auch, liebe Lotte?«

Sie erwiderte seinen Blick in gleicher Weise.

»Ja, – das glaube ich bestimmt.« Und sich zur Heiterkeit zwingend, fuhr sie fort:

»Aber wir wollen ja fröhlich sein; dazu taugen solche Wenn und Aber nicht. Also morgen abend geht Ihr Urlaub schon zu Ende?«

»Leider.«

»Dann sehen wir Sie wohl nicht mehr morgen?«

»Doch, Baroneß; ich komme, mich von Ihnen und Ihrer Frau Mutter zu verabschieden.«

Die Tafel wurde aufgehoben. In dem allgemeinen Tumult, der hierdurch entstand, trat die Konsulin an das Brautpaar heran.

»Es dürfte für dich an der Zeit sein, dich jetzt unbemerkt zurückzuziehen, Lisa. Du mußt dich umkleiden.«

Die junge Frau blickte errötend zu ihrem Gatten empor. Scheu streifte ihr glückstrahlender Blick sein ernstes Gesicht, dieses Gesicht, das sie so unsagbar liebte.

Er sah mit ernster Freundlichkeit auf sie herab.

»So geh, Lisa. In einer Stunde erwarte ich dich im Vestibül. Bis dahin kannst du doch bequem fertig sein, nicht wahr?«

Sie nickte nur und drückte leise seine Hand. Dann flüsterte sie der Tante ein paar hastige Abschiedsworte zu, bestellte noch einen Gruß an Onkel Karl, den sie in der Menge nicht sah, und schlüpfte durch das fröhliche Gedränge hinaus.

Die Konsulin sprach noch einige Worte mit Ronald und betrachtete ihn mit stolzerfülltem Herzen. Was sie erstrebt, hatte sie erreicht. Ihre ehrgeizigen Pläne waren erfüllt. Immer hatte es bei ihr festgestanden, daß Lisa eines Tages den Träger eines hochadeligen Namens heiraten würde. Darin gipfelte für sie alle Glückseligkeit. In ihrer Art hatte sie Lisas Wohl und Wehe im Auge und glaubte, mit dieser Ehe ihr Glück begründet zu haben.

Die junge Frau ahnte nicht, wie sehr ihre Tante bei dem Zustandekommen ihrer Ehe beteiligt gewesen war.

Als Ronald Hechingen eines Tages im Hause ihres Onkels erschienen war, erwachte in ihrer Seele eine tiefe, schwärmerische Neigung für den hübschen, eleganten Offizier, dessen ernstes Wesen ihr sofort sympathisch war. Wie ein Traum war es ihr gewesen, als er dann eines Tages um ihre Hand anhielt; wie in einem wundersamen Traum hatte sie ihm ihr Jawort gegeben und war unfähig gewesen, die Größe ihres Glückes zu fassen.

Und nun, nach kurzer Brautzeit, war sie seine Frau. Ohne so recht zum Bewußtsein zu kommen, war diese Zeit an ihr vorübergerauscht. –

Mit fliegenden Pulsen stieg Lisa draußen die Hoteltreppe empor. Minna wartete bereits, um ihr beim Umkleiden zu helfen.

Sie führte die junge Frau in ein Zimmer im ersten Stock, welches unbewohnt war und ihr zum Umkleiden zur Verfügung gestellt wurde. Die Reisetoilette lag bereits ausgebreitet. Schnell machte sich die Jungfer an ihr Werk, denn Lisa hatte etwas Kopfschmerz und wollte noch ein halbes Stündchen ruhen, bis sie unten wieder mit Ronald zusammentraf.

Lisa brauchte nicht viel länger als eine Viertelstunde, um die Kostüme zu wechseln. Sie machte sich vollständig fertig bis auf Hut und Handschuhe und entließ dann das Mädchen.

Als sie allein war, warf sie sich in einen Lehnstuhl und versank in holde Träumerei. Reglos blickte sie zur Decke empor, als wenn dort oben ein lockendes Zukunftsbild ausgebreitet wäre.

* * *

Ronald Hechingen hatte sich inzwischen von Lisas Onkel verabschiedet. Karl Limbach war ein mittelgroßer, etwas beleibter Herr mit graumeliertem Haar und Vollbart. Seine gutmütigen Augen ruhten mit Wohlgefallen auf Ronald. Er klopfte ihm auf die Schulter.

»Dann wünsch' ich euch glückliche Reise, Kinder. Grüß' mir die Lisa noch einmal herzlich, mein Sohn, – und sei gut mit ihr. Das Küken ist noch ein bißchen still und verschüchtert; weißt ja, wie meine Frau mit ihr umgegangen ist. Aber sie wird sich schon rausmachen, wenn sie sich nur erst nach Herzenslust regen kann,« sagte er väterlich.

Ronald blickte mit ernsten Augen in sein Gesicht.

»Ich will alles tun, was möglich ist, um Lisa glücklich zu machen.«

»Glaub' ich dir, Ronald. Du bist ein ehrlicher, vernünftiger Mensch; und ich habe von Anfang an vertrauen zu dir gehabt, obwohl mir nicht entgangen ist, daß meine Frau ein bißchen mehr als nötig Vorsehung gespielt hat. Die Lisa hat dich lieb, – na – und du wirst gut mit ihr sein.«

Sie reichten sich stumm die Hände, und Ronald ging durch den Saal.

Mallwitz vertrat ihm den Weg.

»Willst du auch schon fort, Ronald? Ich sah deine junge Frau schon vor einer Weile verschwinden.«

»Eine halbe Stunde hab' ich noch Zeit«

»Famos; dann können wir noch ein wenig schwatzen miteinander. Inzwischen wird hier der Saal zum Tanzen eingerichtet. Komm, wir suchen einen stillen Winkel, wo wir ungestört sind.«

Die Herren fanden aber nirgends ein solches Fleckchen.

»Weißt du was, – komm mit hinauf in mein Zimmer,« schlug Mallwitz vor. »Da können wir in aller Gemütlichkeit noch eine Abschiedspfeife rauchen. Brauchst dann gar nicht in den Saal zurück. Oder hast du dich noch nicht von deiner Mutter und Schwester verabschiedet?«

»Doch, das ist bereits geschehen. Also komm.«

Sie schritten Arm in Arm hinaus und begaben sich in Mallwitz' Zimmer, das er seit dem vorigen Tage bewohnte. Als sie eingetreten waren, schob er Ronald einen Sessel hin.

»So, mein Alter, – nun nimm Platz. Da sind auch Zigaretten und Feuerzeug. Die erste Zigarette als Ehemann, – hm – wie schmeckt sie denn?«

Er warf sich in einen andern Sessel und sah forschend in des Freundes Gesicht.

»Danke,« antwortete dieser kurz.

Mallwitz atmete tief auf. Dann sagte er ernst:

»Weißt du, – wie ein fröhlicher Hochzeiter hast du heute den ganzen Tag nicht ausgesehen. Mensch, nimm dich doch ein bißchen zusammen.«

Ronald lachte hart auf und fuhr sich über die Stirn.

»Ich hab', weiß Gott, das Möglichste geleistet an Selbstbeherrschung. Denkst du vielleicht, mir sei rosig zumute? Der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe, – so bin ich in diese Ehe gegangen.«

»Weiß ich ja, Ronald. Aber trotzdem – du hast bei alledem noch Glück. Deine Frau ist gar nicht so übel. Nach deiner Beschreibung hatte ich eine ganz andere Vorstellung von ihr. Reizlos, unbedeutend, indolent; nichts weniger als hübsch, geschmacklos in der Kleidung, – so hast du sie mir geschildert. Ich kann nur sagen, daß sie heute sehr hold und lieblich aussah in ihrem weißen Kleide. Eine Schönheit ist sie freilich nicht; aber sie kann sich noch recht hübsch herausmachen. Du hast sie entschieden unterschätzt.«

»Guter Kerl, du willst mich trösten. Aber sprich nicht zu laut; man könnte uns im Nebenzimmer hören.«

»Unbesorgt, – rechts bin ich ohne Nachbar; das Zimmer ist unbewohnt, und links ist mein Schlafzimmer. Es hört uns kein Mensch.«

»Desto besser. Übrigens, um noch einmal auf meine Braut – oder Frau – zu kommen: Du kannst über ihr Aussehen nicht erstaunter sein als ich. Freilich, im Brautkleid wird die Häßlichste verschönt; und der Kranz verbirgt diese gräßlich geschmacklose Frisur. Du hättest sie nur sonst sehen sollen. Sie kleidet sich nach den Angaben und Wünschen ihrer Frau Tante, – unglaublich. Die teuersten Kostüme, kostbare Stoffe aus Seide, – aber ohne Sinn und Verstand ausgesucht. Sie sieht immer darin aus, als hätte sie geliehene Sachen an.«

»Das wird sich ändern unter deinem Einfluß, wenn sie erst nicht mehr von der Konsulin abhängig ist. Entre nous, – diese hoheitsvolle Dame ist mir sehr unsympathisch. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß sie es war, die dich aus einer scheußlichen Klemme befreite. Es war höchste Zeit für dich, daß Hilfe kam. Armer Kerl, ich hatte Angst um dich. Nun weiß ich dich geborgen. Die Lili Sanders hättest du doch nicht heiraten können. Und offen heraus, – ich hätte es dir auch nicht gewünscht. Sie ist zwar ein bezauberndes Geschöpf, aber, so viel ich beurteilen kann, kein wertvoller Mensch.«

Ronald seufzte.

»Es war auch gar keine Gefahr, daß ich sie heiraten würde. Sie ist ja arm wie ich. Ich will mir auch Mühe geben, sie zu vergessen. Seit Hechingen unter den Hammer kam, wußte ich, daß ich sie vergessen muß. Was hätte das werden sollen! Meine Mutter und Lotte können doch nicht hungern. Die paar Kröten, die aus dem Verfall gerettet wurden, fristen kaum ihr Leben. Also mußte ich nach Vaters Tode ohne Zulage auskommen und mich von meinen Schulden mästen. Elender Zustand, – ich danke.«

»Na, stehst du, da bist du doch jetzt fein heraus. Donnerwetter noch mal – von drei Seiten ist deine kleine Frau mit Geld und Gut erblich belastet. Und da machst du noch ein Gesicht, als sei dir die schönste Petersilie verhagelt,« sagte Mallwitz in gutmütig zuredendem Tone.

»Laß nur gut sein, ereifere dich nicht, Kurt. Trotz allem ist mir schauderhaft zumute.«

»Herrgott ja, – aber du wirst die blonde Lili bald vergessen, und dann wird noch alles gut.«

Ronald fuhr sich ungestüm durchs Haar.

»An Lili denke ich dabei gar nicht. Das muß abgetan sein. Aber ganz davon abgesehen. Daß ich mich verkaufen mußte, das zehrt an mir. Herrgott, das verfluchte Geld! Es macht einen zum Narren oder zum Schurken.«

Mallwitz dachte an Lottes Ausspruch: »Das Geld ist eine goldene Wünschelrute.« Ein wehmütiger Ausdruck erschien in seinen Augen; aber er raffte sich auf, um dem Freund aufzuhelfen.

»Nun, nun, mein Alter, sei doch nicht so rabiat. Solche Ehen werden doch massenhaft geschlossen. Wirst dich ja, wie ich dich kenne, deiner Frau gegenüber als anständiger Kerl aus der Affäre ziehen.«

Ronald war aufgesprungen und blieb vor ihm stehen.

»Als anständiger Kerl! Nun ja; ich werde sie selbstverständlich nicht entgelten lassen, daß ich sie nicht liebe, – das arme Ding! Aber sie liebt mich, – siehst du; das ist der Fehler in meinem kühlen Rechenexempel. In ihren Augen liegt eine so schrankenlose Ergebung und Innigkeit, ein so unbegrenztes Vertrauen, wenn sie mich überhaupt ansieht, – denn meist hält sie die Augen gesenkt. Solche Blicke quälen mich unbeschreiblich, weil sie mich daran mahnen, was ich ihr schuldig bleiben muß. Wenn es wenigstens auch von ihrer Seite eine Vernunftheirat gewesen wäre! Das hatte ich ja angenommen, als mir ihre Tante so deutlich Avancen machte. Ich glaubte, Lisa gelüste es, Baronin Stolle-Hechingen zu werden. Aber später überzeugte mich ihr Verhalten, daß mein Name ihr ganz gleichgültig ist, – daß sie mich liebt. Unter der Beihilfe der Konsulin ging alles wie am Schnürchen; und meine Mutter war selig, daß ich mich entschloß, um Lisa anzuhalten, hätte ich vorher gewußt, daß mich das stille, scheue Geschöpf liebt, – ich glaube, ich hätte mich noch in letzter Stunde besonnen.«

»Das verstehe ich nicht, Ronald; das kann dir doch nur lieb sein.«

Ronald lachte bitter auf.

»Lieb sein? Ja, begreifst du denn nicht, wie erbärmlich ich mir vorkomme, wenn ich heucheln und Komödie spielen muß, um sie nicht unglücklich zu machen?! Schauderhaft! Wie eine Kette legt sich das um mich. So einfach wäre es gewesen, wenn sie gleich mir mit kühler Berechnung in die Ehe ginge. Dann stände man auf kameradschaftlichem Standpunkt mit ihr. Aber so! – Den Verliebten spielen, lügen, heucheln, vor solchen gläubigen Kinderaugen, die wie zu einem Gott zu einem aufschauen! Das erniedrigt mich vor mir selber, und darüber komme ich nicht hinweg.«

»Du nimmst das entschieden zu tragisch, Ronald. Sei doch vernünftig. Deine Frau liebt dich und ist glücklich, daß sie dir angehören kann. Glück ist doch in den meisten Fällen Illusion. Erniedrigt brauchst du dich wahrhaftig nicht zu fühlen.«

»Du meinst es gut, Kurt; ich weiß aber, daß du in meinem Falle genau so empfinden würdest wie ich. Sieh, wenn ich Lisa im Arm halte und fühle, wie ihr Herz so stark gegen das meine pocht, dann komme ich mir vor wie ein Unmensch. Als Junge hatte ich mal ein Rotkehlchen gefangen. Ich fühlte in meiner Hand das angstvolle Herzklopfen des Tierchens. Das ging mir wie elektrische Schläge durch den Körper. Die Angst des Tierchens teilte sich mir mit, und doch gab ich es nicht frei. Nur um so fester hielt ich es umschlossen; denn es war mir ein erstrebenswerter Besitz. Nach wenig Tagen war es tot, – weil ich ihm die Freiheit nicht wiedergab. An das Rotkehlchen muß ich immer denken, wenn ich Lisa im Arm halte. Genau so elend ist mir zumute, wie damals, als das Rotkehlchen krepiert war. Schön ist das nicht.«

»Wenn du dich in solche Stimmung hineinredest, dann machst du dir alles noch viel schwerer.«

Ronald stöhnte auf und streckte die Arme wie verlangend aus.

»Herrgott im Himmel, – wäre ich doch frei, frei! Könnte ich diese letzten Wochen ungeschehen machen!« rief er mit qualvollem Ausdruck.

Mallwitz trat mit besorgtem Gesicht neben ihn.

»Fasse dich, Ronald. Jetzt mußt du durch. Also mutig vorwärts, – es hilft nichts. Und nun ist es wohl Zeit für dich zum Umkleiden.«

Ronald richtete sich auf und fuhr sich mit der Hand über das blasse Gesicht.

»Du hast recht, – es hilft nichts,« sagte er bitter.

In demselben Augenblick hörten sie eine Tür in das Schloß fallen.

»Still, – da trat jemand in das Nebenzimmer,« sagte Mallwitz warnend.

»Du sagtest doch, es sei unbewohnt.«

»Vielleicht ist ein Zimmermädchen eingetreten. Jedenfalls sprich nicht mehr so laut.«

»Ich habe auch nichts mehr zu sagen.«

Mallwitz faßte seinen Arm.

»Es tut mir furchtbar leid, daß ich dich in so deprimierter Stimmung sehe. Aber ich hoffe, du söhnst dich bald mit deinem Geschick aus. Deine Frau ist doch ganz nett, weder häßlich, noch dumm und unleidlich. Sie besitzt ein reiches Gemüt und Herzensgüte. Vielleicht fällt es dir gar nicht schwer, sie liebzugewinnen. Aber nun muß ich dich wirklich fortschicken.«

Ronald reichte ihm die Hand und zwang sich zu einem Lächeln.

»Nimm's nicht übel, daß ich dich gequält habe mit meiner Jeremiade. Aber es mußte einmal herunter vom Herzen. Und wem soll ich mich sonst anvertrauen? Lotte sorgt sich ohnedies um mich, und meine Mutter – die ist so glücklich, daß ich nicht den Rock ausziehen und über den großen Teich gondeln mußte. Also hast du stillhalten müssen. Nichts für ungut, – leb wohl!«

»Auf frohes Wiedersehen in der Garnison, mein Alter! Eine Empfehlung an deine Frau.«

Sie trennten sich mit einem kurzen Händedruck. Ronald ging, um die Uniform mit einem eleganten Reisezivil zu vertauschen, und Mallwitz suchte die Gesellschaft wieder auf.

Unten im Saal spielte die Musik eben zum Tanz auf, und Lotte Hechingen kam Mallwitz schon entgegen.

»Sie haben noch mit Ronald gesprochen, nicht wahr?«

»Ja, Baroneß.«

»War er sehr bedrückt?« fragte sie besorgt.

Er lächelte beruhigend.

»Wir haben in aller Gemütlichkeit eine Zigarette geraucht. Sie brauchen nicht so sorgenvoll auszusehen. Jetzt wollen wir tanzen und fröhlich sein, Baroneß. Jede Minute wollen wir mit Bewußtsein auskosten.«

Sie nahm seinen Arm und ließ sich zum Tanze führen.

* * *

Ronald hatte sich mit dem Umkleiden beeilt. Schon vor der verabredeten Zeit betrat er das Vestibül. Draußen fuhr eben der Wagen vor, der das junge Paar zum Bahnhof bringen sollte. Als der Portier den jungen Ehemann erblickte, dienerte er auf ihn zu und meldete ihm, daß die Frau Baronin bereits fortgefahren sei. Sie habe zu Hause etwas vergessen, was sie noch holen müsse. Der Herr Baron möge die Güte haben, den wartenden Wagen zu benutzen. Die Frau Baronin erwarte ihn in der Villa Limbach.

Ronald sah den Portier erstaunt an. Es war doch eine sonderbare Idee von Lisa, allein von hier wegzufahren.

»Warum hat meine Frau nicht auf mich gewartet?« fragte er verständnislos.

»Ich wollte hinaufschicken, um es dem Herrn Baron melden zu lassen; aber Frau Baronin meinten, der Herr Baron sei noch nicht fertig, und wenn sie warte, würde es zu spät für den Zug. Deshalb ist sie in einer Droschke vorausgefahren.«

Ronald nickte ihm dankend zu und stieg in den Wagen, nachdem er dem Kutscher befohlen hatte, nach Villa Limbach zu fahren.

Der Portier sah dem Wagen nach und blickte dann auf die Uhr.

»Wenn sich die Herrschaften nicht sehr beeilen, werden sie den Zug versäumen,« dachte er besorgt.

Ronald saß verstimmt im Wagen und ärgerte sich über Lisas Verhalten. Statt einfach einen Boten nach Hause zu schicken, der das Vergessene nach dem Bahnhof brachte, fuhr sie selbst davon und überließ es ihm, ihr zu folgen. Natürlich kam man zu spät zum Zug. Daß Frauen nie zur Zeit fertig werden können!

Er berechnete die Zeit. Sie schien ihm sehr knapp bemessen, wenn er den weiten Weg bis zum Hause des Konsuls in Betracht zog. Nervös biß er sich auf die Lippen, und die Falten auf seiner Stirn vertieften sich. Lächerliche Situation! Da fuhr er nun gehorsam hinter seiner Gattin her, die wahrscheinlich wegen einer unbedeutenden Kleinigkeit diese törichte Rundfahrt veranstaltete.

Endlich hielt der Wagen vor der vornehmen Villa in der Karl-Tauchnitz-Straße. Ronald sprang heraus und klingelte. Ein Diener öffnete ihm. Er trat ein.

»Melden Sie meiner Frau, daß ich hier warte. Sie soll sich beeilen,« sagte er hastig.

»Frau Baronin sind bereits wieder fort, – zum Bahnhof. Sie fürchtete, zu spät zu kommen. Hier dies Billett soll ich dem Herrn Baron überreichen.«

Ronald hätte in seinem Ärger fast eine Verwünschung ausgestoßen. Solch ein Unsinn von ihr! Statt ihn nun hier zu erwarten, fuhr sie wieder ohne ihn fort.

Ärgerlich nahm er dem Diener das kuvertierte Billett aus der Hand.

»Es ist gut. Empfehlen Sie uns noch einmal den Herrschaften,« sagte er und beeilte sich, den Wagen zu besteigen.

»Nach dem Bayerischen Bahnhof, – schnell,« befahl er.

Erst als der Wagen davonrollte, öffnete er das Kuvert. Eine Visitenkarte zog er heraus. Bei dem matten Schein der Laternen, der in den Wagen fiel, entzifferte er die wenigen Worte und starrte wie entgeistert darauf nieder. Was da geschrieben stand, traf ihn so unerwartet, so unvorbereitet, daß er es zunächst nicht fassen konnte. Noch einmal las er die flüchtig mit Bleistift geschriebenen Zeilen:

 

»Ich gebe Dich frei! Sieh, daß Du Aufsehen vermeiden kannst, – in Deinem Interesse. Sobald ich eine Unterkunft gefunden, sende ich Nachricht. Bitte beruhige Tante und Onkel. Lisa.«

 

Was war geschehen? Was sollten diese Worte bedeuten? Das sah doch aus, als hätte Lisa die Flucht vor ihm ergriffen. Warum? – »Ich gebe dich frei!« Die Worte bohrten sich in sein Hirn. Eine unheimlich beklemmende Ahnung stieg in ihm auf. Aber er wehrte sich dagegen und wies sie von sich.

Große Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn. Mechanisch trocknete er sie ab. Wieder las er die Karte, aber die Worte blieben stehen. »Ich gebe dich frei!« War das nicht wie eine Antwort auf seinen leidenschaftlichen Ausbruch von vorhin Mallwitz gegenüber? Aber nein, nein. Das mußte ein Irrtum sein, der sich aufklären würde! Lisa würde auf dem Bahnhof auf ihn warten und ihm Aufklärung geben. Er faßte sich mühsam und steckte die Karte zu sich.

Wie langsam der Wagen fuhr! Er kam kaum von der Stelle. Nahm denn die Albertstraße gar kein Ende? Ah, – da fuhr er an der Kirche vorüber, wo er heute mit Lisa vor dem Altar gestanden hatte. »... bis daß der Tod euch scheide.« Er meinte die klare Stimme des Predigers zu hören: »Bis daß der Tod euch scheide.« – Und er fuhr allein zum Bahnhof.

Gottlob, – da sah er bereits die hellerleuchtete Bahnhofsuhr. Nun war er gleich da und wurde von der lähmenden Angst befreit. Ihm war plötzlich zumute, als müsse es eine große Herzensfreude sein, wenn er jetzt seine kleine scheue Frau vor sich sehen würde, wenn ihre großen, zärtlichen Augen ihm so voll Liebe und Vertrauen entgegensetzen würden wie immer.

Aber wenn sie nun nicht da war?

Ein heißer Schrecken durchfuhr ihn wieder. Was dann, wenn sie nicht da war, wenn die Worte auf der Karte doch kein Irrtum waren?

Der Wagen hielt. Mit einem Satz war er heraus und stürmte auf den Perron. Am Ausgang kam ihm der Diener entgegen, der das Gepäck aufgegeben hatte. Er hielt ihm die Fahrkarten entgegen.

»Der Zug ist leider soeben abgefahren, Herr Baron.«

»Und meine Frau?« stieß Ronald hastig hervor.

Der Diener sah ihn verdutzt an.

»Frau Baronin sind noch nicht hier.«

Es ging wie ein schmerzhafter Schlag durch Ronalds Körper. Er faßte sich gewaltsam.

»Lassen Sie mich doch ausreden,« sagte er heiser. »Meine Frau ist in das Hotel zurück. Wir sahen, daß wir den Zug nicht mehr erreichten, und werden morgen früh fahren. Geben Sie die Fahrkarten her und tragen Sie meine Handtasche nach dem Handgepäckschalter. Dann können Sie gehen. Ich will mich noch nach dem Frühzug erkundigen.«

Der Diener grüßte ehrerbietig und ging.

»Der Herr Baron scheint nicht mehr ganz nüchtern. Ist wahrscheinlich sehr fidel bei der Hochzeit gewesen,« dachte er, ahnungslos, wie ganz anders sich die Sache verhielt.

Ronald sah wie gelähmt eine Weile hinter dem Diener her. Dann verbarg er sich instinktiv hinter einer Säule, bis er sah, daß der Diener sich entfernte.

Gewaltsam zwang er sich zur Ruhe und zum Nachdenken. Was sollte nun geschehen?

Noch einmal zog er Lisas Billett hervor und las es aufmerksam durch, wo mochte sie sich hingewendet haben, – was mußte sie zu diesem Schritt drängen?

Er fürchtete sich, die Antwort auf diese letzte Frage zu geben. Dann klammerte er sich an eine neue Hoffnung. Vielleicht kam sie doch noch hierher. Jedenfalls wollte er noch eine Weile warten. – Aber sie kam nicht. –

Nun hielt es ihn nicht länger. Es war doch auch möglich, daß sie sich in das Hotel zurückbegeben hatte. Oder war irgendeine Nachricht von ihr eingetroffen.

Er verließ den Bahnhof und warf sich draußen in eine Droschke, um nach dem Hotel zurückzufahren. Unterwegs überlegte er, was er tun sollte. »Sieh, daß du Aufsehen vermeiden kannst,« hatte Lisa geschrieben. Mehr und mehr wurde es ihm zur Gewißheit, daß Lisa geflohen war – vor ihm. – Aufsehen vermeiden? Er gab sich einen Ruck. Ja, vor allen Dingen mußte Aufsehen vermieden werden; niemand von der Hochzeitsgesellschaft durfte erfahren, daß Lisa sich ohne ihn entfernt hatte.

Er strengte sich an, um Klarheit in seine Gedanken zu bekommen. Eine nervöse Unruhe hinderte ihn immer wieder daran. Schließlich nahm er sich vor, sich vom Augenblick leiten zu lassen.

Den Wagen ließ er halten, bevor er das Hotel erreichte, und ging die kurze Strecke zu Fuß bis dahin. Als er das Vestibül betrat, kam ihm der Portier bestürzt entgegen.

»Herr Baron haben den Zug versäumt?« fragte er erschrocken.

Ronald wußte nun, daß Lisa nicht zurückgekehrt war, sonst hätte das der Portier gewußt.

Er zog diesen beiseite.

»Sie haben recht; wir kamen zu spät zum Bahnhof. Meine Frau ist gleich nach Hause gefahren; wir reisen nun erst morgen. Aber wir möchten nicht, daß die Gesellschaft davon erfährt.«

»Sehr wohl, Herr Baron, ich verstehe,« sagte der Portier, verständnisvoll lächelnd.

»Schön. Ich werde die Nacht wahrscheinlich im Hotel hier bleiben. Sie haben doch ein Zimmer frei?«

»Gewiß. Herr Baron können dasselbe Zimmer wiederhaben, wie dieser Tage; es ist noch frei.«

»Gut, ich gehe gleich hinauf. Ich möchte jedoch Frau Konsul Limbach benachrichtigen. Sie sorgen wohl dafür, daß ein Kellner Herrn von Mallwitz bittet, zu mir zu kommen, aber so, daß niemand etwas davon merkt. Herr von Mallwitz kann dann Frau Konsul von dem Zwischenfall unterrichten.«

Der Portier beeilte sich, zu versichern, daß er alles zur Zufriedenheit des Herrn Barons besorgen werde. Niemand außer Herrn von Mallwitz würde erfahren, daß die Herrschaften nicht abgereist seien.

Ronald begab sich eilig auf sein Zimmer. Ohne Hut und Paletot abzulegen, warf er sich in einen Sessel, nachdem er das elektrische Licht eingeschaltet hatte, und starrte vor sich hin.

Mallwitz hatte inzwischen durch einen Kellner erfahren, daß Ronald ihn zu sprechen wünsche. Erstaunt folgte er dem Ruf. Zum Glück hatte er den nächsten Tanz frei und konnte sich unbemerkt entfernen.

Als er die Treppe hinaufgeeilt war und an seinem Zimmer vorüberging, kam gerade Minna, die Jungfer der Konsulin, aus dem Nebenzimmer. Sie trug einen großen Karton vor sich her. Mallwitz stutzte.

»Was haben Sie denn da?« fragte er, auf den Karton deutend.

»Das Brautkleid der jungen Frau Baronin, gnädiger Herr. Frau Baronin hat sich in diesem Zimmer umgekleidet und dann noch ein halbes Stündchen geruht.«

Mallwitz machte ein sonderbares Gesicht.

»In diesem Zimmer? Vorhin?«

»Ja, vor der Abreise, gnädiger Herr. Und nun will ich das Brautkleid nach Hause schaffen; es soll nachgeschickt werden, wenn Frau Baronin von der Hochzeitsreise zurück ist.«

Mallwitz ging an ihr vorbei und stieß leise die Luft zwischen den Zähnen hervor.

»Donnerwetter!« sagte er bestürzt vor sich hin.

Er eilte, Ronalds Zimmer zu erreichen, das am andern Ende des Korridors lag. Noch ganz benommen trat er bei ihm ein und starrte auf den regungslos dasitzenden Freund.

»Was ist geschehen, Ronald? Weshalb bist du noch hier? Wo ist deine Frau?«

Ronald warf seinen Hut auf den Tisch.

»Du fragst mehr, als ich beantworten kann.« Er erzählte in fliegender Eile, was er erlebt hatte, seit er sich von dem Freunde getrennt.

Mallwitz hörte mit betroffenem Gesichtsausdruck zu. Die Entdeckung, die er eben draußen gemacht hatte, schien ihm eine Erklärung zu sein für das rätselhafte Verschwinden der jungen Frau. Nun fiel ihm auch ein, daß sie die Tür hatten in das Schloß fallen hören. Er überlegte, ob er Ronald sagen sollte, was er vermutete. Aber dann beschloß er doch, damit zu warten, bis man die Konsulin unterrichtet hatte. Die brauchte vorläufig nichts von jener Unterredung zu erfahren.

Auf Ronalds Wunsch holte er dann die Konsulin herauf.

Diese war fassungslos vor Schrecken, als sie Ronald vor sich sah und hörte, was geschehen war. Kopfschüttelnd las sie das Billett, welches ihr Ronald reichte. Verständnislos blickte sie darauf nieder und sank in einen Sessel.

»Ich verstehe das nicht, Ronald, was soll das heißen?«

»Ich weiß es nicht,« sagte er zögernd.

»Habt ihr etwas miteinander gehabt, euch gezankt?«

»Nein; seit Lisa den Saal verlassen hat, habe ich sie nicht mehr wiedergesehen.«

»Mein Gott, mein Gott, dieser Skandal! Wenn das ruchbar wird! Lisa muß von Sinnen gewesen sein. Was sollen wir tun, wo mag sie sich nur hingewendet haben?«

»Ich weiß es so wenig als du, Tante Hermine,« sagte Ronald tonlos.

Die Konsulin fuhr mit neuerwachter Tatkraft empor.

»Auf alle Fälle muß ein Skandal vermieden werden. O, dieses undankbare Geschöpf, – wie konnte sie mir das antun!«

»Wir dürfen Lisa nicht verdammen, bevor wir nicht wissen, was sie zu diesem Schritt getrieben hat,« sagte Ronald, Lisa in Schutz nehmend.

Die Konsulin warf den Kopf zurück und sah ihn zornig an.

»Du bist von einer beispiellosen Milde. Bedenke doch, daß sie dich so gut wie uns der Lächerlichkeit preisgibt.«

»Ich bedenke vor allem, daß sie sich in einem bedauernswerten Seelenzustand befunden haben muß, um so handeln zu können. Jedenfalls muß ein Skandal vermieden werden, vor allem Lisas wegen. Wenn ich nur klar denken könnte. Mir ist das alles so schrecklich, daß ich wie vor den Kopf geschlagen bin.«

Mallwitz, der abseits gestanden hatte, trat heran.

»Darf ich dir helfen, Ronald?«

Dieser reichte ihm die Hand.

»Guter Kerl, wenn du einen Rat weißt, – ich wäre dir dankbar.«

»Ja, Herr von Mallwitz, Sie sind nun einmal eingeweiht in diese mehr wie peinliche Situation, helfen Sie uns. Sie sehen, wir sind außerstande, selbst zu überlegen,« bat die Konsulin, alle Vornehmtuerei beiseite lassend.

Mallwitz verneigte sich vor ihr.

»Vor allen Dingen würde ich Ihnen, gnädige Frau, raten, zur Gesellschaft zurückzugehen, damit Ihre Abwesenheit nicht auffällt. Ihren Herrn Gemahl müssen Sie wohl unterrichten, sobald Sie das unbemerkt tun können. Ronalds Mutter und Schwester erfahren am besten vorläufig nichts. Sie würden sich nur unnötig sorgen, ohne helfen zu können. Wenn die Angelegenheit aufgeklärt ist, erfahren sie noch früh genug davon. Der Portier ist der einzige Mensch, der Ronald zurückkommen sah. Er kann in der Meinung bleiben, daß die junge Frau diese Nacht in der Villa Limbach bleibt. Und Ihre Dienerschaft, gnädige Frau, wird in dem Glauben belassen, daß das junge Paar hier im Fürstenhof logiert und erst morgen abreist. So ist vor allen Dingen Zeit gewonnen. Ronald bleibt hier auf seinem Zimmer bis morgen früh und begibt sich dann vorläufig in ein abgelegenes Hotel, wo ihn niemand kennt. Dann gilt er auch hier für abgereist und kann eine Nachricht von seiner Frau abwarten. Wo sich Frau Lisa auch aufhält, sie wird vermeiden, von Bekannten gesehen zu werden. Daß sie jedes Aufsehen verhüten will, geht aus ihren Zeilen hervor. Sie wird ja auch so bald als möglich Nachricht geben über ihren Aufenthalt. Dann können weitere Maßnahmen getroffen werden.«

Die Konsulin reichte ihm huldvoll die Hand.

»So ist es gut, Herr von Mallwitz. Wir danken Ihnen herzlich für Ihren guten Rat, dem wir genau nachkommen wollen. Nicht wahr, Ronald?«

Dieser hatte grübelnd vor sich hingesehen. Nun fuhr er auf.

»Ja, gewiß, das werden wir tun,« erwiderte er in nervöser Hast.

»So will ich jetzt wieder hinabgehen.«

»Bitte, tue das. Ich werde morgen früh Mallwitz hinausschicken zu euch, ob Nachricht von Lisa eingetroffen ist.«

Die Konsulin nickte mit; plötzlich fuhr sie auf:

»Sie wird doch um Gottes willen dies alles nicht in einem Anfall geistiger Trübung getan haben? Mir ist das so unverständlich. Sie schien doch so glücklich!«

Ronald fuhr sich durchs Haar und stützte den Kopf in die Hand. Er glaubte, eine andere Erklärung für Lisas Flucht geben zu können. Aber er sträubte sich, seiner Vermutung Ausdruck zu geben.

Mallwitz beruhigte die Konsulin. Er ahnte so ungefähr, wie alles zusammenhing. Aber die Konsulin brauchte davon vorläufig nichts zu erfahren. Vielleicht richtete sich doch alles wieder ein.

»Diese Befürchtung brauchen Sie nicht zu hegen, gnädige Frau. Die Zeilen der Baronin sind trotz aller Kürze klar abgefaßt; und ich glaube, Sie fassen die ganze Angelegenheit zu tragisch auf. Vielleicht erklärt sich noch alles auf ganz einfache Art. Bitte, zögern Sie aber nun nicht länger, zurückzugehen; ich werde mit Ronald noch alles Nötige besprechen.«

Seufzend verabschiedete sich die Konsulin von Ronald.

»Glaube mir, ich bin gleich dir untröstlich. Das kann ich Lisa nie verzeihen, nie,« sagte sie und ging hinaus.

Als die Tür hinter ihr zufiel, starrte Ronald gedankenverloren vor sich hin, ohne zu sprechen. Im Geiste sah er Lisa vor sich mit dem scheuen, glücklichen Lächeln, dem aufleuchtenden, innigen Blick. Dieses Lächeln hatte ihn manchmal gerührt, aber noch öfter gepeinigt. So vertrauensvoll und ergeben hatte sie ihn angesehen, wie einen Herrn über Leben und Tod. Und nun war sie vor ihm geflohen. Was hatte sie zu diesem Schritt gedrängt, der ihrem stillen, ruhigen Wesen so wenig entsprach? Konnte es etwas anderes sein als das, was er fürchtete zu denken?

Er sprang auf und blieb vor Mallwitz stehen, ihm starr ms Gesicht blickend.

»Ist das nicht wie eine Antwort auf das, was ich dir vorhin in deinem Zimmer sagte, Kurt? Sie gibt mich frei, – mein Wunsch ist erfüllt.«

Mallwitz antwortete nicht. Er sah besorgt in Ronalds verstörtes Gesicht.

Dieser faßte den Freund am Arm.

»Kurt, mich peinigt ein schrecklicher Gedanke, weißt du genau, daß das Zimmer neben dem deinen leer war? Wenn sie uns gehört hätte?«

Mallwitz faßte seine Hand fest zwischen den seinen.

»Du kommst von selber darauf, Ronald. Deine Vermutung bestätigt sich leider. Ich sah vorhin die Jungfer der Konsulin aus diesem Nebenzimmer treten mit dem Brautkleid deiner Frau. Auf mein Befragen teilte sie mir mit, daß diese in dem Zimmer die Kleider gewechselt und dann noch eine Weile geruht hat.«

Ronald zuckte zusammen und fiel stöhnend in seinen Sessel.

»So hat sie auch alles gehört! Die Ärmste, die Bedauernswerte! Kurt, ich könnte mich selbst umbringen! Was hab' ich dem armen Ding angetan! Wie mag ihr zumute sein!«

»Es ist ein unglückliches Verhängnis. Wie konnten wir ahnen, daß sie sich gerade in diesem Zimmer aufhielt? Es war ja so still drüben. Sie muß ganz ruhig gesessen haben.«

Ronald schlug sich vor die Stirn.

»Zu denken, daß sie nun allein irgendwo in der Welt herumirrt mit ihrem Schmerz! Wie ihr das gewesen sein muß! Wie ein Schlag ins Gesicht. Und ich kann sie nicht einmal trösten, ihr nicht beistehen. Verrückt könnte ich über diesen Gedanken werden.«

Mallwitz legte seine Hand auf Ronalds Schulter.

»Beruhige dich doch, mein Alter. Vielleicht bringt euch dieser Zwischenfall näher, vielleicht wird noch alles gut.«

»Laß nur, mich brauchst du nicht zu trösten; es ist mir nur um sie zu tun. Wenn ich nur wüßte, wo ich sie finden könnte, das arme Geschöpf! Herrgott, ist das ein erdrückendes Gefühl, schuld sein am Unglück eines Menschen, der sein Geschick vertrauensvoll in unsere Hände legte! Hätte ich doch den Mund gehalten vorhin! Mußte ich denn alles, was mich drückte, ausplaudern, wie ein altes Weib?!«

»Solche Vorwürfe sind nutzlos, Ronald. Mir tut es furchtbar leid, daß ich gewissermaßen die Ursache gewesen bin zu dieser Affäre. Hätte ich dich nicht in mein Zimmer geführt, wo ich mich so sicher glaubte, dann wäre vielleicht ungesprochen geblieben, was deine Frau in die Flucht getrieben hat. Aber wie gesagt, Vorwürfe machen nichts ungeschehen. Deine Frau wird sich ja beruhigen lassen und vernünftig sein. Sie ist so im ersten Schrecken über die Entdeckung, daß du sie nicht liebst, geflohen, – ohne Überlegung. Man kann ihr das nachfühlen. Frauen sind nun mal feinfühliger als wir Männer. Aber es wird dir ja gelingen, sie zu besänftigen. Wenn wir nur erst wissen, wohin sie sich gewandt hat.«

Ronald hatte kaum gehört, was Mallwitz sagte. Er sah im Geiste Lisa in ihrer Verzweiflung vor sich. Wußte er doch, wie sehr sie ihn geliebt, wie tief sie durch seine Worte gekränkt und gedemütigt sein mußte.

»Ausdenken zu müssen, was ihr alles zustoßen kann! Sie ist in ihrer Unerfahrenheit davongefahren, ohne zu wissen, wohin. Wer weiß, ob sie genügend Geld bei sich hat.«

»Irgendwie wird sie sich schon zu helfen wissen,« tröstete Mallwitz. »Sie ist ja schließlich kein hilfloses Kind. Und je weniger sie mit Geldmitteln versehen ist, um so schneller wird sie gezwungen sein, Nachricht zu geben.«

»Ob ich nicht doch noch einmal versuche, ihre Spur zu finden?«

»Das hat gar keinen Zweck; du kommst nur unnötig in Gefahr, gesehen zu werden. Wo sollst du auch suchen heute abend? Jedenfalls will sie sich nicht finden lassen; und dar ist doch verständlich. Mit solch einer Enttäuschung will man zunächst allein sein.«

»Da soll ich also untätig hiersitzen mit meinen quälenden Gedanken!«

»Am besten, du legst dich schlafen.«

Ronald schüttelte den Kopf.

»Schlafen kann ich nicht.«

»Dann ruhe dich wenigstens aus. Wer weiß, was morgen an dich herantritt. Ich würde dir ja gern Gesellschaft leisten; aber das ist dir jetzt auch kein Trost, und ich muß wieder hinunter. Ich bin noch engagiert, und deiner Schwester würde mein Fortbleiben auffallen.«

»Geh nur, Kurt, ich muß allein damit fertig werden. wenn ich nur die Gewißheit hätte, daß sie sich in ihrer Verzweiflung nichts antut.«

»Unsinn! Schlag' dir solche Gedanken aus dem Kopf. Wenn sie solch ein Vorhaben im Sinne gehabt hätte, wäre sie nicht erst nach Hause gefahren. Sie schreibt dir ja auch, daß sie Nachricht geben will, sobald sie Unterkunft gefunden hat. Nun leg' dich aufs Ohr, mein Alter. Wir sprechen uns morgen früh noch.«

Sie schüttelten sich die Hände. Dann ging Mallwitz.

Ronald warf sich, als er allein war, auf den Diwan und sah mit starren Augen zur Zimmerdecke empor. Sein Herz zog sich zusammen vor Angst und Unruhe um Lisa. Er allein war schuld, daß sie jetzt schutzlos draußen in der Welt herumirrte, einsam und verlassen, dem verzweiflungsvollen Schmerz preisgegeben. Daß er so gar nichts tun konnte, ihr zu helfen, quälte ihn unsagbar, vergessen war jetzt sein Wunsch nach Freiheit, vergessen die Pein, die er empfunden hatte bei dem Gedanken an ein Zusammenleben mit ihr. Er sah sie vor sich mit verstörtem, qualzerrissenem Gesicht. Ihre Augen, die immer so voll Liebe zu ihm aufgesehen, blickten ihn vorwurfsvoll an. »Warum hast du mir das getan?« schienen sie in wehem Schmerz zu fragen.

»Arme kleine Lisa, armes, liebes Kind – wenn ich doch bei dir sein könnte! Es war ja gar nicht so schlimm gemeint, was ich sagte,« flüsterte er vor sich hin.

Nun würde ihre Liebe zu ihm bald vergehen und sich vielleicht in das Gegenteil umwandeln. –

Sonderbarerweise empfand er etwas wie Schmerz bei dem Gedanken. Wie eine Erkenntnis kam es über ihn, daß er ein kostbares Gut achtlos verscherzt hatte. Keiner seiner Gedanken flog jetzt zu der blonden Lili Sanders, um deren Verlust sein Herz noch vor kurzem getrauert hatte. Bisher hatte er den Schmerz um diesen Verlust gleichsam gehegt und gepflegt, hatte sich in allerlei wehmütige Gedanken eingesponnen und war sich wie ein Märtyrer seiner Liebe vorgekommen. Jetzt war das alles wie ausgelöscht in seinen Gedanken, die sich nur in angstvoller Hast um das Schicksal seiner Frau drehten.

Seiner Frau! –

Unten aus dem Festsaal drangen leise schmeichelnde Walzermelodien zu ihm empor. Dort unten feierte man seine und Lisas Hochzeit. Die da unten wähnten ihn mit seiner jungen Frau auf der Reise nach der Insel der Glückseligkeit. Grausame Ironie! Sein armes junges Weib irrte, Verzweiflung im Herzen, herum; und er lag hier und hätte seine Seligkeit darum gegeben, wenn er hätte bei ihr sein dürfen.

* * *

Lisa hatte wirklich jedes Wort der Unterhaltung zwischen ihrem Gatten und Kurt Mallwitz gehört.

Erst war sie errötend zusammengezuckt, als sie ihn an der Stimme erkannte. Still, mit seligem Lächeln lag sie in ihrem Sessel, wagte sich jedoch nicht bemerkbar zu machen. Und gleich darauf richtete sie sich jäh empor und starrte mit erschrockenen Augen auf die durch ein Schränkchen verstellte Verbindungstür der beiden Zimmer. Sie saß ganz nahe dabei und hörte mit unbarmherziger Genauigkeit jedes Wort.

Wie unter Keulenschlägen sank sie mehr und mehr in sich zusammen. Sie wollte schreien, sich wehren gegen das Furchtbare, das von da drüben auf sie eindrang. Wie gebannt saß sie in dem Sessel, bleich bis in die Lippen, ein Bild des furchtbarsten Schmerzes, der unerträglichsten Demütigung.

Ach, welche Qual ihr diese Stunde brachte, die erst nur Seligkeit für sie gehabt hatte! Eine falsche, verlogene Seligkeit. In dieser kurzen Viertelstunde, die sie zitternd vor Schmerz und Erregung in dem eleganten Hotelzimmer verbrachte, schien der ganze Inhalt ihres Lebens erschöpft zu sein. Wie ein vernichtender Sturm brauste es über sie hin, ein Sturm, der alles Schöne und Liebe aus ihrer zitternden Seele riß und nichts zurückließ als brennende Scham, unsägliche Demütigung und trostlose Verzweiflung.

Zu jäh war der Wechsel zwischen überschwenglicher Glückseligkeit und bodenlosem Jammer. Die Zähne schlugen ihr wie im Frost zusammen, die Augen glühten wie im Fieber und blickten wirr und angstvoll um sich.

Und dann hörte sie, wie Ronald verzweifelt ausrief: »Herrgott im Himmel, – wäre ich doch frei, – frei!« Wie von einer unwiderstehlichen Macht wurde sie da getrieben. Sie erhob sich leise, totenblaß, und schüttelte sich wie im Fieber. Furchtbar erschien ihr, was sie gehört. Der Mann, den sie liebte mit allen Fasern ihres Seins, dessen Liebe sie zu besitzen glaubte, eine Liebe, die sie in ihrem bescheidenen Sinn für eine Wundergabe des Himmels gehalten, – ihr Mann, mit dem sie vor wenig Stunden den Schwur der Treue vor dem Altar gewechselt hatte, er empfand ihre Liebe wie eine drückende Fessel und rief sehnsuchtsvoll seine Freiheit zurück.

Sie schauerte zusammen und setzte mechanisch ihren Hut auf. Ein hilfloser Blick lag in ihren Augen, eine heiße Herzensangst, ihm jetzt begegnen zu müssen. Jetzt mit ihm allein sein, seine erheuchelten Liebkosungen ertragen mit dem Bewußtsein, daß sein Herz einer andern gehörte – nein – nein, – das konnte sie nicht; das ging über ihre Kraft! Fort, – nur fort! – Irgendwohin, – an irgendeinen stillen Ort, wo sie sich verstecken konnte, wo sie aufschreien durfte in namenloser Qual, wo sie ihre Schmach verbergen konnte.

Mit zitternden Händen warf sie den Mantel über, hängte ihr Reisetäschchen um und ergriff die Handschuhe, alles wie eine willenlose Maschine.

So ging sie hinaus, von einer inneren Macht getrieben, von der Furcht gejagt, ihm begegnen zu müssen.

Unten im Vestibül kam ihr der Portier entgegen. Sie stockte. Etwas dämmerte in ihr, daß sie eine Erklärung geben müsse für ihr Fortgehen. Sie stotterte etwas, was ihr der Augenblick eingab, und hastete dann an ihm vorüber. Eine Droschke, die eben einen neuen Hotelgast gebracht hatte, hielt vor der Tür. Sie stieg ein, von dem Portier unterstützt, der dann auch dem Kutscher befahl, nach der Villa Limbach zu fahren, weil sie angegeben, daß sie dort etwas vergessen hatte. Nun saß die junge Frau in dem Wagen. Wie einer furchtbaren Gefahr entronnen, lehnte sie in den Kissen. Sie suchte sich klar darüber zu werden, was sie eigentlich wollte, was sie tun müsse.

Mühsam ordnete sie ihre Gedanken. Erst jetzt fiel ihr ein, welches Aufsehen ihre Flucht erregen würde. Was hatte sie nur dem Portier gesagt? Sie überlegte, und nun fiel es ihr wieder ein. Nach Hause wollte sie fahren; dort sollte sie Ronald abholen. Um Himmels willen, – nein! Nicht nach Hause; dort kam er hin, wenn der Portier ausrichtete, was sie gesagt. Fort, nur fort, – nur ihm jetzt nicht in das Gesicht sehen müssen; die Scham würde sie töten.

Sie wollte aufspringen und dem Kutscher eine andere Adresse sagen. Aber welche? Sie sann nach; aber ihre Gedanken irrten wieder ab. Wie sie ihm ihre Liebe so offen gezeigt hatte, ihre Liebe, die ihm so lästig war, die ihn drückte wie eine Fessel! O, nur nicht mehr daran denken müssen! Lieber überlegen, was zu tun war.

Ja, – Onkel und Tante mußten doch ein Lebenszeichen erhalten von ihr; man glaubte sonst am Ende, – am Ende –

Sie setzte sich hoch auf.

Und warum nicht? Warum nicht ein Ende machen, kurz und schnell? Dann war alles überstanden; dann klopfte das törichte Herz nicht mehr so qualvoll in der Brust; dann fühlte sie nicht mehr diesen furchtbaren Schmerz. Für wen sollte sie noch leben und dies qualvolle Dasein weitertragen? Onkel Karl würde ja ein wenig um sie trauern, – und Tante, – ach, der war sie ja nie im Herzen etwas gewesen; das fühlte sie jetzt mit deutlicher Klarheit. Aber Ronald, – nein, ihm durfte sie das nicht antun. Er würde erraten, daß seine Worte sie in den Tod getrieben. Nein, – sie durfte nicht. Dann würde er nie mehr frei sein; die Reue würde ihn zu Boden drücken. Und diese Fessel konnte sie dann nicht von ihm lösen.

Ehe sie noch klar geworden über das, was sie tun sollte, hielt der Wagen. Sie stieg aus und hieß den Kutscher warten.

Dem Diener, der ihr öffnete, rief sie ein paar hastige Worte zu. Dann eilte sie auf ihr Zimmer und schrieb das Kärtchen für Ronald. Nun hatte sie wenigstens ein Lebenszeichen hinterlassen, und er würde schon erraten, weshalb sie geflohen war. Er konnte für das Weitere sorgen; sie war nicht imstande, mehr zu tun.

So schnell wie möglich verließ sie dann das Haus wieder, nachdem sie dem Diener das Billett für Ronald übergeben hatte. Sie behielt auch noch so viel Überlegung, dem Kutscher zuzurufen: »Bayerischer Bahnhof,« damit es der Diener hörte.

Nun fuhr sie weiter. Aber nicht lange, dann rief sie den Kutscher an, zu halten, und stieg aus. Sie reichte ihm ein Geldstück und sagte ihm, daß sie noch etwas besorgen müsse.

Lisa ging wie im Traum weiter; aber die Knie versagten ihr den Dienst. In den Anlagen auf dem Floßplatz setzte sie sich auf eine Promenadenbank und starrte vor sich hin. Ein junger Mensch ging einige Male an ihr vorüber und redete sie schließlich, den Hut lüftend, an. Sie erschrak und floh vor ihm. Müde kreuzte sie den Platz. In der Sidonienstraße fand sie eine kleine Konditorei. Sie konnte von der Straße den schmalen Raum übersehen. Er war leer. Rasch trat sie ein und setzte sich in eine Ecke. Ein junges Mädchen fragte nach ihren Wünschen. Sie bestellte eine Tasse Schokolade.

Als sie ihr Ledertäschchen öffnete, um zu bezahlen, fiel ihr Blick auf den Brief, den sie heute kurz vor der Fahrt nach der Kirche erhalten hatte. Ein rettender Gedanke stieg in ihr empor. Sie zog den Brief heraus und umklammerte ihn mit der Hand, bis sie die Schokolade bezahlt hatte und allein war. Dann zog sie ihn hastig aus dem Kuvert und gab sich Mühe, ihn mit klarem Bewußtsein noch einmal durchzulesen.

Mit wie andern Empfindungen hatte sie diesen Brief zuerst gelesen! In der Fülle ihres Glückes hatte sie nicht vermocht, ihre Gedanken fest darauf zu richten. Jetzt in der Fülle ihres Leides mußte sie es tun, weil sie von diesem Schreiben die Lösung der qualvollen Frage erhoffte, was aus ihr werden sollte. Der Brief lautete:

 

»Meine liebe Lisa! Wenn ich auch aus besonderen Gründen nicht zu Deiner Hochzeit kam, so will ich Dir doch zu Deinem Ehrentage meine innigsten und herzlichsten Glückwünsche darbringen. Du willst wahrscheinlich gar nichts wissen von Deiner Tante Anna, denn Deine Tante Hermine wird mich in Deinen Augen wohl als eine Art Popanz und Leuteschreck hingestellt haben. So junge Menschen wie Du sind ja so leicht von ihrer Umgebung zu beeinflussen. Sonst hätte ich wohl schon eher zuweilen an Dich geschrieben. Solange Du aber im Hause meiner Schwägerin warst, hatte das gar keinen Zweck. Ich kenne sie zu genau, um nicht zu wissen, daß sie Dir nicht gestattet hätte, mir zu antworten. Denn wir sind sozusagen spinnefeind miteinander, oder vielmehr, sie beehrt mich mit ihrem Haß und mit ihrer Feindschaft, weil ich sie zu genau kenne und eines Tages meinen Bruder Karl mahnte, sich nicht mit diesem dünkelhaften, herzenskalten Geschöpf zu verheiraten. Trotzdem ist sie meines Bruders Frau geworden; und ich bezweifle, daß sie ihn glücklich gemacht hat.

Nun, jeder ist seines Glückes Schmied, und jeder will seine Erfahrungen für sich machen. Aber nun zu Dir, mein liebes Kind. Trotzdem ich Dich seit dem Tode Deiner lieben Eltern nicht mehr gesehen, habe ich immer in treuer Liebe Dein gedacht. Denn Du bist das Kind meines herzlich geliebten Bruders, und Deine Mutter war mir eine liebe Freundin. Ich wollte Dich nach dem Tode Deiner Eltern so gern zu mir nehmen. Mein Mann war mir kurz vorher gestorben, und ich selbst habe keine Kinder. Es wäre mir ein Trost gewesen, Dich um mich zu haben, Dich erziehen zu dürfen im Sinne Deiner Eltern. Aber meine Schwägerin entriß Dich mir. Ich war schwer krank in jener Zeit und konnte meine Ansprüche an Dich nicht genügend zur Geltung bringen. Als ich gesund war, hatte Dich Hermine schon fest in ihren Händen, und obwohl mein Bruder Karl selbst sie bat, Dich an mich abzutreten, weigerte sie sich in recht häßlicher Weise. So mußte ich mit schwerem Herzen zurücktreten. Viel Liebe wirst Du nicht von ihr erfahren haben, denn wo andere Leute das Herz haben, hat die Frau Konsul einen Adelskalender. Trotzdem sie einen Bürgerlichen geheiratet hat, ist sie die Geborene von Schlorndorf geblieben; und daß ich, die geborene Limbach schlichtweg, erst durch meine Heirat eine Adelige, eine Frau von Rahnsdorf wurde, das hat sie mir nie verziehen.

Aber ich schweife immer wieder ab. Verzeihe mir; doch jahrelang angehäufter Groll drängt in mir zum Ausbruch. Ich habe auch nie ein Hehl daraus gemacht, daß mir Hermine unsympathisch ist, und sie hat sich dafür gerächt. Ich bin eine einsame Frau geblieben, mein liebes Kind, und habe mich Jahr um Jahr schmerzlich nach Dir gesehnt. Aber bei Hermine betteln, Dich wenigstens zuweilen ein paar Wochen zu mir zu schicken, das vermochte ich nicht. Es hätte auch nur zu weiteren Mißhelligkeiten geführt; denn ich hätte wahrscheinlich versucht, ihre Erziehungsmethode an Dir zu korrigieren. Und darunter hättest Du schließlich am meisten gelitten.

Aber nun, mein geliebtes Kind, nun bist Du erwachsen und kannst Dir selbst ein Urteil bilden. Nun bist Du verheiratet. Hoffentlich recht glücklich, trotzdem Deine Tante Hermine wohl mehr auf den Adel und Titel Deines Mannes Wert gelegt hat, als darauf, daß er Dich glücklich macht. Also, nun bist Du nicht mehr von der Frau Konsul abhängig; und wenn Du Deiner einsamen Tante Anna einen großen, innigen Herzenswunsch erfüllen willst, dann besuche sie bald einmal mit Deinem jungen Gatten. Vielleicht schon auf der Rückkehr von Eurer Hochzeitsreise. Ich werde von heute an jeden Tag und jede Stunde auf Dich warten.

Ein Hochzeitsgeschenk habe ich Dir absichtlich nicht geschickt. Ich kenne Deine Wünsche nicht und mache nicht gern Geschenke, bei deren Empfang der Beschenkte denkt: Wieso bin ich verpflichtet, derartige Geschenke anzunehmen? Du sollst mir selbst sagen, womit ich Dir eine große Herzensfreude machen kann. Du bist doch eines Tages meine Erbin, und bis zur Höhe meines halben Vermögens ist Dir im voraus jeder Wunsch gewährt. So, meine liebe Lisa: nun hab' ich Dir alles gesagt, was ich auf dem Herzen hatte. Gott behüte Dich, mein Kind, – und vergiß nicht, daß in einem idyllischen Winkel des schönen Thüringer Landes Rahnsdorf liegt, wo eine einsame alte Frau lebt, die die Stunden zählt, bis sie Dich an ihr Herz drücken darf. Grüß mir Deinen jungen Gatten herzlich. Auch meinem Bruder Karl einen treuen Schwestergruß; ich bin trotz allem, was man zwischen uns geschoben, für ihn die alte. Der Konsulin bestelle jedoch keinen Gruß; ich will ehrlich bleiben. Selbst Höflichkeitslügen gehen mir gegen den Strich.

Denke deshalb nicht schlecht von mir, mein liebes Kind, und komme bald zu

Deiner Dich herzlich liebenden
Tante Anna.

Meine genaue Adresse findest Du auf dem Umschlag.« – – – – – – – – – – –

 

Lisa hatte den Brief langsam zu Ende gelesen. Ein Gefühl, als wenn eine warme, weiche Hand tröstend über ihren Scheitel striche, stieg in ihr auf. Ihre Augen bekamen einen feuchten, sehnsüchtigen Schimmer. Dorthin wollte sie fliehen, – zu der Frau, die so herzliche Worte für sie hatte, die in Liebe ihrer gedachte. Dort bei ihr sich verbergen mit ihrer Scham, ihrer Qual! Tante Hermine konnte sie nie sagen, was sie in dieser Stunde erlebt, was ihr Herz bedrückte. Sie würde sie nicht verstehen und sie mit kaltem Hohn eine überspannte Närrin schelten, sie vielleicht zwingen, zu Ronald zurückzukehren und ein Leben der qualvollsten Lüge an seiner Seite zu führen.

Aber dort bei Tante Anna fand sie Liebe und Verständnis; daran glaubte sie, daran wollte sie festhalten in ihrer Herzensnot, wie an einer rettenden Planke, die sie vor dem Versinken schützte.

Es war ihr eine Wohltat, ein Ziel vor Augen zu haben. Die Notwendigkeit, das Ziel zu erreichen, riß sie aus ihrem schmerzversunkenen Zustand. Sie überzeugte sich, daß sie zum Glück noch ein paar Goldstücke in ihrer Tasche hatte. Damit kam sie wohl nach Rahnsdorf. Es lag in der Nähe von Jena, das wußte sie. Bis Jena mußte sie mit der Bahn fahren, – nein, bis Porstendorf, hier stand es auf dem Kuvert: Rahnsdorf, Station Porstendorf.

Lisa bat das bedienende Mädchen um ein Kursbuch und sah nach, welchen Zug sie benützen könnte. Zehn Uhr fünfzehn Minuten ging ein Durchgangszug. Der traf schon zwölf Uhr fünf Minuten in Jena ein. Aber er hielt nicht in Porstendorf, und von Jena aus hatte sie keine Verbindung mehr dorthin in der Nacht. Da war es das beste, sie blieb in Jena in einem Hotel bis zum nächsten Frühzug, der sie nach Porstendorf bringen konnte. Die Erwägungen lenkten die junge Frau ein wenig von ihrem Schmerz ab. Sie sah nach ihrer Uhr. Es blieb ihr noch bequem Zeit, den Zug zu erreichen.

Ohne ihre Schokolade berührt zu haben, verließ sie mit raschem Gruß die Konditorei. Auf der Straße rief sie die nächste Droschke an, die ihr begegnete, und fuhr zum Thüringer Bahnhof.

Dort erkundigte sie sich am Schalter noch einmal nach ihrem Zug und löste eine Fahrkarte zweiter Klasse nach Jena. Sie mußte rechnen, daß ihr Geld auch noch für das Hotel ausreichte. Nun fiel ihr ein, daß sie nicht einmal Nachtzeug bei sich hatte. Aber das ließ sich nicht ändern.

Sie begab sich sofort in den schon bereitstehenden Zug und fand im Frauenabteil einen Eckplatz. Erschöpft setzte sie sich nieder und drückte sich fröstelnd in die Ecke. Die feuchtkalte Märzluft hatte ihre Kleider durchdrungen, und da die Wagentüren noch aufstanden, war es ziemlich kühl. Außer ihr befanden sich noch zwei Damen in ihrem Abteil, offenbar Mutter und Tochter, die sich fortwährend von Tante Laura und ›Mieze‹ unterhielten. Mieze schien der daheimgebliebene Kater zu sein, den man Tante Laura anvertraut hatte. Denn die ältere der Damen sagte unzählige Male: »Wenn nur Tante Laura dafür sorgt, daß Mieze ihre Milch angewärmt bekommt; kalte Milch bekömmt ihr nun einmal nicht.« Ebensooft versicherte die Tochter zu ihrer Beruhigung, daß sie Tante Laura die angewärmte Milch auf die Seele gebunden habe, was die Mutter jedesmal auf fünf Minuten mit Beruhigung erfüllte.

An Lisas Ohren glitt dieser Wortschwall vorüber wie ein Gespräch, das in fremder Sprache geführt wurde. Sie versank in einen Zustand halber Betäubung und schloß die Augen. Dabei war ihr zumute, als wenn sie in eine bodenlose Tiefe stürzte. Sie fühlte sich körperlich so elend und matt, daß sie nicht mehr fähig war, die Größe ihres seelischen Schmerzes zu fassen.

Endlich fuhr der Zug ab, und das Gespräch zwischen den Damen verstummte. Sie legten sich zurück, und die ältere verkündete bald durch sanfte Schnarchlaute, daß sie trotz ihrer Sorge um Mieze entschlummert war.

Lisa hatte eiskalte Füße; aber der Kopf brannte ihr wie im Fieber. Ihre wirren Gedanken flogen zurück in das Hotel, wo man ihre Hochzeit feierte. Nun wußten es ihre Angehörigen wenigstens, daß sie geflohen war. Ronald war jetzt wohl in das Hotel zurückgekehrt, und Onkel und Tante waren von ihm benachrichtigt worden. Tante würde furchtbar böse sein, – und nun gar erst, wenn sie erfuhr, daß sie nach Rahnsdorf geflohen war! Aber das ging nun in einem hin. Das war auch alles so gleichgültig, so wesenlos.

Wie wenig nahe sie der Tante im Grunde gestanden, kam ihr jetzt erst zum Bewußtsein. Das strenge, verkniffene Gesicht hatte keine Macht mehr über sie; diese Macht war gebrochen unter der Last ihres Leides.

Aber ein anderes Gesicht stand nun wieder vor ihr, das Ronalds.

Sie drückte jäh die Hände aufs Herz, als müßte es brechen. So deutlich sah sie sein ernstes, geliebtes Gesicht vor sich, das sie so oft voll heimlicher Lust und Wonne betrachtet hatte! Ob er wohl sehr böse aussah, als er sie vergeblich suchte? Ob er sofort erriet, weshalb sie vor ihm geflohen war, weshalb sie ihn freigab?

Würde er froh aufatmen, daß er seine Freiheit wieder hatte, daß er der ungeliebten Frau keine Liebe zu heucheln brauchte? – Nun hatte er es nicht mehr nötig, sich ihre lästige Liebe und Innigkeit gefallen zu lassen. Wie er erlöst aufatmen würde! – Ob er wohl ein wenig Mitleid mit ihr hatte?

Mitleid!

Sie biß die Zähne zusammen. Mitleid wollte sie nicht, – um Gottes willen kein Mitleid! – Ach, wie sie sich schämte, daß sie ihm so offen ihre Liebe gezeigt, wie ihr diese Scham im Herzen brannte!

Es schien ihr jetzt so töricht, an seine Liebe zu glauben, an seine Liebe zu ihr, dem reizlosen, häßlichen Mädchen, das so unbedeutend war, sich so geschmacklos kleidete und frisierte, und ihm mit ihren Liebesbeweisen lästig fiel. Nichts an ihr war begehrenswert als ihr Geld; und selbst das konnte ihn nicht damit aussöhnen, daß er gebunden war. Sein Herz gehörte ja jener blonden Lili. Die war gewiß schön und holdselig; nach ihr verlangte sein Herz, wenn er die ungeliebte Braut in seiner Nähe dulden mußte. O, diese Schmach, diese Demütigung, – dieser wahnsinnige Schmerz!

Ihr Kopf brannte immer mehr. Trotzdem die Temperatur im Wagen jetzt ganz behaglich war, konnte sie sich nicht erwärmen. Die Zähne schlugen ihr im Frost aufeinander. Es war eine schauerliche Fahrt, die kein Ende zu nehmen schien. Das arme junge Geschöpf, das mit dem größten Schmerz seines Lebens rang, war fast ohnmächtig, als es nach Mitternacht in Jena anlangte. Lisa schleppte sich nach dem ersten besten Hotel, welches in der Nähe des Bahnhofs lag. Man nahm sie mit einigem Mißtrauen auf, da sie ohne alles Gepäck kam. Als sie sich dann aber erkundigte, wann sie morgen früh nach Porstendorf fahren und wie sie von Porstendorf nach Rahnsdorf zu ihrer Tante gelangen könnte, wurde man freundlicher. Frau von Rahnsdorf pflegte zufällig in demselben Hotel zu übernachten, wenn sie in Jena aufgehalten wurde. Man nahm sich der jungen Dame nun sehr freundlich und dienstbereit an, denn Frau von Rahnsdorf war hier als reiche Gutsbesitzerin ein gerngesehener Gast, mit dem man es nicht gern verderben wollte. Lisa merkte trotz ihrer Apathie den plötzlichen Umschlag im Wesen der Leute; aber sie war froh, als sie endlich allein war und sich niederlegen konnte.

Schlaf kam trotz ihrer Müdigkeit nicht in ihre Augen. Nicht nur ihre traurigen Gedanken hinderten sie am Einschlafen, sondern auch körperliche Schmerzen. Jeder Nerv tat ihr weh, und sie warf sich ruhelos von einer Seite zur andern. Diese Nacht prägte sich für immer ihrem Gedächtnis ein als die qualvollste, die sie je erlebt. Ein furchtbares Gefühl des Verlassenseins nahm ihre Sinne gefangen. Sie wimmerte leise vor sich hin. Und bei alledem sah sie immer Ronalds Gesicht vor sich, und ihre Sehnsucht nach diesem geliebten Gesicht steigerte sich zu fieberhaften Phantasien und verwirrte ihr Denken mehr und mehr.

Als der Morgen grau und nüchtern in das Hotelzimmer schien, erhob sie sich mühsam, wie gebrochen an Leib und Seele. Fröstelnd kroch sie in die noch von gestern feuchten Kleider und bestellte Kaffee.

So heiß als möglich nahm sie das Getränk zu sich, ohne einen Bissen essen zu können. Dann beglich sie ihre Rechnung und ging zum Bahnhof.

* * *

Eine halbe Stunde später stieg sie in Porstendorf aus.

Bauersfrauen mit Tragkörben, Geflügelkästen und riesigen Gemüsebündeln drängten sich auf dem kleinen Bahnsteig. Sie warteten auf den Zug, der sie nach Jena zum Wochenmarkt bringen sollte.

Lisa sah sich suchend in dem klaren Morgenlicht um. Man hatte ihr im Hotel gesagt, daß vielleicht ein Rahnsdorfer Fuhrwerk am Bahnhof sein würde. Scheu drängte sie sich zwischen den schwatzenden Weibern durch, die mit neugierigen Augen das blasse Stadtfräulein musterten.

Endlich sah sie den Stationsvorsteher. Sie trat zu ihm und fragte, ob ein Rahnsdorfer Fuhrwerk hier sei. Der Beamte sah sie verwundert an.

»Wollen Sie nach dem Dorf oder nach dem Schloß?«

Lisa wußte nicht, daß man das Rahnsdorfer Gutshaus in der Umgegend das Schloß getauft hatte.

»Zu Frau von Rahnsdorf möchte ich,« erwiderte sie.

»Also ins Schloß, Fräulein. Da kann wohl Rat werden zum Mitfahren; der Heinrich hält da drüben mit dem leeren Milchwagen. Warten Sie mal, ich pfeife ihn gleich hierher.« Er stieß zwischen den Fingern einen grellen Pfiff hervor und winkte nach der andern Seite der Straße hinüber. Gleich darauf kam im gemächlichen Schritt ein Fuhrmann mit gestrickter Jacke, blauer Schürze und in den Stiefeln steckenden Beinkleidern auf sie zu. Er zog ein wenig an seiner Mütze. »Da ist ein Fräulein, Heinrich, das zur gnädigen Frau will.«

Heinrich guckte verdutzt in Lisas blasses Gesicht mit den dunkel umränderten Augen. Lieber Himmel, sah die elend und spillerig aus! Er schob die Mütze von einer Seite zur andern, was wohl einen Gruß bedeuten sollte. »Ja, – davon hat die gnädige Frau nischt gesagt, und die Kutsche is ooch nich nach der Bahn geschickt worden,« sagte er bedächtig.

»Frau von Rahnsdorf weiß nicht, daß ich komme. Ich will sie überraschen, – sie ist meine Tante,« erklärte Lisa zusammenfröstelnd.

Der Stationsvorsteher machte ihr eine ehrfurchtsvolle Verbeugung, und Heinrich schob die Mütze auf ihren alten Fleck zurück.

»Je, das is nun ne dumme Sache, gnädiges Fräulein. Ich kann da ooch nischt dabei machen, wenn Sie sich mit auf den Kutschbock setzen wollen? Zwischen den Milchkrügen is keen Platz.«

Lisa fühlte sich zum Umfallen elend und müde. Nur endlich ihr Ziel erreichen, damit sie sich verkriechen konnte wie ein wundes Tier! Wie sie vorwärtskam, war ihr gleich. Sie erklärte sich bereit, auf dem Kutschbock die Fahrt nach Rahnsdorf zu machen.

Der Stationsvorsteher half ihr galant beim Aufsteigen und verabschiedete sich mit einer schneidigen, militärischen Verbeugung. Heinrich kletterte hinter ihr her und sorgte in einer Anwandlung von Ritterlichkeit dafür, daß sie auf den zusammengelegten Pferdedecken bequem saß.

Lisa dankte ihm mit einem matten Lächeln. Die gutgenährten Gäule zogen an und liefen im gemächlichen Trott auf der Landstraße dahin. Heinrich fühlte sich etwas geniert auf seinem beengten Sitz. Er blinzelte seine Begleiterin mit verlegenem Lächeln in dem frischen, sonngebräunten Gesicht von der Seite an. Je – war das ein schmales, trauriges Gesicht! Kein Tropfen Blut schien darin zu sein. Da war sein Schatz, die Line, doch ein andrer Kerl.

Er lachte über das ganze Gesicht, als er an die dralle Line dachte. Dann nahm er die Mütze ab und holte aus ihrem Innern eine Zigarre hervor, die er vom Kaufmann in Porstendorf geschenkt bekommen hatte. Aber als er die Spitze abgebissen hatte und das Kraut in Brand stecken wollte, fiel ihm das blasse Fräulein wieder ein. Die konnte am Ende den Rauch nicht vertragen. Er warf das Streichholz fort und beförderte die Zigarre wieder in das Innere seiner Mütze. Schweigend saßen die beiden verschiedenartigen Menschen auf dem Kutschbock. Heinrich überlegte sich, daß er doch gewissermaßen die Verpflichtung hatte, seinen Fahrgast zu unterhalten, da die Dame doch die Nichte der gnädigen Frau war.

Endlich fiel ihm etwas ein. Er zeigte mit der Peitsche im Halbkreis umher. »Das gehört schon alles zu Rahnsdorf, gnädiges Fräulein; und da drüben überm Wasser liegt das Dorf.«

Lisa raffte sich auf und blickte um sich.

»Das Gut meiner Tante liegt wohl weit vom Dorfe entfernt?«

»Nee, nee, – nur die Saale liegt dazwischen, wir müssen erst noch durch ein Stück Wald. Dann sehen Sie das Schloß gleich liegen.«

»Ist das Schloß sehr groß?«

»Na, so groß wie das Dornburger is es nich. Aber danach das größte hier in der Umgegend. Und sehr alt is es ooch. Solche dicke Mauern, – ja. Überhaupt, – Rahnsdorf is das fettste Gut hier herum. Unsre gnädige Frau, die versteht ihre Sache wie 'n Mann. Früh die erste, abends die letzte, – so eene gibt's nich noch emal. Bei uns is alles in Schuß, wenn ooch keen Herr da is.«

Nach dieser für Heinrichs Verhältnisse sehr umfangreichen Rede, glaubte er seiner Pflicht Genüge getan zu haben. Auf dem Rest der Fahrt schwieg er sich aus.

Lisa versank wieder in ihr schmerzvolles Brüten. In der klaren, kühlen Morgenluft fror sie jämmerlich. Das Herz lag ihr schwer in der Brust. Wie würde Tante Anna sie aufnehmen? –

Endlich sah sie das Schloß vor sich liegen. Es war ein ziemlich großer, massiver Bau aus grauen Sandsteinquadern. Eine schüchterne Erhöhung des Gebäudes über dem Mittelportal sollte jedenfalls einen Turm vorstellen. Er war ein bißchen unverhältnismäßig geraten. Aber lange, blitzende Fensterreihen machten einen freundlichen Eindruck, zumal das Gebäude von einem großen Garten umgeben war.

Die Wirtschaftsgebäude lagen hinter dem Schloß und bildeten mit diesem zusammen ein Geviert, welches einen großen Hof umschloß.

Wenige Minuten später fuhr der Wagen durch das Hoftor.

Mitten auf dem Hofe stand Frau von Rahnsdorf, eine stattliche, große Frau von ungefähr fünfzig Jahren. Sie trug ein knappanliegendes Reitkleid, welches sie ringsum hoch genug geschürzt hatte, daß man die festen, mit Erdspuren bedeckten Lederstiefel sehen konnte. Über dem graumelierten, noch sehr reichen Haar saß eine graue Mütze sehr fest auf dem Kopf. Die Reitpeitsche unter den Arm geklemmt, in dem frischen, energischen Gesicht ein gutmütiges Lächeln, stand sie neben einem alten Mann, offenbar einem ihrer Untergebenen, und klopfte ihm auf die Schulter.

»Nun geh nur nach Hause, alter Martin, und packe dein steifes Knie ordentlich in warme Decken. Die Salbe, die ich dir gab, schmierst du auf und reibst tüchtig ein, bis es brennt. Dann hilft's schon.«

Der Alte antwortete etwas. Sie lachte.

»Unsinn; wir werden schon ohne dich fertig. Hast dich doch lange Jahre für mich geplagt. Ich weiß doch, daß du kein Drückeberger bist. Nun marsch ins Bett mit dir, und nicht aufgestanden, bis es wieder gut ist. Verstanden?«

Der alte Mann humpelte davon.

Frau von Rahnsdorf pfiff laut auf einer kleinen silbernen Pfeife. Darauf erschien schnell ein junger Knecht, dem sie ihr Pferd übergab, das noch neben ihr stand. »Dalli, dalli, Friedrich. Hast du nicht gesehen, daß ich zurück bin? Hier nimm die Suleika, – sie muß mit warmen Tüchern abgerieben werden. Fix, mein Sohn, besinn' dich nicht lange.«

Der Knecht führte das Pferd fort, und Frau von Rahnsdorf wandte sich, um in das Haus zu gehen. Da hielt Heinrich den Wagen neben ihr an. Sie blickte auf. »Na, Heinrich? Weshalb machst du denn mitten auf dem Hof noch einmal Station. Weißt wohl nicht, wo dein Wagen hingehört?«

Heinrich sprang vom Bock und zeigte lachend über die Schulter. »Da is 'n Fräulein, die will zur gnädigen Frau.«

Erst jetzt bemerkte Frau von Rahnsdorf die blasse, zusammengekauerte Gestalt, die mit ängstlichen, scheuen Augen zu ihr herniedersah. Etwas in dieser überraschenden Erscheinung berührte sie eigentümlich. Mit raschen Schritten trat sie neben den Wagen. Ein paar klare, gütige, kluge Augen blickten in die scheuen, hilflosen der jungen Frau.

»Frau von Rahnsdorf?« fragte Lisa schüchtern.

»Das bin ich; und – lieber Himmel, – diese Augen müßt' ich doch kennen –!«

»Ich bin Lisa, Tante Anna,« sagte die junge Frau leise.

Das volle, frische Gesicht Frau von Rahnsdorfs verfärbte sich ein wenig. Ihre scharf zufassenden Augen ruhten einen Augenblick forschend auf dem blassen Gesicht. Dann streckte sie plötzlich die Arme aus und hob Lisa wie eine Feder vom Wagen herunter. Einen Augenblick hielt sie die zitternde Gestalt fest in den Armen, und in ihre Augen trat ein mütterlich zärtlicher Ausdruck.

»Das Kind, die Lisa!« rief sie so zärtlich, wie man es der resoluten Frau nicht zugetraut hätte.

»Hilf mir, – ich bin in großer Not und weiß nicht, wo ich mich hinwenden soll,« flüsterte Lisa an ihrem Halse. Frau von Rahnsdorf zog Lisas Arm durch den ihren.

»Na, Heinrich, – nun bring' mal dein Fuhrwerk an Ort und Stelle. Hast wohl Wurzeln gekriegt, mein Sohn?« sagte sie über die Schulter zu dem Knecht und steuerte mit Lisa auf das Haus zu.

Drinnen im behaglich durchwärmten Wohnzimmer drückte sie Lisa schweigend in einen Sessel, nahm ihr mit einer unsagbar zärtlichen Sorgfalt den Hut vom Kopfe und strich ihr liebevoll über die Wangen.

Lisas elendes, trauriges Aussehen, die verängsteten, hilflosen Augen erzählten der erfahrenen Frau eine ganze Geschichte.

Sie legte erst ihre Mütze ab. Dann trat sie an ein Schränkchen und schenkte ein Glas Portwein ein. Das führte sie Lisa an die Lippen. »Trink einen Schluck, du bist ja ganz durchfroren.« Lisa trank gehorsam, die Tante immer mit ihren großen Augen wie hilfeflehend ansehend.

Frau von Rahnsdorf küßte plötzlich in tiefer Rührung die armen, leidvollen Augen.

»Wo ist dein Mann, kleine Lisa?«

»Ich – ich weiß es nicht.«

Anna von Rahnsdorf nickte, als wollte sie sagen: »Also, das ist es. – Armes, kleines Schwälbchen, hast du dich verflogen?«

Große Tränen lösten sich bei dieser liebreichen Frage aus Lisas Augen. Es waren die ersten, seit ihr Glück zusammengebrochen war.

»Ich bin geflohen – heimlich. Ich wußte nicht, wohin. Dein Brief, – da kam ich zu dir. – Laß mich bei dir bleiben, Tante Anna.«

Es lag ein so ergreifender Ausdruck in diesen Worten, daß Frau von Rahnsdorf erschüttert war. Sie streichelte nur immer die blassen Wangen der jungen Frau. Lisas Tränen lösten sich und fielen auf die streichelnden Hände. »Schickst du mich nicht fort?« fragte Lisa angstvoll.

Ein weiches Lächeln erschien auf dem Gesicht der Tante.

»Nun faß doch erst mal ein bißchen Vertrauen. Sieh mich nicht so ängstlich an; da dreht sich einem ja das Herz im Leibe herum. Ich dich fortschicken? Da kennst du deine Tante Anna schlecht. Die schickt niemand fort, der in Not ist, am wenigsten den einzigen Menschen, der ihrem Herzen nahe steht. Sei ganz ruhig, – bei mir bist du in gutem Schutz. Freilich, so recht freuen kann ich mich nicht, daß du endlich zu mir kommst. Dazu siehst du mir zu elend und unglücklich aus. Aber jetzt will ich dir erst mal frischen Kaffee kochen lassen. Erst mußt du essen und trinken; nachher wird gebeichtet.«

Lisa hielt ihre Hand fest.

»Laß mich jetzt gleich alles sagen, Tante Anna; ich ertrag' es nicht länger,« schluchzte sie auf.

Frau von Rahnsdorf setzte sich zu ihr und umfaßte sie liebreich.

»Dann herunter damit von der Seele; sag mir alles, was geschehen ist. Ich glaube nicht, daß es einen Menschen gibt, der es besser mit dir meint, als ich.«

Lisa erzählte. Erst stockend und unsicher, dann in fieberhafter Hast, als müsse sie sich alle Qual von der Seele reden.

Sie erzählte, wie sie Ronald kennen und lieben gelernt hatte, wie er um sie geworben und wie sie glückselig an seine Liebe geglaubt hatte. Und dann die grauenvolle Enttäuschung, als sie sein Gespräch mit Mallwitz gehört. Ihr Entsetzen, ihre Angst schilderte sie, ihre Furcht, ihm nach dieser Enthüllung gegenüberstehen zu müssen, – und dann ihre eilige, kopflose Flucht.

Alles vertraute sie der Tante an, ihre ganze Seele breitete sie vor ihr aus; und Anna von Rahnsdorf lernte aus dieser Schilderung Lisa kennen, als wäre sie seit Jahren mit ihr zusammen. Sie übersah das ganze Leben des armen jungen Geschöpfes und erkannte mit scharfen Augen den Einfluß, den ihre Schwägerin auf sie ausgeübt hatte.

Als Lisa zu Ende war mit ihrer Beichte, sah ihr die Tante ernst und gütig in das Gesicht.

»Also ist es doch, wie ich ahnte. Hermines Hochmut wollte einen Baronstitel für dich haben; alles andere war Nebensache. Und dich armes Ding hat sie so geknechtet und unselbständig erzogen, daß du dir in solcher Lage nicht anders zu helfen weißt, als auszureißen. Das war unrecht von dir, Lisa. Du hättest deinem Mann ehrlich gegenübertreten müssen, hättest ihm sagen sollen, daß du alles gehört hättest und ihm seine Freiheit zurückgeben willst.«

Lisa schüttelte sich entsetzt bei diesem Gedanken.

»Das hätte ich nicht gekonnt, – nicht um die Welt! Versteh mich doch; ich schäme mich so namenlos, daß ich ihm gezeigt, wie lieb ich ihn habe.«

»Schämen? Dich schämen, daß dir Gott eine große, starke Liebe ins Herz gelegt hat?! Du arme, kleine Törin. Ist es ein Unrecht, einen Menschen zu lieben? Wie hat man dir durch die engherzige Erziehung den Sinn verwirrt! Stolz darfst du sein, daß du eine Liebe empfinden konntest, die dich dein eigenes Ich vergessen ließ. Ob dein Mann diese Liebe verdiente oder nicht, das kommt dabei gar nicht in Betracht. Frei hättest du ihm bekennen sollen: Ich liebe dich zu sehr, um dir eine Fessel zu sein, und bin zu stolz, ohne deine Liebe neben dir zu leben; laß uns in Frieden scheiden.« Lisa sah bang in ihr Gesicht.

»Ich hätte es nicht gekonnt. Ich liebe ihn zu sehr, um es ertragen zu können, ihn beschämt vor mir zu sehen.«

»Mein armes, verschüchtertes Vögelchen! Hast du denn nun auch bedacht, was deine Flucht für einen Skandal geben kann? Eine Braut, die ihrem eben angetrauten Gatten davonläuft! Du hast den Namen deines Mannes angenommen und damit die Verpflichtung, diesem Namen Ehre zu machen. Wenn man dir auch unrecht getan hat, so bist du dadurch nicht berechtigt, unrecht zu tun. Das hast du dir nicht überlegt.«

Die junge Frau schüttelte trostlos den Kopf.

»Gar nichts hab' ich überlegt und bedacht; ich bin fortgegangen, wie von einer fremden Macht getrieben, wußte nicht einmal, wohin. Und nun bin ich bei dir. Schilt mich nicht. Du bist gut und hast mich lieb, – das fühle ich. Ich hab' so großes Vertrauen zu dir. Hilf mir und schicke mich nicht fort. Wenn ich doch immer bei dir gewesen wäre!«

Die ganze Vereinsamung ihres wunden Herzens lag in diesen Worten. Anna von Rahnsdorf hatte feuchte Augen.

»Ja, Kind, – was hätte ich darum gegeben, wenn man dich mir gelassen hätte! So sehr hab' ich mich gesehnt nach einem jungen Wesen, dem ich hätte Mutter sein können. Einen andern Menschen hätte ich aus dir gemacht. Nicht so ein scheues, verschüchtertes, kraftloses Geschöpfchen. Siehst aus, als hättest du vor lauter Vornehmheit dich nicht sattessen dürfen. Nun hat der erste Lebenssturm dich niedergeworfen. Na, wenn ich diese Hermine noch einmal zwischen die Finger kriege! Mit meiner Friedfertigkeit ist es nämlich in solchen Fällen schlecht bestellt. Was hat sie aus deinem jungen Leben gemacht? Wie ein Schattenpflänzchen hast du unter ihrem Unfehlbarkeitsdünkel vegetiert. Wild könnte ich werden, wenn es nur noch was helfen könnte. Aber da quäle ich dich nun auch noch mit meinem Zorn. Wir haben anderes zu bedenken. Jedenfalls müssen wir sofort depeschieren, daß du hier bist. Vielleicht läßt sich noch unliebsames Aufsehen vermeiden. Meiner lieben Schwägerin gönne ich ja so einen kleinen Dämpfer; aber es trifft meinen Bruder auch mit. Er wird sich schwer um dich sorgen.«

Lisa nickte.

»Onkel Karl war immer so gut zu mir.«

»Ja, ja, Kind, dafür kenne ich ihn. Zu gut und zu schwach; sonst hätte er ihr anders die Zähne gezeigt. Also wir depeschieren, daß du hier bist, und bitten deinen Mann, hierherzukommen.«

Lisa fuhr auf und streckte abwehrend die Hände aus.

»Nein, nein! Das nicht, – nur das nicht!«

Frau von Rahnsdorf nahm ihre Hand und sah sie ernst an. »Klarheit muß hier vor allen Dingen geschaffen werden. Auch mußt du deinem Manne Gelegenheit geben, sich zu rechtfertigen. Vielleicht ist er weniger schuldig, als du denkst.«

»Ich beschuldige ihn nicht, Tante Anna. Im Grunde hat er mir nie gesagt, daß er mich liebt. Ich war nur so töricht, es zu glauben, weil er mich bat, seine Frau zu werden. Er war gut und aufmerksam mir gegenüber. Das hielt ich für Liebe, weil ich sonst so wenig Liebe erfahren habe. Ich klage ihn nicht an; er braucht sich also nicht zu rechtfertigen.«

»Aber die Verhältnisse müssen doch zwischen euch klargelegt werden. Er ist nach Recht und Gesetz dein Mann und kann verlangen, daß du zu ihm zurückkehrst.«

Lisa rang angstvoll die Hände.

»Nein, nein, – das darf er nicht.«

»Gewiß darf er. Ob er es tun wird, weiß ich nicht. Ich kenne ihn ja nicht.«

»Nein, er wird es nicht tun.«

»Nun, das müssen wir mit ihm besprechen. Jedenfalls werde ich ihn auffordern, hierherzukommen. Willst du durchaus nicht jetzt selbst mit ihm verhandeln, so werde ich das Nötige mit ihm beraten. Du kannst ja, solange er in Rahnsdorf ist, unsichtbar bleiben. Man muß doch schon der Leute wegen etwas tun. Bist du dann ruhiger und gefaßter, so kommt er noch einmal, und dann kannst du dich persönlich mit ihm auseinandersetzen. Ist es so recht?«

»Gute, liebe Tante, wenn du das tun wolltest?«

Frau von Rahnsdorf lächelte. »Wenn ich nicht mit Freuden viel mehr für dich tun wollte, dann sähe es windig aus mit meiner Liebe.«

»Tante Hermine wird doch nicht kommen und mich heimholen wollen?« sagte die junge Frau ängstlich.

Ihre Tante richtete sich kampfbereit auf.

»Laß sie nur kommen, – ei, sie soll sich wundern.«

»Du leidest es nicht, daß sie mich von Rahnsdorf fortholt?« bat Lisa, den Arm der Tante umfassend.

»Nein, du Angsthase. Ohne deinen Willen soll dich niemand von Rahnsdorf fortholen; das verspreche ich dir. Sei nur ruhig und vertraue mir. Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht, um dein verfahrenes Lebensschiff wieder flottzumachen. Du bist noch so jung. In deinem Alter vernarben noch Wunden und Schmerzen.«

»Liebe, gute Tante, wie ich dir dankbar bin!«

»Dann versuche, mich ein bißchen liebzuhaben, mein sturmverschlagenes Schwälbchen. Und jetzt wird erst mal vernünftig gefrühstückt und heißer Kaffee getrunken. Du bist so kalt und durchfroren; schließlich wirst du mir krank. Das könnte mir fehlen.«

Sie erhob sich und klingelte in einer eigentümlichen Weise dreimal.

»Das ist das Zeichen für Mamsell Birkner; die wirst du jetzt gleich kennen lernen,« sagte sie lächelnd. Gleich darauf erschien eine alte, weißhaarige Frau. Ihre derbe, knochige Gestalt war noch kraftvoll und aufrecht, trotzdem sie zwischen sechzig und siebzig Jahren sein mochte. Ein graues Kleid vom schlichtesten Schnitt wurde von einer großen, blütenweißen Schürze bedeckt, und auf dem weißen Haar saß eine schwarze Spitzenhaube. Das umfangreiche Schlüsselbund, welches an der Schürze befestigt war, verriet ihr Amt.

Ihre lebhaft blitzenden schwarzen Augen blickten entschieden humorvoll unter den weißen Brauen hervor. Sie sah mit kritischen Blicken auf die Füße ihrer Herrin.

»Aber, gnädige Frau, – da laufen Sie doch gar mit den Dreckstiefeln auf dem Teppich herum! Immer noch die feuchten Schuhe an den Füßen?!«

Frau von Rahnsdorf lachte.

»Siehst du, Kind, da hast du gleich eine Probe, wie mich die Birknern unter dem Pantoffel hat. Wenn dir jemand sagt, ich sei Herrin auf Rahnsdorf, dann glaube es nur nicht. Hier steht der Tyrann, gegen den auch ich wehrlos bin. Birknern, du hast dich wieder mal lieblich eingeführt.«

Frau von Rahnsdorf nannte all ihre Leute vom Inspektor bis zum Stalljungen du. Davon ging sie nicht ab; das brauchte sie zu ihrer Behaglichkeit.

Mamsell Birkner hatte inzwischen ein Paar warme Schuhe herbeigeholt. Ohne Umstände zog sie ihr die schmutzigen Stiefel aus.

»So, nun schleunigst in die warmen Schuhe; sonst kriegen wir den Schnupfen oder die Influenza. So ein Leichtsinn,« schalt sie unbeirrt.

»Wir kriegen nämlich alle Krankheiten aus lauter Sympathie gemeinschaftlich; wenigstens behauptet das die Birknern immer. Und aus lauter Angst, daß sie mit mir krank wird, plagt sie mich mit warmen Schuhen und Fliedertee. Aber nun komm mal her, Birknern. Nun sieh dir mal an, was uns der liebe Gott beschert hat. Das da ist meine Nichte, die Lisa, nach der ich mich immer so gesehnt habe. Guck dir mal das Persönchen an. Da haben wir was zu pflegen und zu hätscheln. Die kannst du tyrannisieren und rausfuttern, alter Drache; darauf verstehst du dich doch.«

Mamsell Birkner warf einen forschenden Blick auf die junge Frau.

»Das ist die junge Baronin? Und die bleibt hier? Wo ist denn ihr Mann?«

»Birknern, wer viel fragt, geht viel irre. Das erkläre ich dir ein andermal. Jetzt sollst du uns heißen Kaffee kochen, – aber erste Sorte, verstehst du?«

Mamsell Birkner beugte sich zu Lisa herab. Mit einer Zartheit, die man der alten, derben Frau gar nicht zugetraut hätte, hob sie das junge, blasse Gesicht zu sich empor.

»Kaffee? Das werd' ich bleiben lassen, gnädige Frau. Fieberkranken gibt man nicht auch noch starken Kaffee. Und die junge Frau hat Fieber.«

Frau von Rahnsdorf erschrak.

»Birknern, du willst mich wohl erschrecken?«

»Unsinn, gnädige Frau, – sehen Sie doch die Augen an. Und wie der Puls geht.«

Frau von Rahnsdorf beugte sich liebevoll über Lisa.

»Kind, mir scheint, die Birknern hat recht. Wie fühlst du dich? Hast du Schmerzen?«

»Müde bin ich, liebe Tante; und meine Glieder sind wie Blei, schon seit gestern abend.«

»Das Kind muß ins Bett, gnädige Frau; da gibt's gar nichts.«

»O weh, Lisa! Nun bist du der Birknern und ihrem Fliedertee verfallen,« suchte Frau von Rahnsdorf zu scherzen.

Lisa lächelte matt.

»Ich fürchte mich nicht vor ihr; sie hat gute Augen und eine sanfte Hand,« sagte sie, leise Mamsell Birkners Hand streichelnd.

Diese fuhr sich mit dem Schürzenzipfel schnell über die Augen. Etwas in Lisas Wesen rührte sie.

»Ich will gleich ein Zimmer zurechtmachen; ich denke, das neben Ihrem Schlafzimmer, gnädige Frau.«

»Ja, ja, Birknern, ist schon recht. Wenn du fertig bist, sagst du es.«

Mamsell Birkner lief wie eine Zwanzigjährige hinaus. Anna von Rahnsdorf streichelte besorgt Lisas Wangen.

»Mein armes Kleines, das war ein bißchen zu viel für dich. Nun müssen wir dich ein paar Tage in das Bett stecken. Da ruhst du dich schön aus. Die Birknern und ich, wir pflegen dich. Sie ist eine alte, treue Seele und war schon in Rahnsdorf, als ich als junge Frau hier einzog. Wir müssen sie ins Vertrauen ziehen, du brauchst nicht zu fürchten, daß sie es mißbraucht. So derb, wie sich anstellt, so zart und taktvoll kann sie sein.«

Lisa seufzte tief auf.

»Wie froh bin ich, daß ich bei dir bin.«

Eine halbe Stunde später lag Lisa in einem hellen, freundlichen Zimmer im Bett und verfiel gleich darauf in einen lethargischen Zustand.

Während Mamsell Birkner an ihrem Lager wachte, setzte Frau von Rahnsdorf eine Depesche auf an ihren Bruder, die sie sofort mit einem Boten zum Telegraphenamt schickte.

* * *

Zu derselben Zeit, da Lisa in Rahnsdorf eintraf, saß Ronald mit Mallwitz beim Frühstück, welches sich die Herren auf Ronalds Zimmer hatten bringen lassen. Ronald sah sehr blaß und ernst aus, und seine Augen verrieten, daß er in der Nacht nicht viel Schlaf gefunden hatte.

Nach dem Frühstück verließen die Herren in einer geschlossenen Droschke das Hotel. Ronald drückte dem Portier noch ein Extratrinkgeld in die Hand und sagte, sich zu einer scherzhaften Miene zwingend:

»Also nichts verraten, daß wir nicht schon gestern Abend abgereist sind, meine Frau und ich.«

Der Portier versicherte seine Verschwiegenheit. Unterwegs gab Mallwitz dem Kutscher eine andere Adresse an, da man ihn des Portiers wegen nach Villa Limbach dirigiert hatte. So änderte der Kutscher seinen Kurs und bog in die Nordstraße ein, wo er vor einem kleinen Hotel zweiten Ranges hielt.

Hier nahm Ronald unter dem Namen ›Stolle‹ Logis.

Vor zwölf Uhr wollte Mallwitz Limbachs nicht aufsuchen, denn erstens waren die Herrschaften spät nach Haus gekommen, und zweitens war um so eher eine Möglichkeit da, daß Lisa Nachricht gegeben, je später er nachfragte.

So saßen die beiden Freunde rauchend und nachdenklich in dem nüchternen kühlen Hotelzimmer. Nur was auf die Geheimhaltung der ganzen Sache Bezug hatte, wurde besprochen. – – – – –

Die Konsulin hatte sich, trotzdem sie sehr spät zu Bette gegangen war, sehr frühzeitig wieder erhoben. Auf dem Nachhauseweg vom Hotel hatte sie mit ihrem Manne eine Szene gehabt. Karl Limbach war zum erstenmal seit Jahren aus seinem passiven Verhalten herausgetreten, um seiner Gattin heftige Vorwürfe zu machen.

Lisas Flucht hatte ihn unsanft aus seiner Seelenruhe aufgescheucht; und als Hermine nun gar in Schmähungen ausbrach und Lisa ein abenteuerliches, undankbares Geschöpf nannte, da hatte er ihr ganz energisch Ruhe geboten.

»Abenteuerlich ist Lisa durchaus nicht veranlagt; und wenn sich das stille, bescheidene Kind zu solch einem Schritt entschließt, dann muß sie sich gar nicht anders zu helfen gewußt haben. Wer weiß, was dahinter steckt. Ich mache mir Vorwürfe, mich nicht mehr um sie gekümmert zu haben. Und du hast es nicht verstanden, ihr Vertrauen zu erringen; sonst müßtest du wissen, daß etwas in ihr vorgegangen ist. Ich habe immer gefunden, daß du sie zu sehr eingeschüchtert hast. Am Ende hast du gar einen Druck auf sie ausgeübt, daß sie sich nur gezwungen zu dieser Heirat entschloß.«

Hermine bebte vor Zorn über diese Worte; aber sie beherrschte sich, weil jeder Gefühlsausbruch in ihren Augen gewöhnlich war.

»Lächerlich,« sagte sie von oben herab. »Sie war ja so verliebt in Ronald, daß ich oft genug chokiert war über ihre zur Schau getragene Schwärmerei. Und wie notwendig es war, sie im Zaume zu halten, – du nennst es einschüchtern, – das beweist diese skandalöse Flucht. Wer weiß, was wir sonst noch alles an ihr erlebt hätten. Das hat man nun von seiner Aufopferung und Mühe! Mit Undank wird einem gelohnt. Hätte ich mich doch nie um sie gekümmert!«

»Das wäre vielleicht besser gewesen. Hättest Lisa meiner Schwester überlassen sollen. Dann hättest du alle Mühe gespart, und wir brauchten uns jetzt keine Vorwürfe zu machen, sie falsch erzogen zu haben.«

Der Hinweis auf ihre Schwägerin empörte Hermine noch viel mehr.

»Ich mache mir keine Vorwürfe,« sagte sie scharf. »Und ich bezweifle sehr, daß deine Schwester Lisa besser erzogen hätte.«

Danach hüllte sie sich in gekränktes Stillschweigen.

Auch beim Frühstück saß sie ihrem Manne mit eisiger, verkniffener Miene gegenüber. Aber heute nahm er gar keine Notiz davon. Mit hastigen Bewegungen sah er die Morgenpost durch, in der Hoffnung, daß Lisa geschrieben haben könnte.

Seine Zeitung las er nur mit halber Aufmerksamkeit; er fühlte sich reichlich unbehaglich. Dazu kam, daß ihm heute etwas fehlte, was er bisher kaum sonderlich beachtet hatte. Das waren allerlei kleine Aufmerksamkeiten, mit denen ihn sonst Lisa zu umgeben pflegte. Sie fehlte ihm. Das stille Kind mit dem schüchternen, freundlichen Lächeln war ihm mehr an das Herz gewachsen, als er sich eingestehen wollte. Ihre Gegenwart war doch wie ein blasser Sonnenstrahl in seine nüchterne Häuslichkeit gefallen und hatte ihn etwas entschädigt für das kalte, geschraubte Wesen seiner Frau.

Und nun war dieser Sonnenstrahl fort, – entflohen.

Auch er hatte das Empfinden gehabt, daß Lisa Ronald liebte und sich als seine Braut glücklich fühlte. Und Ronald war ein prächtiger Mensch. Daß er Lisa aus überschwenglicher Liebe gewählt hatte, bezweifelte Limbach. Er wußte, daß Ronald eine reiche Frau brauchte, ahnte auch, daß seine Gattin sehr bei dem Zustandekommen dieser Heirat beteiligt war, denn sie hatte vor Ronalds Auftauchen sich auffallend viel mit seiner Mutter beschäftigt. Trotzdem hatte er sein Jawort zu dieser Verbindung gern gegeben, weil er Ronald schätzte und Lisas Zukunft an seiner Seite für gesichert hielt. Ronald war kein leichtfertiger Schuldenmacher und Damenheld; und er hatte voll ernster Wärme versichert, alles zu tun, was in seiner Macht stand, um Lisa glücklich zu machen. Ob nicht doch irgend etwas zwischen den jungen Eheleuten vorgefallen war? Leider hatte er Ronald nicht selbst sprechen können, ohne Aufsehen zu erregen. Er mußte sich damit begnügen, was ihm seine Gattin mitteilte.

Wenn nur das Kind nicht zu Schaden kam, wenn man nur erst wüßte, wo sie sich hingewandt hatte!

Er ging nicht aus dem Hause, immer hoffend, daß Nachricht eintreffen würde. Die gekränkte Miene seiner Gattin ignorierte er vollständig. Wenn sie schmollte, suchte er sie sonst mit einem gutmütigen Scherz zu versöhnen, weil ihm eine gespannte Stimmung unbehaglich war. Heute achtete er gar nicht darauf; und das erbitterte Hermine immer mehr.

Außerdem war sie selbst in großer Unruhe. Ihr ganzes Sinnen und Denken war nur darauf gerichtet, einen Skandal zu vermeiden. Sie war empört über Lisa und außer sich, daß ihre vornehme Erziehung nichts gefruchtet hatte. Wie hätte sonst Lisa so etwas tun können? Wie gewöhnlich, wie unfein war ihr Benehmen! Da sah man wieder, daß wahre Vornehmheit im Blute begründet sein muß. Eine Geborene von Schlorndorf hätte nie solch einen Skandal veranlaßt.

Ohne daß ein Wort zwischen dem Ehepaar gewechselt wurde, vertiefte sich die gegenseitige Verstimmung. Die beiden Gatten wurden immer nervöser und lauschten auf jedes Geräusch von draußen.

Endlich, kurz vor zwölf Uhr, traf die Depesche von Frau von Rahnsdorf an ihren Bruder ein. Hastig riß er sie auf und las:

»Lisa in Rahnsdorf eingetroffen. Bittet um Verzeihung, bleibt vorläufig hier. Aufsehen hoffentlich zu vermeiden. Erwarte Baron Hechingen hier, um mit ihm zu verhandeln und Aufklärung zu geben. Ausführlicher Bericht folgt brieflich. Herzlichen Gruß. Deine Schwester Anna.«

Er atmete auf, wie von einer schweren Last befreit, und reichte seiner Frau die Depesche.

»Lisa ist in Rahnsdorf bei meiner Schwester,« sagte er erleichtert.

Die Konsulin lachte höhnisch auf. »Ah, – nun weiß ich, wem ich diesen Affront zu verdanken habe. Jetzt beginnt es bei mir zu dämmern. Deine Schwester hat die Hand im Spiele bei dieser Flucht.«

»Du bist wohl unklug geworden, Hermine? Wie soll Anna dazu kommen?«

»Das weiß ich auch nicht. Jedenfalls fällt mir jetzt wieder ein, daß Lisa kurz vor der kirchlichen Trauung einen Brief aus Rahnsdorf bekommen hat, den sie sich weigerte mir zu zeigen. Ah, – nun verstehe ich das. Deine Schwester hat Lisa zu dieser Flucht beredet, um mich zu kränken, mich zu ärgern. Sehr schön! Da siehst du, welch eine vortreffliche Schwester du hast.«

»Laß mir die Anna ungeschoren; die tut nichts, was unrecht ist. Dafür kenne ich sie. Mir ist unverständlich, wie du so eine Verdächtigung aussprechen kannst.«

»So, – sie tut nichts, was unrecht ist? Hat sie nicht schon heimtückisch gegen mich intrigiert, als ich noch deine Braut war?«

Karl sah mit eigentümlichem Blick in das erregte Gesicht seiner Frau. »Intrigiert? Nein, Anna fischt nie im Trüben. Offen heraus, in deiner Gegenwart hat sie mir gesagt, ich solle von dir lassen, weil du gefühlskalt und herzlos wärst.«

Die Konsulin lachte nervös.

»Das klingt beinahe, als wenn du ihr das glaubtest, – als wenn ich dich unglücklich gemacht hätte, wie sie es prophezeite. Ist unsere Ehe nicht stets eine harmonische und friedfertige gewesen?«

Ein leises, fast humoristisches Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Es bekam jedoch einen bitteren Ausdruck, als er sagte:

»Ja, ja, – wenn ich dir in allen Dingen den Willen tat, dann war immer Frieden zwischen uns. Ich habe dich um des lieben Friedens willen immer gewähren lassen, auch in bezug auf Lisa. Trotzdem habe ich immer gefühlt, daß du sie so gut tyrannisierst, wie mich. Nein, – fahre nur nicht gleich wieder entrüstet in die Höhe, laß mich mal aussprechen, was ich empfinde; es kommt ja selten genug vor. Ich hab' dir nicht weiter dreingeredet, daß du das Kind so verschüchtert hast. Deshalb ist es meine Schuld so gut als die deine, daß Lisa kein Vertrauen zu uns hatte. Was sie bewogen hat, zu entfliehen, werden wir ja nun erfahren. Jedenfalls hat sie keinen anderen Ausweg mehr gehabt. Daß sie auf der zurückgelassenen Karte Ronald seine Freiheit wiedergibt, deutet an, daß irgend etwas in ihrem Verhältnis zu ihm nicht stimmt. Irgend etwas muß geschehen sein, was sie bewog, vor einer Gemeinschaft mit ihm zu entfliehen. Meiner Schwester einen Vorwurf zu machen, ist ungerecht. Eine Schuld trifft vorläufig nur uns, weil wir das Kind nicht genügend behütet haben.«

»Ich fühle mich vollständig unschuldig,« sagte Hermine pikiert.

»Na, dann erhalte dir deinen Unfehlbarkeitsglauben. Jetzt wollen wir das beiseite lassen und vor allen Dingen sorgen, daß Skandal vermieden wird. Ronald muß sofort verständigt werden, wo Lisa ist. Er wird nicht weniger beunruhigt sein als wir. Und dann kann er gleich nach Rahnsdorf abreisen, damit er hier nicht etwa gesehen wird. Was weiter geschehen muß, wird sich dann finden. Vorläufig braucht kein Mensch zu wissen, daß die beiden nicht auf der Hochzeitsreise sind.«

»Du vergißt, daß Herr von Mallwitz eingeweiht ist.«

»Ronald wird schon wissen, daß er sich auf die Verschwiegenheit seines besten Freundes verlassen kann, sonst hätte er ihn nicht eingeweiht.«

In diesem Augenblick wurde Mallwitz gemeldet.

Limbach ging ihm entgegen und begrüßte ihn herzlich. Die Konsulin neigte mit süßsaurer Miene das Haupt und reichte ihm die Fingerspitzen zum Kuß. Nichts verriet, daß Ärger und Zorn in ihr tobten. Nur ihre eingekniffenen Lippen lagen noch fester als sonst aufeinander, und ihre Hautfarbe schimmerte ins Grünliche.

»Es ist gut, daß Sie kommen, Herr von Mallwitz,« sagte Limbach erregt.

»Ist Nachricht eingetroffen?« fragte dieser schnell.

Limbach reichte ihm das Telegramm. Mallwitz las und atmete auf.

»Gott sei Dank. Ronald wird ein Stein vom Herzen fallen, daß er seine Frau geborgen weiß. Er ist in einer fürchterlichen Verfassung.«

»Das glaub' ich wohl. Uns ging es nicht anders. Wollen Sie gleich meinen Wagen benutzen, um ihm Nachricht zu bringen? Ich fahre jetzt nach dem Konsulat und begleite Sie bis zum Hotel. Gern hätte ich selbst mit Ronald gesprochen; aber ich bin hier eine bekannte Persönlichkeit und will mich im Hotel nicht erst sehen lassen.«

»Ich nehme Ihr Anerbieten an, Herr Konsul. Wir können auf der gemeinsamen Fahrt noch einiges besprechen.«

»Gut. Entschuldigen Sie mich einige Minuten. Ich bin gleich fertig; inzwischen wird der Wagen angespannt.« –

Mallwitz blieb mit der Konsulin allein.

»Gnädige Frau, ich will gleich die Gelegenheit benützen, um mich von Ihnen zu verabschieden.«

»Wollen Sie schon abreisen, Herr von Mallwitz?«

»Heute abend, gnädige Frau. Für den Nachmittag habe ich jedoch eine Einladung zu Ronalds Angehörigen und werde wohl nicht noch einmal vorsprechen können.«

»Es bleibt dabei, daß Ronalds Mutter und Schwester vorläufig nichts erfahren?«

»Ja, so habe ich es mit meinem Freund besprochen.«

»Und in Ihrer Garnison erfährt man nichts. Nicht wahr, Herr von Mallwitz? Ihrer Diskretion können wir versichert sein?«

»Unbedingt, gnädige Frau, ich hoffe sehr, daß zwischen dem jungen Paar alles wieder in Ordnung kommt.« –

Als der Konsul fertig war, verabschiedeten sich die Herren sofort von der Konsulin. Karl Limbach machte keinen Versuch, seine Gattin wie sonst zu versöhnen, obwohl Mallwitz das Zimmer vor ihm verließ, um die Gatten beim Abschied nicht zu stören. Sie sah ihm starr nach, als er mit kurzem, kühlem Gruß hinausging. Zu sehr war sie gewöhnt, als Siegerin aus allen Zwistigkeiten hervorzugehen.

Als unten der Wagen davonrollte, schritt sie zum Fenster und sah ihm nach. Ein würgender Grimm saß ihr in der Kehle. Ihrem despotischen Gemüt erschien sein Verhalten wie eine unerhörte Demütigung. Daß sie dies alles ihrer Schwägerin zu danken hatte, davon ging sie nicht ab; und ihr Groll gegen Anna von Rahnsdorf verschärfte sich noch mehr. Zugleich wandte er sich auf Lisa, die ihr keine größere Kränkung hätte zufügen können, als daß sie nach Rahnsdorf floh.

* * *

Anna von Rahnsdorf war in schwerer Sorge um Lisa. Das Fieber hatte sich im Laufe des Nachmittags gesteigert, und gegen Abend klagte die junge Frau über Schmerzen in der Brust.

Nun mußte Heinrich schnell anspannen und den Doktor aus Porstendorf holen. Inzwischen versuchte Mamsell Birkner ihre bewährten Hausmittelchen an der Kranken.

Meist lag Lisa still und apathisch da, ohne sich zu rühren. Nur zuweilen warf sie sich von einer Seite zur anderen und sah wirr und ängstlich um sich. Erblickte sie dann das gütige, liebevolle Gesicht Tante Annas, oder Mamsell Birkners muntere schwarze Augen, dann lächelte sie matt und schloß beruhigt die ihren.

Zuerst glaubte Frau von Rahnsdorf, es mit einer leichten Erkältung zu tun zu haben, die durch die seelische Depression besondere Macht über den Körper der jungen Frau erhalten hatte. Als Heinrich fort war, stieg sie leise die Treppe hinauf und trat in Lisas Zimmer.

Mamsell Birkner erhob sich.

»Nun bleiben Sie man hier, gnädige Frau; ich muß jetzt die Abendmahlzeit für die Leute richten,« flüsterte sie.

Ihre Herrin nickte ihr zu.

»Geh nur, Birknern, und sorg', daß die Leute sich ruhig verhalten, hörst du? Und sobald Doktor Streubel kommt, bring ihn herauf.«

»Ja doch! – Und nicht unnötig sorgen, gnädige Frau. So junges Blut beißt sich schon durch. Wenn die Leute ihr Essen haben, komme ich wieder 'rauf, damit Sie in Ruhe essen können.«

»Ja, ja, alte gute Seele. Das Kind muß mir wieder gesund werden und klare Augen kriegen.«

»Ja freilich; wir päppeln sie schon wieder hoch. Na, und was sonst das arme Herzchen bedrückt, da wird ja auch ein Heilkraut dafür wachsen.«

Anna von Rahnsdorf klopfte der Alten die Schulter und schob sie zur Tür hinaus.

Leise ging sie dann hinüber an das Bett und legte eine frische kühle Kompresse auf Lisas fieberheiße Stirn.

Die junge Frau blickte auf.

»Du bist es, Tante Anna?«

»Ja, mein Schwälbchen. Willst du etwas? Hast du einen Wunsch?«

»Trinken. Ich habe Durst.«

Die Tante hielt ihr ein Glas Zitronenlimonade an die Lippen und stützte sie im Rücken.

Lisa trank einige Schlücke und legte sich wieder zurück.

»Hast du große Schmerzen, meine Lisa?«

»Der Kopf tut mir weh, – und hier – es sticht beim Atemholen.«

»Nun, bald kommt der Arzt; der wird deine Schmerzen lindern. Hast dich erkältet auf der langen Fahrt. Nun liege nur still. Wir wollen dich schon gesund pflegen.« Die junge Frau legte ihre Wange an die Hand der Tante.

»Gute, Liebe!«

In dem energischen Gesicht der Gutsherrin zuckte es wie verhaltene Rührung. Ihr war so wunderlich weich zumute, seit Lisa heute morgen eingetroffen war. Es war ihr ein seltsames Gefühl, sich um jemand bangen zu müssen, der ihrem Herzen nahestand. –

Eine Stunde später traf der Arzt ein. Er begrüßte Frau von Rahnsdorf wie ein guter alter Bekannter. Manchen Krankheitsfall hatte er schon in Rahnsdorf behandelt, und die Gutsherrin wußte, daß er ein tüchtiger, erfahrener Arzt war, der seine Sache wohl verstand. Sie saß gerade bei ihrem einsamen Abendessen und empfing ihn ohne Umstände. Sie klärte ihn mit einigen Worten auf über ihre Nichte, und verschwieg ihm als altem Vertrauten auch nicht, daß die junge Frau eine schwere seelische Aufregung hinter sich hatte. Doktor Streubel strich sich bedächtig den grauen starken Lippenbart und funkelte sie durch die Gläser seiner goldenen Brille mit seinen scharfen, klugen Augen verständnisvoll an.

Sie gingen zu Lisa hinauf. Der Arzt untersuchte sie ernsthaft und gründlich. Als er fertig war, legte er die Patientin, die sich still und geduldig alles gefallen ließ, in die Kissen zurück und nickte ihr lächelnd zu.

»So, junges Frauchen, jetzt sind wir fertig. Ein bißchen erkältet in der naßkalten Märzluft, ein bißchen leichtsinnig gewesen mit der neuen Frühjahrstoilette. Nun muß man dafür ein paar Tage im Bett liegen mit Fieber und allerlei Unbehagen. Aber nur nicht bange, – das wird bald überstanden sein, wenn wir sehr artig sind. Sehr artig, – verstanden?«

Lisa verzog die Lippen zu einem schwachen Lächeln. Was waren ihr die körperlichen Leiden gegen das, was ihre Seele belastete!

Der Arzt wandte sich an Mamsell Birkner, die am Fußende des Bettes stand.

»So, Mamsellchen, – nun können Sie mal einen Umschlag auf die schmerzende Brust legen. Sie wissen, wie wir es neulich bei dem alten Gustav gemacht haben: alle zwei Stunden wechseln, wenn die Kranke wach ist, – sonst schlafen lassen. Jetzt nehme ich Ihre gnädige Frau wieder mit hinunter; sie ist noch nicht fertig mit ihrem Abendessen.«

Mamsell nickte.

»Ja, ja, – und sehen Sie man drauf, daß die Gnädige auch ordentlich was ißt. Ich besorg' hier schon alles.«

»Dann will ich lieber zur Gesellschaft mitessen; da schmeckt es besser. Gute Nacht, junges Frauchen! Morgen früh bin ich wieder da und sehe nach, ob Sie artig waren.«

Er nickte ihr lächelnd zu und ging mit Frau von Rahnsdorf hinaus. Diese kannte ihren alten Hausarzt gut genug, um ihm anzumerken, daß er durchaus nicht so sorglos war, als er sich anstellte. Aber erst unten im Eßzimmer sah sie ihn fragend an.

»Nun, lieber Doktor?«

Er nickte.

»Ja, ja, Sie haben recht. So leicht ist die Sache nicht zu nehmen. Das ist keine harmlose Erkältung. Lungenentzündung, liebe gnädige Frau. Na, – nur nicht gleich erschrecken. Wenn das Frauchen auch kein Riese ist, – die Organe sind gesund; und junge Menschen haben Heilkraft in sich. Also hübsch hergesetzt und gegessen. Ich schreibe nur schnell ein Rezept, das gleich besorgt werden muß. Und dann leiste ich Ihnen Gesellschaft, hab' es Mamsell Birkner versprochen.«

Er schob die erschrockene Frau an den Tisch und ging hinüber in das Wohnzimmer, um das Rezept zu schreiben. Damit schickte der im Hause vertraute Arzt einen Boten zur Apotheke und kehrte dann zu Frau von Rahnsdorf zurück.

Während der Mahlzeit gab er ihr die nötigen Verhaltungsmaßregeln. Als er wieder fortgefahren war, stieg Anna von Rahnsdorf hinauf und schickte Mamsell zu Bett. Die wollte protestieren und durchaus die Nachtwache übernehmen; aber ihre Herrin ließ es nicht zu.

»Geh nur zu Bett, Birknern. Du kommst morgen dran. Heute laß mich bei dem Kinde. Ich könnte doch nicht schlafen. Und eine von uns beiden muß auf dem Posten sein.«

Die Mamsell sah ihre Herrin knurrig an.

»Na ja, – ich gehe. Sie setzen doch heute Ihren Kopf durch. Aber morgen bin ich an der Reihe.«

Nun war Anna von Rahnsdorf allein mit ihrer Kranken. So schwer ihr das Herz auch war, es erschien ihr doch wie ein Geschenk des Himmels, daß Lisa bei ihr war, daß sie jemand hatte, der ihrer Pflege und Sorgfalt bedurfte.

Wie ein hilfloses Kind lag die junge Frau in den Kissen. Sie war losgelöst von allem, nur auf die Hilfe der Tante angewiesen. Und in deren Herzen war ein großer Schatz unverbrauchten mütterlichen Empfindens. Dieser Schatz hatte brachgelegen all die Jahre. Ein eigenes Kind war ihr versagt geblieben, ihr, die es stets als das höchste Glück betrachtet hatte, Mutter sein zu dürfen! Trotz aller Sorge war sie beglückt, daß sie an dem Kinde ihres verstorbenen Bruders nun Mutterstelle vertreten konnte, wie sie es sich so lange schon gewünscht hatte.

Es waren seltsam bewegende, feierliche Stunden, die sie in dieser Nacht verlebte. So vieles wurde wach und lebendig in ihr, was im nüchternen Gleichmaß ihrer Tage längst gestorben schien.

Mit liebevollem Ausdruck sah sie in das schmale, apathische Gesichtchen. Lisa lag teilnahmlos mit geschlossenen Augen; aber sie schlief nicht. Zuweilen stieß sie flüsternd halbwirre Worte aus, und einmal schrie sie laut auf und rief wie in jäher Angst nach Ronald. In einem Wimmern erstarb sein Name.

Zärtlich erneute ihre Tante die kühlen Kompressen auf der fieberheißen Stirn. Das arme Kind! Was mochte sie gelitten haben seit gestern, in welcher trostlosen Verfassung die Reise zurückgelegt haben!

Sie gelobte sich selbst, alles zu tun, um Lisa wieder gesund zu machen an Leib und Seele. Vielleicht gelang es ihr, gutzumachen, was andere an dem armen Kinde gesündigt hatten.

Am nächsten Morgen trafen zwei Telegramme ein. Das eine war von Karl Limbach und lautete:

»Bin froh, daß ich Lisa in deinem Schutz weiß. Alles Aufsehen ist vermieden worden. Hechingen ist verständigt und wird bald dort eintreffen. Gib mir ausführlich Nachricht. Herzlichen Gruß. Dein Bruder Karl.«

Das andere Telegramm meldete kurz Ronalds Ankunft mit dem Mittagszug.

Am Morgen war Lisas Fieber naturgemäß etwas gefallen. Sie sah etwas klarer aus den Augen.

»Ist das Nachricht von zu Haus?« fragte sie, als sie die Depeschen in der Hand der Tante sah.

»Ja, Kind.«

»Sind sie – – sehr bös?«

»Nein, nein; sei ganz ruhig. Es ist auch gelungen, jedes Aufsehen zu vermeiden.«

Lisa faltete die Hände.

»Gott sei Dank – so wird kein Schatten auf – seinen Namen fallen,« sagte sie leise.

Ihre Tante lächelte ihr zärtlich zu.

»Gelt, – das hat dich gequält?«

»Sehr.«

»Und nun bist du viel ruhiger, nicht wahr?«

»Ja; aber sag mir noch eins: kommt Ronald?«

Ihre Tante überlegte.

»Du sollst dich nicht aufregen, an nichts denken, als daß du gesund werden sollst.«

»Sag' mir nur noch das,« bettelte Lisa. »Ich werde ruhiger sein, wenn ich weiß, daß er kommt und alles mit dir bespricht.«

»Nun ja denn, – er kommt.«

»Wann?«

Frau von Rahnsdorf dachte, daß es besser sei, wenn Lisa die Zeit nicht wußte. Sie würde sonst unruhig sein. »Das sage ich dir nicht, Lisa. In den nächsten Tagen kommt er. Erst wenn ich alles mit ihm besprochen habe, sollst du es erfahren. Vorher regt dich die Erwartung zu sehr auf.«

»Aber versprich mir, daß du ihn nicht kränken willst und ihm keine Vorwürfe machst.«

»Kind, deine Tante Anna kennt ein ganzes Stück Leben mehr als du. Die ist nicht so schnell mit Vorwürfen bei der Hand. Und kränken? Ich werde doch niemand kränken, den du liebhast!«

Lisas Augen feuchteten sich.

»Ach, – wie gut und lieb du bist.«

»Ei, da bist du anderer Ansicht wie zum Beispiel deine Tante Hermine, mein Schwälbchen.«

»Die kennt dich nicht.«

Anna von Rahnsdorf lachte gerührt.

»Und du welterfahrenes Baby willst mich besser kennen, trotzdem wir uns im Grunde erst seit gestern nahegetreten sind?«

»Ich fühle es, Tante Anna.«

»So? Nun, jetzt sprechen wir aber nicht mehr, jetzt schweigst du still.« –

Als der Arzt kam, war er mit Lisas Zustand nicht unzufrieden. Die Krankheit schien ihren normalen Verlauf zu nehmen. Es war Hoffnung vorhanden, daß die Patientin wieder gesund würde. Immerhin war die Gefahr nicht eher beseitigt, als bis das Fieber vorüber war; und bis dahin konnten noch lange Tage und Nächte vergehen. Der Arzt war zu gewissenhaft, um die Sache leichter zu nehmen als sie war. Aber seine ruhige Bestimmtheit flößte Frau von Rahnsdorf wie schon oft das größte Vertrauen ein. Nach Tisch schickte diese ihren Wagen nach Porstendorf zur Station, um Ronald abholen zu lassen. Sie verständigte Mamsell Birkner davon, daß Lisa um die Ankunft ihres Mannes nicht wissen sollte. Sie hatte die alte treue Seele eingeweiht, so viel es nötig war, und Mamsells blanke schwarze Augen blickten seitdem voll Mitleid in das junge Gesicht der Kranken.

Kurze Zeit, bevor Ronald in Rahnsdorf eintreffen konnte, trat Mamsell in das Krankenzimmer, wo Anna von Rahnsdorf am Bett ihrer Nichte saß.

»Gnädige Frau, der Inspektor hat vom Felde hereingeschickt. Sie müßten unbedingt kommen, um die neue Saatmaschine zu besichtigen. Nun gehen Sie man. Ich hab' schon bestellt, daß das Pferd gesattelt wird. Sie können ganz unbesorgt hinausreiten. – Ich bleib' bei unserem jungen Frauchen.«

Ihre Herrin erhob sich.

»Ja, Kindchen, da hilft alles nichts; ich muß dich eine Stunde allein lassen mit der Birknern. Es können auch zwei werden.«

Lisa streichelte ihre Hand.

»Geh nur, Tantchen. Es tut mir so leid, daß ich deine Zeit in Anspruch nehme.«

»Mir tut das gar nicht leid, Lisa. Und ich gehe auch ganz unbesorgt. Meine alte treue Birknern sorgt mindestens ebensogut für dich, als ich es tue. Also adieu für eine Weile! Sei recht artig, versuch' zu schlafen, ja?«

»Ich will mir Mühe geben.«

Anna von Rahnsdorf neigte sich liebevoll herab und küßte Lisa auf die Wangen. Dann klopfte sie Mamsell Birkner auf die Schulter und blickte ihr bedeutungsvoll in die Augen, ehe sie hinausging.

Unten war weder ein Reitpferd gesattelt, noch machte die Herrin von Rahnsdorf Anstalten, auszureiten. Sie ging in ihr Wohnzimmer und setzte sich still wartend an das Fenster. In ihren Gedanken legte sie sich zurecht, was sie Ronald Hechingen sagen mußte. Sie war sehr gespannt, was er für einen Eindruck auf sie machen würde. Als sie den Wagen auftauchen sah, erhob sie sich und ging mechanisch, wie ordnend, in dem schönen, behaglichen Zimmer mit den alten dunklen Eichenmöbeln umher. Es war eine leichte Unruhe in ihrem Wesen, weil sie fühlte, daß von ihrem Verhalten und von der bevorstehenden Unterredung viel für Lisas Zukunft abhängen würde.

Der Wagen hielt draußen vor dem Portal. Sie konnte es nicht erwarten, Ronald zu sehen, und trat an das Fenster, um durch die Spitzenstores verstohlen hinauszublicken. Sie sah einen schlanken jungen Mann, der ein elegantes Zivil trug. Das Gesicht konnte sie nicht erkennen, weil er es abwandte und mit dem alten Diener sprach, der ihm den Wagenschlag geöffnet hatte.

Wenige Augenblicke später ließ ihn der Diener in das Zimmer treten. Frau von Rahnsdorf wandte sich um und sah ihm entgegen. Er verneigte sich grüßend, und dann ruhten die beiden Augenpaare eine Weile schweigend und forschend ineinander.

»Seien Sie mir willkommen, Baron Hechingen,« sagte die Gutsherrin und reichte Ronald die Hand. Er führte diese an die Lippen und sah erregt in ihr Gesicht.

»Ich danke Ihnen ergebenst, daß Sie mir gestattet haben, hierherzukommen, verehrte gnädige Frau.« Frau von Rahnsdorf blickte forschend in sein blasses, charaktervolles Gesicht. Sie merkte sehr wohl, wie unruhig und erregt er war. Der erste Eindruck ist oft bei einer neuen Bekanntschaft der maßgebende, und Anna von Rahnsdorf empfand ganz deutlich, daß Ronald ihr sympathisch war.

Sie bat ihn in ihrer ruhigen, bestimmten Weise, Platz zu nehmen.

»Die Dankbarkeit dürfte gegenseitig sein, Herr Baron. Ich bin froh, daß Sie meiner Aufforderung so schnell Folge leisteten.«

»Die Unruhe trieb mich her, gnädige Frau. Wie soll ich Ihnen danken, daß Sie meine Frau bei sich aufgenommen haben!«

»Sie ist doch meine Nichte, Herr Baron, – und mir lieb und teuer wie ein Kind, trotzdem uns die Verhältnisse bisher einander fremd sein ließen.«

Es arbeitete in seinem Gesicht.

»Wenn Sie wüßten, welche furchtbare Sorge mir vom Herzen genommen wurde, als ich Ihr Telegramm in den Händen hielt!« stieß er erregt hervor.

Sie sah ihn voll Teilnahme an. Seine Worte verrieten ehrliches Empfinden. »Ich glaube Ihnen, daß Sie in großer Sorge waren. Lisa hat sich das nicht überlegt; sie ist wie ein furchtsames Kind davongelaufen und erschrak sehr, als ich sie darauf aufmerksam machte, was für einen Skandal sie durch ihre Flucht heraufbeschwören konnte. Meines Bruders Telegramm hat uns darüber beruhigt. Wie ist es Ihnen gelungen, Aufsehen zu vermeiden?«

Ronald erzählte, was nach Lisas Flucht geschehen war, in kurzen Worten; aber dann stand er auf und trat vor Frau von Rahnsdorf hin.

»Verzeihen Sie mir, verehrte gnädige Frau, – aber ich kann die Unruhe nicht länger bezwingen. Wo ist Lisa? Bitte, gestatten Sie mir, daß ich mit ihr spreche. Ich weiß nicht, ob Ihnen meine Frau die Ursache ihrer Flucht verraten hat. Ich bezweifle es, da Sie mich so gütig aufgenommen haben. Aber ich weiß, daß ich allein schuldig bin an allem, was geschehen ist, und es drängt mich, Lisas Verzeihung zu erflehen. Bitte, lassen Sie mich zu ihr.«

Es lag so viel ehrlicher Schmerz, so viel Qual und Sorge in seinen Worten, daß sie sich ergriffen fühlte. Wenn dieser Mann auch um äußerer Vorteile willen Lisas Gatte geworden war, so zeigte doch sein Verhalten jetzt, daß er durchaus nicht leichtsinnig und herzlos war. Wer konnte wissen, was ihn alles zu dieser Verbindung gedrängt hatte? Sie sah ihn fast mitleidig an.

»Leider kann ich Ihren Wunsch nicht erfüllen. Lisa ist krank und liegt im Fieber; sie darf nicht beunruhigt werden.«

Ronald stöhnte auf.

»Auch das noch! Sicher ist sie durch die furchtbare Aufregung erkrankt.«

»Sie hat sich erkältet. Vielleicht steckte die Krankheit schon in ihrem Körper und ist durch die nächtliche Irrfahrt und Aufregung zum Durchbruch gekommen. Jedenfalls hat der Arzt Lungenentzündung konstatiert.«

Ronald zuckte zusammen und trat an das Fenster, um sein Gesicht abzuwenden. Nach einer Weile wandte er sich mit einer Entschuldigung wieder in das Zimmer zurück. Sie sah, wie es in seinen Zügen zuckte und arbeitete.

»So kann ich sie nicht sehen?« fragte er noch einmal tonlos.

»Nein, Herr Baron. Ich muß Ihnen sagen, daß Lisa mich gebeten hat, alles Nötige mit Ihnen zu besprechen. Sie würde sich, auch wenn sie gesund wäre, einem Wiedersehen mit Ihnen entzogen haben.«

»So unversöhnlich grollt sie mir!«

Frau von Rahnsdorf schüttelte den Kopf.

»Nein, dazu ist sie gar nicht imstande; dazu liebt Sie das Kind viel zu sehr.«

Er seufzte.

»Und doch wollte sie mich nicht sehen?«

»Weil sie glaubt, sich ihrer Liebe schämen zu müssen, – und weil sie noch mehr fürchtet, Sie zu beschämen. Wissen Sie denn, weshalb Lisa geflohen ist?«

»Ich fürchte, es zu wissen. Ein Zufall enthüllte mir, daß Lisa sich in einem Nebenzimmer befand, als ich mit meinem Freunde Mallwitz eine Unterredung hatte. Diese Unterredung, die nicht für ihre Ohren bestimmt war, muß sie unglücklicherweise gehört haben. Nur so kann ich mir alles erklären.«

»Sie haben recht vermutet. Lisa hat mir alles anvertraut. Als sie hörte, daß sie von Ihnen nicht geliebt wurde, daß Sie sich nach Ihrer Freiheit zurücksehnten, da ist sie in ihrer blinden Angst und törichten Scham davongelaufen, ohne zu wissen, wohin. Einem Zufall ist es zu danken, daß sie zu mir kam. Ich glaube, sie ist erst hier bei mir zur Erkenntnis dessen gekommen, was sie getan hat. Jedenfalls erschrak sie sehr, als ich ihr klarmachte, daß sie unrecht getan und die Pflicht gegen den Namen, den sie jetzt trägt, außer acht gelassen hat. Sie ist nun sehr erleichtert, daß alles vertuscht werden konnte; und ich bin es mit ihr. Die Welt richtet in solchen Fällen meist nur die Frau.«

»Und doch bin ich allein der Schuldige. Ich verstehe, daß Lisa nicht anders handeln konnte, und würde alles auf mich genommen haben, um ihren Ruf zu schützen.«

Sie sah ihn eine Weile nachdenklich an, dann sagte sie gütig:

»Vielleicht liegt die Schuld doch nicht allein bei Ihnen. Wenn ich nicht irre, spielen die Verhältnisse eine große Rolle in dieser Angelegenheit. Man ist nicht immer Herr seiner Handlungen, und Sie machen mir so gar nicht den Eindruck eines gewissenlosen Mitgiftjägers.«

Ronalds Stirn rötete sich. Er ergriff ihre Hand und führte sie in tiefer Bewegung an seine Lippen.

»Verehrte, gnädige Frau, Ihre Auffassung der ganzen Angelegenheit macht mich auf ewig zu Ihrem Schuldner. Ich kam hierher in der Voraussetzung, mitleidslos von Ihnen verurteilt zu werden, und hätte es ruhig ertragen müssen.«

»So schnell bin ich nicht bei der Hand mit dem Verurteilen. Wenn man die Welt über ein halbes Jahrhundert kennt, wird man nachsichtig. Jedenfalls habe ich mir abgewöhnt, zu verurteilen, ehe ich Gelegenheit zur Rechtfertigung gegeben habe. Deshalb habe ich auch Lisa zugeredet, Sie erst anzuhören.«

Er sah gespannt zu ihr hinüber.

»Aber sie weigert sich trotzdem, mir Gelegenheit zu geben, einen Versuch meiner Rechtfertigung zu machen?«

»Sie behauptet, es bedürfe dessen nicht in ihren Augen; sie macht Ihnen keinen Vorwurf und trägt Ihnen nichts nach. Nur mit sich selbst geht sie zu scharf ins Gericht. Sie schilt sich eine Törin, daß sie sich eingebildet hat, von Ihnen geliebt zu werden, trotzdem Sie zu ihr nie von Liebe gesprochen haben.«

»Aber mein ganzes Verhalten hat ihr diesen Glauben eingeflößt. Wenn sie in ihrer Großherzigkeit mich auch nicht anklagt, so tue ich es selbst um so mehr. In ihrer Herzensreinheit mußte sie annehmen, daß ich sie liebte, weil ich um sie warb. Liebe, verehrte gnädige Frau, Sie sehen mich mit so milden, verstehenden Augen an! Glauben Sie mir, erst jetzt ist es mir so ganz klar geworden, welch ein wertvoller Mensch Lisa ist. Erst jetzt weiß ich, was ich an ihr besessen habe, nun sie mir verloren ist. Ihre stille, starke Liebe, ihr bedingungsloses Vertrauen, ihre schlichte Größe, – solange sie mir gehörte, erkannte ich den Wert alles dessen nicht. Wie eine Binde ist es mir von den Augen gefallen. Mit einem Male sah ich, was ich mir verscherzt habe. Verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen lästig falle mit der Schilderung meines Empfindens. Aber Ihr ganzes Wesen flößt mir ein unbedingtes Vertrauen ein, und ich betrachte Sie als Mittlerin zwischen Lisa und mir. Was ich ihr nicht sagen darf, möchte ich Ihnen anvertrauen, damit Sie bei ihr für mich sprechen. Darf ich Ihnen sagen, wie alles gekommen ist, wie ich Lisas Verlobter und dann ihr Gatte wurde?«

»Man soll ein Vertrauen, das man uns entgegenbringt, nicht zurückweisen. Gern will ich Sie anhören, Herr Baron, schon um Lisas willen. Ich hoffe, ihr dann sagen zu können, daß sie ihre Liebe keinem Unwürdigen geschenkt hat. Es ist für eine Frau, die liebt, immer schmerzlich, einen Makel zu finden an dem Manne, dem ihr Herz gehört. Gerade weil sie auch meist weiterlieben muß, wo sie nicht mehr recht achten kann, schmerzt die Erkenntnis des Unwerts einer geliebten Person um so mehr. Wie ich sie kenne, wird sie selbst vor ihrem eigenen Herzen Ihr bester Verteidiger sein; aber es wird sie trösten, auch von mir zu hören, daß Sie sich vor mir gerechtfertigt haben. Erst müssen Sie aber einen Imbiß nehmen. Verzeihen Sie, daß ich meinen Pflichten als Wirtin jetzt erst nachkomme. Sie werden hungrig sein.«

Ronald wehrte ab.

»Nein, nein, gnädige Frau, dessen bedarf es nicht. Ich kann jetzt nicht essen. Bitte, hören Sie mich erst an.«

Frau von Rahnsdorf nahm wieder Platz.

»Wenn Sie nicht anders wollen, – ich bin bereit.«

Ronald sah eine Weile stumm vor sich hin; dann begann er zu erzählen. Alles beichtete er der aufmerksam lauschenden Frau. Wie er dazu gekommen war, um Lisa zu werben, wie es ihn gequält hatte, als er erkannte, daß sie ihn liebte und an seine Liebe glaubte. Er verschwieg ihr auch nicht, daß er eine Jugendliebe hatte aufgeben müssen. Wie er sich dann gezwungen hatte, Lisa liebzugewinnen, und vielleicht gerade durch diesen Zwang in eine gedrückte Stimmung getrieben wurde und dabei doch von Tag zu Tag mehr empfand, daß Lisa ein wertvoller, tiefangelegter Charakter war. Wie zum Trotz hätte er sich gegen diese Einsicht gewehrt und allerlei Äußerlichkeiten bei ihr bemängelt. Je höher seine Braut in seiner Achtung gestiegen, desto niedriger sei er sich selbst erschienen. Manchmal sei er nahe daran gewesen, ihr alles zu gestehen; aber wenn sie ihn dann mit ihren glückstrahlenden Augen so vertrauend angesehen habe, dann sei es ihm grausam erschienen, ihr die Illusion ihres Glückes zu rauben.

Alles sprach er sich vom Herzen und bedauerte tief, daß er sich in jener unglückseligen Stunde hatte hinreißen lassen, von seinen Empfindungen zu sprechen, so daß Lisa in grausamer Art erfuhr, was ihr verschwiegen worden war. Zum Schluß seiner Beichte, die schlicht und ehrlich alles ausdrückte, was er empfand, sagte er schmerzlich:

»Wenn ich nur ungeschehen machen könnte, daß Lisa jene Unterredung gehört hat!«

Frau von Rahnsdorf sah ihn prüfend an. Seine Worte trugen den Stempel der Wahrheit. Sie richtete sich auf und sagte ernst:

»Ungeschehen machen? Wünschen Sie das wirklich? Durch diesen unglückseligen Zufall haben Sie doch Ihre ersehnte Freiheit erlangt.«

Ronald fuhr sich über die Stirn. Ein schwaches Lächeln umspielte seinen Mund, und er sah unsicher in ihr ernstes, gütiges Gesicht.

»Es ist mir mit der Erfüllung dieses Wunsches ergangen, wie es meist der Fall ist. Das Erwünschte verliert an Wert, wenn man es besitzt. Ich weiß nichts mehr mit dieser Freiheit anzufangen. Und jetzt, da der Zwang zu heucheln von mir genommen ist, begreife ich nicht mehr, daß es mir so schwer geworden ist, Lisa liebzugewinnen. Ich habe das Gefühl, daß mir etwas Kostbares unwiederbringlich verlorengegangen ist, wenn ich daran denke, wie liebevoll Lisa mir entgegengekommen. Ich möchte diese Liebe zurückgewinnen, – sie ist in aller Stille fest mit meinem Wesen verwachsen. Mir scheint jetzt ein Leben ohne Lisa unerträglich kalt und leer.«

Frau von Rahnsdorf sah noch immer sehr nachdenklich aus. Ein stilles Leuchten lag in ihrem Blick. Aus Ronalds Worten erwachte ihr eine Hoffnung, daß doch noch alles gut werden konnte zwischen dem jungen Paare. Wenn sie dazu helfen konnte! Wenn es ihr gelang, Lisas Glück, welches schon verloren schien, wieder zurückzuerobern! – Da saß ein junger Mensch, der ihr einen Einblick gestattet hatte in die Tiefen seiner Seele. Sie hatte erkannt, daß darinnen widerspruchsvolle Gefühle um die Herrschaft rangen. Und oben lag sein junges Weib in tiefster Herzensnot und rang mit ihrer Liebe und ihrem Schmerz. Beide waren keine oberflächlich angelegten Naturen, beide trotz allem einander würdig. Ob sich nicht doch eine Brücke schlagen ließ von einem Herzen zum andern? –

Sie sah Ronald forschend an.

»Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Herr Baron. Wenn Lisa das alles gehört hätte, – vielleicht wäre sie dann nicht mehr so traurig und hoffnungslos.«

»Wollen Sie nicht Ihre Güte krönen und Lisa alles sagen, gnädige Frau?«

Sie lächelte.

»Ich glaube nicht, daß das so wirksam ist, als wenn Sie es ihr selber sagen. Allerdings, so schrankenlos vertrauende Naturen sind schwer zu überzeugen, wenn sie einmal getäuscht wurden.«

»Und wenn sie sich weigert, mich zu sehen, wie soll ich ihr das alles sagen?«

»Vielleicht entschließt sie sich später zu einem Wiedersehen, wenn sie erst ruhiger geworden ist, und vor allen Dingen gesund. Jetzt wollen wir erst einmal das Zunächstliegende besprechen. Was gedenken Sie zu tun?«

Ronald atmete gepreßt.

»Ich weiß es nicht. Noch nie in meinem Leben war ich so unfähig, einen Entschluß zu fassen. Auch habe ich kein Recht, Lisa vorzugreifen. Sie muß bestimmen, was geschehen soll.«

»Dazu ist sie jetzt außerstande. Sie hat mir Vollmacht gegeben, alles mit Ihnen zu ordnen. Haben Sie etwas dagegen einzuwenden?«

»Da ich mit Lisa selbst nicht sprechen kann, wüßte ich niemand, dem ich unser Geschick lieber in die Hände legte, als Ihnen.«

»Ihr Vertrauen freut mich; ich hoffe, es zu rechtfertigen. Vor allem möchte ich Sie fragen: Wünschen Sie wirklich, daß Ihre Ehe mit Lisa fortbesteht?«

Ronald sah sie ernst und offen an.

»Wenn Lisa einwilligt – ja, ich wünsche es von Herzen.«

»Trotz Ihrer Liebe zu jener anderen jungen Dame?«

»Die ist überwunden, gnädige Frau. Sie ist in diesen schreckensvollen Tagen wie wesenlos von mir abgefallen.«

»Das ist wohl kaum nachhaltig. Vielleicht scheint es Ihnen jetzt nur so.«

Er schüttelte bestimmt den Kopf.

»Als ich gestern abend meinen Freund Mallwitz noch einmal sprach, der von einem Besuch von meiner Mutter und Schwester kam, erfuhr ich von ihm, daß meine Schwester eine Verlobungsanzeige dieser Dame erhalten hat. Sie ist mit ihr befreundet. Ich versichere Ihnen, gnädige Frau, daß es mich kaum berührte, daß dadurch nicht einen Augenblick meine Gedanken von Lisa abgezogen wurden.«

Frau von Rahnsdorf stützte den Kopf in die Hand; ihre Augen glänzten, als hätte sie eine freudige Botschaft erhalten.

»Also Sie wünschen keine Scheidung? Wie aber nun, wenn Lisa dieselbe verlangt – oder wenn sie sich wenigstens weigert, zu Ihnen zurückzukehren?«

»Ihren Bestimmungen müßte ich mich fügen, einen Zwang wollte und könnte ich nicht auf sie ausüben. Aber ich würde nicht ruhen, bis ich sie gesehen und sie von meinen veränderten Gefühlen in Kenntnis gesetzt habe. Dann mag sie entscheiden.«

Sie sah ihn scharf an.

»Sind Ihre Gefühle wirklich so verändert, reden Sie sich das nicht nur ein?«

Er hielt ihren Blick aus, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Ich habe Ihnen vorhin ganz offen und ohne Rückhalt meinen Seelenzustand geschildert.«

Anna von Rahnsdorf glaubte ihm. Es war ihr verständlich, daß Lisas Flucht ihn plötzlich umgewandelt hatte. Vielleicht war sein Herz schon vorher gar nicht mehr so unbeteiligt gewesen. Das Verständnis, welches er Lisas Wesen trotz allem entgegengebracht hatte, verriet alles andere eher, als Gleichgültigkeit. Des Menschen Herz ist wandelbar. Vielleicht hatte Lisas tiefe, innige Liebe doch einen Widerhall in seinem Herzen gefunden, und er wehrte sich nur dagegen, weil er sich selbst nicht verstand. Und nun hatte sie sich ihm durch die Flucht entzogen, sie, die sich ihm bisher so schrankenlos untergeordnet hatte. Ihr Besitz war ihm jetzt, da er gefährdet war, plötzlich wertvoll geworden. Sollte es nicht möglich sein, daß aus dem allem sich eine echte, wahre Liebe entwickelte? Was ihm an Lisa mißfallen hatte, waren Äußerlichkeiten, die allerdings bei einem Manne viel gelten. Aber ein geschmackloser Anzug läßt sich durch einen geschmackvollen ersetzen, eine unkleidsame Frisur ist schnell in eine kleidsame verwandelt, wenn man so schönes, reiches Haar hat, wie es seine Frau besaß. Und ein schüchternes, scheues Wesen ist zu vertreiben, wenn der Druck, der darauf lastet, aufhört und der Wille gestärkt wird. Lisa war durchaus nicht häßlich, selbst nicht in dem bejammernswerten Zustand, in dem sie sich jetzt befand. Sie hatte klare Züge, schöne große Augen, einen gut geschnittenen Mund. Ihre Gestalt war freilich ein wenig zu schlank, zu unentwickelt, der Teint zu matt und farblos. Aber das war wohl eine Folge falscher Ernährung und ungesunder Stadtluft. Ei, wozu gab es in Rahnsdorf die beste Milch, frische Eier und gute, ozonreiche Waldluft! Nur erst gesund mußte das Kind werden, dann wollte sie eine Kur vornehmen mit der kleinen scheuen Frau. Einen ganz anderen Menschen wollte sie aus ihr machen und dann abwarten, ob Ronald Hechingen diese neue Lisa nicht sehr begehrenswert fand. Aber dazu brauchte es Zeit und – – –

Ronald hatte eine Bewegung gemacht, und Frau von Rahnsdorf fuhr aus ihren Gedanken empor.

»Verzeihen Sie, – aber ich war in Gedanken damit beschäftigt, wie ich Ihnen und Lisa helfen kann.«

»Wenn Sie das wollten, verehrte gnädige Frau!«

»Aber gewiß will ich, – und zwar sehr ernsthaft. Zuvor aber muß Lisa wieder gesund sein. Jetzt können wir nur äußerliche Dinge ordnen und müssen Zeit zu gewinnen suchen. Da Ihre Ehe vollzogen ist und viele Menschen Zeugen Ihrer Hochzeit waren, kann sie natürlich nicht totgeschwiegen werden. Vorläufig glaubt man Sie nun beide auf der Hochzeitsreise. Diesen Umstand müssen wir ausnützen. Wie lange haben Sie für diese Reise Urlaub genommen?«

»Sechs Wochen.«

»Nun, diese sechs Wochen müssen Sie wohl oder übel an einem stillen Ort verbringen, wo Sie von Bekannten nicht gesehen werden können. Vielleicht lancieren Sie dann kurz vor Ihrer Rückkehr in Ihre Garnison durch Ihren Freund die Nachricht in die beteiligten Kreise, daß Ihre Frau auf der Rückreise hier bei mir erkrankt ist und in Rahnsdorf zurückbleiben wird, bis sie sich erholt hat. So vermischen wir Wahrheit und Dichtung, um die Leute zu täuschen. Inzwischen ist Lisa hoffentlich längst wieder gesund; und wenn sie dann ruhiger geworden ist und ihr seelisches Gleichgewicht wiedergefunden hat, wird sie sich bestimmen lassen, Sie wiederzusehen. Was dann geschieht, müssen wir abwarten. Auf alle Fälle ist Zeit gewonnen. Ist Ihnen das einleuchtend, oder haben Sie einen besseren Vorschlag zu machen?«

»Nein, gewiß nicht. Ihr Plan ist vortrefflich, gnädige Frau. Ich bin Ihnen so sehr dankbar für Ihre Hilfsbereitschaft! Nur eine große Bitte habe ich noch. Gestatten Sie mir, hier in der Nähe zu bleiben, bis Lisa außer Gefahr ist. Ich hätte keine Ruhe, müßte ich jetzt fort mit der Angst um ihr Leben. Vielleicht ruft sie auch nach mir, wenn sich ihr Zustand verschlimmern sollte. Dann will ich ihr nahe sein. Ich kann so nicht fort. Ich werde ja im Dorf eine Unterkunft finden.«

Anna von Rahnsdorf lächelte.

»Im Rahnsdorfer Gutshaus ist für viele Gäste Platz.« Er zog ihre Hand an die Lippen.

»Gnädige Frau, Ihre Güte –«

»Machen Sie doch kein Aufhebens davon, Herr Baron. – Sie sind Lisas Gatte, – und als solcher mein Neffe. Ich hoffe, Sie bleiben es. – Lisa darf natürlich nicht wissen, daß Sie hier im Hause sind. Es würde sie beunruhigen. Deshalb werde ich Sie im Seitenflügel einlogieren. Hoffentlich können wir zuweilen ein Stündchen plaudern, um uns näher kennen zu lernen. Da Lisa meine Erbin sein wird, sehe ich in Ihnen vielleicht den künftigen Herrn von Rahnsdorf. Ich hoffe es.«

Er sah ihr mit einem warmen, leuchtenden Blick in die Augen.

»Heißen Dank, daß Sie diese Hoffnung aussprechen, teure gnädige Frau. Ihre Worte sind mir ein Zeichen, daß Sie mir vertrauen. Ich weiß nun, daß Sie unser Geschick in Ihren gütigen Händen halten, und mir ist, als müßte nun alles wieder gut werden.«

»An meinem guten Willen soll es nicht fehlen,« sagte sie, ihm freundlich die Hand reichend. »Und nun noch eins. Wie ist es mit Lisas Reisegepäck? Wo befindet sich das? Sie hatte ja nicht einmal Nachtzeug bei sich.«

»Es war vorläufig bis nach München aufgegeben. Der Diener hatte es bereits besorgt; ich konnte es nicht mehr zurückhalten.«

»Dann bitte ich Sie, wenn Sie sich nachher gestärkt und erfrischt haben, zu veranlassen, daß die Sachen hierhergeschickt werden.«

»Es soll geschehen.«

»Im übrigen müssen Sie sehen, wie Sie sich hier am besten die Zeit vertreiben. Rahnsdorf hat eine sehr schöne Umgebung. Wollen Sie einen Pirschgang machen, so wenden Sie sich an den alten Gustav, der Sie zu mir führte. Er weiß in meines verstorbenen Mannes Gewehrschrank Bescheid. Wir haben hier einen reichen Wildstand in unserem Forst. Wenn Sie ausreiten wollen, finden Sie wohl in meinem Stall ein passendes Tier. Sie dürfen aber nicht sehr wählerisch sein. Vollblüter finden in Rahnsdorf wenig Verwendung. Und mit Lektüre kann ich auch aufwarten. Im Bibliothekzimmer, das Ihnen Gustav zeigen wird, finden Sie alle Neuerscheinungen der schöngeistigen Literatur. Man muß auf dem Lande darauf halten, damit man nicht versandet und Fühlung behält mit den großen Fragen des Lehens. Und nun muß ich Sie verlassen und zu meiner Patientin zurückgehen. Ich schicke Ihnen Mamsell Birkner, unsern guten Hausgeist. Sie wird in allen Dingen für Sie sorgen. Die gute Alte hat kleine Eigenheiten. Wenn sie ein bißchen knurrig scheint, achten Sie nicht darauf. Sie ist seit fast vierzig Jahren hier im Hause und hat sich durch treue Dienste das Recht erworben, sich zuweilen mit mir gleichberechtigt zu halten. Sie ist von mir ins Vertrauen gezogen worden und wird über Ihr Hiersein schweigen. Außer mir und ihr kommt niemand zu Lisa, als der Arzt.«

Ronald küßte ihr bewegt die Hand, »Wie Sie mich beschämen durch Ihre Güte.«

»Ach, das wäre eine zweifelhafte Güte, die beschämend wirkt. Davon reden Sie lieber nicht. Und nun Kopf hoch! Jeder Mensch begeht einmal eine Torheit, die er gutzumachen hat. Und Sie haben ja den Willen dazu. Für jetzt aber entschuldigen Sie mich; die Unruhe treibt mich zu Lisa. Warten Sie hier auf Mamsell. Um acht Uhr nehme ich nach ländlicher Sitte mein Abendessen; ich hoffe dabei auf Ihre Gesellschaft.«

Mit einem freundlich ermutigenden Blick nickte sie ihm zu und ging in ihrer raschen, elastischen Art hinaus. Ronald sah ihr bewegt nach. Welch eine gütige und kluge Frau sie war, wie er sie voll Dankbarkeit verehrte! Ihr ganzes Wesen hatte ihn beruhigt und mit Vertrauen und Hoffnung erfüllt.

* * *

Mamsell Birkner trat kurze Zeit darauf in das Zimmer. Ihre Herrin hatte ihr heimlich vor der Tür des Krankenzimmers die nötigen Weisungen erteilt.

Ohne Scheu und Umstände nickte sie Ronald zu. »Na, dann kommen Sie man, Herr Baron. Ich will Sie gleich in Ihre Zimmer führen. Wollen Sie lieber nach dem Hof hinaus wohnen oder nach dem Garten?«

Ronald lächelte.

»Das ist mir gleich, Mamsell Birkner.«

Sie schritten durch die große, steingetäfelte Halle nach dem Seitenflügel hinüber. Der alte Gustav kam ihnen entgegen.

»Bringen Sie dem Herrn Baron frisches Wasser, Gustav. Und dann decken Sie im Eßzimmer den kleinen Tisch am Fenster,« befahl Mamsell kurz.

»Wünschen Sie Tee oder Kaffee, Herr Baron, – oder lieber eine Flasche Wein?« wandte sie sich an Ronald.

»Machen Sie sich keine Umstände. Geben Sie mir, was Ihnen am bequemsten ist.«

Sie sah ihm in das blasse, zerquälte Gesicht.

»Na, so elend brauchen Sie noch nicht auszusehen, Herr Baron,« schalt sie, mit flinken Händen einige Kleinigkeiten in den hübschen, hellen Zimmern ordnend. »Das junge Frauchen wollen wir schon wieder hochbringen; deshalb brauchen Sie den Kopf nicht hängen zu lassen.«

Ronald sah sie forschend an.

»Hat meine Frau große Schmerzen?« fragte er gepreßt.

»Na, ein bißchen Stechen in der Brust und Kopfschmerz von der Fieberhitze; das ist nun mal so. Aber das gibt sich bald wieder. Ich hab' auch Lungenentzündung gehabt, als ich so ein junges Ding war, – na, – nun sehen Sie mich mal an. Mit der Jüngsten nehme ich's noch auf. So, – da ist der Gustav mit Wasser. Nun machen Sie sich ein bißchen frisch, Herr Baron. Ich will inzwischen einen Imbiß fertigmachen. Gleich neben dem Wohnzimmer ist das Eßzimmer. Dorthin finden Sie sich wohl nachher ein.«

Während sie hinausging, schüttelte sie den Kopf. »Was sich doch die vornehmen Leute das Herz schwer machen! Die beiden wissen nicht einmal: sind sie nun verheiratet oder nicht. Na, meiner gnädigen Frau liegt es wohl sehr am Herzen, daß sich die beiden doch noch ineinander finden. Wenn nur das Fieber nicht mehr so toll steigen wollte! Das Frauchen ist ja nur so ein dünnes Püppchen,« dachte sie.

Als Anna von Rahnsdorf zu Lisa zurückkehrte, erkannte sie gleich, daß das Fieber wieder im Steigen begriffen war. Die junge Frau lag unruhig, und die Atemzüge kamen kurz und quälend aus der Brust. Am Abend kam der Arzt noch einmal. Das Fieber war noch höher als am Abend zuvor gestiegen. Aber das hatte der Arzt vorausgesehen. Er beruhigte die geängstigte Gutsherrin. Nachher blieb er zum Abendessen und lernte Ronald kennen. Dieser erschrak sichtlich, als er hörte, daß Lisas Zustand sich verschlimmert hatte. Des Doktors Trostworte machten ihm wenig Eindruck. Voll Sorge und Unruhe suchte er sein Zimmer auf, als der Arzt sich entfernt hatte und Anna von Rahnsdorf zu ihrer Kranken zurückgekehrt war. – – –

Unruhige, sorgenvolle Tage folgten. Frau von Rahnsdorf verließ nur zu den Mahlzeiten das Krankenzimmer und wechselte mit Mamsell Birkner in den Nachtwachen ab. Da sie während der kurzen Pausen auch noch allerhand Geschäftliches zu erledigen hatte, erwachte in Ronald der Wunsch, sich nützlich zu machen und Frau von Rahnsdorf zu entlasten. So kam es ganz von selbst, daß er allerlei für sie erledigte und ihr eine Stütze wurde. Lächelnd ließ sie ihn gewähren und freute sich seines Eifers und seiner Anstelligkeit.

»Es ist wirklich schade, daß Sie nicht Landwirt geworden sind, lieber Baron. Sie haben wirklich Talent dazu,« sagte sie eines Abends. »Ich bin sehr froh, daß ich an Ihnen jetzt eine so große Hilfe habe. Ich hätte mich sonst kaum so eingehend Lisas Pflege widmen können.«

»Wenn Sie wüßten, welche Freude es mir macht, Ihnen dienen zu können! Mir ist manchmal zumute, als wäre ich wieder zu Hause in Hechingen. Manches erinnert mich an daheim; fast könnte ich zuweilen vergessen, was zwischen damals und heute liegt. Nur der schwere Druck auf meinem Herzen erinnert mich immer schnell wieder an die schwere Sorge, die mich beunruhigt.«

»Heute sollten Sie doch nicht so trübsinnig sein. Zum ersten Male ist das Fieber niedriger, und der Arzt ist zufrieden mit dem Verlauf der Krankheit.«

Sie sah all die Zeit, wie er sich um Lisa bangte. Mittags und abends, wenn sie sich bei den Mahlzeiten trafen, galt seine erste Frage ihrem Befinden; und so oft er Mamsell Birkner erwischen konnte, mußte sie ihm ausführlich berichten, wie es ging.

Anna von Rahnsdorf hatte ihm nichts unterschlagen von ihren Sorgen und Befürchtungen um Lisas Leben. Sie wußte, daß die Angst um einen Menschen ein fruchtbares Erdreich ist für das zarte Pflänzchen keimender Liebe. Sie verschrieb Ronald gleichsam seinen Teil Sorge wie eine heilsame Medizin.

Dabei fanden die zwei Menschen, die sich bisher völlig fremd gewesen waren, immer mehr Gefallen aneinander.

Ronald verehrte seine Gastgeberin sehr und dankte dem Schicksal, daß Lisa bei ihr Schutz und Hilfe gesucht hatte. Die Gutsherrin aber beobachtete ihren jungen Gast mit scharfen Augen und lernte ihn dabei täglich mehr schätzen. Ronald gefiel ihr sehr. Sein ernstes, schlichtes Wesen war ihr von Anfang an sympathisch, und sie konnte verstehen, daß Lisa ihn über alles liebte. Immer mehr setzte sich der Wunsch in ihr fest, das junge Paar eines Tages wieder zu vereinen. –

An ihren Bruder Karl hatte sie ausführlich geschrieben und ihm alles erklärt. Es entwickelte sich zwischen den Geschwistern eine rege Korrespondenz. So vieles hatten sie sich zu sagen, nachdem sie jahrelang wenig voneinander gehört hatten.

Karl Limbach war zum ersten Male ernstlich böse auf seine Frau, als er hörte, in welcher Weise sie bestimmend in das Leben der beiden Menschen eingegriffen hatte. Frau Hermine hüllte sich in gekränktes Stillschweigen, und die Atmosphäre im Hause Limbach schien noch um einige Grade kühler geworden zu sein als bisher.

Karl Limbach schrieb aber, unbekümmert um den Zorn seiner Gattin, daß er, sobald Lisas Zustand sich gebessert, auf einige Tage nach Rahnsdorf kommen wolle. Er war mit allen Anordnungen, die seine Schwester getroffen hatte, einverstanden. Daß er Ronald nicht zürnte, bewies der Gruß, den er an ihn bestellte; und gleich seiner Schwester hoffte er, daß es zwischen dem jungen Paare nicht zu einer Scheidung kommen würde. –

Ronald hatte von Rahnsdorf aus an seine Mutter geschrieben und ihr alles, was geschehen war und was er für die Zukunft hoffte und fürchtete, mitgeteilt. Darauf antwortete ihm diese sehr bedrückt und zaghaft. War doch nun die Sicherheit der Zukunft ihres Sohnes in Frage gestellt. Auch von seiner Schwester Lotte kam ein Brief. Dieser war so lieb und vernünftig gehalten, daß Ronald wieder fühlte, wie gut ihn die Schwester verstand. Sie jammerte und klagte nicht, wie die Mutter, sondern sprach mit Befriedigung davon, daß Ronald nun nicht länger ein Leben der Lüge zu führen brauchte. In ihrem Briefe hieß es:

 

»Du schreibst an Mutter, daß Dir Lisa durch alles dies so viel lieber und teurer geworden ist und daß Dich Lili Sanders' Verlobung kaum berührt hat. Ich freue mich herzlich über diese Deine Versicherung und hoffe sehr, daß nun, da Dein Herz von der alten Neigung befreit ist, dieses sich in Liebe Deiner jungen Frau zuwenden wird. Geschieht das, so halte ich euer Glück für gesichert. Denn wie ich Lisa kenne, wird sie leicht versöhnt sein, wenn sie merkt, daß Du sie jetzt wirklich liebst. Ihre Handlungsweise ist mir vollkommen verständlich. Offen heraus: ich freue mich, daß sie den Mut hatte, fortzugehen. Ich hätte auch nicht anders gehandelt. Jetzt kämpfe um Deine Frau, mein lieber Bruder; dann wird sie erst den rechten Wert für Dich erhalten. Ihr Männer wollt ja immer erst kämpfen um den Besitz der geliebten Frau, das hab' ich mal irgendwo gelesen, – also wird es schon wahr sein. Nun auf zum Kampf, mein Ronaldbruder! Eine Lisa ist es schon wert, daß man sich um sie müht; sie ist ja viel liebenswerter wie Lili Sanders, das hab' ich Dir immer gesagt.«

 

Ronald gab Frau von Rahnsdorf den Brief zu lesen. Als sie ihn lächelnd zurückgab, sagte sie: »Ein kluges Schwesterchen haben Sie. Die gefällt mir. Was sie Ihnen hier schreibt, hat Hand und Fuß. Hoffentlich lerne ich sie einmal kennen.«

»Ja, sie ist ein liebes, vernünftiges Mädel; und sie kennt mich besser als sonst ein Mensch, – besser als meine gute Mutter,« antwortete er. – Von Mallwitz kamen auch einige Zeilen. Er versicherte, Ronald auch weiterhin so viel als möglich beizustehen, um das Zerwürfnis zwischen ihm und seiner Frau nicht bekanntwerden zu lassen.

Vieler Worte bedurfte es zwischen den Freunden nicht. – – –

Endlich erklärte Doktor Streubel seine Patientin außer Gefahr, und es war nicht zu unterscheiden, wer sich mehr über diese Nachricht freute. Ronald drückte dem Arzt so fest die Hand, daß er eine kleine Grimasse schnitt. Frau von Rahnsdorf hatte feuchte Augen, und Mamsell Birkner knurrte und zankte mehr als je.

So verschieden diese Freudenbezeigungen auch waren, sie entsprangen ehrlicher Herzensfreude. Als Lisa das erstemal wieder bei klarer Besinnung war und von Mamsell mit einem Hühnersüppchen gefüttert wurde, saß ihre Tante mit strahlendem Gesicht an ihrem Bett.

»Nun wollen wir sie bald wieder zu Kräften bringen, nicht wahr, Birknern?«

»Will ich meinen, gnädige Frau. Daran soll es nicht fehlen,« antwortete diese, mit dem leeren Suppennapf abgehend.

Frau von Rahnsdorf streichelte Lisa liebevoll die Hände.

»Nun, hast du keine Schmerzen mehr, mein Liselchen?«

»Nein, Tante.«

»Aber so traurig blicken deine Augen noch. Kindchen, das muß wieder anders werden.«

Lisa zwang sich zu einem Lächeln. »Hab' nur Geduld,« antwortete sie; und dann fragte sie mit einem unsicheren Blick:

»Ist Ronald noch nicht dagewesen, Tante Anna?«

»Doch, Kind. Und wenn du mir versprichst, dich nicht aufzuregen und ganz still zu liegen, erzähle ich dir alles, was ich mit ihm besprochen habe.«

In Lisas blasse Wangen stieg leichte Röte, und ihre [Augen] blickten unruhig.

»Bitte, sag' mir alles,« sagte sie leise.

Frau von Rahnsdorf erzählte, daß Ronald schon gleich am nächsten Tage nach ihrer Erkrankung dagewesen wäre und nach wenigen Stunden wieder abgereist sei. In kluger, gütiger Weise teilte sie der jungen Frau aus der Unterredung mit, was sie für gut und beruhigend hielt. Daß Ronald Lisa die Entscheidung über die Zukunft vollständig überlasse, daß er furchtbar bedrückt sei, ihr wehgetan zu haben, und nur mit schwerem Herzen darauf verzichte, sich vor ihr selbst zu rechtfertigen. Daß er hoffe, sich mit ihr aussprechen zu dürfen, sobald sie sich völlig beruhigt habe.

Auch über die Vorkehrungen, die sie getroffen hatten, um fernerhin Lisas Flucht geheimzuhalten, sprach Frau von Rahnsdorf ausführlich. Über Ronalds eigentlichen Seelenzustand verriet sie jedoch nichts. Das konnte Lisa nur neue Unruhe bringen. Auch davon, daß Ronald noch in Rahnsdorf sei, sagte sie nichts, bemerkte nur, daß er sehr in Sorge um ihre Gesundheit wäre und um tägliche Nachricht über ihren Zustand gebeten habe. Zum Schluß meinte sie noch, Lisa zärtlich die Wangen streichelnd:

»Er hat mir einen sehr guten Eindruck gemacht, Lisa, und du brauchst dich wahrlich nicht zu schämen, ihm deine Liebe geschenkt zu haben.«

Lisa sah mit feuchten Augen zu ihr auf.

»Ich schäme mich auch nicht, ihn zu lieben, gute, liebe Tante. Nur daß ich es ihm so unverhohlen gezeigt habe, ihm mit meinen Liebesbeweisen lästig gefallen bin, – darüber schäme ich mich. Und das werde ich nie ganz verwinden.«

»Ach geh, du Dummerchen, das sind engherzige, kleinliche Bedenken. Dagegen wollen wir ganz energisch zu Felde ziehen. Und jetzt wird nicht mehr geschwatzt. Ich will an Onkel Karl eine Karte schreiben. Er muß doch gleich erfahren, daß du nun über den Berg bist.«

»Grüße ihn von mir, – auch Tante Hermine.«

»Nun, heute soll es mir auch nicht darauf ankommen, ihr einen Gruß zu schicken. Ich bin heute vor Freude über deine Besserung sehr friedfertig.« –

Als Frau von Rahnsdorf mit Ronald unten im Eßzimmer saß, blickte sie lächelnd in sein angeregtes Gesicht.

»Ganz anders sehen Sie heute aus, lieber Baron. Man merkt Ihnen an, daß eine schwere Sorge von Ihnen genommen ist. Schade, daß Lisa nicht sehen kann, wie Ihre Augen strahlen vor Freude über ihre Genesung.«

»Ist sie nun wieder ganz klar bei Besinnung?«

»Ja, und vorhin habe ich ihr erzählt, daß Sie hier gewesen sind und was wir miteinander beraten haben.«

»Wie nahm sie es auf?« fragte er hastig.

»Ziemlich ruhig und gefaßt. Ich hoffe, durch ihre Krankheit ist sie über die schlimmsten Tage hinweggekommen.«

Eine Pause entstand. Dann sagte Ronald zögernd:

»Nun ich über Lisas Zustand beruhigt bin, will ich meiner liebenswürdigen Gastgeberin nicht länger lästig fallen. Ich gedenke morgen früh abzureisen.«

Sie sah ihn mit forschendem Lächeln an.

»Sicher sind Sie froh, der Langeweile von Rahnsdorf entfliehen zu können.«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, meine verehrte, gnädige Frau, darüber bin ich gar nicht froh. Langeweile habe ich überhaupt nicht gespürt, – im Gegenteil, es war mir ein Genuß, hier herumwirtschaften zu können.«

»Nun, diesen Genuß könnten Sie sich leicht noch länger verschaffen. Ich wollte Sie ohnehin bitten, noch einige Zeit hier bei mir nach dem Rechten zu sehen, – solange Lisa noch an das Bett gefesselt ist. Ich kann mich ihr dann ausschließlicher widmen. Meine Leute sind ja tüchtig; aber sie sind auch gewöhnt, daß ich mich um alles kümmere, und bedürfen der Leitung. Wollen Sie mich also so lange vertreten, so bin ich Ihnen dankbar.«

Ronald sah ihr mit strahlenden Augen in das lächelnde Gesicht.

»Darf ich wirklich?«

Sie lachte über seinen Eifer.

»Würde ich es sonst sagen?«

Er faßte nach ihrer Hand.

»Liebe gnädige Frau, wie ich mich freue über diese Erlaubnis! Ich betrachte sie als eine Auszeichnung. Jetzt erst bin ich ganz sicher, daß Sie mir nicht zürnen, daß meine Anwesenheit Ihnen nicht störend ist.«

»Das ist sie gewiß nicht. Ich will Ihnen ganz offen sagen, daß ich mich über Ihre Gegenwart freue. Ich habe Sie in den wenigen Tagen liebgewonnen. Auf meine Menschenkenntnis bilde ich mir etwas ein; und ich glaube, Sie sind ein Mensch, auf den man sich in allen Lagen verlassen kann.«

Seine Stirn rötete sich.

»Jedenfalls einer, der Ihnen mit Leib und Seele ergeben ist, gnädige Frau. Mit dankbarem Herzen empfinde ich Ihre Güte. Sie haben mich so gar nicht fühlen lassen, daß ich Ihnen in dem wenig günstigen Lichte eines Mitgiftjägers erscheinen mußte.«

»Es kommt gar nicht so sehr darauf an, was man tut, als wie man es tut. Für jedes Vergehen gibt es eine Entschuldigung. Nun, – mein Herz plädiert bei Ihnen für Milderungsgründe; und Ihre Angst und Sorge um Lisa erscheint mir Strafe genug für Ihr Vergehen.«

»Liebe gnädige Frau, ich weiß, daß Sie es gut mit mir meinen.«

»So wissen wir beide, wie wir miteinander daran sind. Das ist immer etwas wert. Also Sie bleiben, bis Lisa das Bett verlassen darf. Dann allerdings muß ich Sie fortschicken; vorläufig darf mir das Kind nicht weiter beunruhigt werden.«

»Da Sie es für gut halten, muß ich mich fügen, obwohl ich sehnlichst danach verlange, Lisa wiederzusehen. Alles will ich daransetzen, ihr Vertrauen zurückzugewinnen und sie zu überzeugen, wie lieb sie mir geworden ist.«

»Das wird vielleicht schwerer sein, als Sie denken; stellen Sie sich das nicht zu leicht vor.«

»Leicht soll es mir gar nicht werden. Ich will darum ringen, – wenn ich sie nur erst wiedersehen darf.«

Sie sah sinnend in sein energisches Gesicht.

»Versprechen Sie mir, Geduld zu haben, und ein Wiedersehen nicht voreilig herbeizuführen. Ich selbst werde Sie rufen, wenn ich den rechten Zeitpunkt für gekommen erachte.«

»Ich ordne mich Ihnen bedingungslos unter, verehrte Frau. Sie werden mich nicht länger warten lassen als nötig ist.« – – –

So blieb Ronald noch über eine Woche in Rahnsdorf. Dann aber mußte er abreisen, da Lisa so weit wiederhergestellt war, daß sie das Bett verlassen konnte. Von seinem letzten Ritt durch den Wald brachte er einen Strauß Himmelschlüssel und Anemonen mit. Den gab er Frau von Rahnsdorf mit der Bitte, ihn Lisa in das Zimmer zu stellen.

Sie tat es gern und erzählte ihm nachher, daß Lisa sich sehr über die Blumen gefreut hätte.

»Er strahlt wirklich über das ganze Gesicht wie ein Verliebter,« dachte sie vergnügt.

Als Ronald am nächsten Morgen abreiste, verabschiedete sich Frau von Rahnsdorf sehr herzlich von ihm und sah ihm nach, bis der Wagen im Walde verschwand.

* * *

Lisa ging in der warmen Mittagssonne im Garten spazieren. Ihre Tante hielt sie umfaßt, als bedürfe sie der Stütze.

»Du solltest mich nicht länger so verwöhnen, Tante Anna. Ich bin doch wieder gesund und fühle mich kräftiger denn je,« sagte sie, zu ihrer Tante aufblickend.

»Das soll heißen, – laß mich allein hier herumspazieren, Tante Anna, ich bin deiner fortwährenden Gesellschaft herzlich müde. Nicht wahr?«

Lisa lächelte.

»Nein, du Gute. So soll es gewiß nicht heißen. Das weißt du auch ganz genau. Ich fürchte nur, du widmest mir zu viel deiner kostbaren Zeit.«

»Ei, das Fürchten mußt du dir abgewöhnen, du scheues Vögelchen. Hier wird gar nichts gefürchtet. Ich glaube, damit hast du bisher den größten Teil deines Lebens verbracht. Jetzt muß das endlich anders werden. Im Ernst, Lisa: besinne dich, daß du auch einen Willen hast. Es ist hübsch, wenn sich ein junges Mädchen alten Leuten freundlich unterordnet; aber nur so weit, daß diese Unterordnung nicht in blinde Sklaverei ausartet. Siehst du, – nun hast du deine Schelte weg.«

Lisa streichelte ihre Hand.

»Du verstehst so lieb zu schelten, daß ich eigentlich immer Ursache dazu geben sollte. Vor dir hab' ich auch gar keine Furcht.«

»Und kommst dir nun sehr heldenhaft vor. Aber ein Hasenherz bist du doch. Die Birknern braucht bloß zu brummen, dann verkriechst du dich schon.«

»O Tantchen, – wie steht es da mit dir? Wenn Mamsell ernstlich will, schlägt sie auch dich in die Flucht.«

Frau von Rahnsdorf lachte vergnügt.

»Bravo, das war ein Gegenhieb. Aber sieh, da kommt unser gemeinsamer Tyrann. Jetzt laß sehen, wer die meiste Courage hat von uns beiden.«

Mamsell Birkner war herangekommen. Sie trug über dem Arm ein dickes wollenes Tuch.

»So ein Leichtsinn,« schalt sie knurrig, »da läuft das Frauchen hier herum, ohne ein warmes Tuch umzunehmen! Und Sie lassen das auch zu, gnädige Frau? Das Frauchen soll sich wohl von neuem erkälten?«

»Es ist ja so warm, Mamsell; ich brauche es wirklich nicht.«

»Warm? Dabei haben wir in der Nacht noch Frost gehabt. Hier ist das Tuch; das wird sofort umgebunden.«

»Jetzt scheint aber doch die Sonne, Birknern, und es ist wirklich sehr warm hier draußen. Nimm nur das Tuch wieder mit hinein.«

»Fällt mir ja gar nicht ein, gnädige Frau. Das Frauchen nimmt das Tuch um. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankisten; ich will keinen Rückfall auf dem Gewissen haben.«

Sprach's, legte Lisa mit energischer Bewegung das Tuch um die Schultern, und ging seelenruhig wieder in das Haus zurück.

Tante und Nichte sahen sich stumm in die Augen. Um Lisas Mund zuckte ein schelmisches Lächeln. Da lachte Frau von Rahnsdorf fröhlich auf und küßte Lisa auf den Mund.

»Mädelchen, du kannst ja lachen wie ein rechter kleiner Schelm. Wie gut dir das zu Gesicht steht. Nur die traurigen Augen passen nicht dazu. Du grübelst mir noch zuviel, hast zuviel Zeit dazu. Warte, – von morgen an verschreibe ich dir eine heilsame Medizin. Morgen fängst du an zu arbeiten.«

»Darauf freue ich mich sehr, Tantchen. Mir wird ohnedies die Zeit so furchtbar lang, wenn ich den ganzen Tag tatenlos verbringe. Wenn ich euch alle hier so fleißig arbeiten sehe, schäme ich mich, daß ich bisher mein Leben mit nutzlosen Handarbeiten und noch nutzloserem Nichtstun verbracht habe.«

»Ja, das soll anders werden, Kindchen, ein ganz anderes Leben soll für dich beginnen; und ich freue mich, daß du selbst danach verlangst. Das ist schon ein Zeichen, daß du selbständig zu denken beginnst, nicht nur nach Vorschrift.« – –

Während Lisas Rekonvaleszenz waren sich Tante und Nichte sehr nahe gekommen. Klug wußte Frau von Rahnsdorf auf die junge Frau einzuwirken. Lisas vereinsamtes Herz hatte sich der Tante mit Innigkeit zugewandt. Ihr zuliebe suchte sie den Schmerz, der mit gleicher Macht in ihrem Herzen lebte, zu unterdrücken und zu verbergen. Tante Annas Liebe und zarte Fürsorge waren ihr ein Trost. Sie war dankbar gegen das Geschick, welches ihr sturmgepeitschtes Lebensschiff in diesen Hafen der Ruhe und des Friedens gelenkt hatte.

Von Ronald sprachen die beiden Frauen gar nicht. Frau von Rahnsdorf vermied mit feinem Herzenstakt dieses Thema, um Lisa nicht zu beunruhigen. Sie mußte erst selbst so weit sein, von ihm sprechen zu können, ehe etwas getan werden konnte. Anna von Rahnsdorf war jetzt immer in einer weichen, zärtlichen Stimmung. All das aufgespeicherte mütterliche Empfinden, das in ihrem Herzen brachgelegen hatte, strömte über die junge Frau aus. Lisa war, ohne es zu wollen, der Mittelpunkt von Rahnsdorf geworden, um den sich alles drehte. Alles richtete sich nach ihrem Wohlbefinden. Neben der Herrin von Rahnsdorf war es vor allen Dingen Mamsell Birkner, welche Lisa nach Herzenslust verwöhnte. Sie tat das nur nicht in der zarten Weise ihrer Herrin. Mit der brummigsten Miene brachte sie ihr köstlich zubereitete Leckerbissen und wachte eifrig darüber, daß sie alles verzehrte. Mit pünktlicher Genauigkeit stellte sie alle zwei Stunden ein Glas frischer Milch vor die junge Frau hin und ging nicht eher von der Stelle, bis sie ausgetrunken hatte. Wollte Lisa einmal revoltieren, dann gab es eine geharnischte Strafpredigt. Ob sie ihr ganzes Leben lang so ein elendes Püppchen bleiben wollte, das kein Lot Fleisch auf dem Körper habe? Das gäbe es nicht in Rahnsdorf. Hier müsse jeder ordentlich essen und trinken, was ihm vorgesetzt werde, – und damit basta.

Im Anfang war Lisa immer sehr eingeschüchtert durch solche Reden, die mit der ärgerlichsten Miene vorgebracht wurden. Aber nach und nach gewöhnte sie sich daran und lachte Mamsell Birkner unbekümmert in das brummige Gesicht. Aber den Gehorsam verweigerte sie ihr darum doch nicht, sondern schluckte tapfer alles hinunter, was ihr diese vorsetzte. Der Erfolg blieb nicht aus. Lisas Formen begannen sich zu runden, und ihre Wangen bekamen Farbe. Wie bei den meisten jungen Menschen, die von einer Krankheit genesen sind, hatte sich bei Lisa ein gesunder Appetit eingefunden, der Mamsell Birkners Bemühungen wirksam unterstützte. –

Kaum war Mamsell im Hause verschwunden, als sie auch schon wieder mit einem Glas Milch auftauchte. Lisa mußte sich vor der großen Gartenlaube auf eine Bank setzen und ihre Milch trinken.

Ihre Tante setzte sich zu ihr und sah mit Behagen zu, wie Lisa der köstliche Trank mundete.

Als dann Mamsell wieder fortgegangen war mit dem leeren Glas, saßen die beiden Damen eine Weile stumm nebeneinander und sahen über den im schönsten Frühlingsschmuck prangenden Garten hinweg nach dem Walde hinüber. Kulissenartig schoben sich in der Ferne die Berge des Thüringer Waldes ineinander, bis sie weit in der Ferne im blauen Dunst verschwanden. Die Luft war erfüllt vom Duft des blühenden Flieders, der mit seinen weißen und in verschiedenen lila Tönen schattierten Blüten in großen Büschen längs des Gartenzaunes stand.

Lisa seufzte leise auf.

»Wie schön ist es hier bei dir, Tante Anna!«

Diese blickte mit strahlenden Augen um sich.

»Ja, liebes Kind, ich liebe mein Rahnsdorf sehr. Aber seit meines Mannes Tode habe ich es noch nicht wieder so recht innig empfunden, wie schön das Stückchen Welt ist, das mir gehört. Wenn man so einsam dahinlebt, sterben die Empfindungen allmählich ab. Jetzt, seit du bei mir bist, ist das alles neubelebt. Manchmal ist mir zumute, als sei mir Rahnsdorf neu geschenkt, oder als sei ich ein neuer Mensch geworden. Siehst du, Küken, das ist dein Wert.«

Lisa legte schmeichelnd die Wange an ihr Gesicht. Es lag noch eine scheue Verlegenheit in dieser Liebkosung. Sie war es so wenig gewöhnt, solche zu empfangen und auszuteilen. Ihr eingeschüchtertes Wesen ließ sich so schnell nicht ablegen, soviel Mühe sie sich auch damit gab, um die Tante zu erfreuen.

»Wie ganz anders wäre wohl mein Leben geworden, wenn ich gleich nach dem Tode meiner Eltern zu dir gekommen wäre,« sagte sie leise.

Frau von Rahnsdorf drückte sie fest an sich.

»Anders jedenfalls, Kind. Vor allem hättest du dich freier, ungezwungener entwickeln dürfen. Ob du glücklicher geworden wärest? – Das kann man nicht wissen. Glück ist ein Ding, das für jeden Menschen ein besonderes Aussehen hat. Was den einen zu hellem Jubel entflammt, nötigt dem andern kaum ein Lächeln ab. Aber zu einer kraftvollen, frischen Persönlichkeit hättest du dich unter meiner Leitung entwickeln müssen, das ist sicher. Du leidest ja nicht, daß ich Tante Hermine schelte, – und hast recht; schließlich hat sie dich auf ihre Art beglücken wollen, wie ich es auf die meine versucht hätte. Aber sie hat zu viel ihre eigene Bequemlichkeit im Auge gehabt und vor allem jede freie Willensregung in dir erstickt, statt sie zu fördern. Sie hat auf deine Eigenart keine Rücksicht genommen und dich despotisch in eine Schablone gepreßt, in die Schablone, die für sie selbst passend war, nicht für dich. Dabei bist du nun ein verkümmertes Pflänzchen geblieben. Aber noch ist es nicht zu spät, um Blüten und Früchte an deinem Lebensbaum zur Entfaltung zu bringen. Noch bist du entwicklungsfähig. Mußt nur in die Sonne, mein Liselchen, und gute Nahrung haben, dann soll schon ein Wunder mit dir geschehen.«

Lisa seufzte verstohlen. Sie kam sich so alt vor, so fertig mit dem Leben. Sie fühlte gar keine Kraft in sich, neue Blüten zu treiben.

»Du meinst es gut mit mir, Tantchen. Aber mache dir nicht so viel Hoffnung. Es liegt wohl mehr an mir, als an Tante Hermines Erziehung, daß ich geworden bin, wie ich bin.«

Ihre Tante schüttelte siegessicher den Kopf.

»Das glaube ich nicht. Besinne dich nur erst einmal auf deine Persönlichkeit, auf das, was du willst, auf das Recht der Selbstbestimmung. Wer und was bist du denn? Ein kleines dummes Mädelchen mit verschüchtertem, ängstlichem Herzen, das gleich verzagt und alle Lebenskraft verlieren will, wenn der erste Lebenssturm dahergejagt kommt. Ei, steh' erst einmal wieder auf und schau um dich. Nicht mit ängstlich niedergeschlagenen Augen in einen engen Kreis, sondern weit hinaus in das Leben. Wie das aussieht, weißt du noch gar nicht. Mit feinen Handarbeiten, Französisch parlieren und Klavierspielen ist das Leben nicht erschöpft. Auch nicht mit einer schmerzhaften Enttäuschung, wie sie dich betroffen hat. Da bleibt man nicht müde und zerschlagen am Boden hocken, um sich ängstlich zu verkriechen, sondern man wehrt sich seiner Haut und nimmt das Herz fest in die Hand. Sieh, als ich noch in verhältnismäßig jungen Jahren Witwe wurde, da glaubte ich auch, nun wäre ich fertig mit dem Leben. Denn ich liebte meinen Mann über alles und wußte nicht, wie ich ohne ihn und seine Liebe auskommen sollte. Aber zum Glück hatte ich Arbeit und Pflichten, die eine ganze Persönlichkeit forderten und mir nicht Zeit ließen, mich lange mit meinem Schmerz zu beschäftigen. Arbeit und Pflichten sollst auch du jetzt bekommen, mein Kind! Du bist hier in Rahnsdorf meine Nachfolgerin. Solch ein Besitz verpflichtet; und du sollst unter meiner Anleitung lernen, eine tüchtige Gutsherrin zu werden. Willst du?«

»Von Herzen gern, liebe Tante. Glaub' mir nur, oft habe ich selbst gefühlt, daß mein Leben recht inhaltlos war. Ich habe auch einmal mit Tante Hermine darüber gesprochen; aber da war sie gleich sehr böse und schalt, daß ich mir emanzipierte Ideen in den Kopf gesetzt habe. Für eine vornehme Dame schicke sich dergleichen nicht. Da habe ich nicht gewagt, wieder darauf zurückzukommen.«

»Nicht gewagt! O du kleiner Feigling! Nun blickst du gleich wieder scheu und ängstlich. Kopf hoch, Liselchen, und gradaus gesehen! Hier bei mir wird immer frisch drauflos gewagt, hörst du! Sag' immer rund heraus, was du willst!«

»Ach, Tantchen, ich möchte werden wie du. So tatkräftig und zielbewußt, so fleißig und klug. Alle haben so großen Respekt vor dir.«

»Mit Ausnahme der Birknern,« warf Frau von Rahnsdorf lachend ein.

»O nein; im Grunde respektiert sie dich am meisten, läßt sich's nur beileibe nicht merken. Sie sagte mir gestern erst, so eine Gutsherrin wie du gäb' es zum zweiten Male nicht. Auch Heinrich sagte etwas Ähnliches über dich, als ich mit ihm auf dem Milchwagen hierherfuhr. All deine Leute wissen, was sie an dir haben; und ich glaube, sie gingen für dich durch das Feuer.«

»Auf diese Feuerprobe möchte ich es doch nicht ankommen lassen. Und im übrigen habe ich auch mein reichgemessenes Teil Fehler. Aber wer hat die nicht! Im großen ganzen bin ich leidlich zufrieden mit mir; und ich habe nichts dagegen einzuwenden, wenn du es lernen willst, dich bei den Leuten in gleichen Respekt zu setzen. Das hab' ich von meinem guten Manne gelernt. Ich war noch ein so junges Ding, als ich heiratete. Es war gleich nach dem französischen Feldzug, den mein Mann mitgemacht und von dem er sich auch sein Leiden mitgebracht hatte, das ihn mir dann so früh entriß. Damals sah es bös hier aus; alles war vernachlässigt. Da hieß es tüchtig antreten, wenn wir wieder Ordnung schaffen wollten. Und gleich zu Anfang wurden mir eine Menge Pflichten aufgepackt. Über ich ließ mich nicht unterkriegen; und wenn mein Mann mich lobte und sagte: »Annchen, das hast du famos gemacht, bist ein Prachtkerl,« da war ich stolz wie auf einen Orden. Und als er starb, da halfen mir dann die übernommenen Pflichten über die schwerste Zeit weg. Arbeit ist die beste Trösterin in allem Leid; das führe dir zu Herzen, Liselchen.«

Das Gesicht der jungen Frau rötete sich jäh; es zuckte um ihre Lippen, aber sie erwiderte nichts.

Nach einer Weile, während welcher Frau von Rahnsdorf Lisa heimlich forschend betrachtete, sagte sie ablenkend:

»Nun wollen wir aber hineingehen, Lisa. Es wird kühler. Wenn es dir recht ist, räumen wir heute miteinander deine Sachen ein. Es ist alles nur provisorisch von der Birknern untergebracht worden.«

»Ja, Tantchen, das wollen wir tun. Wie hast du eigentlich die Sachen hierher bekommen? Sie waren doch wohl schon nach München aufgegeben.«

»Ich habe einfach deinen Mann beauftragt, zu veranlassen, daß sie hierhergeschickt wurden.«

Lisa zuckte leise zusammen. »Deinen Mann!« Wie ihr diese beiden Worte das Blut zum Herzen trieben! Frau von Rahnsdorf sah, daß Lisa mit großen, bangen Augen vor sich hinstarrte und den Mund wie im herbsten Schmerz zusammengepreßt hatte.

Es war noch nicht geraten, mit ihr von Ronald zu sprechen; das sahen die klugen Augen der alten Dame nur zu gut.

Eine Weile saßen sie noch schweigend da; dann erhob sich Frau von Rahnsdorf und führte die junge Frau plaudernd mit sich fort in das Haus hinein.

Im Wohnzimmer hatte Mamsell Birkner schon den Teetisch hergerichtet für die beiden Damen. Bis Tante Anna die junge Frau wieder bedienen wollte, wie sie es jetzt die ganze Zeit getan, hielt ihr Lisa die Hände fest.

»Von heute an drehen wir die Sache um, Tantchen. Du sollst gleich sehen, daß ich einen Willen habe, hier setzest du dich gemütlich in deinen Sessel und läßt dich von mir bedienen.«

»Schön, schlagen wir die Hände in den Schoß. Nun verwöhne mich nach Herzenslust.«

Lisa schenkte den Tee ein und versah die Tante mit Zucker und Kuchen, die Mamsell vorzüglich zu bereiten verstand. Die Tante nickte ihr fröhlich zu.

»Schnurrbehaglich ist so ein Teestündchen zu zwei. Aber sag' mal, Kindchen, weshalb frisierst du dich eigentlich so nonnenhaft? Dein schönes Haar kommt gar nicht zur Geltung. Ich wollte dir das schon immer einmal sagen.«

Lisa strich sich mit zitternder Hand über das Haar. »Die gräßlich geschmacklose Frisur,« wie sie Ronald in jener schrecklichen Stunde genannt hatte, war von ihr auch jetzt aus Gewohnheit beibehalten worden. Sie dachte an diese Worte und wurde glühendrot.

»Tante Hermine hat das so bestimmt, ich bin daran gewöhnt.«

»Gefällt dir diese Frisur?«

»Eigentlich nicht.«

»Nun, mir gefällt sie weder eigentlich noch uneigentlich. Sie ist sehr unkleidsam für dich, wenn du willst, versuchen wir es einmal mit einer anderen.«

Lisa dachte an ihren Hochzeitstag zurück. Da hätte sie sich von der Jungfer gern einmal anders frisieren lassen mögen. Ach, wie ganz anders lag damals die Welt vor ihr! Was lag ihr jetzt daran, ob ihre Haartracht kleidsam sei oder nicht?

Sie schüttelte den Kopf.

»Ach laß, Tantchen. Es ist doch so gleichgültig, – ich bin nun einmal daran gewöhnt.«

»Gleichgültig? Liebes Kind, es ist durchaus nicht gleichgültig, wie eine Frau ihr Haar ordnet. Nichts vermag eine Frau mehr zu entstellen oder zu verschönern, als die Art, wie sie ihr Haar trägt. Und jede Frau hat die Verpflichtung, sich so hübsch wie möglich zu machen und ihre Vorzüge in das beste Licht zu rücken. Dabei braucht man weder eitel noch gefallsüchtig zu sein. Sieh mal meine Frisur an. Ich bin eine alte Frau, und mir wirst du ja wohl glauben, daß ich nicht mehr mit meinen Reizen kokettieren will. Aber ich könnte mich nicht entschließen, mir so einen entstellenden Schopf aus meinem Haar zu drehen, wie du es tust. Als du mit deinen losen, wirren Zöpfen krank im Bett lagst, sahst du zehnmal hübscher aus. Hast so eine prächtige Zierde auf dem Kopf und benutzest sie so falsch! Mein Liselchen, ich sehe hübsche Menschen für mein Leben gern; mußt schon mir zuliebe dich recht hübsch machen.«

Ein bitteres Lächeln umspielte Lisas Lippen.

»Es würde mir mit der größten Mühe nicht gelingen, mich hübsch zu machen, Tante Anna. Bei meinem Äußeren ist es besser, man läßt solche nutzlosen Versuche.«

»Bei deinem Äußern? Was hast du denn daran auszusetzen? Du bist gerade und schlank gewachsen, hast schöne klare Augen, gesunde Zähne, prachtvolles Haar und einen glatten, wenn auch noch etwas bläßlichen Teint. Mit solchen Schätzen kann eine Frau alles machen, – wenn sie nur will und nicht gleichgültig gegen ihre Person ist. Ich sage dir, die reizendsten Frauen, die mir im Leben begegnet sind, waren durchaus nicht die klassischen Schönheiten. Wende dir selbst nur einmal ein wenig Interesse zu. Ein wenig runder mußt du noch werden, – dafür lassen wir die Birknern sorgen, und frischere Farben bekommst du schon jetzt. Dann probieren wir eine kleidsame Haartracht. Sollst sehen, was du da für eine hübsche Frau wirst. Das mußt du schon tun, um meinen lebhaften Schönheitssinn zu befriedigen.«

Lisa seufzte und sagte leise:

»Arme Tante, da hast du es nun sehr schlecht mit mir getroffen.«

»Abwarten, Liselchen. Erst frisiere dich einmal anders.«

»Ich fürchte, dazu habe ich wenig Geschick.«

»Dann helfe ich dir im Anfang; denn eine französische Kammerzofe gibt es vorläufig nicht in Rahnsdorf. Gleich nachher probieren wir einmal, ja?«

»Wenn es dir Freude macht.«

»Natürlich macht es mir Freude.« –

Nachdem die Damen den Tee genommen hatten, gingen sie hinauf in Lisas Zimmer. Diese mußte sich vor ihren Toilettetisch setzen und eine Frisierjacke überziehen. Mit Eifer und Wohlgefallen kämmte und bürstete Frau von Rahnsdorf das reiche und lange braune Haar. Sie lockerte es über der Stirn, daß es weich und ungezwungen das Gesicht umrahmte. Dann ordnete sie die Flechten etwas weniger straff und fest, und legte sie gefällig zu einem schönen, der Kopfform entsprechenden Kranze. Wie eine Krone lag er über dem bauschigen Stirnhaar. Es war überraschend, wie verändert die junge Frau aussah, als das Werk vollendet war. Frau von Rahnsdorf war entzückt, und Lisa betrachtete errötend ihr Spiegelbild.

»Nun sag' selbst, Lisa, siehst du nicht viel hübscher aus? Ist das nicht eine ganz reizende junge Frau, die dir da im Spiegel entgegensieht?«

Lisa lächelte wehmütig.

»Ja, Tantchen. Ich bin ganz überrascht, was aus mir geworden ist unter deinen geschickten Händen. Jedenfalls sah ich mit der andern Frisur schauderhaft aus. Das sehe ich erst jetzt ein.«

»Nicht wahr! Und nun wir einmal bei deiner Verschönerung sind, wollen wir gleich deine Toiletten Revue passieren lassen. Bei der flüchtigen Durchsicht deiner Garderobe wollte mir scheinen, als ob wenig Wert auf kleidsame Farben gelegt wurde. Du ziehst jetzt ein Kleid nach dem andern an, und wir wollen dann sehen, ob du vorteilhaft darin aussiehst oder nicht. Wir werden sehr strenge Kritik üben. Was uns nicht gefällt, wird unbarmherzig ausgeschieden; und für jedes Kostüm, das uns nicht gefällt, schenke ich dir ein neues.«

Mit ihrer Hilfe begann Lisa eine Toilette nach der andern anzulegen. An den meisten fand Frau von Rahnsdorf etwas auszusetzen und machte Lisa auf die Fehler aufmerksam. Um ihre Tante nicht zu kränken, wandte die junge Frau einige Aufmerksamkeit auf dieses Toilettenstudium. Tante Anna wußte ihren Kritiken nachdrücklich Geltung zu verschaffen, erklärte Lisa so verständnisvoll alle Mängel, daß die junge Frau schließlich mit wirklichem Interesse bei der Sache war.

»Liselchen, mir scheint, du hast deine Kostüme recht verständnislos ausgewählt. Wie kannst du zu deinem braunen Haar und dem blassen Teint dies Grau tragen, noch dazu mit lila Garnierung! Das sind doch Farben für eine alte Frau.«

»Tanke Hermine liebt grau und lila sehr.«

»Tante Hermine? Ja, für die mögen die Farben passen. Aber du bist doch nicht Tante Hermine. Liebst du denn diese Farben auch?«

»Nein, im Grunde nicht. Aber Tante Hermine hat das ausgesucht und bestimmt.«

»Ohne dich auch nur um deine Meinung zu fragen?«

»Danach hat sie nie gefragt.«

»Natürlich nicht, das konnte ich mir ja denken. Aber ich meine, Tante Hermine sollte ihren auserlesenen Geschmack nur an ihrer eigenen hochgeborenen Person zur Geltung bringen. Zieh das Kleid aus, Liselchen; es ist schauderhaft. Du siehst wie eine Matrone darin aus. Weiß mußt du tragen, viel Weiß; und dann ein dunkles Blau, stumpfes Grün, und meinetwegen auch mal Schwarz und Dunkelrot. Aber gerade diese Farben fehlen gänzlich in deinem Kleidervorrat. Da werde ich dir umgehend einige hübsche Toiletten bestellen, die wir mit Verständnis aussuchen werden. Dies Kleid brauchst du gar nicht erst anzuziehen, auch das nicht, – und das – und das, – nein! Hier die beiden weißen Kleidchen mögen passieren; die sind nicht übel. Und diese beiden praktischen Kostüme kannst du tragen, wenn du jetzt in der Wirtschaft hilfst. Unter einer hübschen Schürze verborgen mögen sie angehen. Aber alles andere verbannen wir.«

»Was soll aber aus den Kleidern werden, Tantchen? Sie sind doch ganz neu?«

»Hm, – das sind sie. Laß mich mal nachdenken.«

Sie betrachtete die ausgeschiedenen Kleider aufmerksam. Dann sagte sie lächelnd:

»Dies hier, das Graue mit dem Lila, schenken wir der Rahnsdorfer Lehrersfrau. Frau Jahnke ist so gegen die vierzig und hat ungefähr deine Figur. Was glaubst du, wie die sich freuen wird! Und diese beiden Seidenroben, – ich finde das Rosa so gräßlich für dich wie dies Türkisblau, – also die beiden Kleider schenken wir den beiden Töchtern meines Inspektors. Die besuchen nächsten Winter wahrscheinlich in Jena einige Bälle. Da können sie Staat machen mit den Kleidern. Sie sind beide brünett und haben frische Farben, denen werden die Kostüme ganz nett zu Gesicht stehen. Gleich nachher lasse ich die Mädchen herüberrufen. Du sollst deine Freude an ihrem Jubel haben. Seidene Kleider, – das ist etwas Märchenhaftes für sie. Mache dich gefaßt darauf, daß sie uns vor Freude erdrücken.«

»Sind das die beiden hübschen jungen Mädchen, die dir gestern die großen Veilchensträuße brachten?«

»Ja, das waren sie, die Grete und die Friedel. Ich habe sie aus der Taufe gehoben, und weil es gute, brave Mädels sind, mache ich ihnen gern einen Spaß. Die Grete kann dann auch noch diese gelbe Bluse bekommen, und Friedel wird sich diese hellblaue zu Gemüte führen.«

Lisa lachte leise.

»O Tantchen, wenn Tante Hermine das mitanhören würde, sie wäre außer sich.«

»Könnte ihr gar nichts schaden. Aber was haben wir denn da?«

Sie hob mit spitzen Fingern einen überreich mit Spitzen garnierten Morgenrock von harter Rosafarbe empor.

»Heilige Kümmernis! Den solltest du armes Wurm auch anziehen?!«

»Ich fand ihn auch nicht schön, Tante Anna.«

»Na, Gott sei Dank. Eine solche Geschmacksverwirrung hätte ich dir auch nie verziehen. Dieser Morgenrock paßt prachtvoll auf die Bühne eines Provinztheaters. Bei Abendbeleuchtung, zu schwarzem Haar und geschminktem Gesicht sieht er vielleicht ganz pompös aus. Aber für dich, in nüchterner Tagesbeleuchtung, auf nüchternem Magen – nein, Tante Hermine ist wirklich nicht recht gescheit.«

Lisa mußte lachen.

»Aber was willst du nun damit machen, Tantchen? Den kannst du doch den Inspektorstöchtern so wenig schenken als der Lehrersfrau. Für Mamsell Birkner oder eine von den Mägden dürfte er sich auch nicht eignen.«

Frau von Rahnsdorf küßte sie lachend auf den Mund.

»Sieh da, das Küken will mich aufziehen. Übrigens eine drollige Idee, Mamsell Birkner in diesem Morgenrock. Wir müßten ihr das Anerbieten einmal machen, – ich glaube, sie hielte uns für blödsinnig. Aber trumpfen sollst du mir nicht, mein Lieselchen. Auch für dieses Monstrum von einem Morgenrock habe ich Verwendung, – eine glanzvolle sogar. Er soll noch eine Berühmtheit erlangen.«

»Aber wie?«

»Sehr einfach. Ich sah diesen Winter in Jena einige Abende im Theater eine sehr hübsche und talentvolle Schauspielerin. Jedenfalls Anfängerin. Sie verfügte über sehr mangelhafte Garderobe, und als Morgenrock trug sie ein ganz undefinierbares Gewand aus weißem – sagen wir dunkelweißem Linnenstoff. Jetzt packen wir den Morgenrock in ein Postpaket, legen diese beiden Hüte dazu, die dir gar nicht zu Gesicht stehen, und schicken das Paket der kleinen Schauspielerin. Sie ist jedenfalls noch in Jena. Dann tun wir ein gutes Werk und befreien uns auf graziöse Art von diesem Ungetüm. Einverstanden?«

So wurde Lisas Toilettenvorrat fast erschöpft; und noch denselben Abend waren die beiden Damen eifrig mit neuen Modejournalen beschäftigt, um für Lisa kleidsame neue Kostüme auszusuchen.

Es besaß doch einigen Reiz für Lisa, einmal ihren eigenen Geschmack berücksichtigt zu sehen. Trotz ihrer bedrückten Stimmung brachte sie dieser Toilettenfrage einiges Interesse entgegen, wenn sie sich auch mit leiser Bitterkeit eingestand, daß ihr Äußeres auch in den neuen Kleidern ›reizlos, unbedeutend, nichts weniger als hübsch‹ sein würde. So hatte sie Ronald dem Freunde geschildert. Sie sah mit unbarmherziger Kritik in den Spiegel, seit sie das gehört, und war überzeugt, daß Ronald recht hatte.

* * *

Mehr als ein Vierteljahr war seit Lisas Hochzeit und Flucht vergangen. Die junge Frau hatte sich schnell in Rahnsdorf eingelebt; sie fühlte sich ganz wie zu Hause. Tante Annas Liebe und Güte hatten sie bald heimisch gemacht. Wohl lastete ihr Kummer noch immer schwer auf ihrem Herzen, aber sie überließ sich demselben nicht willenlos, sondern kämpfte dagegen an. In Tante Annas Gegenwart konnte sie ganz ruhig scheinen; nur wenn sie allein war, kam die Erinnerung an verlorene glückliche Tage, an das grauenvolle Erwachen aus dem holden Traum ihres Glückes. Dann ging es noch immer wie ein Erstarren über ihr Gesicht, und das Herz krampfte sich ihr zusammen in qualvollem Weh.

Anna von Rahnsdorf wußte ganz genau, was in Lisa vorging. Mit feinem Herzenstakt wirkte sie auf ihre Nichte ein. Fast ohne daß diese es merkte, wurde sie beeinflußt, und zwar in einer Weise, die nichts mit der Willkür der Konsulin gemein hatte. Vor allem suchte Frau von Rahnsdorf Lisas Willen stark zu machen. Jede Kleinigkeit mußte sie selbst bedenken und bestimmen. Ob es nun die Einteilung ihres Tagewerks betraf, die Wahl ihrer Lektüre, ihrer Kleidung oder sonst etwas, – über alles mußte sie selbständig entscheiden. Tante Anna hatte ihr einen Pflichtenkreis zugemessen, der ihre Zeit ausfüllte, ohne sie zu überanstrengen. Innerhalb dieses Kreises mußte sie die Verantwortlichkeit übernehmen und alles selbst bestimmen. Die Tante und Mamsell standen ihr nur mit ihrem Rat zur Seite, bis sie sich eingewöhnt hatte.

Dieser neue Wirkungskreis erfüllte die junge Frau mit stiller Genugtuung und half ihr, über ihr Herzeleid hinwegzukommen. Dabei entwickelte sie sich äußerlich ganz auffallend. Ihre Gestalt rundete sich, ihre Bewegungen wurden sicher, kraftvoller und anmutiger. Das linkische, scheue Wesen verlor sich. Ihre Wangen blühten in zartrosiger Farbe, und der stille Ernst auf ihren jungen Zügen hatte nichts mehr gemein mit dem unfreien, schüchternen Ausdruck von früher. Sie trug den Kopf leicht und frei auf den Schultern, und schlug die Augen nicht mehr scheu zu Boden, wenn man mit ihr sprach.

Mit inniger Freude und Genugtuung gewahrte Frau von Rahnsdorf die vorteilhafte Veränderung, die das Leben in Rahnsdorf auf Lisa hervorbrachte. »Birknern, es ist wie ein Wunder. Sieh nur, wie sich unser Pflegling herausmacht,« sagte sie oft.

Mamsell machte dann ein brummiges Gesicht.

»Wäre ja auch noch schöner, gnädige Frau. Wenn ein Mensch in Rahnsdorf nicht auflebt und gesund und stark wird, dann ist Hopfen und Malz an ihm verloren. Ich hab' es doch gleich gesagt, daß wir sie hochpäppeln. Dabei ist gar nichts von einem Wunder.«

»Stelle dich nur nicht so grantig, alter Brummbär. Bist doch genau so froh wie ich, daß das Kind so gut gedeiht.«

»Ja, doch, – aber so viel reden mag ich nicht über 'ne Sache, die selbstverständlich ist.«

Damit war Mamsell Birkner zur Tür hinaus, und Frau von Rahnsdorf lachte hinter ihr her. –

Gleich nach Lisas Genesung war Karl Limbach einige Tage in Rahnsdorf gewesen. Seine Schwester war außer sich vor Freude, als sie ihn wiedersah. Sie lachte und weinte in einem Atem, und auch Karl hatte feuchte Augen.

Auf seiner Schwester besonders dringenden Wunsch sprach er mit Lisa nicht über Ronald. Er war nur sehr lieb und zärtlich zu der jungen Frau. Ein paar stillfriedliche Tage waren es gewesen, in denen die Geschwister alles, was zwischen ihnen lag, gründlich beiseite räumten.

Als Karl Limbach wieder abreiste, hielt er Lisas Hand fest in der seinen und sah ernst in ihr Gesicht.

»Ich will dich nicht zu einer Entscheidung in deiner Angelegenheit drängen, Lisa, was du tun willst, mußt du selbst mit dir ausmachen; kein Mensch kann dir dabei raten und helfen. Aber wenn du dich zu einem Entschluß durchgerungen hast, dann denke daran, daß ein anderer in qualvoller Unsicherheit auf deine Entscheidung wartet. Halte ihn nicht länger hin, als nötig ist. Schaffe bald Klarheit in dir; und wenn du meine Hilfe brauchst zur Ordnung deiner Verhältnisse, dann genügt ein Wort, hörst du?«

Sie hatte errötend zugehört und ihm schweigend die Hand gedrückt.

An Tante Hermine hatte sie einen Brief mitgegeben, worin sie die Konsulin um Verzeihung bat. Eine Antwort hatte sie nicht darauf erhalten. Tante Hermine grollte unversöhnlich.

Mit Ronald war Frau von Rahnsdorf in Briefwechsel geblieben. Lisa wußte nichts davon. In jedem Briefe fragte er unruhig, ob er noch immer nicht mit Lisa sprechen könne. Sein letztes Schreiben verriet große Ungeduld. Frau von Rahnsdorf erhielt es an einem herrlichen Junimorgen. Sie konnte es erst nach dem Frühstück lesen, nachdem Lisa ihren häuslichen Geschäften nachgegangen war. In dem Briefe hieß es unter anderem:

»Die Ungewißheit kann ich nicht länger ertragen, verehrte gnädige Frau. Darf ich wirklich noch nicht kommen, um mit Lisa selbst zu sprechen? Dieser unsichere Zustand ist haltlos.

»Man sieht mich hier bereits mit seltsam forschenden Blicken an, wenn man mich nach dem Befinden meiner jungen Frau fragt. Die Damen vom Regiment betrachten mich entschieden mit leisem Mißtrauen. Wenn mein Freund Mallwitz mich nicht wirksam unterstützte, wäre es noch viel schlimmer.

»Und ich fühle mich in der großen Wohnung, die ich doch notgedrungen beziehen mußte, unsagbar unbehaglich. Weiß ich doch nicht, ob mir Lisas Entscheidung ein Recht geben wird, diese Wohnung als meine eigene zu betrachten. Mir ist zumute, als wäre ich ein unberechtigter Eindringling in diesen Räumen. Selbst die Dienstboten betrachten mich mit mißtrauischen Seitenblicken, obwohl sie ein faules, behagliches Leben führen.

»Alles in allem, liebe verehrte Frau von Rahnsdorf, – es geht so nicht weiter. Ich muß unbedingt mit Lisa sprechen, muß Gewißheit haben. Ihre Bitten, mich in Geduld zu fassen, damit ich nichts verderbe, habe ich berücksichtigt, so lange ich konnte. Jetzt spannen Sie mich, bitte, nicht länger auf die Folter. Wollte ich auch alles andere ertragen, – die Sehnsucht nach Lisa läßt mir keine Ruhe. So steht es jetzt mit mir. Ich liebe meine Frau und sehne mich nach ihrem Besitz, wie sich die Wandlung in meinem Herzen vollzogen hat, weiß ich selbst nicht; ich weiß nur, daß mein Herz unruhig danach verlangt, mein armes junges Weib in meine Arme zu nehmen, ihr zu zeigen, wie lieb sie mir geworden ist. Wenn ich daran denke, wie lieb und zärtlich sie mir so oft in die Augen geblickt hat, dann treibt es mich voll Unrast von einem Ort zum andern.

»Bitte, halten Sie mich nicht länger hin, – ich muß Lisa wiedersehen. Meine Schuld gegen sie drückt mich zu Boden, ich muß von ihren Lippen hören, daß sie mir verzeiht. Ich erwarte umgehend Ihre Nachricht, daß ich kommen darf, und zähle die Stunden bis dahin.

Ihr Sie herzlich verehrender

Ronald Hechingen.«

 

Sinnend hatte Anna von Rahnsdorf den Brief zu Ende gelesen. Ein strahlendes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Langsam faltete sie das Schreiben zusammen und steckte es zu sich.

Dann ging sie hinaus, um Lisa aufzusuchen. Sie fand die junge Frau mit Mamsell Birkner zusammen im Garten bei den Erdbeerrabatten. Die ersten Früchte waren gereift und wurden von den beiden gepflückt. Lächelnd trat sie heran.

»Nun, Kindchen, wie gefällt dir die Erdbeerernte?«

Lisa sah mit vom Eifer gerötetem Gesicht zu ihr auf.

»Wundervoll, Tante Anna. Sieh nur diese herrlichen Früchte! Dieses Blühen und Gedeihen hier ringsum ist mir wie eine Offenbarung. Wie achtlos bin ich früher in der Stadt an all diesen Blumen und Früchten vorbeigegangen, ohne zu ahnen, was alles dazu gehört, sie zur Reife zu bringen. Nun weiß ich es, und ganz andächtig kann ich werden, wenn ich so ein kleines Wundergebilde in der Hand halte.«

Frau von Rahnsdorf nickte ihr zu.

»Ja, Liselchen, die Natur ist die herrlichste Kirche und predigt uns mit tausend Zungen von der Güte und Allmacht Gottes. Da verlangen ungläubige Herzen nach Zeichen und Wundern und denken nicht daran, daß jedes Samenkorn, jedes Blatt, jede Blüte ein großes Wunder ist. Aber jetzt komm ein Weilchen mit mir in die Laube; mich verlangt nach einem Plauderstündchen. Hast für heute genug gepflückt.«

Lisa sah lächelnd auf.

»Mamsell meint, dies Beet müßte heute noch abgesucht werden. Nicht wahr, Mamsell?«

»Freilich, sonst werden die Früchte überreif; und wenn ein Regen kommt, werden sie zerdrückt und schmutzig. Aber ich kann mir die Line zum Helfen holen. Gehen Sie man ruhig mit der gnädigen Frau. Es geht auch so,« sagte Mamsell knurrig, sah aber Lisa mit entschiedenem Wohlgefallen eine Weile nach, als diese mit der Tante Arm in Arm auf dem Hauptweg nach der Laube schritt. Der Rahnsdorfer Garten war so sehr groß, daß man von einem Ende bis zum andern nicht sehen konnte. Der größte Teil davon war mit Obstbäumen bepflanzt. Dieser Teil wurde begrenzt von mehreren Reihen Spalieren, an denen die edelsten Obstsorten gezüchtet wurden. Dann kam eine Abteilung von Beerensträuchern, neben denen ein ganzes Feld mit verschiedenen Erdbeersorten bepflanzt war. Hinter diesem Feld befand sich rechts vom Hauptgang der Gemüsegarten, links der Blumengarten, in dem die herrlichsten Rosen jetzt in voller Blüte standen.

Dort befand sich auch die große, geräumige Laube mit den hübschen, bequemen Rohrmöbeln.

Frau von Rahnsdorf führte plaudernd ihre Nichte dorthin, und die beiden Damen nahmen Platz.

»Weißt du, Tante Anna, von Rahnsdorf gehe ich nie wieder fort. So schön wie hier ist es doch nirgends auf der Welt,« sagte Lisa aufatmend.

Frau von Rahnsdorf betrachtete sie lächelnd.

»Was bist du für eine hübsche, blühende Frau geworden, mein Liselchen! Wenn ich an das kleine, elende blasse Mädelchen denke, welches mir der Heinrich vor einem Vierteljahr auf dem Milchwagen anbrachte, und sehe dich jetzt vor mir, dann kann ich kaum glauben, daß du dieselbe bist.«

Lisa streichelte ihre Hand.

»Das ist dein Werk, Tantchen – und Mamsell nicht zu vergessen.«

»Also fühlst du dich glücklich in Rahnsdorf, Lisa?«

Die junge Frau errötete jäh; ihre Lippen zuckten, und die Augen umflorten sich.

»Ja, Tantchen, sehr glücklich,« sagte sie hastig.

Frau von Rahnsdorf sah ihr ernst in das erregte Gesicht.

»Jetzt sprichst du nicht die Wahrheit, Kind.«

Lisa errötete noch mehr.

»So glücklich, als ich sein kann,« sagte sie leise.

»Das klingt schon anders, Kind. Du sagst, du möchtest immer hierbleiben. Das wäre auch mein Wunsch. Aber, liebes Herz, du darfst nicht vergessen, daß noch ein anderer Rechte an dich hat.«

Lisa erblaßte und wollte aufspringen.

»Bitte nicht, – sprich nicht davon,« bat sie mit dem alten ängstlichen Ausdruck.

Frau von Rahnsdorf hielt sie fest.

»Bleib' nur sitzen, Kind. Es hilft nichts, daß du es machst wie der Vogel Strauß. Einmal muß wieder davon gesprochen werden. Ich hab' dir immer wieder nachgegeben und dies Thema abgebrochen, sobald du dies blasse, ängstliche Gesicht zeigtest. Aber heute mußt du mir standhalten. Hast du wohl schon einmal bedacht, in welch einer peinvollen Lage dein Mann ist?«

Lisa war auf ihren Platz zurückgesunken und faltete die Hände krampfhaft im Schoß.

»Er ist ja frei,« sagte sie tonlos.

»Nein, das ist er nicht, Lisa. Er ist weder frei noch gebunden, weder Vogel noch Fisch. Und mit dir ist es dasselbe. Aber du lebst hier in Stille und Zurückgezogenheit und wirst nicht mit Fragen gequält. Er ist durch seinen Beruf gezwungen, täglich mit vielen Menschen zu verkehren, und jeder fragt ihn, ob seine junge Frau noch immer nicht gesund ist. Jede solche Frage muß er mit einer Ausrede beantworten. Das geht nun nicht länger mehr an. Euer Verhältnis muß klargestellt werden.«

Lisa strich sich das Haar aus dem blassen Gesicht und sah unruhig zur Tante hinüber.

»Ich kann nicht zu ihm zurückkehren, liebe gute Tante. Schreib ihm das; ich bitte dich.«

»Das mußt du ihm selbst sagen, mein liebes Kind. In jedem Briefe bittet er mich darum, dich zu bestimmen, ihm eine Unterredung zu gewähren; und länger kann ich ihm nun nicht mehr abschreiben.«

Lisa blickte sie mit weitgeöffneten Augen an.

»Du korrespondierst mit ihm?«

»Ja, – seit er in Rahnsdorf war.«

»Das wußte ich nicht.«

»Ich verschwieg es dir, um dich nicht zu beunruhigen. Aus demselben Grunde verschwieg ich dir auch, daß er fast drei Wochen in Rahnsdorf war.«

Lisa schauerte zusammen.

»Drei Wochen? Hier in Rahnsdorf?« fragte sie heiser, gequält.

»Ja, Lisa, solange du krank im Bette lagst.«

Lisa war wie betäubt, was sie bei dieser Eröffnung empfand, verriet nur der gequälte Ausdruck der Augen.

»Und davon wußte ich nichts,« stieß sie hervor.

»Es hätte dich zu sehr beunruhigt, Kind; du warst so schwer krank und mußtest Ruhe haben. Deshalb reiste er ab am Tage, bevor du das Bett verließest. Erinnerst du dich an den Strauß Himmelschlüssel und Anemonen, den dir Mamsell an das Bett brachte? Du freutest dich so darüber?«

Lisa nickte wie im Traum.

»Diese Blumen hat Ronald für dich gepflückt.«

Lisa barg das Gesicht in den Händen und saß reglos da. Nur ihr Busen hob sich in erregten Atemzügen. Frau von Rahnsdorf schwieg eine Welle, dann sagte sie scheinbar leichthin:

»Ja, Kind – wenn du mir überhaupt nicht gesagt hättest, daß du aus seinem eigenen Munde gehört hast, daß er dich nicht liebt, – ich hätte darauf geschworen, daß es doch anders ist. Vielleicht hat er auch erst nach deiner Flucht eingesehen, daß er dich liebt; das Menschenherz ist rätselhaft.«

Lisa erhob sich plötzlich und ließ die Hände von dem erstarrten Gesicht herabfallen.

»Entschuldige mich, – es ist so heiß hier,« sagte sie hastig und entfernte sich eilig. Frau von Rahnsdorf hielt sie nicht. Sie sah ihr nach, bis sie im Haus verschwand.

»Armes, liebes Herz, – nun mußt du von neuem kämpfen; aber dabei kann ich dir nicht helfen,« dachte sie mitleidig.

Lisa blieb bis Mittag in ihrem Zimmer. Alle Wunden waren wieder aufgebrochen in ihrem Herzen. Sie saß auf ihrem Diwan und hatte den Kopf in den Händen vergraben, wild stürmten die Gedanken über sie hin. Er war hier gewesen in Rahnsdorf, hatte sich um sie gesorgt und gebangt, ihr Blumen gepflückt! Und all das hatte wie Liebe ausgesehen. – wie Liebe! –

Ein bitteres Lächeln spielte um ihren Mund. Liebe! Er liebte ja eine andere. Nicht Liebe war es gewesen, sondern Schuldbewußtsein, Reue. Aber er sollte sich nicht schuldig fühlen, sollte sich nicht damit quälen, zu verbergen, daß er froh war, der Fessel ledig zu sein.

Sprechen wollte er mit ihr! Sie schauerte zusammen. Ihn wiedersehen zu müssen, welche namenlose Qual mußte das sein! Aber einmal mußte es geschehen. War es da nicht besser, daß sie dies Wiedersehen, welches wie ein Schreckgespenst vor ihr stand, so schnell wie möglich hinter sich hatte?

Wirr drängten die Gedanken in ihrem Kopf und suchten nach einem Ausweg. Sie rang schwer mit einem Entschluß.

Als sie zum Mittagessen in das helle, freundliche Eßzimmer trat, war Tante Anna schon anwesend. Lisa sah sehr blaß und traurig aus, und ihre Lider waren vom Weinen gerötet. Aber ein entschlossener Ausdruck lag um ihren Mund. Sie umfaßte die Tante.

»Verzeihe mir, daß ich vorhin so ungezogen davonlief.«

»Sprich doch davon nicht, mein Liselchen, ich weiß doch, wie es in deinem Herzen aussah.«

Lisa blickte fragend in ihr Gesicht.

»Geht es wirklich nicht anders, Tante Anna, muß ich ihn sehen?«

»Ja, Herzenskind. Du mußt dich mit ihm aussprechen. Schließlich bist du doch auch nicht ohne Schuld. Er hat deine Hand begehrt, ohne dich zu lieben; und du bist ihm davongelaufen, – trotzdem du ihn liebst. Denke dich doch in seine Lage. Da lebt er nun einsam in der Wohnung, die für euch beide bestimmt war und von deinem Gelde bezahlt wird. Wie furchtbar ihm das ist, hat er mir neulich geschrieben. Er will nichts als Gewißheit. Weigerst du dich wirklich, mit ihm zu leben, oder verlangst du die Scheidung, dann will er nach Afrika gehen. Aber so wie es jetzt ist, geht es nicht länger.«

Lisa war zusammengezuckt.

»Nach Afrika? Nein, – das – darf er seiner Mutter nicht antun. Sie wird sich totängsten um ihn.«

»Wenn du aber auf einer Scheidung bestehst, was bleibt ihm da übrig? Du weißt, er stand vor dem Ruin, ehe er sich mit dir verlobte. Wenn eure Ehe geschieden wird, hat sich seine Lage höchstens verschlechtert.«

»Aber meinetwegen braucht sie nicht geschieden zu werden. Wir können auch ohnedies getrennt leben.«

»Das wird für deinen Mann keinen Unterschied ausmachen. Aus seinen Briefen geht hervor, daß er schon jetzt, nur dem Zwange gehorchend, von deinem Gelde Wohnungsmiete, Dienstbotengehälter und so weiter bezahlt. Noch hofft er, daß du zu ihm zurückkehren wirst, und erträgt den peinlichen Zustand in dieser Hoffnung. Bleibst du aber darauf bestehen, von ihm getrennt zu leben, dann wird er nichts mehr von dir annehmen wollen; und was bleibt ihm da anders übrig, als ein etwas gewaltsamer Ausweg?«

Lisa ging unruhig im Zimmer auf und ab. Plötzlich blieb sie dann vor ihrer Tante stehen und warf sich voll leidenschaftlicher Heftigkeit in ihre Arme.

»Du mußt helfen, Tante Anna, – bitte! Denke nach, ob du keinen Ausweg findest. Nach Afrika darf er nicht. Ich hätte keine ruhige Stunde mehr. Mit ihm zusammenleben kann ich auch nicht, – ich kann nicht. Hilf mir. Du bist gut und klug, – denke darüber nach, wie wir ihm helfen können. Ich bin ja so reich. Nimm all mein Geld, nur leide nicht, daß er nach Afrika geht.«

Frau von Rahnsdorf streichelte beruhigend ihre Wangen.

»So sehr liebst du ihn, meine Lisa, – und willst doch nicht zu ihm gehen.«

»Eben weil ich ihn zu sehr liebe, kann ich als ungeliebte Frau nicht an seiner Seite leben. Versteh' mich doch, liebe, gute Tante.«

»Nun, beruhige dich nur, Kind. Erst sprich einmal mit ihm. Vielleicht kommt alles anders.«

»Aber wenn nicht, dann hilfst du mir?«

»Ja, – ich helfe dir.«

»Ich danke dir innig für deine Güte, liebe Tante.«

»Laß nur, mein Liselchen. Also ich schreibe ihm, daß er kommen soll.«

Lisa legte ihren Kopf an die Schulter der Tante und seufzte:

»Wenn es denn sein muß, so schreibe ihm.«

»Ja, Herzblatt, es muß sein. Sollst sehen, du fühlst dich nachher viel leichter und freier, wenn du es hinter dir hast. So steht dies Wiedersehen wie ein Schreckgespenst vor dir. Aber nun komm, – jetzt wollen wir das Essen nicht versäumen. Mamsell hat zum Nachtisch Sahne für dich geschlagen, die bekommst du mit frischen Erdbeeren. Du weißt, wenn du nicht tüchtig zulangst, bekommst du Schelte von ihr.«

Frau von Rahnsdorf zog Lisa an den Tisch und gab das Zeichen zum Auftragen der Suppe.

* * *

Die beiden nächsten Tage verbrachte Lisa in einer unruhigen, bedrückten Stimmung. Sie fürchtete sich namenlos vor diesem Wiedersehen mit ihrem Gatten. Eine treibende Rastlosigkeit lag in ihrem Wesen. Frau von Rahnsdorf beobachtete sie scharf, und endlich konnte sie nicht mehr ruhig zusehen, wie sich Lisa immer mehr in eine qualvolle Aufregung hineinsteigerte. Sie nahm sie bei beiden Händen und sah ihr ernst und fest in die Augen.

»Schäme dich, Lisa,« sagte sie fast streng.

Die junge Frau erschrak.

»Tante, – liebe Tante!«

»Nein, Kind. Ich will gar nichts hören; aber sehr betrübt bin ich über dich, das glaube mir. All meine Mühe war umsonst; du bist noch genau das kleine feige Mädel, wie zuvor. Und ich hatte mich schon so sehr gefreut über dich, glaubte, du wärst ein starkes, tapferes Geschöpf geworden!«

Einen Augenblick duckte sich Lisa unter diesen vorwurfsvollen Worten. Dann aber richtete sie sich auf mit einem tiefen Atemzug. Ihre Augen blickten klar und entschlossen.

»Du sollst dich in mir nicht getäuscht haben, Tante Anna. Ich will dir zeigen, daß du dich nicht umsonst mit mir gequält hast. Ich verspreche dir jetzt freiwillig, daß ich ruhig sein will. Sei mir wieder gut, ja?«

»Brav, mein Liselchen. So machst du mir Freude.«

Und Lisa hielt Wort. Ruhige Entschlossenheit lag seit dieser Stunde über ihrem Wesen. Wenn ihr auch das Herz noch immer in gleicher Weise erzitterte bei dem Gedanken an die Zusammenkunft mit Ronald, so war ihr davon nichts mehr anzumerken. Sie war zur Klarheit gekommen mit sich selbst über das, was sie ihm zu sagen hatte, und erwartete ihn mit äußerer Ruhe. –

Am Morgen des vierten Tages, seit Frau von Rahnsdorf Lisa bestimmt hatte, Ronald zu empfangen, traf ein Telegramm von ihm ein. Er meldete seine Ankunft mit dem Mittagszug. Frau von Rahnsdorf sagte Lisa nichts davon, um sie nicht wieder aus dem Gleichgewicht zu bringen. Es erschien ihr am besten, wenn Ronald seine junge Frau mit seinem Erscheinen überraschte. Vielleicht führte die Überraschung die beiden Menschen wieder zusammen. Lisa hatte dann keine Zeit, sich in eine abwehrende Haltung hineinzudenken. Schaden konnte es auf keinen Fall, wenn er plötzlich vor ihr stand.

Sie schickte zur bestimmten Zeit den Wagen nach der Station, ohne daß Lisa es merkte. Kurz bevor Ronald in Rahnsdorf eintreffen mußte, ging sie mit der jungen Frau in den Garten. Dort sollten die Bohnenranken hochgebunden werden. Lisa beschäftigte sich mit Vorliebe mit solchen Gärtnerarbeiten, die ihr neu und interessant waren.

Frau von Rahnsdorf zeigte ihr, wie sie es machen mußte, und betrachtete dann mit Wohlgefallen die junge Frau.

Lisa trug einen fußfreien, um die Hüften glatt anliegenden weißen Rock, der unten in reichen Falten ausfiel. Dazu eine feine weiße Batistbluse mit schönen Stickereien und durchbrochenem Koller. Ein schmaler goldener Gürtel vervollständigte den einfachen, aber sehr schicken Anzug. Das reiche Haar war, wie jetzt immer, leicht und gefällig geordnet und bauschte sich in tiefen Wellen um das zartgerötete Gesicht, das trotz des ernsten Ausdrucks nicht ohne Liebreiz war. Die Tante war sehr zufrieden mit ihrem Aussehen. Das war eine andere Lisa als die, von der Ronald gesagt hatte, daß sie reizlos, nichts weniger als hübsch und geschmacklos in der Kleidung sei. Er würde nicht wenig erstaunt sein über die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war, und ihr Anblick würde das Gefühl, welches in seinem Herzen für Lisa keimte, zur Entfaltung bringen.

Ronalds war Frau von Rahnsdorf sicher; aber Lisa machte ihr Sorge. Sie hatte einen tiefen Blick in das Wesen der jungen Frau getan. Es würde Ronald schwer halten, sie von seiner erwachten Liebe zu überzeugen; und ohne diese Überzeugung würde Lisa nie einwilligen, in Gemeinschaft mit ihm weiterzuleben. Man mußte vorsichtig zu Werke gehen, wenn man nicht alles verderben wollte.

In ihre Gedanken hinein vernahm sie das Heranrollen des Wagens, der Ronald bringen sollte. Ein Blick in Lisas Gesicht verriet ihr, daß diese nicht darauf geachtet hatte.

»Eben fällt mir ein, daß ich der Birknern noch etwas zu sagen habe. Ich muß sie aufsuchen, Liselchen. Bleib' du ruhig bei deiner Arbeit; ich komme gleich wieder,« sagte sie ruhig.

Lisa nickte ihr nur lächelnd zu, ohne sich stören zu lassen.

Frau von Rahnsdorf kam gerade zurecht, um Ronald in der Halle zu empfangen. Sie begrüßte ihn mit wohltuender, herzlicher Wärme, und führte ihn, nachdem er Hut und Paletot abgelegt hatte, in das Wohnzimmer. Seinen unruhig suchenden Blick auffangend, sagte sie lächelnd:

»Lisa ist im Garten. Sie weiß nicht, daß Sie schon heute kommen. Ich habe es ihr absichtlich verschwiegen. Gleich nachher sollen Sie zu ihr hinausgehen; im Garten sind Sie jetzt ganz ungestört. Ich wollte nur zuvor noch ein paar Worte mit Ihnen sprechen und Sie zur Vorsicht mahnen.«

»So haben Sie nicht viel Hoffnung, daß meine Sache gut steht?« fragte er, heiser vor Erregung.

»Weder gut noch schlecht. Es hängt alles davon ab, ob Sie Lisa überzeugen können, daß sie von Ihnen geliebt wird, – und daß ihr Besitz zu Ihrem Glücke notwendig ist.«

»O, – davon will ich sie gewiß überzeugen,« sagte er zuversichtlich.

»Denken Sie sich das nicht zu leicht, mein lieber Ronald, – ich darf Sie doch so nennen?«

Er zog ihre Hand an die Lippen.

»Ich betrachte es als einen erneuten Beweis Ihrer Güte.«

»Sagen wir: meiner Sympathie für Sie. Also, wie gesagt: denken Sie sich das nicht so leicht. Vergessen Sie nicht, daß eine solche Enttäuschung, wie sie Lisa erlebt hat, mißtrauisch macht. So leicht wird sie Ihnen nicht glauben.«

»Ich werde nicht ruhen, bis sie sich überzeugen läßt,« erwiderte er zuversichtlich.

»Erzwingen läßt sich das nicht. Deshalb rate ich Ihnen: Vorsicht. Verstehen Sie mich recht; machen Sie sich darauf gefaßt, daß Sie heute noch nicht zum Ziele kommen. Lassen Sie Lisa Zeit, wenn sie nicht gleich zu überzeugen ist, sonst verderben Sie alles.«

Ronald machte ein enttäuschtes Gesicht.

»Ihre Worte klingen wenig ermutigend.«

»Weil ich Sie warnen will, alles auf eine Karte zu setzen. Wenn Sie heute auch noch nicht zum Ziel kommen, so erreichen Sie es ein anderes Mal. Einmal werden Sie es erreichen, wenn Sie klug sind. Ein getäuschtes Frauenherz ist ein seltsames Ding. Fassen Sie es zart und behutsam an, lieber Ronald.«

»So soll ich noch weiter in diesem unklaren, haltlosen Zustande verharren? Liebe, gnädige Frau, – das kann ich nicht. Wenn ich morgen in meine Garnison zurückkehre, muß ich eine Entscheidung treffen, wie sich fernerhin mein Leben gestalten soll. Entweder kehrt Lisa zu mir zurück, oder ich gehe nach Afrika. Dann würde sich der Riß zwischen uns nicht länger vertuschen lassen. Ein anderer Ausweg bliebe mir nicht.«

»Vielleicht findet sich doch noch einer. Gehen Sie jetzt hinaus zu Lisa und beherzigen Sie meinen Rat. Wie Ihre Unterredung auch ausfällt, wir sprechen dann später noch zusammen.« – – –

Ronald trat mit schnellen Schritten in den Garten. Sein suchender Blick schweifte umher. Es war so still und weltverloren ringsum. Der Garten lag im hellen Sonnenlicht. Auf dem von großen Obstbäumen begrenzten Hauptweg lagen zitternde Schatten von den leichtbewegten Blättern. Als er um das Gesträuch bog, welches den Blumengarten von dem Gemüsegarten trennte, verhielt er plötzlich den Schritt.

Drüben an den Bohnenstangen stand eine weibliche Gestalt, die ihm den Rücken zukehrte. Sie hatte die Arme erhoben, um eine widerspenstige Ranke festzubinden. Diese anmutige, ungezwungene Stellung brachte die edel gerundeten Linien zur vollsten Geltung.

Ronalds Herzschlag stockte. Konnte das Lisa sein?

Die Frauengestalt vor ihm erschien ihm größer, voller als die Lisas, und die anmutigen Bewegungen hatten so gar nichts gemein mit Lisas unsicherem, befangenem Wesen. Und das im Sonnenlicht glänzende Haar, von dem der leichte, breite Gartenhut im Eifer der Beschäftigung herabgeglitten war, das hatte in seiner weichen Fülle so gar keine Ähnlichkeit mit dem ungraziösen, abstehenden Knoten, den er sonst auf ihrem Kopf zu sehen gewohnt war. Allerdings, die Farbe war dieselbe. Aber sonst, nein – das konnte unmöglich Lisa sein.

Er stand eine Weile befangen da und starrte zu ihr hinüber. Jetzt war die Ranke befestigt. Lisas Arme glitten herab, und einen Augenblick stand sie in müder Haltung, mit zu Boden gesenktem Blick da. An dieser Bewegung erkannte er sie.

Schnell schritt er vorwärts. Sie hatte einen neuen Bastfaden ergriffen und faßte nach einer anderen losen Ranke. Nun hörte sie seinen Schritt, wandte sich aber nicht um, weil sie glaubte, die Tante kehre zurück.

»Bist du wieder da, Tantchen? Schau nur, wie diese Wildlinge widerspenstig sind. Nach allen Seiten drängten sie sich hinaus. Es ist, als ob sie sich wehren wollten gegen die Fesseln, die wir ihnen anlegen.«

Ronald stand stumm und mit bleichem, erregtem Gesicht hinter ihr. Da sie keine Antwort erhielt, wandte sie sich fragend um und erblickte ihn. Leichenblaß taumelte sie zurück und lehnte sich kraftlos an einen Baum. Ihren Händen entfielen Schere und Bast; sie streckte sie wie in instinktiver Abwehr gegen ihn aus. Kein Laut kam über ihre Lippen. In ihren Augen lag ein Ausdruck hilfloser Angst, als wenn sie nach einem Ausweg suchten, um entrinnen zu können. Alle guten Vorsätze, ruhig zu bleiben, waren in diesem Augenblick vergessen.

Er empfand ihren Schrecken und die unbewußte Abwehr wie einen körperlichen Schmerz, wie anders war sie ihm früher entgegengetreten! Sein Blick ruhte in schmerzlicher Bewunderung auf ihr. Wie durch ein Wunder schien sie ihm verändert. Noch einen Schritt trat er auf sie zu.

»Lisa!«

Dunkle Glut schoß nun in ihr Gesicht. Sie krampfte die Hände zusammen und versuchte sich zu fassen. Er war nicht weniger erregt als sie. Ein heißer Schmerz stieg in ihm auf. Erst jetzt, als er sie vor sich sah in ihrer furchtbaren Aufregung, wurde ihm ganz klar, was er ihr angetan hatte.

»Verzeihe, Lisa. Ich habe dich erschreckt. Du hast mich in dieser Stunde nicht erwartet,« sagte er leise.

Sie hatte sich mühsam ein wenig gefaßt.

»Nein, – ich wußte nicht, daß – daß du heute schon kommen würdest,« stammelte sie.

»Schon? Mir schien es eine Ewigkeit, daß du mich verbanntest.«

Sie richtete sich auf aus ihrer kraftlosen Stellung und rief sich in das Gedächtnis zurück, was sie sich vorgenommen hatte, ihm zu sagen. Der entschlossene Ausdruck kehrte nun, da sie den Schrecken verwunden hatte, in ihr Gesicht zurück.

Er mußte sie nur immer ansehen. Wie wunderbar sie sich verändert hatte in den wenigen Monaten, wie hübsch sie geworden war! Oder hatte er nur früher keine Augen gehabt für ihre stillen Reize?

So standen sie sich eine Weile stumm gegenüber. Es war Lisa, die zuerst die Situation beherrschte. Scheinbar ruhig sagte sie:

»Du bist eben erst angekommen?«

»Ja.«

»Dann wirst du danach verlangen, dich zu restaurieren. Bitte, gehe ins Haus. Tante ist drinnen. Ich bin hier gleich fertig und komme dann hinein.«

Er betrachtete sie mit schmerzlichem Staunen. Wie ruhig und konventionell sie sich gab, nun sie den Schreck überwunden.

»Willst du mir nicht die Hand reichen, Lisa?«

Wieder flog ein Erröten über ihre Züge und verriet, daß sie nicht so ruhig war, als sie schien.

»Verzeih,« sagte sie höflich und legte ihre Hand in die seine. Er fühlte ihr leises Beben. Mit einer fast andachtsvollen Bewegung führte er sie an die Lippen. Dann sagte er bittend:

»Schicke mich jetzt nicht fort, Lisa. Deine Tante habe ich schon begrüßt. Sie schickte mich hierher und sagte mir, daß ich hier ungestört mit dir sprechen kann. Und ich möchte endlich die Last von mir werfen, die mich so lange schon quält und drückt.«

Sie wäre am liebsten noch eine kurze Zeit allein gewesen, um sich zu fassen; aber sie sah in sein blasses, unruhiges Gesicht und vermochte es nicht, ihn fortzuschicken. Schließlich half es nichts, die Entscheidung noch um Minuten hinauszuzögern.

»So komm mit mir hinüber in die Laube; da ist Schutz vor der Sonne,« sagte sie und schritt an ihm vorüber. Er folgte ihr, ohne seinen Blick von ihr zu lassen. In der Laube zeigte sie auf einen Rohrsessel.

»Bitte, nimm Platz!«

Nun saßen sie sich gegenüber. Er blickte sie an, und sie sah an ihm vorüber in die Ferne.

»Wie sehr du dich verändert hast, Lisa,« sagte er heiser. »Fast kannte ich dich nicht wieder.«

»Das macht meine Krankheit,« erwiderte sie, ohne ihn anzusehen.

»Von dieser Krankheit merkt man dir nichts mehr an, – gottlob. Du siehst sehr wohl aus, bist stärker geworden und viel –«

Er wollte sagen ›viel hübscher‹, besann sich aber und schloß: ›viel frischer‹. Lisa sah noch immer an ihm vorüber.

»Das macht Tantes ausgezeichnete Pflege. Sie ist so gut zu mir, und ich fühle mich wohl in Rahnsdorf.«

Wieder entstand eine Pause. Er wurde immer erregter, je ruhiger sie zu werden schien. Plötzlich faßte er ihre Hand.

»Nein, Lisa, – nun ertrage ich es nicht länger, in diesem konventionellen Ton mit dir zu sprechen. Lisa, wenn du wüßtest, wie ich um dich gelitten habe, wie es mich gemartert hat, daß ich dir so weh getan habe! Verzeihe mir! Ich hatte keine ruhige Stunde mehr, seit ich wußte, daß du jene unglückseligen Worte gehört hattest.«

Ihre Hand ruhte wie gefangen in der seinen. Sie schloß einen Augenblick die Augen. Dann zwang sie sich zu einem blassen Lächeln, das ihm furchtbar weh tat.

»Ich habe dir nichts zu verzeihen.«

»Doch, Lisa, doch!«

»Du hast mir ja nie gesagt, daß du mich liebst. Ich nahm es nur an, weil du um mich anhieltest. Und ich war so töricht, zu glauben, daß dies aus Liebe geschah. Wie konnte ich nur?! Wie konnte ich nur glauben, daß ein Mann wie du an einem so reizlosen, unscheinbaren Geschöpf, wie ich es bin, Gefallen findet? Ich wußte nicht, daß man an meinesgleichen wohl die Hand, aber nicht das Herz verschenkt.«

Es lag keine Bitterkeit, nur tiefe Trauer in ihren Worten. Trotzdem trafen sie ihn bis in das Herz.

»Lisa!« rief er erschüttert.

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, nein, – laß nur – ich habe dir nicht gezürnt, nicht einen Augenblick.«

»Das ist sehr edel von dir; aber es spricht mich nicht frei von Schuld.«

»Ich aber spreche dich frei. Du wußtest ja nicht, daß ich dich liebte und an deine Liebe glaubte. Tante Hermines Verhalten hatte dich berechtigt, anzunehmen, daß ich Baronin Hechingen werden wolle, – sonst nichts. So haben wir uns beide getäuscht, und ich habe dir nicht mehr zu verzeihen, als du mir. Im Gegenteil, – ich muß dich um Verzeihung bitten, daß ich dich durch meine Flucht in eine so peinliche Lage brachte.«

»Du konntest nicht anders handeln in jenem unglückseligen Augenblick. Ich habe dich verstanden, Lisa.«

Sie sah an ihm vorbei.

»Ja, – ich – ich konnte dich nicht wiedersehen. Ich schämte mich namenlos. Deshalb schob ich es auch immer weiter hinaus, das Nötigste mit dir zu besprechen. Ich schäme mich noch heute, – werde es nie verwinden, daß ich dir mit meiner Liebe lästig fiel.«

Das sagte sie stockend, mit tonloser Stimme; und ihre Augen sahen dabei starr ins Leere.

Er gab ihre Hand frei und lehnte sich erblassend zurück.

»Du schämst dich, daß du einem Unwürdigen deine Liebe schenktest,« sagte er gepreßt.

Sie sah ihn an. Sein verstörter Ausdruck tat ihr weh.

»Nein, – nicht einem Unwürdigen, aber einem, der sie nicht begehrte. Du bist kein Unwürdiger in meinen Augen, Ronald. Ich weiß, die Not zwang dich, ein Band zu schließen, welches dir als drückende Fessel erschien. Nie hast du mir Liebe geheuchelt, wenn ich auch dein gütiges Wesen mir gegenüber für Liebe hielt. Dafür kannst du nicht verantwortlich gemacht werden. Nie werde ich deshalb gering von dir denken, glaube es mir.«

»Du erdrückst mich mit deiner Großmut, Lisa! – Das war es ja, was ich damals quälend empfand, daß du edler, besser warst, als ich. Ich kam mir so klein vor neben dir, so erbärmlich. Dagegen wehrte ich mich, das empfand ich als Fessel. Und dies Gefühl gab mir die unseligen Worte ein, die mir Mallwitz gegenüber über die Lippen kamen. Hätte ich sie doch nie gesprochen!«

Sie sah ihn groß und ernst an.

»Gottlob, daß du sie sprachst und daß ich sie hörte. Fast war es schon zu spät. Hätte ich erst später erfahren, daß ich eine ungeliebte Frau war, – es wäre mein Tod gewesen. Noch bin ich nicht deine Frau, wenn auch Kirche und Gesetz uns verbunden haben. Noch bin ich frei, trotz allem; und das ist das einzige, was mir über die qualvolle Demütigung hinweghilft.«

»Du hättest es nie erfahren, Lisa; nie hätte ich es dich fühlen lassen.«

Sie schauerte zusammen und schloß die Augen.

»Ein Zufall wie dieser hätte es mir auch später verraten können. Es wäre entsetzlich gewesen,« sagte sie mit bebenden Lippen.

Es lag etwas in ihrem Wesen, im Ausdruck ihrer Stimme, ihrer Augen, das ihn erschütterte. Ein heißes Gefühl stieg in ihm empor, eine innige Dankbarkeit, daß er sie lieben konnte. Nur seine Liebe konnte sie heilen von allen Schmerzen; das empfand er mit Gewißheit. Am liebsten hätte er sie in seine Arme gerissen und ihre schönen, traurigen Augen geküßt, bis sie wieder froh und heiter blickten, so voll zärtlicher Liebe, wie sie ihn früher angesehen. Wie er sich sehnte, diesen Ausdruck wieder in ihren Augen zu sehen! Aber etwas in ihrer Haltung riet ihm Vorsicht. Er durfte sie nicht erschrecken mit dem Ausbruch seines Empfindens. Gewaltsam rang er die Erregung nieder. Stumm blickte er in ihr Gesicht. Welch ein feiner, stiller Reiz lag auf ihren Zügen; wie lieblich und anmutvoll erschien sie ihm in dem geschmackvollen weißen Gewand.

Das war sein Weib, mit dem er vor dem Altar das Gelübde der Treue abgelegt hatte. Er hatte sich das Recht verscherzt, sie zu besitzen, und mußte von neuem um sie werben. Bewegt beugte er sich herab über ihre Hand, die wie leblos auf der Lehne des Sessels ruhte. Der breite Goldreif daran war das sichtbare Zeichen, daß sie zu ihm gehörte, trotz allem. Seine Lippen berührten die Stelle ihrer Hand, wo der Ring befestigt war. Sie zuckte zusammen und zog die Hand zurück.

»Lisa, was soll nun aus uns werden?« fragte er leise, bittend.

Sie strich aufseufzend über die Stirn. Dann sagte sie scheinbar ruhig:

»Es kommt nur darauf an, die äußeren Umstände zu berücksichtigen. Über unser Verhältnis zueinander sind wir ja im klaren. Daß an eine Gemeinschaft zwischen uns nicht zu denken ist, darüber bedarf es keiner Worte.«

»So fest steht das in deinem Innern?«

Sie stützte den Kopf in die Hand.

»Hoffentlich hast du das nicht bezweifelt,« erwiderte sie rauh.

»Doch, Lisa. Ich hoffte, es würde mir gelingen, dich zu überzeugen, daß meine Gefühle für dich eine Wandlung erfahren haben, – oder vielmehr, daß ich erst in dieser qualvollen Zeit erkannt habe, was du mir bist. Lisa, ich liebe dich.«

Sie fuhr auf von ihrem Platz und stand hochaufgerichtet vor ihm, blaß bis in die Lippen und mit so leidenschaftlichem Zorn in den Augen, daß er erschrak.

»Schweig! Beleidige mich nicht! Das tust du, wenn du mir jetzt von Liebe sprichst! Demütige mich nicht noch mehr durch diese Lüge! Ich glaube dir nicht!« Sie stieß diese Worte mit leidenschaftlicher Heftigkeit hervor.

Sie setzte sich dann wieder in ihren Stuhl zurück, weil die Knie unter ihr zitterten. Ihr Mund war herb geschlossen, und ihre Augen brannten. Er wurde sich plötzlich bewußt, wie schwer es ihm sein würde, sie von seiner Liebe zu überzeugen.

»Lisa, ich habe dir nie wissentlich eine direkte Unwahrheit gesagt, wenn ich dich doch überzeugen könnte! Wenn du mir doch glauben wolltest! Erst seit du mir verloren warst, erkannte ich, daß ich dich liebte. Voll heißen Mitleids habe ich daran gedacht, was du durch mich gelitten hast.«

Ihr Antlitz war starr und unbewegt, als sie jetzt sagte:

»Bitte, sprich nicht mehr darüber, ich kann es nicht hören. Ich will dir glauben, daß du mir nicht wissentlich eine Unwahrheit sagen willst. Vielleicht bildest du dir jetzt wirklich ein, mich zu lieben. Aber ich weiß es besser. Es ist nur Mitleid, nichts weiter. Nie würde ich glauben können, daß du jetzt plötzlich Liebe für mich empfindest. Laß uns dies Thema beenden, wenn du willst, daß ich weiter mit dir sprechen soll.«

Er sah, wie alles an ihr bebte, wie starr und erloschen ihr Blick war. Frau von Rahnsdorfs Worte fielen ihm ein. Sie hatte ihm Vorsicht anempfohlen. Ihre Warnung erschien ihm jetzt sehr beherzigenswert. Er begriff, daß er von Lisa jetzt noch keinen Glauben erwarten durfte. Noch war alles wund und weh in ihr. Er mußte ihr Zeit lassen und sie durch sein Verhalten, nicht durch Worte von seiner Liebe überzeugen.

»Wie du willst,« sagte er leise. »Du hast zu bestimmen.«

Sie atmete gepreßt auf. Dann sagte sie mit verhaltener Stimme:

»Du wirst dich von mir scheiden lassen wollen; ich glaube, du hast einen rechtlichen Grund, weil ich dich verließ. Ich werde dir kein Hindernis in den Weg legen.«

Seine Züge strafften sich. Er sah sie mit dunklen Blicken an.

»Ich habe nicht die Absicht,« sagte er fest.

Sie blickte in sein düsteres Gesicht. Etwas Unsicheres, Hilfloses, was an die alte Lisa erinnerte, lag in ihren Augen, als sie zaghaft fortfuhr:

»Wenn ich als schuldiger Teil aus der Scheidung hervorginge, – und das würde ich wohl, weil ich dich verließ, – dann – dann würde dir ein Teil meines Vermögens zugesprochen. Ich habe in einem Buche davon gelesen, daß es so ist. Und, – ach, Ronald, wenn ich dir doch helfen könnte! Wenn du es mir doch erlauben wolltest. Ich bin ja so reich, – und für mich hat das Geld keinen Wert! Dir aber würde es helfen aus aller Not.«

Es zuckte und arbeitete in seinem Gesicht.

»Deutlicher hättest du mir nicht sagen können, wie niedrig du mich einschätzest,« sagte er bitter.

Sie hob bittend die Hände und sah ihn voll heißen Flehens an.

»O Ronald, mißverstehe mich doch jetzt um Gottes willen nicht.«

Er sah sie an. Nie war sie ihm so reizend und liebenswert erschienen, wie jetzt.

»Ich glaube, ich habe dich nur zu gut verstanden. Du willst, daß ich mich von dir scheiden lasse und alle Schuld auf dich abwälze, damit ich für diese Heldentat bezahlt werde, nicht wahr?«

»Nein, nein – lassen wir doch den Scheidungspunkt ganz aus dem Spiel. Ich bitte dich nur, gestatte mir, wie ein treuer Freund äußerliche Sorgen von dir zu nehmen. Darum bitte ich dich.«

»Du liebst mich nicht mehr, Lisa, das sehe ich jetzt, sonst könntest du mir nicht solch ein Anerbieten machen.«

Sie errötete tief.

»Ach, – es ist ja gleich, ob du an meine Liebe glaubst oder nicht. Aber ich liebe dich, wie ich dich immer geliebt habe und immer lieben werde. Sieh, ich schäme mich nicht, dies noch einmal auszusprechen, weil ich dir zeigen will, daß ich dich mit meinem Anerbieten nicht demütigen will. Meine Liebe soll mir ein Recht geben, deine Zukunft sorgenlos zu gestalten. Wenn du mir ein Zeichen geben willst, daß du nicht gering von mir denkst, weil ich dir meine Liebe jetzt noch so offen eingestehe, so nimm mein Anerbieten an. Gleichviel, ob du dich von mir scheiden lassen willst oder nicht, – laß mich meinen Reichtum mit dir teilen. Er würde mir ein stilles Glück bereiten. Nicht ein so vermessenes, leuchtendes, wie ich einst von der Zukunft erhoffte, aber doch ein Glück. Das darfst du mir nicht zerstören, – das bist du mir schuldig.«

Er sah sie mit seltsam brennenden Augen an.

»Wie beredt du bist, Lisa! Ein rätselhaftes Geschöpf bist du! Was für Überraschungen erlebe ich an dir, die ich für unbedeutend und – reizlos hielt. Wenn du jetzt in meiner Seele lesen könntest, du würdest nicht weniger überrascht sein als ich, glaube es mir,« sagte er mit verhaltener Bewegung und küßte voll Inbrunst ihre Hand.

»So willigst du ein? Du nimmst meine Hilfe an?« fragte sie atemlos.

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, Lisa – oder doch nur unter einer Bedingung.«

»Nenne sie mir,« bat sie hastig.

»Nur unter der Bedingung, daß du mit mir gehst, mir Gelegenheit gibst, dich von meiner Liebe zu überzeugen.«

Sie zuckte zusammen und riß ihre Hand von ihm los.

»Nein – nein. Belüge nicht dich selbst und mich. Denke an – die andere, die du liebst.«

»Ich liebe keine andere, Lisa. Wenn du Lili Sanders meinst, – das ist vorbei. Sie ist die Braut eines anderen Mannes. Vor kurzem hat sie sich verlobt.«

Lisa fiel in ihren Sessel zurück. Ein schmerzlicher Gedanke stieg in ihr auf. Wollte er deshalb nach Afrika gehen, wenn sie nicht zu ihm zurückkehrte? War er über die Verlobung des geliebten Mädchens so unglücklich, daß sein Leben wertlos für ihn geworden war? Ihr Herz krampfte sich zusammen.

»Das wußte ich nicht. – Armer Ronald!«

Er lächelte.

»Deshalb brauchst du mich nicht zu bedauern. Wenn du mich glücklich machen willst, so gehe mit mir.«

»Nein,« sagte sie fest, wenn auch mit blassem, schmerzverzogenem Gesicht. »Ich sage es dir zum letzten Male: ich kann nicht mit dir gehen, weil ich nicht an deine Liebe glauben kann.«

Er erhob sich und sah eine Weile in den Garten hinaus. Dann wandte er sich wieder nach ihr um.

»So bestehst du auf Scheidung?«

»Ich nicht – das überlasse ich dir!«

»Und ich habe keine Ursache, eine Scheidung einzuleiten. Bitte, bedenke aber nun, was man den Leuten sagen und was aus den Möbeln, aus der Wohnung werden soll. Du mußt mir deine Wünsche klarmachen. Wenn du auf deiner Weigerung beharrst, mich zu begleiten, so werde ich nach meiner Rückkehr die nötigen Schritte tun und so bald als möglich nach Afrika gehen. Dann brauchst du dich nicht mehr um meine pekuniären Verhältnisse zu sorgen, und – ich brauche niemand mehr Rede und Antwort zu stehen über meine Frau. Wenn ich nach Jahren einmal zurückkehren sollte, wird man meine kurze Ehe vergessen haben.«

Lisa sah starr zu ihm auf. Sie zitterte am ganzen Körper. Kürzlich hatte sie ›Peter Moors Fahrt nach Südwest‹ gelesen. Sie sah Ronald im Geiste unsäglichen Gefahren und Mühsalen ausgesetzt. Ihr Herz erbebte.

»Das darfst du deiner Mutter, deiner Schwester nicht antun.«

Er zuckte die Achseln.

»Mir bleibt kein anderer Ausweg, wenn du jetzt nicht zu mir zurückkehrst.«

Sie ließ die Hände schlaff herabfallen und sah ihn wie um Erbarmen flehend an.

»Ich kann nicht – kann nicht. Erbarme dich doch, – geh nicht fort! Die Angst und Sorge um dich brächte mich von Sinnen. Lade doch diese Schuld nicht auf meine Seele, – das Herz würde mir brechen, gingest du in tausend Gefahren.«

Seine Augen feuchteten sich.

»So sehr liebst du mich?«

Sie nickte nur stumm.

»Und fürchtest dich doch, mit mir zu leben?«

Sie warf die Hände über den Tisch und barg verzweifelt ihr Gesicht darinnen.

»Verstehe mich doch, – ich kann nicht,« schrie sie auf.

Da wußte er, daß er jetzt nichts mehr erreichen konnte, daß er sie nicht mehr quälen durfte. Er richtete sie sanft auf.

»Beruhige dich, Lisa. Ich will nicht weiter in dich dringen. Die Hoffnung gebe ich trotzdem nicht auf, daß der Tag kommen wird, wo du an meine Liebe glaubst. Sei ruhig, – ich bitte dich,« sagte er voll zarter Sorge.

Sie sah flehend zu ihm auf.

»Versprichst du mir, nicht nach Afrika zu gehen?«

»Wenn es dich so sehr schreckt, so will ich sehen, ob ich einen anderen Ausweg finde.«

Sie atmete wie erlöst auf.

»Ich danke dir.«

»Was soll aber nun mit den Möbeln geschehen?«

»Das alles besprich lieber mit Tante Anna. Sie ist so gut und so klug. Vielleicht weiß sie auch für dich einen Rat.«

»Ich will mit ihr sprechen.«

»So komm mit mir in das Haus. Tante wird dich erwarten.«

Sie erhob sich, und nebeneinander schritten sie durch den Garten in das Haus zurück. Ronald sah mit innigem Ausdruck in Lisas ernstes, junges Gesicht. Wie heldenhaft sie sich zur Ruhe zwang!

* * *

Mamsell Birkner stand in der Tür, als die beiden jungen Leute in das Haus treten wollten. Sie trat zur Seite. Ronald sprach ein paar freundliche Worte mit ihr und folgte Lisa dann in das Haus. Sie wandte sich nach ihm um. Er sah ihr an, daß sie mit ihrer Kraft zu Ende war.

»Bitte, entschuldige mich. Ich habe Kopfweh und möchte mich zurückziehen. Tante wird alles andere mit dir besprechen.«

Er sah sie bestürzt an.

»Dann darf ich dich vor meiner Abreise nicht mehr sehen?«

»Wann mußt du fort?«

»Heute abend. Ich habe nur einen Tag Urlaub. Um acht Uhr geht mein Zug von Porstendorf ab.«

»Ich werde dir noch Adieu sagen.«

Er küßte ihre Hand und sah ihr nach, bis sie oben auf der Treppe verschwunden war. Dann suchte er Frau von Rahnsdorf auf.

Sie saß untätig, voll Erwartung im Wohnzimmer. Als er eintrat, erhob sie sich schnell.

»Nun? – Sie kommen allein?«

»Ja, ich komme allein und werde allein abreisen müssen.«

»Wo ist Lisa?«

»Sie bittet um Entschuldigung und hat sich zurückgezogen. Ich fürchte, ich habe sie sehr erregt und beunruhigt.«

»Wie ist es gegangen? Was haben Sie erreicht? Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir. Sie müssen mir alles sagen.«

Sie nahmen Platz. Ronald erzählte ihr alles, und sie hörte ihm aufmerksam zu. Als er mit seinem Bericht zu Ende war, sagte er: »So steht es jetzt um uns beide, liebe gnädige Frau. Lisa liebt mich – und ich liebe sie; aber sie glaubt es mir nicht und hat das Vertrauen zu mir verloren. Sie hatten recht; es ist nicht leicht, sie zu überzeugen.«

»Nun haben Sie natürlich allen Mut verloren?«

»Nein, den werde ich nicht verlieren.«

»So ist's recht. Lassen Sie ihr nur Zeit, wahre Liebe findet schon den Weg zum Herzen. Ohne Nachwirkung wird das Geständnis Ihrer Liebe nicht bleiben, und es wird manches zu Ihren Gunsten reden. Lisas eigenes Herz ist ja Ihr treuester Verbündeter. Und – dann bin ich ja auch noch da, lieber Ronald. Jetzt ist das Eis gebrochen, und ich kann mit Lisa über Sie sprechen. Ich werde Ihnen ein treuer Anwalt sein.«

»Liebe gnädige Frau, wie soll ich Ihnen danken!?«

Sie sah gütig lächelnd in sein blasses, erregtes Gesicht.

»Ich bin eine Egoistin, lieber Ronald. Es ist mir gar nicht gleichgültig, was einmal aus meinem schönen Rahnsdorf wird. Lisa ist zwar auf dem besten Wege, eine tüchtige Gutsherrin zu werden, aber ich wünsche ihr nicht, daß sie sich ohne Gutsherrn behelfen muß, wie ich. Sie haben sich nun ohne weiteres neben Lisa in meinem Herzen festgesetzt, daß ich es mir herrlich ausmale, Sie beide hier schalten und walten zu sehen. Ich würde mich bald zur Ruhe setzen und mich beschaulich in eurem Glücke sonnen. Das sind meine Zukunftspläne. Sie würden doch Lust haben, Rahnsdorf zu bewirtschaften?«

Seine Augen glänzten.

»Ein verlockendes Bild malen Sie mir von der Zukunft. Neben dem Wunsch, Lisa zu besitzen, habe ich keinen größeren, als Landwirt zu werden. Aber die Erfüllung des einen wie des andern liegt in nebelhafter Ferne.«

»Nun – zur schnellsten Erfüllung des einen könnte ich Ihnen helfen. Und damit wäre auch gleich Klarheit in Ihre Verhältnisse gebracht.«

»Wie meinen Sie das?«

»Würde es Ihnen schwer werden, den Abschied zu nehmen?«

»Nein; ich sagte Ihnen schon, daß ich nur auf Wunsch meines Vaters Soldat wurde.«

»Dann würde ich Ihnen raten, sofort Ihren Abschied einzureichen.«

»Etwas anderes wird mir ohnedies kaum übrigbleiben, da ich Lisa versprach, nicht nach Afrika zu gehen.«

»Nun gut. Sie kommen also um Ihren Abschied ein, geben die Wohnung dort auf, entlassen die Dienstboten, schicken die Möbel hierher – in Rahnsdorf sind Zimmer genug, um sie unterzubringen – und erzählen Ihren neugierigen Regimentsdamen und Kameraden, daß Sie nach Rahnsdorf gehen, um das künftige Erbe Ihrer Frau selbst zu verwalten. Was sagen Sie dazu?«

»Daß diese Geschichte herrlich klingt. Schade, daß sie nicht wahr sein kann. Lisa würde nicht leiden, daß ich hierher komme.«

»Wenigstens vorläufig noch nicht. Aber vorläufig kann ich Sie auch noch gar nicht in Rahnsdorf brauchen. Statt hierherzukommen, sollen Sie zu einem alten lieben Freund von mir gehen, zu Herrn von Wustrow. Er besitzt ein großartiges Mustergut in Pommern, und dort können Sie vor allen Dingen Tüchtiges lernen. Sagen wir auf ein Jahr, – oder weniger, – bis sich hier alles günstiger gestaltet.«

»Wird er mich aber so ohne weiteres aufnehmen?«

»Dafür lassen Sie mich sorgen. Herr von Wustrow ist ein alter Kriegskamerad meines Mannes und hat die Freundschaft auf mich übertragen. Im Winter sind wir oft einige Wochen zusammen gewesen in Berlin, an der Riviera und auch einmal auf dem Mittelmeer. Ja, ja, – im Winter, wenn ich Zeit habe, fliege ich aus, um in Rahnsdorf nicht stumpfsinnig zu werden. Herr von Wustrow hat eine liebe, lustige Frau. Es wird Ihnen schon dort gefallen.«

Ronald lächelte.

»Sie sprechen, als wären Sie schon gewiß, daß er mich aufnimmt.«

»Bin ich auch. Ich schreibe ihm gleich heute abend, daß ich ihm den Gatten meiner Nichte zur Ausbildung zuschicken werde.«

»Es wäre eine Erlösung für mich, teure gnädige Frau. Von allem anderen abgesehen, – selbst wenn das Schlimmste eintreten würde und Lisa nie wieder mir gehören wollte. Wenn ich mich als Landwirt ausbilden kann, finde ich später eher eine Existenz, als wenn ich Offizier bleibe. Bis ich als Soldat ohne Beihilfe existieren kann, werde ich alt und grau.«

»Dann sind wir also einig. Sie gehen nach Wustrow und lernen meinem alten Freund seine Kniffe ab. Inzwischen kommt dann mit Gottes Hilfe mein Liselchen zur Vernunft.«

Ronald küßte ihr die Hand.

»Mir ist, als sei ich von einer Zentnerlast befreit, teure gnädige Frau. Ihre Zuversicht gibt auch mir neuen Mut. Und nun ich klare Verhältnisse vor mir sehe, werde ich auch geduldig harren, bis Lisa neues Vertrauen faßt.«

Sie besprachen noch einige Einzelheiten, aber plötzlich sprang Frau von Rahnsdorf erschrocken auf.

»Lieber Himmel, – ich habe doch ganz vergessen, Ihnen einen Imbiß vorsetzen zu lassen. Und meine Birknern denkt auch nicht dran.«

»Doch, Mamsell Birkner hat mich, ehe ich hier eintrat, schon gefragt, ob sie mir etwas vorsetzen darf. Aber ich bin nicht hungrig und warte bis zum Tee.«

»Bis dahin ist noch eine Stunde Zeit. Kommen Sie; inzwischen zeige ich Ihnen meinen neuen Zuchtstier und die holländischen Kühe, – prachtvolle Tiere! Das Herz im Leibe lacht einem bei ihrem Anblick. Als angehender Landwirt müssen Sie sich dafür interessieren. Nachher gehe ich einmal zu Lisa hinauf und sehe, ob ich sie bereden kann, den Tee mit uns zu nehmen.«

* * *

Lisa war, als sie ihr Zimmer erreicht hatte, in haltlosem Schluchzen zusammengebrochen. Alles war wieder in ihr wach und lebendig geworden, was sie erlebt und erlitten hatte. Dazu marterte sie die Sorge um Ronald. Was sollte nun aus ihm werden, wenn er bei seiner Weigerung blieb, Geld von ihr anzunehmen?

Und immer wieder tönte es lockend und verheißend an ihr Ohr: »Lisa, ich liebe dich.« War es denn wirklich so unmöglich? Konnte nicht jetzt noch das Wunder geschehen sein, an das sie früher geglaubt?

Sie erhob sich und sah in den Spiegel. Mit unbarmherzig kritischen Augen betrachtete sie das blasse, schmerzverzogene Gesicht mit den rotgeweinten Augen, das ihr entgegensah. Mit mutloser Bitterkeit wandte sie sich wieder ab. Nein, – schön sah sie nicht aus. Was sollte ihm jetzt plötzlich liebenswert an ihr erscheinen? Nur das Mitleid hatte ihm diese Worte eingegeben. Er wollte damit gutmachen, was er ihr angetan. Und das Mädchen, das er liebte, war ihm verloren. Deshalb war ihm alles andere gleichgültig geworden; deshalb erschien ihm jetzt die Fessel leichter. Die Geliebte war ihm so und so verloren. Sein Leben war ihm deshalb wertlos geworden, so wertlos, daß er nach Afrika gehen wollte. Nach Afrika – oder in eine Ehe mit ihr, dem ungeliebten Weibe. Nur weil er Mitleid hatte mit ihr, deshalb suchte er sie zu überzeugen, daß er sie liebte. Wenn sie mit ihm gehen würde, dann würde er bald zur Klarheit kommen, würde die Fessel wieder als solche empfinden. Und sie würde mit immer wachem Mißtrauen jeden Blick, jede Miene überwachen, um dann zu erkennen, daß sie bis in alle Ewigkeit die ungeliebte Frau blieb.

Dann war es tausendmal schlimmer als jetzt; dann würde sie viel tiefer gedemütigt und erniedrigt sein. Dann verlor sie auch noch die Selbstachtung.

Es war gut so, daß sie stark geblieben war. Nie würde sie wieder an seine Liebe glauben können, – nie. Aber was wurde nun aus ihm? Wie konnte sie ihm helfen? Ach, sie liebte ihn so sehr, so unsagbar; sie durfte es nicht geschehen lassen, daß er unterging in der gemeinen Not des Lebens! Es mußte eine Hilfe für ihn geben. Er war zu stolz, etwas von ihr anzunehmen. Das begriff sie und verstand es. Nur zaghaft hatte sie ihm den Vorschlag gemacht, weil sie sich nicht anders helfen konnte.

Nun saß er unten bei Tante Anna und erzählte ihr wohl, was zwischen ihnen verhandelt worden war. Ach, – vielleicht wußte Tante einen Ausweg, einen Rat. Wenn man sich an Ronalds Mutter wandte? Oder an Lotte Hechingen? Vielleicht konnte man durch Vermittlung von Mutter und Schwester etwas für ihn tun, – ohne daß er es erfuhr, woher die Hilfe kam. Ob aber die beiden Damen dazu zu bewegen waren?

So grübelte Lisa unaufhörlich, und die Sorge um Ronalds Existenz half ihr über ihren Herzenskummer fort. Sie wollte sich ja gern bescheiden, wollte mit ihrem Los zufrieden sein, wenn sie nur ihm helfen konnte, wenn nur sein Leben wieder leichter und erträglicher wurde.

Noch heute abend, wenn er fort war, wollte sie mit Tante darüber sprechen.

* * *

Tante Anna trat etwa eine Stunde später bei Lisa ein. Sie beugte sich liebevoll zu ihr herab.

»Noch immer Kopfweh, mein Liselchen?«

Lisa schlang ihre Arme um den Hals der Tante.

»Ich hab' kein Kopfweh, liebe gute Tante. Es war mir nur unmöglich, mit Ronald zusammenzubleiben. Ach Tante, es war so schwer, so furchtbar schwer, mit ihm zu sprechen!«

Frau von Rahnsdorf streichelte sie sanft.

»Ich glaube es dir, mein Herzenskind. Aber nun hast du es doch hinter dir. Nun wirst du viel ruhiger sein.«

Lisa seufzte.

»Hat dir Ronald erzählt?«

»Alles, Kind; und ich glaube, du tust ihm unrecht, an seiner Liebe zu zweifeln.«

Lisa sah ihr forschend in die Augen.

»Glaubst du denn daran?«

»Ja – unbedingt.«

Lisa schüttelte den Kopf.

»Ich kann es nicht – nie,« sagte sie mutlos.

»Ach, liebes Kind – mit keinem Wort wird so viel Mißbrauch getrieben, als mit dem winzigen »Nie«, das eine so ›unendliche‹ Bedeutung hat. ›Nie‹, das klingt so stolz wie eine Ewigkeit und reicht oft nur über Stunden und Tage. Aber lassen wir das, mein Liselchen. Damit mußt du dich nun selbst abfinden. Den Glauben kann dir niemand geben als du selbst. Leider kann ich dir dabei nicht helfen.«

»Nein, Tantchen, das kann kein Mensch. Aber deine Hilfe will ich in einer anderen Angelegenheit in Anspruch nehmen. Ich sorge mich unendlich um Ronalds Zukunft. Du weißt, er ist arm; und er will von mir nichts annehmen, wenn ich nicht zu ihm zurückkehre.«

»Darum kann ich ihn nur loben; ich tät' es auch nicht an seiner Stelle.«

»Ach, Tantchen – das dumme Geld, warum macht man nur davon so viel Aufhebens?«

»So töricht kann nur mein dummes Liselchen fragen,« erwiderte die Tante lachend.

»Du mußt mich recht verstehen. Ist es wohl ein Unterschied, ob ich bei ihm bin oder nicht? Lebte ich mit ihm zusammen, würde er das Geld unbedenklich annehmen. Weil ich das nicht kann und will, beleidigt es seinen Stolz.«

»Nun, erhebend ist für einen Mann auf keinen Fall der Gedanke, von dem Gelde seiner Frau zu leben. Aber die Ehe schafft doch eine Gemeinschaft, in der sich der Begriff ›mein und dein‹ verwischt. Eure Ehe ist jedoch nur formell geschlossen. Ronald kann nicht den Begriff der Gemeinschaft haben, solange du von ihm getrennt lebst.«

»So muß ich ihm gegen seinen Willen helfen, – und dazu mußt du Rat schaffen, liebes Tantchen. Du bist so klug und gut; ich vertraue fest auf dich.«

»Ei sieh, wie mein Liselchen schmeicheln kann. Da muß ich schon ein übriges tun, um dein Vertrauen zu rechtfertigen. Aber jetzt kommst du doch mit mir zum Tee hinunter? Ronald hat noch keinen Bissen gegessen, seit er in Rahnsdorf ist. Er wartet auf uns.«

Lisa sah unruhig auf.

»Ich möchte lieber hierbleiben; ich sage ihm dann nur kurz Adieu.«

»Aber, Lisa, – das ist nicht recht von dir. Komm, wasche dir die Augen und mach' dich ein bißchen ordentlich. Ich helfe dir gleich, – dann gehst du mit mir hinunter und verkehrst ruhig und freundlich mit ihm. Willst dich ihm doch nicht feindlich gegenüberstellen?«

»Nein, o nein.«

»Siehst du wohl, wenn du fort bliebest, würde das sehr unfreundlich aussehen. Er ist doch unser Gast. Und in zwei Stunden muß er schon aufbrechen. Komm, mein Liselchen. Ich stecke dir das Haar frisch auf. Siehst ganz zerzaust aus. Zur Belohnung erzähle ich dir inzwischen, wie ich deinem Ronald zu einer sicheren Existenz helfen werde.«

Lisa warf sich in ihre Arme.

»Tantchen, – Liebe, Gute! Du weißt schon einen Ausweg? Erzähle, – bitte schnell.«

»Wenn du mit hinunterkommst.«

»Ja, ja – nur schnell.«

Während Frau von Rahnsdorf mit liebevoller Sorgfalt Lisas Haar ordnete, sagte sie lächelnd:

»Also, Ronald nimmt seinen Abschied und geht zu meinem alten Freund Wustrow. Du weißt, ich erzählte dir von ihm. Noch heute abend schreibe ich nach Wustrow und sorge dafür, daß Ronald gut aufgenommen wird. Wustrow wird auf meine Bitte Ronald behalten, bis er selbst gehen will, wenn sich ihm später etwas Besseres bietet. Durch meinen alten Freund können wir Ronalds Einkommen vergrößern, ohne daß dieser es merkt. Als Volontär würde er natürlich kein Gehalt beziehen; aber Herr von Wustrow muß darauf dringen, daß Ronald ein Gehalt annimmt. Daß er meinem alten Freund eine tüchtige Stütze wird, davon bin ich überzeugt. Ronald ist Landwirt bis in die Fingerspitzen. Das habe ich beobachtet, als er hier in Rahnsdorf war. Und er ist erfreut auf meinen Vorschlag eingegangen. So kommt er in gesicherte Verhältnisse und aus der kleinlichen Garnisonsmisere. Was sagst du nun dazu, Kleinchen?«

Lisa blickte durch den Spiegel mit glänzenden Augen zu ihr auf:

»Daß du eine herrliche, kluge und liebe Frau bist, goldene Tante; und daß ich dich vor Dankbarkeit totdrücken werde, wenn du nur erst meine Zöpfe losläßt.«

»Ei, dann halte ich sie fest; mit dem Totdrücken pressiert es mir nicht im mindesten.«

Aber gleich darauf lag Lisa doch in ihren Armen und küßte sie stürmisch.

»Tantchen, mir ist so leicht und frei ums Herz, wie seit langer, langer Zeit nicht mehr. Nun bin ich doch die schreckliche Sorge um Ronald los und brauche mir keine Vorwürfe zu machen, daß ich ihn in Not bringe.«

* * *

Mit geröteten Wangen und erregt glänzenden Augen trat sie kurze Zeit darauf mit Tante Anna in das Eßzimmer. Draußen auf der Veranda war Mamsell Birkner am Teetisch beschäftigt, den sie für Ronald mit besonders leckeren Speisen besetzt hatte. Auch ein kräftiges Fleischgericht hatte sie mit aufgestellt, weil Ronald bald nach dem Teestündchen aufbrechen mußte. Der junge Mann stand in der geöffneten Tür, die nach der Veranda führte, und sprach mit Mamsell.

Als die Damen eintraten, wandte er sich schnell um. Seine Augen leuchteten auf, als er Lisa erblickte. Sie sah mit dem lebhaften Ausdruck so frisch und reizend aus, wie er sie nie gesehen. Staunend gewahrte er von neuem, wie sehr sie sich zu ihrem Vorteil verändert hatte.

Er trat auf sie zu und führte ihre Hand an die Lippen.

»Ist das Kopfweh vorüber?«

Sie zog errötend ihre Hand zurück.

»Ja,« sagte sie einsilbig und trat an ihm vorüber nach der Veranda.

Frau von Rahnsdorf bemerkte mit inniger Befriedigung seine aufleuchtenden, bewundernden Blicke. Sie fand Lisa heute auch besonders gut aussehend; sie hatte entschieden ihren › beau jour‹.

Als die drei Menschen in scheinbar bester Harmonie am Teetisch Platz nahmen, fing Lisa einen Blick Ronalds auf, der ihr einen seltsam heißen Schrecken durch das Herz jagte. Es lag etwas darin, was sie nie zuvor gesehen hatte und was sie beunruhigte.

Mit leise bebenden Händen füllte sie seine Tasse, und er küßte ihr dankend die Hand. Wie auf Verabredung vermied man, auf den Zweck von Ronalds Besuch zurückzukommen. Frau von Rahnsdorf sorgte für unbefangene Unterhaltung. Man sprach über alles, nur nicht über das, was die Herzen bewegte. Ronald ließ kaum den Blick von Lisa. Er sah mit innigem Wohlgefallen, wie sicher und anmutig ihre Bewegungen geworden waren, wie geschmackvoll sie sich kleidete, und wie reich und hübsch das wellige Haar den Kopf umgab. Die Augen sahen nicht mehr so oft zu Boden, wie früher; sie hatten gelernt, ohne Scheu in die Welt zu sehen. Und die Haltung des Kopfes war leicht und frei. Alle Steifheit war wie ein Bann von ihr genommen.

Auch an der Unterhaltung beteiligte sie sich ungezwungen, obwohl ihr Herz in seiner Gegenwart unruhig klopfte. Früher hatte sie immer nur ein schüchternes Ja und Nein in die Unterhaltung geworfen und sich nie über irgendeine Sache ein eigenes Urteil erlaubt. Jetzt sagte sie offen ihre Meinung und schaffte ihr auch in bestimmter Weise Geltung.

Frau von Rahnsdorf beobachtete verstohlen die beiden jungen Leute und sorgte dafür, daß keine Befangenheit aufkam.

Als Lisa sich einmal für eine Weile entfernt hatte, um einen Auftrag der Tante auszuführen, sagte Ronald erregt:

»Verehrte gnädige Frau, ich muß Sie für eine Zauberin halten. Was haben Sie in dieser verhältnismäßig kurzen Zeit aus Lisa gemacht! Ich traue meinen Augen und Ohren nicht.«

Frau von Rahnsdorf lächelte.

»Mein Verdienst dabei ist nicht so groß, als Sie denken. Lisa ist aus sich selbst heraus eine andere geworden durch das, was sie erlebt und erlitten hat. Herzenserlebnisse eingreifender Art reifen eine Frau sehr schnell. Und dann ist hier in Rahnsdorf keine Tante Hermine. Lisa ist nicht mehr das seelisch geknechtete, sich gedankenlos fügende Kind. Sie hat sich auf sich selbst besonnen, auf das Recht ihrer Persönlichkeit. Ich hatte nichts weiter zu tun, als ihr zu helfen, sich freizumachen von alten, aufgezwungenen Anschauungen. Daß mir das so schnell gelungen, ist ein Beweis, daß Lisa im Innern schon immer eine andere gewesen ist. Unter dem Druck der despotischen Erziehung meiner Schwägerin hat sie nur nicht gewagt, zu zeigen, was sie empfunden.«

»Jedenfalls haben Sie es verstanden, in verständnisvoller Weise auf Lisa einzuwirken. Liebe gnädige Frau, wenn Lisa mir früher so entgegengetreten wäre, – alles wäre anders geworden.«

»Oder auch nicht,« erwiderte sie mit feinem Lächeln. »Sie sind Lisa mit einem Vorurteil entgegengetreten und mit einer alten Liebe im Herzen. Da war die Abneigung schon fertig, ehe Lisas Person in Frage kam. Lisas Liebe drängte sich dann beunruhigend in Ihr Leben. Ihr Exempel stimmte nicht. Sie wehrten sich instinktiv gegen das, was Ihnen an Lisa sympathisch war, vielleicht weil Sie fühlten, daß ihre schrankenlose Ergebenheit und Liebe gegen die alte Neigung zu Felde zog. Und die alte Liebe hatten Sie sich doch so schön mit einer Glorie von heldenhafter Entsagung aufgeputzt! So war Lisa auf alle Fälle im Nachteil, gleichviel, ob sie liebenswert war oder nicht. Erst ihr Verlust hat Ihnen die Augen geöffnet über das eigene Empfinden.«

Ronald hatte regungslos zugehört. Nun beugte er sich vor.

»Wie Sie es verstehen, in meinem Herzen zu lesen! Mir ist zumute, als läge es wie ein aufgeschlagenes Buch vor Ihnen,« sagte er ernst.

»Lassen Sie sich das nicht leid sein; bis jetzt habe ich fast nur Gutes herausgelesen. Ein wenig hat mir Ihre liebe kleine Schwester geholfen, Sie zu verstehen.«

»Meine Schwester? Sie kennen doch meine Schwester nicht, gnädige Frau.«

Sie lächelte.

»Nein, ich kenne sie nicht, weiß nur von ihr, was Sie und Lisa mir von ihr erzählten. Aber ich habe doch einmal einen Brief von ihr gelesen, den Sie damals hier in Rahnsdorf von ihr erhielten. Darin schrieb sie, daß sie sich freue, daß Lisa den Mut gehabt, zu fliehen, weil sie Ihnen dadurch für ihren Wert die Augen geöffnet hätte. ›Jetzt kämpfe für deine Frau‹, riet sie Ihnen. ›Je schwerer dir der Kampf wird, desto heilsamer wird er sein. Es war dir zu leicht geworden, sie zu erringen.‹ – Sehen Sie, Ihr Schwesterchen hat mir geholfen, Sie zu verstehen. Sie war doch von Jugend auf Ihre Vertraute. Und ganz offen, – ich freue mich, daß Lisa Ihnen den Kampf nicht so leicht macht. Um so tiefer wird Ihre Neigung Wurzel schlagen, und – will's Gott – wird daraus ein schönes, sicheres Glück erblühen, für Sie, für Lisa – und auch für mich.«

Ronald atmete auf.

Sie reichte ihm mit gütigem Lächeln die Hand:

»Sie sind mir nicht böse, daß ich Ihnen das so gerade heraussage? Aber ich meine es gut mit Ihnen. Sie sind mir lieb geworden.«

In diesem Augenblick kam Lisa zurück. Sie hörte die letzten Worte und sah die beiden Menschen Hand in Hand dasitzen. Helle Röte schoß in ihre Wangen. Es war ihr eine Freude, daß Tante Anna Ronald schätzte. Still nahm sie wieder am Teetisch Platz.

Frau von Rahnsdorf erwähnte nun auch Ronalds bevorstehende Lebensveränderung mit einigen unbefangenen Worten. Er beobachtete Lisa dabei mit brennenden Augen.

»Was sagst du dazu, daß ich umsatteln will, Lisa?« fragte er mit verhaltener Stimme.

Sie sah ihn an, wandte aber den Blick schnell zur Seite.

»Ich freue mich sehr,« sagte sie förmlich. Aber dann raffte sie sich auf und reichte ihm schnell die Hand über den Tisch hinüber, während sie sagte:

»So froh bin ich, – so von Herzen froh, daß du nun nicht nach Afrika zu gehen brauchst. Nun zürnst du mir nicht länger, daß ich dich durch meine Flucht in eine so peinliche Lage gebracht habe.«

Er faßte mit beiden Händen nach der ihren und hielt sie fest.

»Dir zürnen? Lisa, du beschämst mich von neuem.«

»Wann wirst du nach Wustrow gehen können?« fragte sie ablenkend, ihre Hand errötend zurückziehend.

Er gab ihr Antwort, und das Gespräch wurde allgemein.

Schnell verging die Zeit bis zu Ronalds Abreise. Als der Wagen vorfuhr, der ihn zur Station bringen sollte, reichte ihm Frau von Rahnsdorf mit heimlichem Druck die Hand.

»Leben Sie wohl, lieber Ronald. Sobald ich Nachricht habe von meinem Freunde Wustrow, schreibe ich Ihnen. Sonst bleibt alles bei unserer Verabredung,« sagte sie, ihn bedeutungsvoll ansehend.

Er erwiderte ihren Blick und küßte ihr, vor Bewegung stumm, die Hand. Auch von Lisa verabschiedete er sich mit einem Handkuß. Dann sah er ihr tief in die Augen.

»Leb wohl, Lisa, vergiß mich nicht!«

Sie war sehr blaß.

»Nein, ich vergesse dich nicht. Alles Glück der Welt mit dir!« sagte sie leise, mit zitternden Lippen.

Er wandte sich zögernd zum Gehen, als hoffe er, daß sie ihn jetzt noch zurückhalten werde. Aber sie lehnte stumm und bleich am Kamin, mit halbgeschlossenen Augen und scheinbar unbewegtem Gesicht.

An der Tür blieb er noch einmal stehen.

»Ich werde immer in Sehnsucht und Liebe dein gedenken – und immer darauf warten, daß du mich an deine Seite rufst,« sagte er heiser vor Erregung.

Dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloß.

Lisa starrte ihm einen Augenblick nach, die Hände fest auf das wildklopfende Herz gedrückt. Dann eilte sie an das Fenster, um ihm verstohlen nachzusehen. Der Wagen setzte sich schon in Bewegung. Sie sah, wie er noch einmal den Kopf wandte und nach dem Fenster sah, wo sie stand.

Sie zitterte am ganzen Körper. Nun war er fort. –

In diesem Augenblick trat Frau von Rahnsdorf wieder ein. Lisa flog auf sie zu und umfaßte sie, in krampfhaftes Schluchzen ausbrechend.

»Nun, mein Liselchen, ist dir der Abschied doch leid? Soll ich Ronald zurückholen lassen? Noch ist es Zeit!«

Da richtete sich Lisa auf.

»Nein – nein –! Es ist besser so. Ich werde fertig damit, – ich will.«

»Gut, mein Herzenskind, versuche es. Du mußt selbst mit dir ins klare kommen. Alles ist besser, als mutloses Hindämmern. Gleich wollen wir wieder unsere bewährte Medizin in Anwendung bringen. Die Birknern wartet auf die Etiketten zu den Erdbeergläsern. Die wolltest du ja wohl schreiben.«

Lisa küßte sie fest auf die Wangen.

»Du sollst schon noch deine Freude an mir haben, Tantchen. Ich fange sofort an, die Etiketten zu schreiben.« – – –

Mamsell Birkner stand mit sehr finsterem Gesicht in der kühlen, großen Vorratskammer und stellte die Konservengläser mit den eingekochten Erdbeeren in Reih und Glied auf eine große Tafel. Frau von Rahnsdorf trat zu ihr.

»Nun, Birknern, bist du fertig mit dem Einkochen?«

»Wie Sie sehen, gnädige Frau. Nur die Etiketten fehlen noch.«

»Die bekommst du bald. Unser junges Frauchen ist schon dabei, sie zu schreiben.«

»Hm – na, ist man gut. Und den Herrn Baron hat sie richtig wieder allein fortfahren lassen?«

»Willst du sie denn so gern von Rahnsdorf forthaben?«

»Ach, davon kann keine Rede sein. Sie wissen ja ganz genau, daß mir das Frauchen ans Herz gewachsen ist. Aber lieber will ich sie mit lachendem Gesicht von Rahnsdorf fortgehen sehen, als daß sie hier bleibt und immer die Augen voll Wasser hat.«

»Ja, Birknern, sie will nun einmal nicht fort. Sie kann sich nicht von dir altem Brummbär trennen.«

Mamsell fuhr entrüstet herum.

»Na, wie Sie da auch noch drüber Späße machen können, gnädige Frau! Das ist eine verdrehte Geschichte, die ich nicht begreife. Mann und Frau gehören zusammen; sonst hat die ganze Heiraterei keinen Sinn.«

»Recht hast du da, alte gute Seele. Aber warte nur noch ein Weilchen. Heute in einem Jahr sieht es hoffentlich anders hier aus. Das Frauchen geht nicht wieder fort von Rahnsdorf; aber ihr Mann kommt, so Gott will, hierher. Dann fangen wir an, uns zu pflegen, Alte. Dann sollen die jungen Leute hier schaffen. Oder hast du etwas dagegen?«

Mamsell sah ihre Herrin von der Seite an.

»Nicht im geringsten. Im Gegenteil, wenn wieder 'n Mann ins Haus kommt, dann weiß man doch, für wen man all die guten Sachen einkocht und zurechtmacht.«

»Bis jetzt haben sie doch auch immer Verwendung gefunden.«

»Ja doch, die Kranken im Dorf schlucken unsere ganzen feinen Kompotte und Marmeladen. Aber was versteht denn so ein Bauernmagen davon? Für den ist Pflaumenmus genau so gut wie die schönsten Erdbeeren; und unsere edelsten Pfirsiche weiß er nicht von gebackenen Birnen zu unterscheiden.«

Frau von Rahnsdorf lachte.

»Ein bißchen Unterschied wird er wohl gelten lassen. Erbose dich nur nicht. Und von den Erdbeeren schicke gleich ein paar Gläser hinüber zur kranken Lehrersfrau. Die wird sie schon zu würdigen verstehen.«

»Für die habe ich schon drei Gläser zurückgestellt. Und dem alten Martin habe ich eine Flasche Saft geschickt; er soll Limonade davon trinken.«

»Siehst du, alter Murrpeter! Zanken mußt du erst; aber schließlich bist du doch noch schneller dabei, die Bauernmägen zu stopfen, als ich.«

»Na, wenn einer krank ist,« entschuldigte sich Mamsell.

Ihre Herrin nickte ihr lachend zu und ging hinaus.

* * *

Als Ronald, in seiner Garnison angekommen, den Zug verließ, sah er Mallwitz auf dem Perron stehen. Er hatte einen in Seidenpapier gehüllten Gegenstand in der Hand, – offenbar einen Blumenstrauß. Ronald trat schnell auf ihn zu und begrüßte ihn herzlich.

»Ist riesig nett von dir, Kurt, daß du mich abholst.«

»Und du kommst wieder allein, mein Alter? Siehst du – auf Ahnungen gebe ich nun gar nichts mehr. Diesmal glaubte ich ganz bestimmt, daß du deine Frau mitbrächtest. Hier sieh mal, – sogar einen Rosenstrauß habe ich in der sicheren Voraussetzung mitgebracht.«.

Er zeigte mit ehrlicher Betrübnis auf die Blumen.

»Lieber Kerl, das ist nun wieder mal sehr voreilig von dir gewesen. Wie kannst du dich so auf das Ungewisse in Geldkosten stürzen – bei der trostlosen Ebbe in deiner Kasse!«

»Oho, – Geld spielt heute überhaupt keine Rolle bei mir.«

»Du, das klingt märchenhaft!«

»Hm, – ist auch beinahe ein Märchen. Es hat sich nämlich in deiner Abwesenheit Großes ereignet. Und ehe ich dich zu Worte kommen lasse über das Ergebnis deiner Reise, muß ich dir in kurzen Worten davon berichten, sonst explodiere ich noch. Du solltest der erste sein, dem ich es sage. Denke dir, mein Onkel Brachwitz, der Vetter meiner Mutter, ist gestorben! Das Majorat fällt nun an eine Seitenlinie, und ich hätte mit meiner Mutter auf dem Trockenen gesessen, – wenn dieser famose Onkel Brachwitz nicht ein so furchtbar netter Kerl gewesen wäre. Du weißt doch, wie oft ich auf ihn geschimpft habe, ihn mit allerlei Kosenamen beehrte, weil er mir eine so knappe Zulage gab. Gott verzeihe mir die Sünde. Der alte Herr hat Ersparnisse gemacht, um sie mir zu hinterlassen. Stelle dir vor: wie du mich hier siehst, bin ich der Erbe von zweimalhunderttausend deutschen Reichsmark – in guten Papieren angelegt – sofort nach dem Begräbnis des alten Herrn zu meiner freien Disposition. Heute nacht erhielt ich die Depesche, die mir sein Ableben meldete. Ich war nicht schlecht in Angst und Sorge; und vor zwei Stunden kam ein Eilbrief meiner Mutter, worin sie mir von dem Testament Mitteilung macht. Zweimalhunderttausend Mark! Und meiner Mutter ist bis an ihr Lebensende Heimatrecht in Brachwitz gesichert und eine auskömmliche Rente. So, – Gott sei Dank, daß ich's vom Herzen runter habe. Ich wäre bald erstickt vor Freude.«

Ronald hatte voll herzlicher Freude zugehört und drückte Mallwitz die Hand, als ob er sie zerbrechen wollte.

»So hat mich lange nichts gefreut, wie diese Nachricht. Lieber alter Kerl, – wie ich dir das gönne! – Dem guten alten Onkel wollen wir einen Trauerschoppen weihen. Wir gehen in die Traube.«

»Machen wir. Ich muß noch allerlei vom Herzen herunterreden, – und morgen früh fahre ich nach Brachwitz zur Beisetzung. Vor allen Dingen aber mußt du mir erzählen, was du in Rahnsdorf ausgerichtet hast. Eher habe ich keine Ruhe für das, was ich dir noch zu sagen habe.«

Die beiden Herren waren inzwischen vom Bahnhof aus über die Flußbrücke nach dem tiefer gelegenen Städtchen gegangen. Sie schritten langsam über die schlechtgepflasterten, wenig beleuchteten Straßen nach dem Marktplatz, wo sich die Traube, das Stammlokal der Offiziere und Honoratioren, befand.

Mallwitz blickte seufzend auf die Blumen herab.

»Was fange ich nun an mit diesem voreiligen Blumengruß?«

»Wirst schwerlich heute abend noch Verwendung dafür finden.«

»Schade um die schönen Rosen; in der ganzen Garnison wirst du schönere nicht auftreiben können. Halt – warte einen Augenblick – jetzt weiß ich, was ich damit tue.«

Er zog den Freund zur Seite in die spärlichen Anlagen hinein, die den stolzen Namen ›Stadtpark‹ führten. Dort befand sich ein Denkstein für die gefallenen Krieger aus dem französischen Feldzug. Mallwitz entfernte die Papierhülle von den Blumen und legte sie vor den Denkstein hin.

»Mögen diese Rosen eurem Andenken geweiht sein, ihr tapferen Kameraden; sie kommen von einem, der sich freut, daß er noch atmet im rosigen Lichte,« sagte er halblaut.

Dann schob er seinen Arm unter den Ronalds und ging mit ihm weiter.

»Nun erzähle mir, wie es dir in Rahnsdorf ergangen ist, Ronald.«

Dieser berichtete getreulich alles, was er erlebt hatte, und teilte Mallwitz auch mit, daß er sofort seinen Abschied einreichen wolle.

Ernst hörte dieser zu. Als Ronald mit seinem Bericht zu Ende war, fragte er mit einem Seufzer:

»Was hältst du nun von alledem, Kurt?«

»Daß diese Frau von Rahnsdorf eine famose alte Dame ist. Der müssen wir nachher in der Traube einen Hochachtungsschluck bringen. Und deine Frau? Ja, mein Alter, – verdenken kann man es ihr im Grunde nicht, daß sie ein bißchen mißtrauisch geworden ist und nicht an deine Liebe glaubt. Aber zum Verzweifeln ist es noch lange nicht. Die Hauptsache ist, daß du sie liebst und sie dich. Es wird schon alles noch gut werden. Im übrigen ist es jedoch sehr gut, daß du den Staub unserer lieben Garnison bald von den Füßen schütteln kannst, was man mir wieder mit neugierigen Fragen über deine Frau zugesetzt hat, das ahnst du nicht.«

»O ja, – ich habe selbst so manche Probe von der ›innigen Teilnahme‹ erhalten, die man unserem nicht ganz aufgeklärten Verhältnis entgegenbringt. Hoffentlich ist keiner von unseren Kameraden mehr in der Traube heute abend.«

Seine Hoffnung sollte sich jedoch nicht erfüllen. Einige Offiziere saßen mit dem Arzt und dem Bürgermeister noch am Stammtisch und nötigten die Freunde, sich zu ihnen zu setzen. Nur ungern folgten sie der Einladung.

Als sie die Mäntel ablegten, sagte Mallwitz leise:

»Halt reinen Mund bezüglich meiner Erbschaft; ich bin nicht in der Stimmung, mich anfeiern zu lassen.«

»Unbesorgt,« erwiderte Ronald ebenso.

»Nun, Hechingen – noch immer trostloser Strohwitwer? Frau Gemahlin noch immer nicht hergestellt?« fragte ein kleiner dicker Hauptmann mit unverkennbarer Neugier, als er Ronald begrüßte.

»Danke für gütige Nachfrage. Gott sei Dank ist meine Frau wieder ganz gesund.«

»O, – das ist ja sehr erfreulich.«

»War scheußliches Pech, Kamerad,« schnarrte Oberleutnant Naundorf mit schelmisch sein sollendem Augenzwinkern. »Denk' ich mir schauderhaft, Flitterwochen sozusagen solo zu verbringen. Na, nun ist es wohl zu Ende mit dem einschichtigen Leben, – was?«

»Ja, – nun ist es zu Ende,« bestätigte Ronald einsilbig.

»Ihre Frau Gemahlin wird hier allseitig mit Sehnsucht erwartet,« warf der Bürgermeister, ein jovialer alter Herr, lächelnd ein. »Wann wird sie denn eintreffen?«

Ronald drehte nervös an seinem Bärtchen.

»Es wird meiner Frau sehr leid tun, diese Sehnsucht nicht erfüllen zu können. Sie hat sich entschlossen, gleich in Rahnsdorf zu bleiben. Die Tante meiner Frau will sie nicht fortlassen, und ich werde deshalb schon jetzt nach Rahnsdorf übersiedeln,« sagte er sehr ruhig.

»Nee? Sie machen Witzchen, Hechingen!« schnarrte Naundorf verblüfft.

»Durchaus nicht. Es war schon längst ausgemacht, daß ich Rahnsdorf bewirtschaften soll. Allerdings war es noch eine Frage der Zeit; aber nun ist der Termin festgesetzt.«

»Sie wollen also quittieren, Hechingen?« fragte der dicke Hauptmann, und alle Herren sahen Hechingen gespannt in das unbewegliche Gesicht.

»Allerdings.«

»Hurra! Ein Vordermann weniger,« ulkte ein junger Leutnant, der wohl noch nicht lange der Kadettenanstalt entronnen war.

»Kleiner, wer wird so egoistisch sein!« tadelte Naundorf spöttisch.

Ronald trank dem ›Kleinen‹ zu.

»Er meint es wenigstens ehrlich,« sagte er gelassen.

»Nun, unsere Damen werden aber lange Gesichter machen, wenn sie nun um das langersehnte Vergnügen kommen, Ihre Frau Gemahlin kennen zu lernen.«

Ronald zuckte die Achseln.

»Nicht zu ändern, meine Herren.«

»Ist aber sehr traurig für uns ledige Leute; hatten uns schon gefreut, in ›Villa Hechingen‹ ab und zu einen angenehmen Abend zu verleben,« warf der ›Kleine‹ mit ehrlichem Bedauern ein. »Was machen Sie nun mit Ihrer reizenden Wohnung?«

»Die Möbel werden nach Rahnsdorf geschickt; die Wohnung ist zu vermieten. Wenn einer der Herren Absichten hat?«

»Kleiner Schäker! Dazu fehlen uns allen die Moneten.« – – –

Jedenfalls waren die Herren durch die eben erfahrene Neuigkeit in sehr erregte Stimmung gekommen und brachen sehr bald auf, um ihren Damen die Kunde zu bringen, die sie vernommen hatten. So waren die beiden Freunde endlich allein. Mallwitz bestellte eine frische Flasche und schenkte die Gläser voll.

»Verdammte Neugier,« schalt er ärgerlich.

Ronald fuhr sich über die Stirn.

»Wie die Wespen fallen sie über einen her.«

Mallwitz lachte.

»Hast sie aber fein abgeführt. Nun denk nicht mehr dran, Alter. In unserem Krähwinkel muß eben der Bedarf an geistiger Nahrung durch ein bißchen Klatsch gedeckt werden. Bös ist es ja schließlich nicht gemeint; wenn diese sogenannte Teilnahme auch verdammt lästig werden kann. Aber nun komm; dies erste Glas Rauenthaler Auslese wollen wir feierlich dem Andenken meines braven Onkels weihen.«

Sie leerten die Gläser mit ernsten Gesichtern.

Das zweite Glas leerten sie auf Frau von Rahnsdorf. Dann, als sie bei dem dritten waren, sagte Mallwitz mit unterdrückter Bewegung:

»Und dies Glas auf das, was wir lieben.«

Die kleine, niedrige Weinstube schien sich aufzutun und einen Blick freizugeben in eine lachende, rosige Zukunft, so verträumt und versonnen sahen die beiden Freunde vor sich hin. Endlich raffte sich Ronald auf.

»Was ›wir‹ lieben, sagtest du, Kurt. Soll das heißen, daß auch deinem Herzen die Schicksalsstunde geschlagen hat?«

Mallwitz lachte ein wenig verlegen.

»Das ist schon vor ungefähr einem halben Dutzend Jahren geschehen, mein Alter.«

»Was soll das heißen?« fragte Ronald erstaunt, »willst du mir weismachen, daß du schon seit Jahren verliebt bist, du, der du mit Amor stets auf feindlichem Fuße standest?«

»Alles nur Verstellung, Ronald.«

»Verstellung? Mir gegenüber? Mir, der ich dir immer alles anvertraute, was ich auf dem Herzen hatte? Das ist nicht schön von dir.«

Mallwitz faßte seine Hand über den Tisch. Die sonst so lustigen Augen des jungen Offiziers blickten ernst und bewegt.

»Gerade dir konnte ich nichts sagen, Ronald, solange ich keine Aussichten hatte. Aber jetzt, – gesegnet sei mein alter Onkel Brachwitz, – jetzt kann es herunter vom Herzen. Blicke nicht so vorwurfsvoll, mein Alter. Wirst mich gleich verstehen. Deine Schwester, Ronald – ich hab' sie schon lange von Herzen lieb – und sie mich auch, wenn wir es uns auch nie mit einem Wort verrieten.«

Ronald blickte in freudigem Erstaunen auf.

»Die Lotte?«

»Ja, die Lotte, – meine herrliche liebe Lotte. Siehst du, mein Alter, der arme Schlucker Mallwitz durfte dir ja nicht verraten, was ihm manchmal das Herz abdrückte. Aber nun – nun, Senior der Familie Stolle-Hechingen, nun komme ich als wohlbestallter Freier zu dir und bitte dich: Gib mir die Lotte.«

Ronald sah mit feuchtglänzenden Augen in die des Freundes.

»Lieber Kerl! Lieber Kerl! Du und die Lotte! Wie mich das freut! Lieber Gott, – und meine Mutter! Was hat sie sich um die Lotte gesorgt.«

Mallwitz atmete auf.

»Nicht mehr als ich. Und eine Angst habe ich ausgestanden, wenn ich mir ausmalte, daß die Lotte mir untreu würde! Ich hätte sie ja mit keinem Wort halten dürfen. Gottlob, daß ich mir jetzt mein Glück sichern darf, auf der Heimreise fahre ich über Leipzig und hole mir ihr Jawort. Hab' deiner Mutter vorhin schon einen Brief geschickt, in dem ich meinen Besuch anmelde.«

»Und du bist gewiß, daß Lotte dich liebt?«

Mallwitz nickte mit strahlendem Gesicht. »Ganz gewiß, du. So etwas fühlt man heraus. Herrgott, – hatte ich eine unsinnige Freude, als ich von meiner Erbschaft hörte, weißt du, nicht nur meinetwegen! Mein erster Gedanke galt ihr. Prosit, Schwager!«

»Prosit! Auf dein und Lottes Glück! Kinder, – ihr habt euch meisterhaft beherrscht; keine Ahnung hatte ich davon.«

»Wir mußten doch, Ronald. Du und deine Mutter, von meiner gar nicht zu reden, ihr hättet euch doch nur gesorgt, wenn ihr etwas von unserer aussichtslosen Liebe gemerkt hättet. Nun ist sie ja gottlob nicht mehr aussichtslos; und meine tapfere kleine Lotte, – ein Prachtgeschöpf ist sie, – was wird das für eine famose Soldatenfrau geben! Wenn nur erst die paar Tage noch um wären. Jahrelang habe ich mir Ruhe und Vernunft eingepredigt, aber die ganzen Jahre sind mir nicht so sauer angekommen, als jetzt die zwei Tage, die mich noch von meinem Glücke trennen.«

»Kann ich dir nachfühlen, Kurt. Und wenn du zu meiner Mutter kommst, sage ihr, daß ich sie aufsuchen werde, ehe ich nach Wustrow gehe. Muß doch meine Lotte als Braut begrüßen.«

Sie plauderten noch eine Stunde lang erregt über ihre Zukunftspläne. Dann mahnte sie der schläfrig in einer Ecke lehnende Kellner durch lautes Gähnen, daß nachtschlafende Zeit sei. Sie zahlten und gingen nach Hause.

* * *

In der nächsten Zeit gab es für Ronald sehr viel zu tun. Gleich am Tage nach seiner Rückkehr machte er seinem Obersten einen Besuch, legte ihm die Gründe vor, die ihn bestimmten, um seinen Abschied einzukommen, und bat ihn, die Angelegenheit tunlichst zu beschleunigen.

Sein Gesuch wurde sofort bewilligt. Inzwischen hatte er einen Spediteur beauftragt, die Möbel einzupacken und nach Rahnsdorf zu expedieren. Die Dienerschaft hatte er mit einem Vierteljahrsgehalt entlassen. –

Kurt Mallwitz, der als Lotte Hechingens glücklicher Bräutigam in die Garnison zurückgekehrt war, verlebte seine freie Zeit ausschließlich mit Ronald. Erst jetzt kam es ihm so recht zum Bewußtsein, daß er in Zukunft Ronald würde entbehren müssen.

Das Interesse an Ronald Hechingens Ehe verblaßte schnell vor dem neuen Gesprächsstoff: Kurt Mallwitz als Erbe und Bräutigam. Als Ronald seine Abschiedsbesuche machte, fragte man ihn kaum noch nach seiner Frau, dafür aber um so mehr nach seiner Schwester Lotte.

Ronald hatte fleißig mit Frau von Rahnsdorf korrespondiert. Herr von Wustrow war sofort darauf eingegangen, seiner alten Freundin einen Dienst zu erweisen. Sie hatte ihn so viel als nötig in die Verhältnisse eingeweiht, und darauf bekam Ronald von Herrn von Wustrow folgendes Schreiben:

 

»Mein lieber Baron Hechingen! Eine formellere Anrede schenken Sie mir; ich betrachte Sie schon heute als künftigen Hausgenossen. Meine Frau und ich, wir freuen uns, ein junges Blut unter unser Dach zu bekommen. Arbeit sollen Sie genug in Wustrow finden. Ich bin Frau von Rahnsdorf sehr dankbar, daß sie mir Hilfe schickt. Meine alten Knochen werden ein bißchen steif. Also, wie gesagt, wir freuen uns. Lernen können Sie wohl manches vom alten Wustrow, was Sie nachher in Rahnsdorf gut verwenden können. Aber ich liebe klare Verhältnisse, deshalb sage ich Ihnen rund heraus: umsonst sollen Sie sich hier nicht abrackern. Ich muß darauf bestehen, daß Sie ein festes Gehalt annehmen, wie ich es jedem Verwalter zahle. Nehmen Sie mir das nicht übel. Es geht mir wider den Strich, Sie und Ihre Kraft auszunutzen. Ich hoffe, Sie gehören nicht zu jener Kategorie von Aristokraten, die Geldverdienen für eine Schande halten, sonst sind wir sehr verschiedener Ansicht. In Wustrow wird ›Geldverdienen‹ groß geschrieben. Senden Sie mir bald Nachricht, wann ich Sie erwarten darf. Mit bestem Gruß

Fritz Wustrow.«

 

Ronald hatte diesen klug berechneten Brief, zu dem Frau von Rahnsdorf die Direktive gegeben hatte, mit eigentümlichem Gefühl gelesen. Daß ihm Wustrow ein Gehalt anbot, war ihm nicht unangenehm. Zwar hatte ihm Mallwitz bereitwillig seine Kasse zur Verfügung gestellt, aber Ronald verlangte sehnlichst danach, auf eigenen Füßen zu stehen. Nur fürchtete er, im Anfang auf Wustrow nicht genug leisten zu können, um ein Gehalt zu verdienen. Jedenfalls wollte er sich bestreben, sich so nützlich wie möglich zu machen.

Er schrieb also Herrn von Wustrow, daß er allerdings nicht auf Gehalt gerechnet habe, aber nicht, weil er Geldverdienen als Schande betrachte, sondern weil er fürchte, im Anfang wenigstens nicht genug leisten zu können. Trotzdem nähme er jedoch das Anerbieten dankbar an, eben, weil bei ihm ›Geldverdienen‹ besonders groß geschrieben werden müßte. Er wolle sich Mühe geben, Herrn von Wustrow wirklich eine Stütze zu sein, und der ehrliche Wille müsse vorläufig die mangelnden Kenntnisse ersetzen. In zwei weiteren Briefen wurde dann alles Geschäftliche geregelt und Ronalds Ankunft festgesetzt.

Frau von Rahnsdorf erhielt von Ronald brieflich genauen Bericht über seine Verhandlung mit Wustrow. Er schrieb ihr, wie glücklich er sich schätze, durch ihre gütige Vermittlung einen Wirkungskreis erhalten zu haben, der ihn in den Stand setze, seinen Lebensunterhalt selbst verdienen zu können. Jedem seiner Briefe fügte er einen Gruß an Lisa bei. Einmal fragte er auch an, ob er nicht an Lisa selbst schreiben dürfe. Frau von Rahnsdorf riet ihm ab, indem sie schrieb:

»Lassen Sie Lisa jetzt ruhig ihren Weg gehen, lieber Ronald. Es gärt in ihr. Ihr Geständnis ist nicht spurlos an ihr vorübergegangen, obwohl sie sich ängstlich wehrt, daran zu glauben. Sie möchte so gern; aber sie wagt es nicht, um nicht von neuem enttäuscht zu werden. Jetzt ist sie in einer Stimmung, wo man sie nicht zu beeinflussen versuchen darf. Ihr eigenes Herz bettelt ja um Glauben für Sie. Geben Sie ihr Zeit; das führt am besten zum Ziel. Eine Beeinflussung unsererseits würde sie nur unruhig, ängstlich oder gar mißtrauisch machen. Nur Geduld, lieber Ronald; ich bin fest überzeugt, daß dann alles noch gut wird.« – – – –

So war der Tag gekommen, an dem Ronald die Garnison verließ. Seine Regimentskameraden gaben ihm bis zum Bahnhof das Geleite. Mallwitz ging still und ernst neben dem Freund. Sie schieden inmitten des fröhlichen Trubels mit festem Händedruck und feuchtschimmerndem Blick. Jahrelang hatten sie in enger Gemeinschaft miteinander gelebt; nun trat das Leben zum ersten Male trennend zwischen sie. – – – –

Ronald hielt sich zwei Tage in Leipzig auf, um Mutter und Schwester wiederzusehen und Konsul Limbach und seiner Frau einen Besuch zu machen.

Seine Mutter bewohnte mit Lotte eine sehr bescheidene Wohnung in der Plagwitzerstraße. Er begab sich vom Bahnhof aus sofort dorthin. Die Mutter empfing ihn weinend, teils vor Freude, daß sie ihn wiedersah, teils vor Schmerz, daß sein Geschick nicht so sonnig sich gestaltet hatte, als sie gehofft. Ronald beruhigte sie, so gut es ging, und zeigte sich zuversichtlicher, als er im Grunde war.

Lotte küßte ihren ›großen Bruder‹ erst einmal herzlich ab. Ihre strahlende Glückseligkeit wirkte wie wärmender, belebender Sonnenschein auf ihre Umgebung. Sie war ganz zuversichtlich, daß Lisa und Ronald noch miteinander glücklich würden.

Als die Geschwister einmal ein Stündchen allein waren, vertraute er ihr alles an und sagte ihr offen, daß er gar nicht so voll Zuversicht sei. Lisa sei doch ein sehr eigenartiger Charakter und habe sehr entschieden abgelehnt, an seine Liebe zu glauben.

Lotte sah ihn ernst an.

»Das darf dich nicht wundernehmen, mein lieber Ronald. Ich verstehe Lisa so gut – so gut – als ob sie in meiner eigenen Haut steckte. Ich könnte dir auch nicht so ohne weiteres glauben. Schließlich ist doch abzuwarten, ob das Gefühl, das für Lisa in deinem Herzen erwachte, auch wirklich Liebe ist.«

»Aber Lotte, wenn ich dir versichere!«

»Ach geh; in Gefühlssachen betrügt man sich selbst gern nach Bedarf. Hab' ich mir nicht die ganzen Jahre eingeredet, ich empfände nur freundschaftlich, schwesterlich für Kurt? Und kaum trat er hier in dies Zimmer und sagte mir: ›Lotte, ich habe zweimalhunderttausend Mark geerbt, willst du meine Frau werden?‹ – da lag ich schon in seinen Armen und wußte genau, daß es Liebe war, was ich allezeit für ihn gefühlt. Du möchtest jetzt ein Unrecht an Lisa gutmachen, ihre Herzensnot hat dich gerührt, ein guter Mensch bist du immer gewesen, – ist es denn da so sicher, daß du dir diese Liebe nicht nur einredest?«

»Lotte, du denkst dabei noch an die alte Lisa. Wenn du sie jetzt sehen würdest, es wäre dir gar nicht so wunderlich, daß ich sie liebe.«

Sie lachte ihr liebes, warmes Lachen.

»Dummer Ronald, wunderlicher ist es mir gewesen, daß du Lisa nicht schon lange liebtest. So ein goldnes Herz! Aber freilich, ihr Männer wollt zuerst etwas fürs Auge haben. Lili Sanders kann Lisa das Wasser nicht reichen, was inneren Wert anbelangt. Aber ihr hübsches Gesicht hatte dir den Kopf verdreht. Ich bin heilfroh, daß du diese Krise hinter dir hast. Also Lisa hat sich sehr verändert?«

Er schilderte mit glühender Beredsamkeit, wie reizend, anmutig und lieb Lisa gewesen sei. Seine Augen blitzten vor Erregung, und seine Stimme bebte.

Da nahm ihn Lotte beim Kopf und küßte ihn lachend.

»Schade, daß Lisa das nicht mit anhören konnte; sie wäre sicher durch deine Worte so überzeugt worden wie ich. Nun glaube ich dir wirklich, daß du sie liebst. So versteht nur ein Verliebter die Reize seiner Angebeteten zu schildern. Übrigens, wenn es dich interessiert, ich habe einen lieben, herzlichen Glückwunschbrief von Lisa erhalten, und von Frau von Rahnsdorf einen Korb voll der herrlichsten Rosen. Soll ich dir den Brief zeigen?«

»Ja, bitte,« bat er dringend.

Sie holte den Brief aus einem Kästchen und legte ihn vor den Bruder hin.

»Von dir ist aber gar nicht die Rede darin,« sagte sie neckend.

Er sah enttäuscht aus.

»Nein?«

»Wirklich nicht. Mit keinem Wort erwähnt sie dich.«

Er las den Brief und gab ihn stumm zurück.

»Nun, – hat er nicht deinen Beifall, Ronald?«

»Doch, aber sie schreibt wirklich kein Wort über mich.«

»Und das kränkt den stolzen Herrn der Schöpfung, nicht wahr? Ach, Ronald, ich wünsche von Herzen, daß Lisa dich noch ein ganzes Jahr hangen und bangen läßt in schwebender Pein!«

»Du bist recht liebevoll, Lotte. Dein Glück hat dich herzlos gemacht für das Leid deines Bruders.«

Lotte schüttelte den Kopf und strich ihm liebevoll das Haar aus der Stirn.

»Nein, Ronald; aber die Liebe zu Lisa muß erst tief, recht tief in deinem Herzen wurzeln, damit sie recht gedeihen kann. Sonst entwurzelt sie der erste kleine Sturmwind wieder.«

»Ach, du kluge Lotte, woher holst du dir denn all die Weisheit?«

»Aus Schulbüchern nicht, du dummer Ronald.«

Nun lachten sie beide herzlich. – –

Am andern Vormittag begab sich Ronald nach der Karl Tauchnitz-Straße, um Limbachs zu besuchen.

Die Konsulin empfing ihn allein, ihr Mann war nicht zu Hause. Sie war noch spitzer, noch kühler und unnahbarer geworden und begrüßte Ronald mit steifer Förmlichkeit.

»Ich habe gehört, daß du den Dienst quittieren willst. Ist das wahr?«

»Es ist bereits geschehen. Ich bin nicht mehr Offizier.«

»Und was hat dich zu diesem Schritt veranlaßt?«

Er sah mit großen, ernsten Augen in ihr verkniffenes Gesicht, in dem sich trotz aller Förmlichkeit ein forschender Ausdruck bemerkbar machte.

»Der Wunsch, mir meinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen, Tante Hermine.«

Sie betrachtete ihn unwillig erstaunt durch das Lorgnon.

»Wie soll ich das verstehen? Ich denke, du gehst nach Rahnsdorf, um das Gut meiner Schwägerin selbst zu verwalten?«

»Es ist allerdings Frau von Rahnsdorfs Wunsch, daß ich dies eines Tages tue. Ob sich dieser Wunsch jedoch erfüllt, hängt von Lisa ab.«

»Mein Mann sagt mir doch, daß ihr euch ausgesprochen und versöhnt habt.«

Ronald seufzte.

»Ja, ausgesprochen haben wir uns; und Lisa zürnt mir auch nicht. Aber vorläufig weigert sie sich, in Gemeinschaft mit mir zu leben.«

»Unerhört, – un–er–hört! Ich dächte doch, du hättest viel mehr Ursache, ihr zu zürnen. Weigert sich, in Gemeinschaft mit dir zu leben? Lächerliche, überschwengliche Sentimentalität. Und das läßt du dir bieten, machst diesem Skandal nicht ein Ende, indem du sie energisch an deine Rechte mahnst? Ich verstehe dich nicht, Ronald. Werden nicht Tausende von Ehen ohne die sogenannte Liebe geschlossen, die doch nur in romantischen Köpfen spukt? Lisa ist eine überspannte Närrin, und meine Schwägerin wird sie natürlich in ihrem Überschwang noch bestärken, schon um mich zu kränken, weil ich diese Verbindung gutgeheißen habe.«

»Ich muß Lisa unbedingt in Schutz nehmen, Tante Hermine. Ihr Verhalten billige ich vollständig.«

Sie richtete sich erstaunt empor. Auf ihren Wangen brannten rote Flecke und verrieten ihre Aufregung.

»Du billigst ihr Verhalten? Das erscheint mir seltsam genug. Dann wird wohl dieses Romankapitel durch eine Scheidung einen würdigen Schluß bekommen, nicht wahr?«

»Lisa verlangt die Scheidung nicht, und ich erst recht nicht.«

Sie schüttelte verständnislos den Kopf.

»Da werde ein anderer draus klug! Das kann ich dir sagen: wäre Lisa noch in meinem Hause, dann hätte ich meinen Einfluß ausgeübt, und sie wäre längst mit dir zusammen. Aber ich mag sie gar nicht wiedersehen, das abscheuliche, undankbare Geschöpf, das mir diesen ungeheuren Affront angetan. Zum Dank für alle meine Mühe und Sorge macht sie mir einen solchen Skandal und verbindet sich mit dieser Frau von Rahnsdorf, die immer nur darauf gesonnen hat, wie sie mir Böses zufügen kann.«

Sie fuhr erregt mit dem Taschentuch über die Stirn, ihre Ruhe hatte sie verlassen.

Ronald war in einer peinlichen Lage.

»Ich glaube, du verkennst Frau von Rahnsdorf. Sie hat sich mir als eine bewundernswert gütige und kluge Dame gezeigt. Ich schätze und verehre sie sehr.«

Etwas Unangenehmeres hätte er der Konsulin nicht sagen können. Sie kniff die Lippen zusammen und sah ihn durch die halbgeschlossenen Augen unglaublich hochmütig an.

»Sie wird immer Plebejerin bleiben, trotzdem sie durch ihre Heirat in den Adel erhoben wurde. Ich kann dir natürlich deinen schönen Glauben an ihre hervorragenden Eigenschaften nicht nehmen. Sie kann eine sehr gleisnerische Liebenswürdigkeit entfalten, wenn es ihr darauf ankommt. O, – ich kenne diese Heuchlerin! Meinen Mann hat sie auch wieder umgarnt, daß er nicht höher schwört, als bei seiner vortrefflichen Schwester. Daß sie ihn heimtückisch gegen die eigene Frau aufreizt, findet er auch in Ordnung.«

»Du mußt dich wirklich in einem bedauerlichen Irrtum befinden. Einer solchen Handlungsweise ist Frau von Rahnsdorf unfähig.«

Sie hob abwehrend die Hand.

»Du wirst zu deinem Schaden noch hinter ihre Schliche kommen. Seit mein Mann in Rahnsdorf war, ist nichts mehr mit ihm anzufangen. Früher galt in meinem Hause mein Wort; ich wurde als Herrin respektiert. Jetzt soll ich mich in allen Dingen unterordnen, soll sogar meiner Schwägerin zuerst die Hand zur Versöhnung reichen, ich – eine Geborene von Schlorndorf! Nicht viel hätte gefehlt, dann hätte er auch noch verlangt, daß ich Lisa um Verzeihung bitten soll, weil ich sie mit dir verheiratet habe.«

»Das würde Lisa gewiß nicht dulden.«

Die Konsulin lachte ärgerlich auf.

»Sollte mir auch fehlen. Ich habe doch wahrlich nur ihr Bestes gewollt. Konnte ich ahnen, daß sie die Ehre nicht zu würdigen versteht, eine Baronin Stolle-Hechingen zu heißen?«

Ronald suchte sie zu besänftigen, aber ohne Erfolg. Alle Bitterkeit, die sich in der gekränkten Frau aufgespeichert hatte, entlud sich über ihn. Er atmete wie erlöst auf, als der Konsul nach Hause kam.

Die Herren begrüßten sich mit einem festen, warmen Händedruck. Karl Limbach wußte über alles Bescheid durch seine Schwester. Ronald blieb zu Tisch, obwohl er sich nicht sehr behaglich fühlte zwischen dem auf gespanntem Fuße lebenden Ehepaar.

Hermines Wesen hatte innerlich ihrem Gatten gegenüber an Sicherheit eingebüßt. Ihr überlegener Ton verfing nicht mehr bei ihm; er ignorierte ihn einfach.

Diese Wandlung war ohne Szenen, ohne Streit vor sich gegangen; aber der stille Kampf zwischen den beiden Gatten wurde mit viel Zähigkeit geführt. Sie blieb dabei immer formell, er artig und höflich. Es gelang ihm aber doch, zuweilen seinem Willen Geltung zu verschaffen, und Hermine mußte ihm widerwillig kleine Zugeständnisse machen. Sehr behaglich war dieser heimliche Kriegszustand dem gutmütigen Konsul nicht. Deshalb war er sehr viel außer dem Hause und kam fast nur bei den Mahlzeiten mit seiner Gattin zusammen.

* * *

Lisa entfaltete sich in Rahnsdorf wie eine Blume, die lange im Schatten gestanden hatte und nun in helles, warmes Sonnenlicht gerückt wurde. Ihre Tage waren ausgefüllt mit befriedigender Tätigkeit. Sie hatte auch Reiten gelernt und begleitete die Tante auf ihren Ritten. Und noch einen kräftigenden Sport trieb sie mit Vorliebe. Hinter dem Rahnsdorfer Garten floß die Saale vorbei. In einem hübschen, leichten Boote machte sie täglich ausgedehnte Ruderpartien, und zwar allein, da Frau von Rahnsdorf Wasserfahrten nicht vertrug. Dafür war sie jedoch eine tüchtige Schwimmerin und ruhte nicht eher, bis auch Lisa diesen gesunden Sport ausübte.

Das veränderte Leben übte einen günstigen Einfluß aus auf die junge Frau. Sie redete sich ein, daß sie glücklich sei, und suchte das durch ihr Verhalten der Tante zu beweisen. Frau von Rahnsdorf gab sich den Anschein, daran zu glauben; aber sie wußte doch, daß in Lisas Herz ein stiller Kampf entbrannt war.

Zuerst schien sie nach Ronalds Abreise wirklich erleichtert und befriedigt zu sein. Aber dann kamen Stunden, wo Ronalds Worte in ihrem Herzen für ihn bettelten und schmeichelten. Wenn es nun doch Wahrheit war, wenn er wirklich etwas wie Liebe für sie empfand? Sie rief sich jedes Wort, jeden Blick zurück und ließ sich in süße, lockende Träume einspinnen. Aber dann erschrak sie vor sich selbst, schalt sich eine Törin und suchte ihr Herz zu verhärten. Mit heimlicher Selbstqual rief sie die furchtbare, demütigende Stunde wieder in ihr Gedächtnis zurück, hörte Ronald wieder nach seiner Freiheit rufen. Dann war sie wie auf der Flucht vor sich selbst. Nein, sie wollte nicht an seine Liebe glauben, wollte nicht ein zweites Mal eine so grausame Enttäuschung erleben! Es war besser, sie kämpfte an gegen ihre eigene Liebe und fand sich damit ab.

Sie konnte sich selbst hassen, daß sie immer wieder in heißem, süßem Schrecken an seine Worte dachte: »Lisa, ich liebe dich!« Sie schämte sich, daß sie diese lockenden Worte nicht aus ihrer Erinnerung bannen konnte. Warum liebte sie ihn noch, warum konnte diese Liebe nicht sterben? Hatte sie nicht das Ärgste erlitten, was einem Weibe geschehen konnte? Hatte sie ihm nicht ihr ganzes Inneres preisgegeben in zärtlicher Liebe, ihm, der kein Verlangen danach trug und nur widerwillig ihre Liebkosungen ertrug? War es nicht genug der Schmach? – Diese Gedanken riefen alles wach, was sie erduldet hatte; und dann fühlte sie sich stark genug, den Lockungen zu widerstehen. Sie erwog in solchen Stunden sogar den Gedanken an eine Scheidung. Und je schwächer sie sich fühlte, desto mehr beschäftigte sie sich mit diesem Gedanken, in dem sie Rettung suchte vor sich selbst. Sie bildete sich ein, daß sie dann endlich zum Frieden mit sich selbst kommen würde.

Jetzt brauchte sie ja keine Angst mehr zu haben, daß Ronald durch die Scheidung in das Verderben gestürzt würde. Herr von Wustrow schrieb ganz begeistert von seinem neuen Hausgenossen. Er wünschte sich sehnlichst, ihn immer in Wustrow behalten zu dürfen. Ronald hatte es verstanden, sich fast unentbehrlich zu machen, und Herr und Frau von Wustrow hatten ihn liebgewonnen. So war für Ronalds Zukunft nichts zu befürchten, auch wenn sie offiziell von ihm geschieden wurde. War es nicht besser, sie machte diesem haltlosen Zustand ein Ende? – Auch für Ronald würde es besser sein. Sie wollte ihm ruhig und freundlich auseinandersetzen, daß an eine rechte Ehe zwischen ihnen nicht zu denken wäre und daß es deshalb besser sein würde, wenn sie das lose äußerliche Band, das sie noch aneinander fesselte, mit fester Hand zerrissen, selbst auf die Gefahr hin, daß dieser Riß schmerzen würde. So wie es jetzt war, galt eines dem andern nur als Hemmnis in seiner Weiterentwicklung.

Langsam machte ihre Seele diese Wandlung durch, nicht, ohne wieder und wieder wankend zu werden in ihren Entschlüssen. So verging der Sommer mit seiner Blütenpracht. Die Erntezeit, in der der Segen des Fleißes eingeheimst wurde, war vorüber, und in Rahnsdorf kamen stille Tage, wie überall auf dem Lande. Frau von Rahnsdorf pflegte sonst um diese Zeit Reisepläne zu entwerfen für den Winter. Jedes Jahr war sie entweder von Ende Oktober bis Weihnacht, oder von Weihnacht bis Ende Februar aus ihrem stillen Rahnsdorf hinausgezogen in die weite Welt. Diese Wochen wurden von ihr benutzt, um Blick und Sinn zu weiten, neue Menschen kennen zu lernen und alte Freundschaften aufzufrischen. Um die Weihnachtszeit war sie jedoch stets zu Hause, um nach guter alter Sitte ihren Untergebenen selbst den Weihnachtstisch aufzubauen. Eines Tages, als sie gemütlich mit Lisa am traulichen Kamin im Wohnzimmer saß, während draußen der Herbststurm große Regentropfen gegen die Fenster trieb, sagte sie plötzlich, aus tiefen Gedanken heraus: »Was meinst du, Lisa, wenn wir jetzt schleunigst unsere Sachen packten und Reißaus nähmen vor dieser schauderhaften Regenflut, die mein schönes Rahnsdorf in einen Schmutztümpel verwandelt?«

Lisa schreckte auf aus ihren Grübeleien.

»Ich finde es köstlich behaglich hier bei dir am warmen Ofen. Hinauszusehen braucht man ja nicht.«

Ihre Tante sah etwas enttäuscht aus.

»Also hast du keine Lust, zu reisen?«

Lisa sah in ihre Augen.

»Du hast aber welche, Tantchen, nicht wahr?«

»Offen gestanden, ja. Um diese Zeit erwachen stets Zugvogeltriebe in meiner Brust.«

Lisa umfaßte sie lächelnd.

»So laß uns reisen, Tantchen.«

»Gehst du auch gern mit?«

»Mit dir ist es überall schön.«

»Wo möchtest du hin?«

»Bestimme du, Tantchen.«

»Ich bin dafür, nach dem Süden zu gehen. Wir wollen doch dem regnerischen Herbst entgehen. Warst du mit Onkel und Tante schon in Nizza, Kind?«

»Nein, Tantchen.«

»Wunderschön ist es dort. Ich weiß da in der Nähe von Nizza eine reizende Villa. Sie gehört einem Geschwisterpaar, das darin ein Pensionat im vornehmen Stil errichtet hat. Die beste Gesellschaft aus aller Herren Länder verkehrt bei ihnen. Ich war schon einige Male dort, – das letztemal vor drei Jahren. Dies Fleckchen Erde möchte ich dir zeigen; und das ganze rege Leben und Treiben würde dich sehr interessieren. Meine hübschesten Reiseerinnerungen knüpfen sich an diesen Ort. Villa Tenda liegt direkt am Meere. Wundervoll ist der Ausblick von der breiten Terrasse. Und du liebst den Rudersport, Kindchen. Da kannst du dich austun. Zu Villa Tenda gehören hübsche, leichte Ruder- und Segelboote. Das ist etwas anderes, als auf unserem Rahnsdorfer Ententümpel.«

»Du vergißt den Fluß, Tantchen. Da habe ich schon sehr ausgedehnte Ruderpartien unternehmen können. Aber davon abgesehen, – deine Beschreibung ist sehr verlockend. Und in deinen Augen brennt das Verlangen. Reisen wir also nach Nizza.«

»Abgemacht. Morgen packen wir. Ich will nachher gleich an Geschwister Tenda depeschieren und Zimmer für uns bestellen.«

Lisa blickte nachdenklich vor sich hin; dann faßte sie die Hand der Tante und sagte bittend:

»Du verschweigst dort aber meinen Namen, Tantchen? Ich bin einfach deine Nichte Lisa Limbach.«

Frau von Rahnsdorf sah sie forschend an.

»Weshalb das, Lisa?«

Diese wurde rot.

»Es wäre doch sehr unangenehm, wenn wir dort zufällig mit einem Bekannten Ronalds zusammentreffen würden. Das könnte zu Gerede Anlaß geben.«

»Da hast du recht, Lisa. Schließlich ist es ja auch einerlei, ob du unter deinem Frauen- oder Mädchennamen reisest.«

»Einerlei ist mir das gar nicht, Tante Anna. Mir ist es schon hier furchtbar unangenehm, Frau Baronin tituliert zu werden. Und da wir einmal bei dem Thema sind, möchte ich dir eine Eröffnung machen.«

Frau von Rahnsdorf sah Lisa unruhig forschend an. Die junge Frau sah blaß aus und hatte einen entschlossenen Ausdruck im Gesicht.

»Sprich, Lisa; du bist so sonderbar. Was hast du mir zu sagen?«

»Tante, – ich möchte, daß die Ehe zwischen Ronald und mir geschieden wird.«

Die alte Dame zuckte erschrocken zusammen. Das hatte sie nicht erwartet. Sie glaubte fest, daß Lisas Widerstand zu weichen begann. Und nun plötzlich diese Erklärung!

»Du siehst mich einigermaßen fassungslos. Was ist geschehen, das dich zu diesem unerwarteten Entschluß treibt?«

»Nichts ist geschehen, Tante. Der Gedanke hat sich ganz allmählich in mir festgesetzt. Diese Ehe ist ein Unding; wir werden beide froher sein, wenn wir den Mut haben, dieses Band zu zerreißen.«

Frau von Rahnsdorf suchte in Lisas Zügen zu lesen.

»Als Ronald hier war, sagtest du ihm, daß du eine Scheidung nicht wünschtest.«

»Ja, Tante, damals fürchtete ich, daß Ronalds äußere Verhältnisse durch eine Scheidung unhaltbar würden; ich suchte noch nach einem Ausweg, wie ich ihm helfen könnte. Jetzt ist er in Wustrow gut aufgehoben. Herr von Wustrow ist froh, wenn Ronald bei ihm bleibt. Ich brauche mich also nicht mehr um ihn zu sorgen.«

Frau von Rahnsdorf hatte sich gefaßt. Sie stand wieder über der Situation.

»Du bist also fest entschlossen, dich von ihm scheiden zu lassen?«

»Ja, Tante. Ich habe den Gedanken seit Ronalds Hiersein nach allen Seiten erwogen. Sieh mal, – an eine richtige Ehe zwischen uns ist nie zu denken; ich könnte nie wieder das rechte Vertrauen zu ihm fassen. Es wäre eine Qual ohne Ende, und wir verbitterten uns, ohne es zu wollen, gegenseitig das Leben. Wozu soll also diese Scheinehe aufrechterhalten bleiben? Das führt nur zu immer neuen peinlichen Situationen. Ronald wird schließlich auch froh sein, wenn ich die Initiative ergreife. Er ist zu ritterlich, den ersten Schritt zu tun, und quält sich aus Mitleid mit mir in eine eingebildete Liebe hinein. Sage selbst, ist es nicht besser, wir machen einen energischen Schnitt, um frei zu werden?«

Frau von Rahnsdorf hatte still zugehört, ohne ihre Augen von Lisa zu lassen.

»Du sprichst sehr vernünftig, Kind, beinahe zu vernünftig für meine Begriffe. Danach möchte ich fast annehmen, daß deine Liebe für Ronald erloschen ist.«

Lisa wandte sich ab und trat an das Fenster. Sie starrte in den sturmgepeitschten Regen hinaus; ihr Herz lag ihr kalt und schwer in der Brust.

»Vor allen Dingen quält mich dieses unklare Verhältnis; ich ertrage es nicht länger,« sagte sie nach einer Weile mit heiserer, erregter Stimme, ohne sich nach der Tante umzuwenden.

Ein Lächeln huschte um den Mund der alten Dame. Jetzt überblickte sie klar den Grund zu Lisas Wunsch. Sie fühlte sich innerlich nicht mehr stark und fest genug, sich gegen den Gedanken an Ronalds Liebe zu wehren. Sie fürchtete sich, zu unterliegen, und wehrte sich verzweifelt, aus Angst, eine neue Enttäuschung zu erleben.

Sie erhob sich und trat zu Lisa an das Fenster. Den Arm um sie legend, sagte sie ernst:

»Wehre dich doch nicht so unsinnig, Kind. Ich habe dir Ronalds Briefe alle vorgelesen; jedes Wort darin verrät seine Liebe und Sehnsucht nach dir. Verschließe dich doch nicht in törichter Angst der Stimme, die zu seinen Gunsten spricht. Es wird dir ja doch nichts helfen. Dein eigenes Herz glaubt ja schon längst an die Wahrheit seiner Liebe. Dich treibt nur die Angst vor einem Selbstbetrug zu diesem Schritt.«

Da wandte sich Lisa um und sah ihr mit einem furchtbar gequälten Ausdruck in das Gesicht.

»Tante, wenn du mich nur ein wenig liebhast, – rede mir nicht zu. Es kann keine Gemeinschaft geben zwischen ihm und mir. Und ich will die Scheidung; mein Entschluß steht fest.«

Es lag etwas im Ausdruck ihres Gesichtes und in ihrer Stimme, das Frau von Rahnsdorf abmahnte, weiter in sie zu dringen.

»Ich muß dich deinen Weg gehen lassen, meine Lisa. Aber versprich mir wenigstens, daß du noch eine Weile warten willst. Überlege dir diesen Schritt reiflich. Einmal getan, ist er nicht wieder gutzumachen.«

Ein blasses Lächeln huschte um Lisas Mund.

»Ich kann es dir ja versprechen, noch eine Weile zu warten. Aber dann werde ich handeln, – ohne noch einmal mit dir davon zu sprechen.«

Frau von Rahnsdorf war damit zufrieden. Sie wollte nur erst Zeit gewinnen, überlegen zu können, was zu tun sei, um Lisa vor sich selbst zu retten.

»Gut, Kind, so soll es sein. Aber jetzt wollen wir gar nicht mehr daran denken, sondern nur an unsere schöne Reise. Wie ich mich freue, daß ich diesmal nicht allein zu ziehen brauche! Wir entfliehen den ungemütlichen Herbsttagen, um in Nizza einen Nachsommer zu verleben; und wenn wir dann um Weihnachten heimkehren, empfängt uns Rahnsdorf hoffentlich im festlich weißen Winterkleid.«

»Wunderschön muß es dann hier sein. Ach, Tantchen, ich mag ja nie mehr fort von dir und von Rahnsdorf. Ich will immer bei dir bleiben.«

»Das wünsche ich mir auch, mein Liselchen.«

* * *

Während die beiden Damen in den nächsten Tagen ihre Reisevorbereitungen trafen, kamen sie mit keinem Wort auf die Scheidungsfrage zurück. Lisa beteiligte sich mit einer etwas nervösen Freudigkeit an den Vorbereitungen, scherzte mit Mamsell Birkner und gab sich alle Mühe, die Tante über ihren wahren Seelenzustand zu täuschen.

Frau von Rahnsdorf entwarf jedoch inzwischen einen neuen Feldzugsplan. Wenn sie mit Lisa von Nizza heimkehrte, mußte Ronald in Rahnsdorf sein. Einem erneuten Sturm seinerseits auf ihr Herz würde Lisa nicht widerstehen.

Während ihres Aufenthalts in Nizza konnte Lisa nichts unternehmen, um ihre Ehe zu trennen. Und nach der Heimkehr, wenn sie Ronald erst wiedergesehen, würde sie nicht mehr daran denken. Dieser Scheidungsgedanke war nichts als ein Eingeständnis ihrer Schwäche, ihrer Unsicherheit. Davon war die Tante überzeugt. Frau von Rahnsdorf seufzte lächelnd, als sie das erwogen hatte.

»In ihr Unglück laufen die Menschen oft mit freudiger Hast, – und gegen das Glück wehren sie sich verzweifelt, wie gegen einen Feind,« dachte sie im stillen. – – –

Mamsell Birkner half den Damen beim Packen. Es gab aber immerfort Meinungsverschiedenheiten zwischen ihr und den Damen. Sie bestand darauf, Pelze und warme Winterkleider einzupacken, und wollte erbarmungslos die Sonnenschirme zurückbehalten. Sie schalt ärgerlich über den ›jugendlichen‹ Leichtsinn ihrer Herrin und stopfte energisch einige warme Plaids in die Koffer. Obwohl ihre Herrin schon manchen Herbst im Süden verbracht hatte, Mamsell Birkner ließ sich nie überzeugen, daß man um diese Jahreszeit ›da unten‹ noch behaglich im Freien sitzen konnte.

* * *

Seit einigen Tagen weilte Frau von Rahnsdorf mit ihrer Nichte in Villa Tenda. Sie hatten gastliche Aufnahme gefunden in dem hübschen, im modernen Villenstil erbauten Hause, das eigentlich für eine Villa viel zu groß war. Mit den blumengeschmückten Veranden, den freundlichen Jalousien und Zelten machte es einen vornehmen und einladenden Eindruck.

Fast alle Zimmer waren besetzt. Die Pension der Geschwister Tenda war bekannt und beliebt, viele zogen den Aufenthalt dort dem lauten Treiben in Nizza vor. Und wer Verlangen hatte, sich einmal in das bunte Leben und Treiben zu stürzen, der erreichte Nizza bald in einem eleganten Wagen, der zur Pension gehörte, oder man fuhr mit einem der schmucken Segelboote hinüber. Lisa und ihre Tante hatten sehr hübsche, elegante Zimmer erhalten, die nach der See hinaus lagen.

Unter ihren Fenstern, vor denen einer der blumengeschmückten Balkons lag, befand sich die breite, durch eine Steinbalustrade begrenzte Terrasse. Breite Steintreppen führten in der Mitte und zu beiden Seiten auf kiesbestreute Wege, die am Strand bei den Badekabinen und Booten mündeten.

Auf der Terrasse standen hübsche, weißlackierte Tische, Stühle und Bänke zu zwanglosen Gruppen vereint. Hier hielten sich die meisten Pensionsgäste den größten Teil des Tages auf und schauten in schläfriger Behaglichkeit oder in amüsanter Unterhaltung mit gleichgestimmten Menschen auf das Meer.

Bei günstigem Wind hörte man das Konzert von Nizza herüberklingen. Frau von Rahnsdorf hatte einige Bekannte von früher hier angetroffen. Sie wurde mit Freuden begrüßt, und die beiden Damen fühlten sich schnell behaglich. Lisa war als ›Lisa Limbach, – meine Nichte‹ von Frau von Rahnsdorf eingeführt worden, und niemand fiel es ein, die junge Frau anders als ›Fräulein‹ anzureden. Sie sah zu mädchenhaft aus. Lisa protestierte so wenig wie Tante Anna dagegen. Das Leben in Villa Tenda war bei aller Behaglichkeit reizvoll und interessant. Auch machten die beiden Damen allein oder in Gesellschaft Ausflüge, fuhren nach Nizza hinüber und statteten auch Monte Carlo einen Besuch ab.

Am liebsten aber waren Lisa die Stunden nach Tisch, wenn Tante Anna Siesta hielt. Dann ruderte sie in einem der hübschen Boote auf das Meer hinaus und ließ sich von den Wellen schaukeln. Bisher war immer ruhige See gewesen, und sie konnte täglich hinaus. Es fanden sich einige junge und ältere Herren, die sich wiederholt erboten, Lisa zu begleiten, doch sie wehrte immer lächelnd, aber entschieden ab. – –

Trotzdem das Leben in Villa Tenda einen internationalen, großzügigen Charakter trug, gab es auch hier eine kleine Anzahl jener Gemeinde, die ihre Engherzigkeit und ihr Krähwinkeltum nirgends ablegt, weil sie es in der eigenen Brust mit sich herumträgt. Diese Gemeinde zerfällt in zwei Parteien. Die eine ist harmlos und ungefährlich und begnügt sich mit der eigenen Kleinlichkeit. Die andere Partei aber kann sehr gefährlich für ihre Mitmenschen werden. Sie ärgert sich über alles, was groß, gut und schön ist, und sucht eifrig nach Flecken, Fehlern und Häßlichkeiten, um sie triumphierend an das Licht zu ziehen; sie huldigt mit einem Wort dem bösartigen Klatsch, ohne zu empfinden, wie niedrig ihr Verhalten ist.

Von der letzten Sorte gehörten vier Personen seit Jahren zu den Stammgästen der Villa Tenda. Sie waren stets zu gleicher Zeit da, obwohl sie in den verschiedensten Gegenden des Deutschen Reiches wohnten, und schienen für die Dauer ihres Aufenthaltes unzertrennlich.

Frau von Rahnsdorf kannte die vier Herrschaften zur Genüge und machte gern einen weiten Bogen, um nicht mit ihnen zusammentreffen zu müssen. Da das ›vierblättrige Kleeblatt‹, wie sich das liebenswürdige Quartett selbst zu nennen pflegte, auf der Terrasse stets den einen Ecktisch an der Mitteltreppe besetzt hielt, war das nicht immer möglich. Einige kurze Worte mußte man wenigstens mit ihnen wechseln. Aber nur Neulinge in der Pension ließen sich bewegen, an dem ›Lästertische‹ Platz zu nehmen.

Das Kleeblatt bestand aus drei Damen und einem Herrn, alle im Alter zwischen vierzig und fünfzig Jahren. Herr von Strassen war wegen eines Leidens pensioniert. Er hatte es in einer kleinen Residenz bis zum Geheimen Hofrat gebracht, war Junggeselle und Meister der Medisance. Er legte sehr viel Wert auf elegante, peinlich akkurate Kleidung, trug stets den spiegelblanken Zylinder, eine weiße Blume im Knopfloch, und Monokel. Er lispelte beim Sprechen, und seine wasserblauen Augen vermochten recht scharf und unbarmherzig zu beobachten. Seine spezielle Freundin war Frau von Rosen, die unstreitig Jüngste des Kleeblattes. Sie pflegte zwar etwas Rot aufzulegen, sah aber auch dafür am besten aus von den drei Damen, zumal sie verstand, vorteilhaft Toilette zu machen. Sie war immer und unter allen Umständen einer Meinung mit Herrn von Strassen und verriet durch schmachtende Blicke, daß ihr Herz gar nicht abgeneigt sein würde, in der Brust einer Frau von Strassen zu klopfen.

Die zweite Dame war ein verblühtes, spitznasiges Fräulein von Uechteritz. Sie liebte es, auffallende Farben zu tragen, kritisierte vernichtend jede geschmackvolle Toilette, die eine andere Dame trug, mit ›gesucht einfach‹ oder ›extravagant‹, und hielt sich für äußerst schick und geschmackvoll. Auch dieses Fräulein betrachtete Strassen mit ›der langen Sehnsucht Weh im Herzen‹ seit Jahren und hoffte immer noch auf einen Antrag dieses einzigen für sie in Frage kommenden Freiers.

Blieb noch die verwitwete Generalin von Naundorf. Ihre kleinen, unruhig hin und her fahrenden Augen sahen alles, hauptsächlich aber das, was ihre Entrüstung erregte; und sie rief dann immer einige Male hintereinander die Worte: › Mon dieu – diese Welt!‹ Ihr fettes Doppelkinn zitterte vor Entrüstung auf dem stattlichen Busen. Sie hatte schöne kleine Hände, mit deren Pflege sie einen großen Teil des Tages verbrachte. Mit diesen Händen kokettierte sie aber leider in einer Weise, daß ein feinfühliger Mensch nervös werden konnte.

Sie erwartete in den nächsten Tagen ihren Neffen, wie sie ihren Getreuen einige Tage nach Frau von Rahnsdorfs Ankunft erzählte. Von diesem Neffen schwärmte sie bei Tisch in beängstigender Weise und hielt einen förmlichen Vortrag über seine Vorzüge.

Daß sie ihn sehr eindringlich aufgefordert hatte, zu kommen, weil unter den Pensionsgästen sich zwei reiche Erbinnen befanden, die für ihn in Frage kommen konnten als gute Partie, verriet sie natürlich nicht.

Die eine dieser Erbinnen war ›Fräulein Lisa Limbach‹. Die gute Generalin ahnte natürlich so wenig wie die anderen Pensionäre, daß Lisa Limbach Frau Baronin Stolle-Hechingen war. Sie hatte nur gelegentlich Frau von Rahnsdorf ein bißchen ausgeforscht und dabei glücklich zutage gefördert, daß Lisa ihre Erbin sei und selbst vermögend war.

Diesem Umstand verdankte Lisa, daß man an dem gefürchteten Lästertisch vorläufig einiges Wohlwollen für sie hegte. Der Hofrat zeichnete sie mit faden galanten Scherzen aus, die er selbst mit einem glucksenden, gurgelnden Lachen begleitete. Fräulein von Uechteritz fand an ihrer Toilette nichts auszusetzen, als daß sie zu viel weiß trug, und Frau von Rosen ignorierte sie, womit sie ihr Wohlwollen hinreichend dokumentierte.

Die Generalin legte sogar einen Ausdruck von mütterlicher Zärtlichkeit ihr gegenüber an den Tag und erzählte ihr Wunderdinge von ihrem vortrefflichen Neffen.

Frau von Rahnsdorf beobachtete das alles amüsiert.

»Liselchen, – der Lästertisch scheint außerordentliches Wohlgefallen an dir gefunden zu haben. Mit rechten Dingen geht das nicht zu. Ich glaube, die Generalin spekuliert für ihren vortrefflichen Neffen auf die reiche Erbin. Sie spricht mir gar zu viel von ihm und hat mich einem hochnotpeinlichen Verhör unterzogen, ob du meine einzige Erbin bist.«

Lisa machte ein unwilliges Gesicht.

»Ich kann diese Menschen nicht leiden.«

»Mit dieser Antipathie stehst du nicht vereinzelt da. Aber lassen wir uns dadurch nicht im Genuß unserer Ferien stören.«

Während dieser Unterhaltung saßen die beiden Damen an einem kleinen Tischchen vorn an der Balustrade. Die Terrasse war heute wenig belebt, da ein großer Teil der Pensionäre nach Nizza hinübergefahren und gesegelt war. Man hatte auch die beiden Damen aufgefordert, mitzukommen; aber diese zogen es vor, in friedlicher Stille daheimzubleiben.

Lisa zog sich überhaupt so viel wie möglich von derartigen gemeinsamen Unternehmungen zurück. Ihre Gedanken beschäftigten sich unablässig mit ihrer Scheidung, von der allein sie Ruhe und inneren Frieden erhoffte. Wie sie der Tante versprochen hatte, wartete sie noch eine Weile, ehe sie Schritte dazu unternahm. Zwei Wochen wollte sie warten, so hatte sie sich in Rahnsdorf vorgenommen. Nun waren diese zwei Wochen um, und gleich am nächsten Tage schrieb sie, ohne Tante Anna etwas zu sagen, an Ronald.

Sie wußte, wenn sie mit Tante davon sprach, gab es wieder Auseinandersetzungen; und sie vertrug auch von dieser geliebten gütigen Frau nur schwer das Berühren ihrer Wunde. Frau von Rahnsdorf ahnte nicht, daß Lisa schon jetzt etwas Entscheidendes unternahm. Sie hatte Ronald noch nichts mitgeteilt von Lisas Entschluß, weil sie ihn nicht unnötig beunruhigen wollte. Das hatte ihrer Meinung nach alles Zeit bis einige Tage vor ihrer Rückkehr nach Rahnsdorf.

Lisas Brief an Ronald lautete:

 

»Lieber Ronald! Daß ich Dir schreibe, wird Dir ein besonderes Anliegen verraten. Du fragtest mich damals in Rahnsdorf, ob ich eine Scheidung zwischen uns wünsche. Ich antwortete Dir zwar verneinend, aber meine Ansicht hat sich geändert. Nach reiflichen Erwägungen bin ich zu der Erkenntnis gekommen, daß nur die Scheidung unser beiderseitiges Verhältnis klären kann. Deshalb wende ich mich heute an Dich mit der Bitte, sofort die nötigen Schritte dazu einzuleiten. Ich gebe Dir alle Vollmacht des Handelns und bitte Dich, nicht erst zu versuchen, mich anderen Sinnes zu machen. Es ist für uns beide besser. Erspare mir erneute Kämpfe; das erwarte ich von Deiner Ritterlichkeit. Meine Seele sehnt sich nach Ruhe und Frieden. Laß uns so schnell und so ruhig wie möglich ein Band lösen, welches uns unfrei macht. Sei meines Dankes gewiß. Lisa.«

 

Ohne ihn noch einmal durchzulesen, kuvertierte und adressierte sie den Brief und trug ihn gleich selbst zu dem am Hause angebrachten Postkasten. Als sie ihn mit einem leise klappenden Ton fallen hörte, war ihr zumute, als müsse nun ihr Herz für immer aufhören zu schlagen. Ruhe und Befriedigung brachte es ihr nicht, daß der Brief nun geschrieben war und unaufhaltsam ihr Geschick besiegeln würde. Voll Unrast schritt sie hinab zum Strand, um auf das Meer hinauszurudern.

Der Bootsmann machte ein Boot für sie flott und sah lächelnd zu, wie sicher und gewandt sie die Ruder einsetzte. Er hatte schon manches Trinkgeld von dem ›deutschen Fräulein‹ erhalten.

Voll Kraft und Anmut bewegte sich Lisas Körper hin und her. Ein paar Herren sahen ihr wohlgefällig nach und grüßten zu ihr hinüber, bedauernd, daß die junge Dame immer allein hinausruderte. –

Als Lisa nach einer Stunde an das Land zurückkehrte, hatte ihre Tante bereits ihr Mittagsschläfchen hinter sich und hielt am Ufer schon nach ihr Ausschau.

»Du bist ja eine richtige Wasserratte, Lisa. Warst schon wieder draußen auf dem Meer?«

»Ja, Tantchen. Es ist so wundervoll, vom Boot aus den Blick über die sonnige Landschaft gleiten zu lassen. Du solltest mich nur einmal begleiten.«

»Nein, Liselchen, in so einer Nußschale von Boot wird mir ganz übel zumute. Das ist nichts für mich. Ich muß festen Boden unter den Füßen haben. Wage dich nur nicht zu weit hinaus.«

»Unbesorgt, Tantchen; ich weiß, wie weit meine Kräfte reichen.«

Frau von Rahnsdorf sah wohlgefällig auf Lisas schlanke, aber voll und kräftig entwickelte Gestalt. »Gelt, Liselchen, schön ist es, wenn man fühlt, daß man gesund und kräftig ist?«

Lisa drückte ihren Arm an sich.

»Das danke ich dir, du Liebe, Gute.«

»Der Hauptanteil gebührt der Birknern; das weißt du doch. Übrigens habe ich einen Brief von ihr. Er strotzt von Liebenswürdigkeiten.«

Lisa lachte.

»Kann ich mir denken. Ist alles wohl und in Ordnung zu Hause?«

»Gott sei Dank, ja. Aber komm, Liselchen, laß uns den Seitenweg einschlagen, damit wir nicht die Mitteltreppe hinaufzugehen brauchen. Der Lästertisch ist vollzählig besetzt, und ich kann schon nichts mehr von dem vortrefflichen Neffen hören, ohne Übelkeit zu verspüren. Die Generalin hat entschieden Absichten auf dich. Es war vielleicht doch eine Dummheit, daß wir es so ruhig geschehen ließen, als man dich in ein gnädiges Fräulein verwandelte. Du konntest ebensogut unter der Flagge einer Frau Lisa Limbach segeln.«

»Dann hätte ich hundert neugierige Fragen nach meinem Mann beantworten müssen,« sagte Lisa leise.

»Ja, ja, – es wäre unangenehm gewesen. Nun, mit dem Neffen werden wir ja auch so fertig werden. Es ist ja zum Glück noch eine junge Erbin hier, nach der die Generalin auch schon ihre Fangarme ausstreckt.«

»Ach, du meinst Fräulein von Jagemann. Ich fürchte, mit der hat die Generalin auch kein Glück. Sie scheint sich sehr gut mit Herrn von Tomdorf zu unterhalten.«

»Der mir ebenso sympathisch ist, wie die hübsche kleine Jagemann; das gibt ein Brautpaar nach meinem Geschmack. Ich sehe nun einmal gern hübsche und glückliche Menschen.«

Ein Schatten flog über Lisas Gesicht. Hübsch und glücklich! Wer das auch sein könnte!

Sie dachte darüber nach, ob sie der Tante Mitteilung von ihrem Brief an Ronald machen sollte. Aber etwas hielt sie ab, es schon jetzt zu tun. Wozu der Tante jetzt die frohe Stimmung verderben? Sie erfuhr es noch immer zeitig genug, wenn Ronald Antwort schickte.

Auf diese Antwort wartete Lisa in den nächsten Tagen in nervöser Unruhe. Immer wieder rechnete sie sich aus, wann sie eintreffen konnte. Inzwischen war der Neffe der Generalin angelangt. Herr von Naundorf war weder schön noch häßlich, ein langer Mensch mit farblosen Zügen, dünnem Bärtchen und scharfen, spöttisch blickenden Augen. Man sah ihm auch in Zivil den Offizier an. Seine Tante setzte ihn mit allem Pomp in Szene und machte ihn schleunigst mit Lisa und Fräulein von Jagemann, einer hübschen, graziösen jungen Dame, der Tochter eines reichen Kommerzienrates, bekannt.

Mit heimlichem Vergnügen sahen die Pensionäre, wie Fräulein von Jagemann den ›vortrefflichen Neffen‹ glatt abfallen ließ, als er sich ihr mit schneidiger Galanterie zu nähern versuchte. Daß auch Lisa ihm gegenüber nicht aus ihrer freundlichen Reserve heraustrat, bemerkte man gleichfalls.

Herr von Naundorf machte seiner Tante einige Tage später in einer stillen Stunde die Eröffnung, daß Fräulein von Jagemann auszuscheiden sei aus der Konkurrenz; sie sei entschieden bereits im heimlichen Einverständnis mit Herrn von Tomdorf. Bliebe also nur ›die kleine Limbach; nicht übel, nur ein bißchen zu ernst für meinen Geschmack‹.

Am nächsten Morgen beim Frühstück am Lästertisch, an dem jetzt auch Herr von Naundorf stets mit Platz nahm, wurde Fräulein von Jagemann unbarmherzig durchgehechelt. Die Generalin berichtete mit rotglühenden Wangen und voll sittlicher Entrüstung, daß Fräulein von Jagemann am Abend vorher bis nach zehn Uhr allein mit Herrn von Tomdorf am Strande promeniert sei. » Mon dieu,– diese Welt, diese Welt! Heutzutage erlebt man Unglaubliches,« seufzte sie.

»Ich begreife nicht, wie die Mutter der jungen Dame das gestatten kann,« warf Frau von Rosen ein.

»Eh, eh –«, gluckste der Hofrat und rieb sich lächelnd das Kinn. »Frau Kommerzienrat Jagemann ist selbst noch sehr, – eh, eh – wie soll ich sagen – sehr empfängliche Frau.«

»Ja, die Mutter geht mit schlechtem Beispiel voran,« sagte Fräulein von Uechteritz spitz. »Haben Sie gestern abend die Kleidung der Kommerzienrätin bei Tisch gesehen? Ich war entsetzt.«

»Eh, eh – wie soll man so etwas nicht sehen, – war doch sehr in die Augen fallend,« sagte der Hofrat.

Frau von Rosen sah ihn verschämt an.

»Nicht frivol werden, lieber Freund,« bat sie zart.

Er zwinkerte mit den Augen und gluckste in sich hinein.

Die Generalin fand, daß die Wangen von Frau von Rosen heute entschieden zu blühend aussahen. Sie war sehr ärgerlich und schonte selbst ihre Freunde nicht.

Die Herrschaften saßen eine Weile stumm, nach einem weiteren Opfer ausspähend.

»Finden Sie nicht, daß die einsamen Ruderausflüge des Fräulein Limbach etwas – etwas emanzipiert sind?« sondierte Fräulein von Uechteritz, die Lisa gar nicht leiden konnte und ihr gern etwas am Zeuge geflickt hätte.

Aber die Generalin warf sich sofort zur Beschützerin auf.

»Jedenfalls ist das anständiger, als wenn sie in Herrengesellschaft hinausruderte, wie Fräulein von Jagemann mit Herrn von Tomdorf. – Ah, – sehen Sie da; was soll denn das heißen?« Alle wandten sich dem Hause zu. Dort war soeben Kommerzienrat Jagemann mit Frau und Tochter erschienen. Fräulein von Jagemann aber hing mit einem ›unerhört‹ glücklichen Gesichtsausdruck am Arm des Herrn von Tomdorf, der nicht minder strahlend in die Welt sah.

Das gab einen einzigen Entrüstungsschrei am Lästertisch.

An der Mittagstafel aber proklamierte Herr von Jagemann die Verlobung seiner Tochter mit Herrn von Tomdorf.

Das vierblättrige Kleeblatt saß mit langen Gesichtern da. Man hatte ihnen unerhörterweise den Stoff zu einer netten kleinen Tratschgeschichte entrissen.

Während des fröhlichen Tumultes an der Tafel, als gerade Frau von Rahnsdorf und Lisa dem glücklichen Brautpaar gratulierte, traf plötzlich eine Depesche an Frau von Rahnsdorf ein. Lisa erschrak, daß sie zitterte. Sie glaubte, Ronald habe diese Depesche geschickt und sah der Tante in das erblassende Gesicht.

»Tantchen, – was ist dir?« rief sie ängstlich.

Frau von Rahnsdorf starrte auf das Telegramm herab, faßte sich dann aber schnell, als sie aller Augen auf sich gerichtet fühlte.

»In Rahnsdorf ist Feuer ausgebrochen, – ich muß sofort abreisen,« sagte sie so ruhig sie konnte und reichte Lisa die Depesche.

Diese las:

»In der Scheune Feuer ausgebrochen, greift auf die Wirtschaftsgebäude über. Wenn möglich, kommen. Birkner.«

Frau von Rahnsdorf hatte sich mit kurzen Worten von der Tischgesellschaft verabschiedet.

»Ich komme wieder, meine Herrschaften; nehmen Sie sich meiner Nichte bitte indessen ein wenig an,« bat sie eilig.

»Tantchen, – ich komme mit dir,« rief Lisa, ihren Arm nehmend.

»Unsinn, Liselchen; ich kann dich jetzt in Rahnsdorf nicht gebrauchen. Da geht natürlich alles drunter und drüber. Du bleibst ruhig hier und amüsierst dich weiter. Sobald ich kann, kehre ich hierher zurück. Es wird sich ja hoffentlich nur um einige Tage handeln.«

Lisa half ihr eilig beim Packen einiger notwendiger Sachen. Frau von Rahnsdorf warf ihr Reisekleid über.

»Ist mir lieber, du bleibst hier, Lisa. Du würdest mich wirklich nur hindern; zu zweien braucht man länger Zeit, seine Zelte abzubrechen.«

»Aber du bist dann allein mit deiner Sorge.«

»Ach geh, Kindchen, – daran bin ich doch gewöhnt. Und Sorge mache ich mir gar nicht, vorläufig nicht. In Rahnsdorf ist jeder Strohhalm versichert. Wenn mir nur kein Vieh zuschanden geht. Aber dafür wird schon der Inspektor sorgen. Bleib nur ruhig hier; es ist genug, daß ich die weite Reise zweimal mache. Und endgültig heimkehren will ich noch nicht, vorläufig gefällt es mir hier noch zu gut.«

»Schließlich brauchtest du gar nicht zu reisen, Tantchen; bis du heim kommst, ist doch alles vorüber.«

»Das wohl; aber nach so einem Brande gibt es allerhand zu regeln. Da muß ich selbst am Platze sein. So, Liselchen, – meinen Schirm. Sieh mal hinaus, ob der Wagen bereit ist. Bis Nizza kannst du mich begleiten, wenn du willst und in fünf Minuten fertig sein kannst. Sonst komme ich zu spät.«

Lisa machte sich schnell fertig. Am Wagen standen mit Frau von Rahnsdorf befreundete Herren und Damen, um ihr Lebewohl zu sagen. Auch das Kleeblatt fehlte nicht, und die Generalin redete unaufhörlich auf die Abreisende ein und bestand darauf, daß ihr Neffe die Damen als Kavalier bis Nizza begleite.

Alles Protestieren der beiden Damen half nichts. Herr von Naundorf schwang sich mit liebenswürdiger Bereitwilligkeit in den Wagen; und da man ihn nicht hinauswerfen konnte und die Zeit zu kurz bemessen war, um ihm klarzumachen, daß er überflüssig war, so behauptete er siegreich das Feld und nahm den Damen gegenüber Platz.

Frau von Rahnsdorf machte gute Miene zum bösen Spiel. Schließlich war es ganz gut, daß Lisa nicht allein zurückzufahren brauchte. Sie amüsierte sich im stillen über die Bemühungen des ›vortrefflichen Neffen‹, sich bei Lisa in ein günstiges Licht zu setzen. Lisa hatte sich vorgenommen, auf der Fahrt Tante Anna zu beichten, daß sie an Ronald geschrieben hatte. Nun machte Naundorfs Anwesenheit ihr das unmöglich.

* * *

Ronald kam vom Felde heim.

Er übergab dem Stallknecht sein Pferd und schritt auf das Haus zu. An einem Fenster im Erdgeschoß stand Frau von Wustrow, eine kleine rundliche Dame mit frischem, vergnügtem Gesicht.

Ronald bemerkte sie und grüßte artig. Sie nickte ihm freundlich zu. Als Ronald sich umgezogen hatte, trat er in das Zimmer, in dem sich Frau von Wustrow befand. Am Kamin saß Herr von Wustrow, ein grauhaariger Hüne mit wuchtiger Stirn und vorstehenden, buschigen Augenbrauen.

»Donnerwetter, – schon zurück, Hechingen! Sie reiten ja wie der Deibel. Na, wie steht's auf dem Vorwerk? Alles in Reih und Glied?«

»Es ist alles in Ordnung, Herr von Wustrow.«

»Gut, gut. Ist doch famos, daß ich Sie habe. Wüßte jetzt nicht wo aus und ein mit meinem verflixten Rheuma.«

Frau von Wustrow hatte Ronald mit mütterlichem Lächeln die Hand gereicht, die er an die Lippen führte.

»Jetzt haben Sie Hunger und Durst, lieber Baron. Nun kommen Sie; es ist alles bereit, wir haben nur noch auf Sie gewartet.«

»Ja, meine Frau behauptet, es schmeckt uns schon nicht mehr, wenn Sie nicht dabei sind.«

Ronald lächelte und trat zu dem alten Herrn heran.

»Darf ich Ihnen behilflich sein?«

»Freilich dürfen Sie. Wenn ich mich nicht auf Ihren starken Arm stützen könnte, wär' es ein bißchen schwierig, mit meinen steifen Knochen die Promenade bis zum Tisch auszuführen.«

Er erhob sich, die Zähne zusammenbeißend, und ging langsam neben Ronald her in das Speisezimmer hinüber.

Dort erstattete Ronald Bericht über seinen Ritt nach dem Vorwerk, wo ein paar renitente Arbeiter versucht hatten, Unheil zu stiften.

»Also Sie haben die Kerls zur Vernunft gebracht? Na, – ist mir sehr lieb. Haben ganz in meinem Sinne gehandelt. Nun wird ja wohl eine Weile Ruhe sein?«

»Davon bin ich überzeugt.«

Frau von Wustrow hatte die Suppe selbst aufgetragen.

»Sehen Sie mal unter Ihren Teller, Baron Hechingen. Da liegt ein zartes Brieflein, – aus Nizza. Ich habe es Ihnen dahin gelegt, damit ich es nicht vergesse.«

Ronald zog den Brief hervor. Er hatte geglaubt, es sei ein Schreiben von Frau von Rahnsdorf. Als er jetzt Lisas Schrift erkannte, zuckte er zusammen, und seine Stirn rötete sich.

Herr von Wustrow goß Wein in die Gläser.

»Na, – nur nicht geniert, wenn Sie Ihren Brief lesen wollen, tun Sie es getrost.«

Ronald steckte jedoch den Brief uneröffnet in die Brusttasche. Er wußte, dieser Brief konnte nur eine Entscheidung bringen, und er mochte ihn nicht in Gegenwart der beiden alten Herrschaften lesen.

»Es hat Zeit bis nach Tisch,« sagte er scheinbar ruhig.

Man plauderte lebhaft bei Tisch in Wustrow. Der alte Herr liebte eine fröhliche Unterhaltung.

»Sehen Sie, Hechingen,« sagte er vergnügt, »seit Sie hier sind, ist es doch wieder ein bißchen lebhafter bei uns alten Leuten geworden. Seit unsere einzige Tochter sich mit dem Landrat von Staffels verheiratet hat, ist es so still in Wustrow. Nur in den Ferien, wenn mein Enkel kommt, dann wird es lebhaft in der alten Bude. Na, – Sie haben ja den Strick kennen gelernt. Das ist ein Wildfang, – hm? Und forsch auf den Beinen, was?«

Der Stolz leuchtete ihm aus den Augen.

Ronald neigte bestätigend das Haupt.

»Echter pommerscher Schlag, Herr von Wustrow. Das wird mal ein tüchtiger Landwirt.«

»Soll er auch. Sein Vater hat ja doch keinen Sinn für Wustrow. Geht eben auf in seinem Beruf. Muß ja auch sein. Da bleibt mir nichts übrig, als selbst noch zu wirtschaften, bis der Bub' zum Manne gereift ist. Wäre mir schon recht, wenn ich Sie so lange bei mir behalten dürfte. Aber damit ist's Essig, das weiß ich. Unsere liebe Rahnsdorferin wird Sie eines Tages mir nichts, dir nichts abrufen, und dann haben wir das Nachsehen. Kann jeden Tag passieren. Na, Prosit, ist nun mal nicht anders, man lernt sich bescheiden.«

Ronald war heute offenbar nicht ganz bei der Sache. Der Brief in seiner Tasche brannte wie Feuer auf seinem Herzen. Was mochte ihm Lisa geschrieben haben?

Er war froh, als das Mahl zu Ende war und er sich auf sein Zimmer zurückziehen konnte.

»Rauchen Sie nicht noch eine Pfeife mit mir, Hechingen? Jetzt pressiert es doch nicht mehr mit der Arbeit.«

»Aber, Fritz – er will doch seinen Brief lesen,« rief seine Gattin lachend.

»Ach richtig – ja – natürlich. Na, denn man los, mein Sohn! Aber wenn Sie ihn gelesen haben, dann angetreten zur Friedenspfeife. Verstanden?«

»Ich werde mir ein Vergnügen daraus machen, Herr von Wustrow!«

»Na ja, – is schon gut; nur keine Umstände.«

Der alte Herr sah Ronald lachend nach.

»Du, Mutter,« so nannte Herr von Wustrow seine Gattin mit Vorliebe, »ist doch ein Prachtkerl, der Hechingen, was?«

»Das will ich meinen.«

»Ob wir ihn wohl noch lange in Wustrow halten können? Was meinst du?«

Frau von Wustrow zuckte die Achseln.

»Wer weiß. Ich glaube, das kommt ganz auf seine junge Frau an.«

»Muß ein unvernünftiges Frauenzimmer sein. So einen Prachtkerl hält man doch fest.«

»Ach geh, – da urteilst du, wie der Blinde von der Farbe. Weißt ja nicht, was da alles mitspricht. Wir wissen doch nur, daß zwischen den jungen Leuten nicht alles stimmt.«

»Hm, – und das ist zu wenig, um zu urteilen, meinst du wohl. Na ja, hast recht, Mutter. Also warten wir's ab.«

Er steckte sich eine Zigarre an, und Frau von Wustrow brachte ihm eine Tasse Kaffee an seinen Platz am Kamin.

Eine Weile saßen sich die alten Leute in beschaulicher Ruhe gegenüber. Plötzlich trat Ronald wieder ein. Sein Gesicht war blaß und verstört. Er trat vor den alten Herrn hin.

»Herr von Wustrow, ich bitte Sie inständig, mir einige Tage Urlaub zu gewähren. Ich muß nach Nizza, – sofort.«

»Mensch, Sie erschrecken einen ja! Was ist denn passiert, – ein Unglück?«

»Nein, – aber ich muß sofort mit meiner Frau sprechen. Mein ganzes Lebensglück steht auf dem Spiele. Bitte, halten Sie mich nicht.«

»Donnerwetter noch mal – nein, – wo werde ich Sie halten, wenn Sie fort müssen. Und – sagen Sie es nur gleich heraus – Sie kommen am Ende gar nicht wieder, – hm?«

»Oder für immer, Herr von Wustrow.«

»Da könnte man nun aus lauter Egoismus zum schlechten Kerl werden und wünschen, daß Sie wirklich für immer zu uns zurückkehrten. Aber, – nee, – nee, mein Lieber; Sie sehen mir gar zu verstört aus. Also Glück auf die Reise; und wenn Sie nicht wiederkommen, dann bleiben Sie in Dreideibelsnamen fort. Kommen Sie aber wieder, dann steht Ihnen Wustrow als Heimat offen, – verstanden?«

Er schüttelte Ronald fast die Hand aus dem Gelenk.

Auch Frau von Wustrow wünschte Ronald glückliche Fahrt und tätschelte ihm mütterlich den Rücken.

»Nur nicht verzagt, mein lieber Baron. Und grüßen Sie Frau von Rahnsdorf herzlich von uns. Vielleicht treffen wir sie bei den Weihnachtseinkäufen in Berlin.«

* * *

Lisa war am Tage nach der Abreise ihrer Tante von allen Seiten aufgefordert worden, sich an diesem oder jenem Ausflug zu beteiligen. Sie lehnte aber mit freundlicher Bestimmtheit alles ab. Sie mochte sich nicht aus Villa Tenda entfernen, weil sie Nachricht von Ronald und auch von Tante Anna erwartete.

Nach Tisch ruderte sie wie gewöhnlich auf die See hinaus.

Herr von Naundorf, der bereits am Lästertisch auf der Lauer lag, als sie aus dem Hause trat, wollte ihr durchaus seine Begleitung aufnötigen und schritt neben ihr zum Strand hinunter. Lisa wehrte ihn ab.

»Ich muß Sie ganz entschieden bitten, mich allein rudern zu lassen, Herr von Naundorf. Bisher habe ich das immer getan. Es würde vielleicht falsch ausgelegt werden, wenn ich Ihnen gestattete, was ich anderen Herren schon abschlug.«

»Aber, mein gnädiges Fräulein, Sie vergessen, daß Ihre Frau Tante Sie unserem Schutz anvertraute. Ich kann nicht gestatten, daß Sie sich in Gefahr begeben.«

Lisa lächelte.

»Ich bin jeden Tag allein draußen auf dem Wasser, auch wenn meine Tante hier ist. Das enthebt Sie jeder Verantwortlichkeit. Ich begebe mich durchaus nicht in Gefahr, sondern nur auf eine ganz harmlose Spazierfahrt.«

»Ich lasse Sie aber nicht allein fahren,« sagte Naundorf, seine Augen mit einem faszinierenden Aufleuchten in die ihren senkend.

Lisa trat zurück und sah ihn groß und befremdet an.

»Bitte, – lassen Sie mich vorüber. Ich wünsche allein zu rudern,« sagte sie kühl.

Er trat vom Steg zurück, um ihr den Weg freizugeben.

»Wie grausam, mein gnädiges Fräulein,« sagte er vorwurfsvoll.

Lisa beachtete ihn gar nicht weiter. Sie schritt schnell über den Steg. Der Bootsmann hatte das Ruderboot bereits losgekettet. Naundorf wollte ihr bei dem Einsteigen helfen; aber ehe er herankam, hatte Lisa schon die Hand des Bootsmanns ergriffen und schwang sich in das Boot.

»Adieu, Herr von Naundorf!« rief sie zurück und ruderte davon.

Dieser schaute ihr mit nicht sehr geistreichem Gesicht nach und kehrte dann langsam an den Lästertisch zurück. Von dort aus hatte man mit atemlosem Interesse die Szene am Rudersteg verfolgt. Das Gesicht der Generalin war ein würdiges Gegenstück zu dem ihres Neffen, als Lisa ohne ihn davonruderte.

»Nun, Fräulein von Limbach zog es wohl vor, allein zu rudern?« fragte sie ihren Neffen spitz, als er sich wieder am Tische niederließ.

Er zuckte die Achseln.

»Sie fürchtet, es werde ihr falsch ausgelegt, wenn sie mir gestattet, was sie anderen Herren abschlug.«

Die Generalin war besänftigt.

»Eine sehr feinfühlige junge Dame, das muß man ihr lassen,« sagte sie mit einer säuerlichen Anerkennung.

Während dieser Szene war dem Lästertisch die Ankunft eines neuen Gastes entgangen.

Ronald Hechingen war soeben eingetroffen. Er fragte nach Frau von Rahnsdorf und erfuhr zu seiner Bestürzung, daß dieselbe abgereist sei. Seine Betroffenheit bemerkend, trat die eine Besitzerin der Villa, eine feine, liebenswürdige Dame mit graumeliertem Haar, zu ihm heran.

Ronald stellte sich vor und bat um Auskunft. Fräulein Tenda gab sie ihm bereitwillig.

»Frau von Rahnsdorf wird voraussichtlich in einigen Tagen wieder hier eintreffen,« sagte sie freundlich.

»Kann ich in Ihrem Hause Unterkunft finden, bis Frau von Rahnsdorf zurückkommt? Ich muß sie unbedingt sprechen.«

»Wenn Sie mit einem kleinen Zimmer fürliebnehmen wollen, – alles andere ist besetzt.«

»Ich nehme das Zimmer, selbstverständlich. Können Sie mir vielleicht Auskunft geben, wohin Frau von Rahnsdorf gereist ist?«

»Sie ist nach Hause gereist, weil auf ihrem Gute Feuer ausgebrochen war. Fräulein Limbach ist hiergeblieben.«

Ronald richtete sich straff empor. Er wußte aus den Briefen Frau von Rahnsdorfs, daß Lisa, um unnötiges Aufsehen zu vermeiden, ihren Mädchennamen angenommen hatte.

»So, so! Die junge Dame ist hier zurückgeblieben? Wollen Sie mich bitte zu ihr führen lassen.«

»Das gnädige Fräulein ist auf das Meer hinausgerudert. In einer Stunde ungefähr wird sie zurück sein. Vielleicht sehen Sie sich einstweilen Ihr Zimmer an. Sobald sie zurückkommt, werde ich es melden lassen.«

Ronald verbeugte sich dankend.

»Ich werde die junge Dame am Strand erwarten.«

Fräulein Tenda gab einem Zimmermädchen die Weisung, Baron Hechingen in sein Zimmer zu führen. Dieses selbe Zimmermädchen wurde von dem neugierigen Fräulein von Uechteritz immer nach Neuigkeiten ausgeforscht und erhielt für jede besondere Botschaft ein Trinkgeld.

Als diese daher einige Minuten später in das Haus trat, um sich eine Handarbeit zu holen, huschte das Zimmermädchen zu ihr hinein.

»Gnädiges Fräulein, ein neuer Gast ist angekommen, ein Baron; seinen Namen habe ich leider nicht verstanden. Ein sehr feiner und vornehmer Herr, sicher Offizier in Zivil.«

»Jung oder alt?« fragte Fräulein von Uechteritz atemlos.

»So um die Dreißig herum, ein hübscher, stattlicher Herr.«

Fräulein von Uechteritz drückte ihr eine Münze in die Hand und hastete an den Tisch zurück.

»Meine Herrschaften, – ein neuer Hausgenosse ist angekommen, ein Baron. Er soll aussehen wie ein Offizier in Zivil.«

»Wie heißt er denn?«

»Wo ist er denn?«

»Wann ist er angekommen?«

»Ich denke, es waren alle Zimmer besetzt?«

»Ein Offizier, sagen Sie?«

So schwirrten die Fragen durcheinander.

Fräulein von Uechteritz gab Auskunft, so gut sie konnte. Mit brennender Neugier belauerte nun der Lästertisch den Hauseingang. Nur Herr von Naundorf, der mit dem Rücken nach dem Hause saß, wandte seine Augen nicht von dem kleinen Ruderboot draußen auf dem Wasser. Es war ziemlich weit hinausgefahren, schien aber nun den Kurs nach dem Lande zurück genommen zu haben.

Herr von Neundorf überlegte, ob er wieder zum Steg hinuntergehen oder ob er ›die Kleine‹ ein bißchen ›zappeln‹ lassen sollte. Verdient hatte sie es; denn sie hatte ihn vorhin scheußlich abfallen lassen. Vielleicht wurde sie liebenswürdiger, wenn man sie ein bißchen knapp hielt.

»Mal einen andern Trick mit der Kleinen ausprobieren; bleiben wir also hier und ignorieren ihre Rückkehr, vielleicht wirkt das.«

Er lehnte sich bequem in seinen Stuhl zurück und beobachtete, wie Lisa zurückruderte. Nun war sie am Steg und legte an. Sie sprang aus dem Boote und sprach noch einige Worte mit dem Bootsmann.

In diesem Augenblick rief Fräulein von Uechteritz hastig:

»Da ist er.«

Alle, außer Naundorf, der Lisa nicht aus den Augen ließ, sahen sich nach Ronald um. Er schritt schnell und sicher über die Terrasse nach der Mitteltreppe, um sich an den Strand zu begeben.

Auch andere Pensionäre sahen mit Interesse nach dem hübschen, schlanken Mann hinüber. Schließlich interessiert sich jeder Mensch für einen neuen Hausgenossen, mit dem er vielleicht wochenlang an einem Tisch seine Mahlzeit einnehmen muß.

In dem Augenblick, da Ronald an dem Lästertisch vorüberging und die Treppe erreichte, war Lisa vom Strand her ebenfalls bis zur Treppe gekommen. Sie sah empor, schrak mit erblaßtem Gesicht jäh zusammen und starrte ihn an.

Ronald sprang schnell die Treppe hinab und stellte sich, sie den Blicken der Pensionäre entziehend, vor sie hin.

Ihre Hand an die Lippen ziehend, sagte er leise:

»Verzeih, Lisa, – ich habe dich erschreckt. Aber ich mußte dich sprechen.«

Sie zitterte am ganzen Körper und suchte sich zu fassen. Er nahm ihre Hand und legte sie auf seinen Arm.

»Komm, laß uns ein Stück am Strand entlanggehen,« sagte er, ihre Augen mit einem heiß flehenden Ausdruck suchend.

Sie folgte ihm willenlos, wie erstarrt vor Schrecken.

Mit unbeschreiblichen Gesichtern hatten die Herrschaften am Lästertisch die Szene beobachtet.

»Eh, – eh, – das war eine etwas seltsame Begrüßung, meine Herrschaften, haben Sie gesehen?«

»Wie sie erschrak, als er plötzlich vor ihr stand!«

»Ach, – das war wohl nur Verstellung; vielleicht hat sie ihn erwartet.«

»Jedenfalls kennen sie sich.«

Naundorf hatte ebenfalls alles beobachtet. Jetzt, als Ronald sich etwas zur Seite wandte, um einen forschenden Blick über die Terrasse gleiten zu lassen, zuckte er zusammen.

»Donnerwetter, – das ist doch Hechingen!« rief er verblüfft und starrte dem Paare nach.

Von allen Seiten bestürmte man ihn mit Fragen, und er erzählte ausführlich, was er wußte.

Das war nun Wasser auf die Mühle der vier Gerechten.

Baron Stolle-Hechingen – ein verheirateter Mann, dessen Gattin nach der Hochzeit angeblich erkrankte und gar nicht in der Garnison gesehen wurde – sein Auftauchen hier, gerade in der Abwesenheit der Frau von Rahnsdorf! Lisas Erschrecken bei seinem Anblick, – seine entschieden leidenschaftliche Begrüßung, – alles das genügte dem Lästertisch, um unglaubliche Romane zu entwerfen. Lisa Limbach war unrettbar dem Klatsch verfallen.

»Du mußt ihn anreden, wenn er mit ihr zurückkommt,« sagte die Generalin zu ihrem Neffen.

»Eh, eh, – und ihn fragen nach dem Befinden seiner Frau. Am Ende weiß das kleine Fräulein gar nicht, daß er verheiratet ist.«

»Ja, ja, so wird es sein; man muß sie warnen,« sagte die Generalin mit neuerwachter Hoffnung. Am Ende war dieser Zwischenfall ihren Plänen günstig. Jedenfalls brauchte man Fräulein Limbach noch nicht ganz fallen zu lassen. Als verheirateter Mann war doch dieser Baron eigentlich ungefährlich.

»Wir wollen nicht vorschnell verurteilen, meine lieben Freunde. Bisher hat sich Fräulein Limbach jedenfalls tadellos benommen.«

»Stille Wasser sind tief,« bemerkte Fräulein von Uechteritz spitz.

»Eh, eh, – jedenfalls hat sie sich sehr bereitwillig mit diesem Baron Hechingen isoliert. Kann mir nicht helfen, die Geschichte kommt mir brenzlig vor.«

»Und mit Herrn von Naundorf wollte sie nicht allein hinausrudern, – da fühlte sie sehr wohl das Unpassende eines solchen Tete-a-Tete,« pflichtete Frau von Rosen bei.

* * *

Lisa war wie von einem lähmenden Bann befangen an Ronalds Seite dahingegangen. Sie waren beide stumm, weil die Erregung, die in ihnen tobte, ihnen die Sprache raubte.

Erst als sie weit über den Bereich der Villa hinaus waren, führte Ronald seine Frau zu einer der Ruhebänke am Strande. Hier konnten sie von der Terrasse aus nicht mehr beobachtet werden. Lisa sank wie in tiefster Ermüdung auf der Bank zusammen. Ronald blieb vor ihr stehen und sah mit brennenden Augen auf die schlanke, weißgekleidete Gestalt herab. Wie reizend sie aussah in ihrem hilflosen Schrecken! Sein Herz klopfte zum Zerspringen.

»Lisa!«

Sie zuckte zusammen.

»Lisa, – ist dir denn mein Anblick so furchtbar? Dachtest du dir nicht, daß ich kommen mußte auf deinen Brief?«

Sie sah ihn nicht an, preßte nur die Handflächen in stummer Qual gegeneinander. Nicht einen Augenblick war ihr der Gedanke gekommen, er würde ihr selbst die Antwort bringen auf ihren Brief. Und nun stand er vor ihr. Ihre vom Kampf mit sich selbst zerrissene Seele verlor alle Willenskraft, allen Widerstand. Sie empfand nichts als Furcht und Schrecken vor ihm, vor sich selbst, weil sie neue Kämpfe kommen sah und weil sie zu unterliegen fürchtete.

Vergebens suchte sie nach einer Antwort. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Und plötzlich verlor sie alle Fassung und brach in ein haltloses Weinen aus.

Er faßte ihre Hand und küßte sie wieder und wieder.

»Lisa, – meine geliebte Lisa, weine doch nicht. Wenn du wüßtest, wie dein Brief mich getroffen hat, wie ich erschrak! Du willst dich von mir trennen. Warum? Liebst du mich nicht mehr? Nur das würde mich bestimmen, dich freizugeben, sonst nichts. Ich glaube aber nicht daran, daß du mir deine Liebe entzogen hast. Lisa, glaub' mir doch, ich liebe dich und kann nicht von dir lassen.«

Wie eine heiße Flut strömten seine Worte über sie hin. Ein Schwindel erfaßte sie. Mit gewaltiger Anstrengung raffte sie sich auf und streckte die Hände gegen ihn aus.

»Laß mich, – geh – ich will – ich kann dich nicht langer anhören!«

In seinem Gesicht straffte sich jeder Muskel.

»Nein, – ich lasse dich nicht. Ich halte dich, – auch gegen deinen Willen. Diesmal zwinge ich dich an meine Seite, – für immer.«

Da sprang sie auf und lief wie ein gehetztes Wild davon. Ehe er es begriffen hatte, war sie so weit, daß er sie, ohne Aufsehen zu erregen, nicht verfolgen konnte.

Mit zusammengepreßten Lippen und finsterer Stirn blickte er ihr nach. Beruhigt sah er, daß sie ihren Lauf mäßigte, als sie in die Nähe der Terrasse kam.

Was sollte er tun? Wie konnte er ihr sagen, was er auf dem Herzen hatte, wenn sie vor ihm floh?

Sein Herz verlangte jetzt in stürmischer Sehnsucht nach ihrem Besitz. Er konnte nicht begreifen, daß es eine Zeit gegeben hatte, wo ihm Lisas Liebe lästig fiel. Es war sehr ärgerlich, daß Frau von Rahnsdorf nicht hier war. Ihre verständige Vermittlung hätte Lisa sicher bewogen, ihn zu empfangen und ruhig anzuhören. Jetzt war es sehr fraglich, ob sie sich nicht während der Dauer seiner Anwesenheit auf ihr Zimmer zurückzog. Aber gleichviel, – ein Ausdruck eiserner Entschlossenheit lag in seinen Augen, – diesmal ging er nicht ohne Lisa fort. Zur Not wartete er Frau von Rahnsdorfs Rückkehr ab.

Lisas Verhalten gab ihm wenigstens den einen Trost, daß sie ihn noch liebte. Sonst wäre sie nicht so unsagbar aufgeregt gewesen, sondern hätte ihm ruhig Rede und Antwort gestanden. – – – –

Lisa war inzwischen nahe genug an die Terrasse herangekommen, daß man ihr Gesicht von dort erkennen konnte. Die Getreuen stießen sich an.

»Wie bleich und erregt sie aussieht!«

»Wo ist er denn geblieben?«

»Sie hat geweint; man sieht es deutlich!«

Lisa stieg jetzt, geistesabwesend vor sich hinstarrend, die Terrassenstufen empor.

Die Generalin rief sie an.

»Baron Hechingen ist wohl ein Bekannter von Ihnen, Fräulein Limbach?«

Lisa verhielt einen Augenblick den Schritt und sah fassungslos in die neugierig forschenden Gesichter.

»Ja, – das heißt – ach, Sie verzeihen, ich fühle mich nicht wohl.«

Damit hastete sie vorüber und verschwand im Hause.

Wieder sahen sich die Getreuen an.

»Sehr sonderbar, – sehr seltsam; was soll man davon denken?« sagte Frau von Rosen.

»Eh, eh, – doch sehr einfach; wir erleben, scheint mir, einen sehr interessanten Roman. Bin gespannt auf das Schlußkapitel.«

» Mon dieu, – diese Welt, diese Welt,« stöhnte die Generalin und betrachtete dabei liebevoll ihre schönen Hände.

»Man muß ihr zeigen, daß man ihr Verhalten einigermaßen skandalös findet,« ereiferte sich Fräulein von Uechteritz und sah den Hofrat beifallheischend an.

Naundorf lachte plötzlich schadenfroh auf.

»Ich bin doch gespannt, wie sich Hechingen aus der Affäre zieht. Er spielte sich immer gern als Tugendbold auf,« sagte er hämisch.

»Eh, eh, – wird nicht sehr erbaut sein, einen alten Regimentskameraden hier zu finden. Wo hält sich denn dieser Baron Stolle-Hechingen auf, seit er den Dienst quittierte?« fragte Strassen neugierig.

»Bei einer alten Erbtante seiner Frau. Ich weiß nicht, wie deren Gut heißt und wo es liegt. Habe es vergessen. Jedenfalls scheint er sich für die Langeweile dort durch nette kleine Abstecher schadlos zu halten. Seine Frau hat ihm ja den nötigen Mammon eingebracht,« erwiderte Naundorf. –

Wie angenagelt saßen die fünf Personen den ganzen Nachmittag auf ihren Plätzen und warteten auf Ronalds Rückkehr, um ihn durch die Frage nach seiner Frau in Verlegenheit zu bringen.

Aber sie warteten vergeblich. Ronald war inzwischen längst auf einem Umweg durch den anderen, hinteren Eingang in das Haus zurückgekehrt und saß auf seinem Zimmer.

Er hatte die Dienerin gefragt, ob Fräulein Limbach auf ihrem Zimmer sei. Sie bejahte die Frage und fügte hinzu, das gnädige Fräulein sei unwohl vom Rudern zurückgekehrt.

Ronald schickte nun ein Billett an Lisa. Er bat sie inständig, sich zu beruhigen und ihm mitteilen zu lassen, wann er sie noch einmal sprechen dürfe. Das Mädchen brachte ihm als Antwort ein verschlossenes Kärtchen, worauf nichts weiter stand, als: »Ich bitte Dich dringend, – reise ab – und – gib mich frei!«

Er warf den Kopf zurück.

»Nein, ich weiche nicht von der Stelle,« dachte er, zum Äußersten entschlossen.

Erst jetzt fiel ihm wieder ein, daß er gehört hatte, in Rahnsdorf sei Feuer ausgebrochen. Er verweilte jedoch nicht lange bei dem Gedanken, der ihm jetzt unwichtig erschien. Nichts als Lisa hatte Interesse für ihn. Er gab dem Mädchen ein reichliches Trinkgeld und forderte sie auf, ihm sofort zu melden, wenn das gnädige Fräulein ihr Zimmer verlassen würde.

Vergebens hoffte er aber auf diese Nachricht. Lisa ging auch nicht zum Abendessen hinunter, sondern ließ sich mit Unwohlsein entschuldigen. So blieb auch Ronald auf seinem Zimmer, da er durchaus nicht in der Stimmung war, neue Bekanntschaften zu machen. Er ahnte nicht, welches Vergnügen er durch sein Fernbleiben zerstörte. Das vierblättrige Kleeblatt und Herr von Naundorf kamen heute abend nicht auf ihre Kosten. Sie machten dann nach dem Essen auf einem gemeinsamen Abendspaziergang ihren Herzen Luft. Der Ärger erstickte auch den letzten kümmerlichen Rest von Wohlwollen in diesen kleinlichen Seelen. Man hatte sie des Vergnügens beraubt, einen Menschen in eine fatale Situation zu bringen. Dafür mußten sie sich schadlos halten.

* * *

Lisa lag halb bewußtlos vor Aufregung in ihrem Zimmer auf dem Diwan und starrte vor sich hin. Sie fühlte sich elend zum Sterben.

Warum war er gekommen, warum machte er es ihr so schwer, ihn aufzugeben? Wie schwach und hilflos sie war, seinen Bitten gegenüber, das hatte sie vorhin erfahren. Sollte sie aus Schwachheit und gegen ihren Willen ihren Widerstand aufgeben und ihm angehören? Was sollte das für eine Ehe werden, auf Mißtrauen gegründet? Sie fühlte, sie würde schlecht werden, kleinlich und grillig, wenn sie ohne Glauben sich an seine Seite zwingen ließ. Sich und ihm würde sie dann mit ewigem Mißtrauen das Leben zur Hölle machen. Warum sah er das nicht ein, warum wollte er sie halten, gegen ihren Willen?

Nein, sie durfte ihn nicht wiedersehen. Hoffentlich reiste er sofort wieder ab. Ach, daß gerade jetzt Tante Anna nicht da war, um ihr zu helfen! Hätte sie ihr doch lieber gesagt, daß sie an Ronald geschrieben hatte. Es war doch vielleicht so nicht richtig gewesen. Tante Anna hätte vermitteln, hätte Ronald zur Scheidung bewegen müssen. Aber freilich, wie konnte sie wissen, daß Ronald auf ihren Brief sofort diese weite Reise unternahm? Was trieb ihn nur dazu?

Ach, daß sie doch endlich Ruhe und Frieden fände für ihre arme schmerzzerrissene Seele, daß sie nicht mehr schwankend und haltlos zwischen widersprechenden Empfindungen hin und her geworfen würde! –

Sie drückte die Hände vor das Gesicht und stöhnte auf in ihrer Herzensqual.

So lag sie bis zum Abend und ging endlich müde und zerschlagen zu Bett. Viel Ruhe fand sie nicht in dieser Nacht. Sie erhob sich am nächsten Morgen ungestärkt und in tiefster seelischer Verstimmung.

Der Kopf schmerzte sie sehr, und sie verlangte nach frischer Luft. Sie wagte sich aber nicht hinaus, aus Furcht, Ronald zu begegnen.

So ließ sie sich den Kaffee auf ihr Zimmer bringen. Das Zimmermädchen fragte, ob sich das gnädige Fräulein wohler fühle. Lisa verneinte und gab ihre Absicht kund, auf ihrem Zimmer zu bleiben. Dienstboten haben eine feine Witterung für Ungewöhnliches in ihrer Umgebung. Das schlaue Mädchen spekulierte auf ein neues Trinkgeld und berichtete dem Herrn Baron, daß das gnädige Fräulein noch immer unwohl sei und das Zimmer heute nicht verlassen würde.

Ronald überlegte eine Weile. Dann beschloß er, einen weiten, einsamen Spaziergang zu machen. Auch er hatte schlecht geschlafen und wollte sich im Freien die verlorene Spannkraft wieder holen. Er sagte also dem Mädchen, daß er bis zur Mittagstafel jedenfalls nicht zurück sein werde. Er wolle dann, wenn er heimkehrte, einen Imbiß auf seinem Zimmer nehmen.

Damit bezweckte er vor allem auch, daß er mit den Pensionsgästen nicht zusammentraf. Er war durch Lisas Verhalten in eine heikle Lage gekommen und mußte jedenfalls auf Lisas Ruf bedacht sein, zumal Frau von Rahnsdorf abwesend war. Daß Lisa seine Frau war, wußte man hier nicht, und bevor er nicht ruhig mit ihr gesprochen hatte, fehlte ihm die Sicherheit des Handelns.

So nahm er sich vor, Lisa noch bis Mittag Zeit zu lassen und sie dann brieflich zu benachrichtigen, daß er auf keinen Fall abreisen würde, ohne sie gesprochen zu haben, und daß er nötigenfalls die Rückkehr ihrer Tante abwarten wolle. Sie mußte ihm dann zum mindesten mitteilen, wie er sich den Pensionsgenossen gegenüber verhalten solle. So verließ er Villa Tenda und hatte das Glück, niemand zu begegnen.

Als das Zimmermädchen das Kaffeegeschirr aus Lisas Zimmer holte, fragte die wie beiläufig:

»Baron Hechingen ist wohl bereits wieder abgereist?«

»Nein, gnädiges Fräulein. Aber ich glaube, er ist nach Nizza hinüber. Jedenfalls kommt er zu Tisch nicht zurück; er hat es mir gesagt, als er fortging.«

Lisa atmete heimlich auf. Wenigstens hatte sie also den Vormittag Ruhe vor ihm. Sie beschloß sofort, ins Freie zu gehen. Am besten war es, sie ruderte hinaus. Auf dem Wasser würde sich ihr Kopfweh am schnellsten verlieren, und sie brauchte mit niemand zu sprechen. Rasch machte sie sich fertig und ging hinunter. Der Lästertisch war natürlich schon besetzt. Lisa zog es vor, die Terrasse auf einer der Seitentreppen zu verlassen, um dort nicht vorüber zu müssen. Sie fühlte sich außerstande, neugierige Fragen zu beantworten. Und da sie hier als Fräulein Limbach galt, konnte sie durch derartige Fragen in harte Bedrängnis kommen.

»Wenn doch Tante Anna erst wieder zurück wäre!« dachte sie sehnsüchtig.

Frau von Rahnsdorf hatte Lisa ein ausführliches Telegramm von Rahnsdorf gesandt. Die Scheunen und ein Teil der Stallungen waren total abgebrannt. Das Vieh hatte gerettet werden können, bis auf einige Tauben, die direkt in die Flammen hineingeflogen waren. Der Schaden war nicht unbedeutend, doch durch Versicherung gedeckt. Wie lange Frau von Rahnsdorfs Anwesenheit nötig war, konnte noch nicht bestimmt werden. Sie stellte Lisa einen ausführlichen Brief in Aussicht. –

Während Lisa zum Strand schritt, verfolgte man sie vom Lästertisch aus mit neugierigen Blicken. Ihr Ausweichen wurde als ein Ausfluß ihres bösen Gewissens angesehen. Man ging nicht eben liebevoll mit ihr um.

Lisa war am Steg angelangt und ließ sich ein Boot freimachen. Der Bootsmann machte sie darauf aufmerksam, daß Windwolken am Himmel wären, und mahnte sie, nicht zu weit hinauszurudern. Lisa hörte kaum auf seine Worte. Sie setzte die Ruder ein und brachte das Boot schnell vorwärts. In tief grübelnde Gedanken versunken, ruderte sie weiter und weiter, bis zur völligen Ermattung. Sie wußte nicht, wie lange sie schon auf dem Wasser war.

Als sie keine Kraft mehr hatte, zog sie die Ruder ein, hüllte sich in das dicke, warme Plaid, welches sie immer mit auf das Wasser nahm, und lehnte sich zurück mit geschlossenen Augen. Der kühle Seewind tat ihrem schmerzenden Kopf wohl.

Sie vergaß alles um sich her über den peinigenden Gedanken, die ihre Seele erfüllten. Länger als zwei Stunden war sie schon auf dem Meere, als sie durch heftiges Schaukeln des Bootes aus ihrem schmerzvollen Brüten aufgeschreckt wurde. Sie sah um sich und richtete sich aus ihrer versunkenen Stellung auf. Der Himmel hatte sich umzogen, und die Sonne verschwand hinter den Wolken. Grau und düster lag der sonst so lachende, farbenschimmernde Strand. Und so weit entfernt! Ein scharfer Wind setzte ein und peitschte die Wellen höher und höher. Das Boot wurde heftig auf und nieder geworfen. An Gefahr dachte Lisa zunächst nicht, obwohl sie mit Schrecken bemerkte, wie weit sie sich hinausgewagt hatte, viel weiter als sonst.

Sie warf das Plaid ab und setzte die Ruder ein. Aber ihre Kraft war schnell erschöpft; sie sah, daß sie nicht näher an das Land kam. Sie mühte sich vergebens und merkte, daß sie den Kampf mit den Wellen nicht lange aufnehmen konnte. Jetzt erst wurde sie sich bewußt, wie gefährlich ihre Lage war. Das Herz lag ihr schwer in der Brust. Sollte sie in den Wellen ein frühzeitiges Grab finden?

Sie blickte aufmerksam um sich. Nirgends war ein Boot in ihrer Nähe zu erblicken. Sie konnte auch kaum vom Strande aus bemerkt werden. Vielleicht wußte man in der Pension gar nicht, daß sie noch auf dem Wasser war. Der Bootsmann war vormittags oft mit im Hause beschäftigt. Wenn man ihn abgerufen hatte, glaubte er wohl, sie sei zurückgekehrt. Es konnten Stunden vergehen, ehe er zurückkam und das Fehlen des Bootes bemerkte. Er hatte sie ja noch gewarnt, nicht weit hinauszufahren, weil Windwolken am Himmel standen.

Sie hatte seine Warnung vergessen, und nun war sie hilflos den Wellen preisgegeben.

Sie ruderte und ruderte, bis sie nicht mehr konnte. Kraftlos ließ sie die Ruder sinken und hüllte sich wieder in ihr Plaid, weil die Wellen sie zu durchnässen drohten.

Mit angstvollen Blicken schaute sie nach Hilfe aus. Sie fürchtete sich plötzlich vor dem Tod, den sie noch in der Nacht angerufen hatte, um Frieden zu finden für ihre Seele. Sie war noch so jung; es mußte schwer sein, zu sterben. Schaudernd schloß sie die Augen, um die aufbäumenden Wellen nicht mehr sehen zu müssen, die gierig die weißen Arme nach ihr ausstreckten, um sie in das kalte, nasse Grab zu ziehen.

Wieder versuchte sie die Ruder zu bewegen; aber die Arme waren wie gelähmt, sie konnte die Ruder nicht mehr halten.

Starr und voll Furcht und Entsetzen saß sie auf dem schwankenden Sitz und dachte an Ronald und an Tante Anna. Was würden die beiden Menschen empfinden, wenn sie nicht wiederkehrte von dieser Fahrt?

Eine heiße, namenlose Sehnsucht nach Ronald erwachte in ihrem Herzen. Ihn nur noch einmal sehen, – nur noch einmal seine Stimme hören! ›Lisa, ich liebe dich!‹ Das noch einmal von ihm hören und eine Minute nur daran glauben dürfen; dann mochte diese Minute ihre letzte sein! Aber sie würde ihn nicht wiedersehen, sie hatte es ja nicht anders gewollt, war geflohen vor ihm, geflohen, um es nicht noch einmal hören zu müssen, dieses lockende, quälende: ›Lisa, ich liebe dich!‹ Nun würde sie es nicht mehr hören, nie mehr – nie mehr.

»Ronald!«

Laut schrie sie seinen Namen über die rauschenden Wasser. Aber der Ruf verklang wesenlos. Wind und Wellen verschlangen ihn, diesen bangen, sehnsuchtsvollen Ruf.

Lisas Sinne verwirrten sich. Mit aufgerissenen Augen starrte sie um sich. Gab es denn keine Hilfe, – keine? Sie blickte schaudernd in das wildbewegte Wasser, welches sie bisher nur in freundlicher Ruhe kannte. Manchmal hatte sie gedacht, wie leicht es sein müsse, den Tod in den Wellen zu suchen. Leicht und leise in das Wasser zu gleiten, sich von den Wellen auf und nieder tragen lassen und dann allmählich müde und schläfrig versinken, wie ein Kind auf Mutterarmen einschläft, so versinken, tief versinken – bis ins Bodenlose.

Warum fürchtete sie sich nun vor diesem Versinken? War es, weil die Wellen wild auf und nieder tobten, weil sie gierig wie grimme Feinde nach ihr faßten?

Sie schauerte zusammen und warf einen trostlosen Blick um sich her. – – –

Ronald war durch den starken Wind früher, als er beabsichtigt hatte, zur Umkehr bewegt worden. Auf die Dauer war ihm dieser Spaziergang zu drückend. So beschloß er, heimzukehren und an Lisa zu schreiben. Als er nahe an die Pension herangekommen war, sah er unten am Strand eine aufgeregte Menschenmenge stehen. Fast alle Gäste aus der Villa standen am Steg und riefen und schrien durcheinander.

Er wollte unbemerkt sein Zimmer aufsuchen. Was ging ihn das Gebaren dieser fremden Menschen an? Er war froh, daß sie ihn nicht bemerkten.

Als er im Hause die Treppe emporstieg, kam ihm das Zimmermädchen entgegen, die ihm Lisas Karte gebracht hatte.

»Ach, Herr Baron, – haben Sie schon gehört, – das gnädige Fräulein, sie ist auf der See in dem Sturm! Der Bootsmann hat sie noch gewarnt. Nun ist sie schon seit drei Stunden draußen, – man sieht das Boot nicht mehr,« rief sie ihm aufgeregt entgegen.

»Von wem sprechen Sie?« fragte er rasch.

»Von Fräulein Limbach, – der Herr Baron –« weiter hörte Ronald nichts mehr. Mit großen Sätzen sprang er die Treppe hinab über die Terrasse nach dem Strand. Plötzlich stand er mitten in dem aufgeregten Menschenschwarm vor dem Bootsmann, der eben zum soundsovielten Male erzählte, daß er einige Stunden in der Küche geholfen und nun bei seiner Rückkehr bemerkt habe, daß das Boot noch fehle, in dem das deutsche Fräulein hinausgerudert sei.

Einige Herren suchten mit dem Fernglas das Wasser ab, und der eine behauptete, das Boot noch zu sehen.

Ronald faßte den Bootsmann an der Schulter.

»Schnell ein Boot los, Mann; ich fahre hinaus!« rief er mit gebietender Stimme.

Alles schrie und drängte auf Ronald ein; man riet ihm ab, es sei nicht möglich, hinauszukommen. Auch der Bootsmann sagte ihm, wenn es möglich wäre, dem Fräulein ohne Lebensgefahr Hilfe zu bringen, dann wäre er schon selbst hinaus.

Ronald schob ihn aber energisch vor sich her.

»Vorwärts, – ich will hinaus,« sagte er in einem Tone, der keinen Widerspruch duldete.

Der Bootsmann folgte seinem Geheiß.

»Es geht um's Leben, Herr!« rief er ihm noch zu.

Ronald warf seinen Rock im Boote ab und faßte die Ruder. Mit bleichem, entschlossenem Gesicht legte er sich zurück und zog die Ruder an. Während der Bootsmann das Boot freimachte, hatte einer der Herren, der Lisas Boot noch gesehen haben wollte, Ronald die Richtung gezeigt. Alle riefen aufgeregt hinter ihm her; aber keiner hatte sich erboten, mitzufahren.

Auch das Kleeblatt, Naundorf in der Mitte, hatte versucht, bis zu Ronald vorzudringen. Diesmal aber nicht, um ihn durch heikle Fragen zu belästigen. Aber es gelang ihnen nicht; und als Naundorf merkte, daß Ronald hinausfahren wollte, verschwand er im Hintergrund, um nicht von ihm gesehen zu werden. Schließlich forderte dieser ihn gar auf, mit hinauszufahren, und dazu spürte er nicht die mindeste Lust. Nutzlos sein Leben in die Schanze zu schlagen für ein Mädchen, das ihn so deutlich hatte abfallen lassen, – nein – dazu war er nicht unvernünftig genug. Hechingen würde ja wissen, warum er dies Wagnis unternahm. –

Ronald hörte nicht auf das, was ihm die aufgeregte Menge nachrief. Sein Auge war blind für alles, was um ihn her vorging; er suchte nur wieder und wieder nach dem Boot da draußen, nach seiner Lisa, seinem Weibe. –

Leicht war das Werk, welches er unternommen hatte, nicht. Langsam, sehr langsam kam er vorwärts. Als er aber erst einmal gegen hundert Meter zwischen sich und das Land gelegt hatte und sein Boot nicht mehr direkt in der Brandung trieb, ging es besser.

Allmählich verblaßten die Gesichter am Strand, wenn er, die Entfernung messend, hinüberschaute; die lauten Stimmen verklangen mehr und mehr. Mit Anspannung aller Muskeln arbeitete er. Nur Lisa erst finden, nur erst bei ihr sein, – alles andere kümmerte ihn jetzt nicht.

Ab und zu machte er eine Pause, um nach Lisas Boot auszuspähen und frische Kraft zu schöpfen. Dann legte er sich mit doppelter Wucht in die Ruder, der Schweiß stand in hellen Perlen auf seiner unbedeckten Stirn. Seine Kleider waren bereits durchnäßt. Was kümmerte es ihn? Lisa war in Gefahr; er mußte zu ihr.

Weiter, – nur weiter! Die Adern auf seiner Stirn schwollen an, seine Augen durchforschten die Weite. Und jetzt endlich, – jetzt sah er das Boot! Noch weit entfernt war es, aber doch deutlich zu erkennen.

Ein lauter Ruf stieg wie ein Schrei aus seiner Brust empor: »Lisa!« –

Noch konnte er nicht zu ihr dringen. Der Sturm verschlang seinen Ruf. Aber mit neuem Mut ruderte er vorwärts.

Was ihm Lisa geworden war in dieser Zeit, seit sie ihn verlassen, das erkannte er erst voll und ganz in dieser Stunde. Er wußte, daß sein Lebensglück mit ihr gefährdet war, daß er ohne sie nie mehr Glück und Frieden finden würde.

Näher und näher kam er ihrem Boot. Noch sah ihn Lisa nicht; sie war halb bewußtlos im Boot zusammengesunken und klammerte sich an dem Sitz fest. Wieviel Zeit vergangen war, bis er ihr so nahe kam, daß er ihre Gestalt im Boot erkennen konnte, wußte er nicht. Er sah, daß sie die Ruder nicht mehr führte.

»Halt aus, Liebste, halt aus!« stieß er wie ein brünstiges Gebet hervor. Und dann wandte er sich voll nach der Richtung ihres Bootes und rief, so laut er konnte, ihren Namen.

Er sah, wie sie sich aufrichtete und wild um sich starrte. Wieder rief er ihren Namen.

Da erblickte sie sein Boot; und als sie scharf hinüberspähte, erkannte sie Ronald. Ein zitternder Schrei klang herüber zu ihm. Er sah, wie sie ihre Arme emporstreckte mit einer leidenschaftlichen Bewegung.

»Lisa!«

Jubelnd rief er wieder ihren Namen. Sie hörte den jauchzenden Ruf, – er drang ihr wie eine erlösende Seligkeit in das Herz.

Mit neuerwachter Energie faßte sie nach ihren Rudern und suchte ihr Boot dem seinen näherzubringen. So wurde die Entfernung zwischen ihnen kürzer und kürzer. Ganz deutlich erkannten sie nun gegenseitig den Ausdruck ihrer Gesichter.

»Ich komme, Liebste, – zieh die Ruder jetzt ein,« schrie er hinüber.

Sie folgte seiner Weisung. Jetzt kam das schwerste Stück Arbeit – die Boote so nahe aneinanderzubringen, daß er zu ihr hinüberspringen konnte. Er mußte mit aller Vorsicht lavieren, damit sich die Boote nicht gegenseitig zum Kentern brachten.

»Bleib ruhig sitzen, Lisa, halte dich fest.«

Sie rührte sich nicht, sah nur zu ihm hinüber mit einem verträumten, ungläubigen Ausdruck. War das nicht ein Trugbild ihrer überreizten Nerven? Hatte ihr Sehnsuchtsschrei ihn herbeigerufen? War das wirklich Ronald, der in Sturm und Not herbeikam, um ihr zu helfen – mit Gefahr seines eigenen Lebens?

Schon einige Male waren die Boote dicht beisammen, aber ehe Ronald hinüberspringen konnte, trieb sie eine Welle wieder auseinander. Er stand jetzt aufrecht, das eine Ruder hatte er eingezogen, auf das andere stützte er sich.

Jetzt hob wieder eine Welle sein Boot empor und brachte es in Lisas Nähe. Ein gewaltiger Satz – glücklich kam er hinüber. Aber er taumelte; das Boot schwankte heftig durch die Wucht des Anpralls, und er wäre fast herausgeschleudert worden. Da warf aber auch schon Lisa in heißer Angst die Arme um ihn und umklammerte ihn fest. Sie sanken beide mitten im Boote nieder, ohne sich loszulassen.

Stumm blickten sie sich mit einem unaussprechlichen Blick in die Augen. Er riß sie in seine Arme und bedeckte ihr Gesicht mit heißen, leidenschaftlichen Küssen. Dann hielt er ihren Kopf fest und blickte mit flammenden Augen in die ihren.

»Glaubst du mir nun endlich, daß ich dich liebe, wie nur je ein Mann sein Weib liebte?« stieß er heiser vor Erregung hervor.

Sie schauerte zusammen in namenloser Wonne.

»Ronald!«

In diesem Ruf lag ein befreites Jauchzen, das ihm alles verriet, was in ihrer Seele vorging.

Unbekümmert um Not und Tod hielten sie sich in den Armen, und seine Küsse brannten so überzeugend auf ihren Lippen, daß alle Furcht, aller Zweifel für immer von ihr abfielen.

»Bis hier hinaus bist du vor mir geflohen!« schalt er zärtlich.

»Vor mir selbst, – ach, Ronald!«

»Was denn, mein Lieb, was hast du noch auf dem Herzen?«

Sie schmiegte sich zitternd an ihn und sah ihn angstvoll an.

»Wenn wir jetzt sterben müßten!«

Ihre Worte riefen ihm den Ernst ihrer Lage in das Gedächtnis zurück. Liebevoll hüllte er sie in das Plaid, und warf ihr auch noch seinen Rock über, den er, bevor er sich zu dem Sprunge entschloß, wieder angezogen hatte.

»So, mein Liebling; nun fasse du das Steuer. Frierst du auch nicht? Du darfst mir nicht wieder krank werden.«

Sie lächelte glückselig.

»Mir ist so warm, – so warm!«

Gehorsam faßte sie das Steuer, und er nahm die Ruder auf. Sein Boot trieb schon ein ganzes Stück weit von ihnen entfernt. Mochte es treiben!

Er setzte sich ihr gegenüber. Einen Augenblick noch schaute er sie in stummer Innigkeit an. Dann sagte er ernst:

»Sind nun alle Zweifel gebannt, Lisa? Wirst du nicht wieder rückfällig werden, wenn wir in Sicherheit sind? Glaubst du nun an meine heilige, tiefe Liebe?«

Sie sah wie gebannt in seine leuchtenden Augen, tiefes Rot färbte ihr Gesicht.

»Ich glaube dir und will nie mehr daran zweifeln,« sagte sie tief bewegt.

»Mein geliebtes Weib, – meine holde, süße Frau, jetzt kann ich dir ja nicht sagen, wie lieb du mir bist. Laß uns nur erst in Sicherheit sein!« Sie seufzte ängstlich auf.

»Wirst du genug Kraft haben, uns zurückzubringen?« fragte sie bangend.

»Sag mir ein recht liebes Wort, – das wird mich stark machen,« bat er.

»Mein geliebter Mann!«

Nur wie ein Hauch drang es an sein Ohr, aber er vernahm es doch. Er stieß einen hallenden Jauchzer aus und legte sich in die Riemen, daß sie sich bogen.

Auge in Auge saßen sie da. Er konnte nicht mehr sprechen, der Atem kam ihm vor Anstrengung stoßweise aus der Brust. Lisa blickte immer wieder in Angst und Sorge nach dem Lande hinüber und dann wieder auf Ronald.

Wie er sich anstrengen mußte, wie er kämpfte um sein und ihr Leben! Schritt um Schritt mußte er in heißem Bemühen vorwärtsdringen.

Sie betete inbrünstig. Wenn sie untergingen, war es ihre Schuld. Warum hatte sie sich gesträubt gegen den Glauben, der sie nun so selig machte. Warum floh sie vor ihm hinaus auf das Meer, nicht achtend der Gefahr. Nun hatte sie ihn mit hineingerissen in die Gefahr. »Hilf, mein Gott, – hilf!«

Er sah, wie sie blaß wurde, und hörte ihr zitterndes Gebet. Er lächelte ihr zu.

»Er wird helfen. Sei ruhig, Lisa, meine Kraft reicht,« sagte er.

Aber seine Worte kamen keuchend aus der Brust.

Einige Male mußte er ausruhen. Sie merkte, daß Blut an seinen Händen herabrieselte, und schrie auf.

Er folgte ihrem Blick und lächelte.

»Jetzt verdiene ich dich mir, Lisa. Alles will ich damit auslöschen, womit ich dich je gekränkt.«

»Und ich?!« rief sie schmerzlich. »Bin ich nicht schuld, daß wir beide in Gefahr sind? Wie lösche ich diese Schuld aus!«

»Das sage ich dir, wenn wir in Sicherheit sind. Dann sollst du büßen,« antwortete er mit einem Blick, der sie erbeben machte.

Wieder legte er sich in die Riemen, wieder entbrannte der stumme Kampf mit den Wellen. Ronald fühlte, daß seine Kraft nachließ. Aber er biß die Zähne zusammen und ersetzte die verlorene Kraft durch wilde Energie. Er wollte es zwingen, wollte mit ihr zurück in das lachende Leben. Jetzt, da er am Ziel seiner Wünsche war, wollte er nicht kläglich unterliegen. – – –

Und er zwang es. Schon hörten sie die Stimmen der aufgeregten Menschen herüberklingen. Man war am Strande entlanggelaufen, weil das Boot abwärts getrieben wurde. Ronald atmete auf; es war die höchste Zeit, daß diese Fahrt ein Ende nahm.

»Nun sind wir bald geborgen, Lisa.« Sie beugte sich vor und streichelte seine blutende Hand.

»Deine armen Hände.«

Er schüttelte den Kopf, als wollte er sagen: Das ist nicht der Rede wert. Sprechen konnte er nicht mehr. – Alle Hände streckten sich aus, um zu helfen. Endlich war das Land erreicht.

»Gerettet!« jubelte Ronald und hob Lisa aus dem Boot.

»Bist du nun glücklich, Liebste?« flüsterte er ihr in das Ohr.

»Über alle Maßen,« antwortete sie leise.

Alle drängten sich um die beiden Geretteten. Ronald zog aber schnell Lisas Arm durch den seinen.

»Wir sind bis auf die Haut durchnäßt, meine Herrschaften; erst müssen wir trockene Kleider anlegen, dann stehen wir Rede und Antwort.«

Mit diesen Worten zog er Lisa mit sich fort, dem Hause zu.

Als sie allein waren, sagte Ronald zärtlich: »Jetzt bist du brav und legst dich einige Stunden nieder; sonst wirst du mir krank.«

»O nein, – ich will mich nur umkleiden. Ich fühle mich so wohl, so stark, – so glücklich. Laß mich jetzt nicht allein.«

Er drückte ihren Arm an sich.

»Ich komme zu dir, wenn ich mich umgezogen und etwas zu mir genommen habe. Ich glaube, Glück macht hungrig, Liebste. Darf ich zu dir kommen? Ruhe mußt du jetzt ein paar Stunden haben. Ich will nur ganz still bei dir sitzen.«

Sie sah glücklich lächelnd zu ihm auf.

»Was sollen nun die Leute sagen, wenn Baron Hechingen Fräulein Limbach in ihrem Zimmer besucht?«

Er lachte übermütig.

»Ei, diese lieben Leute werden sich ohnedies schon den Kopf ein wenig über uns zerbrechen. Ich sah einige Augenpaare entschieden mißbilligend auf uns ruhen, als wir uns aus dem Staube machten. Aber was ficht uns das jetzt noch an? Jetzt bist du mein, – endlich mein, du mein scheuer, furchtsamer Liebling. Was kümmern uns die Leute? Heute abend oder morgen werden wir das zarteste Gewissen beruhigen, indem wir uns einfach als Mann und Frau vorstellen.«

Sie hatten das Haus erreicht und wurden hier mit freudigen Zurufen empfangen. Aber auch hier hielten sich die beiden Glücklichen nicht auf.

Ronald rief das Zimmermädchen herbei und befahl ihr, Lisa schnell beim Umkleiden zu helfen und ihr heißen Tee zu bringen. Dann küßte er Lisa, unbekümmert um die erstaunte Zimmermaid, fest auf den Mund.

»In einer Stunde bin ich bei dir,« sagte er leise.

* * *

Die Gäste der Pension Tenda kamen heute sehr spät zum Diner, und bei Tisch gab es nur ein Thema: die ›abenteuerliche‹ Bootsfahrt und Rettung des Fräulein Limbach.

Die Generalin führte das große Wort.

Mit lauter Stimme erzählte sie allen, die es hören wollten, daß Baron Hechingen verheiratet sei, sich aber augenscheinlich sehr für ›dieses Fräulein Limbach‹ interessiere. »Ich möchte wohl wissen, was seine Gattin zu diesem ›Liebeswerk‹ ihres Mannes sagen wird, – vorausgesetzt, daß sie davon erfährt,« rief sie mit schriller Stimme, denn sie hatte von Fräulein von Uechteritz etwas erfahren, was ihr jede Hoffnung für ihren Neffen zerstörte.

Fräulein von Uechteritz hielt mit ihrem Triumph auch den übrigen Herrschaften gegenüber nicht zurück.

»Wirklich, – ich versichere es Ihnen, – er hat dieses Fräulein Limbach geküßt, sogar in Gegenwart des Zimmermädchens,« rief sie immer wieder in entrüstetem Tonfall.

Kommerzienrat Jagemann lachte gutmütig.

»Was ist Schlimmes dabei? Den Kuß hat er sich redlich verdient,« sagte er laut und deutlich.

Das Kleeblatt sah ihn strafend an; aber einige Wohlwollende stimmten ihm bei, und eine heitere alte Dame rief mutig:

»Einen Kuß in Ehren kann niemand wehren. Gerade die Gegenwart des Zimmermädchens dokumentiert die Harmlosigkeit der Sache!«

»Bravo, gnädige Frau! meine Ehrerbietung,« antwortete ihr ein stiller alter Herr, der sich gar nicht an der Unterhaltung beteiligte. Die beiden sahen sich an mit freundlichen Blicken; zwei edle Seelen hatten sich verstanden. – –

Aber unentwegt wurde das Verhalten des jungen Paares einer Kritik unterzogen. Es entbrannte ein förmlicher Kampf um Lisa Limbachs guten Ruf. Das Kleeblatt leistete Hervorragendes und trat mit plumpen Gehässigkeiten auf den Plan.

Mitten in diesem Sturm trat plötzlich und unerwartet Ronald Hechingen ein. Wie durch einen Zauberschlag verstummte das Gespräch. Ronald sah in teils verlegene, teils entrüstete Gesichter.

Es zuckte in seinen Augen auf. Ein amüsiertes Lächeln huschte verstohlen um seinen Mund. Er ahnte, daß er und Lisa soeben hier durchgehechelt worden waren.

Ruhig trat er an den Tisch heran. Ein Diener wies ihm seinen Platz an, da er am Diner teilnehmen wollte. Jetzt fürchtete er neue Bekanntschaften nicht mehr.

Er verneigte sich nach beiden Seiten und nannte seinen Namen. Als er sich niedersetzte, sah er plötzlich schräg gegenüber Naundorf sitzen.

»Servus, Herr Kamerad!« rief dieser mit etwas malitiösem Lächeln herüber.

Ronald begrüßte ihn lächelnd; man sah keine Spur von Verlegenheit in seinem Gesicht.

»Haben Heldentat verrichtet, Herr Kamerad,« schnarrte Naundorf wieder.

Alles lauschte. Ronald strich lächelnd seinen Bart.

»Nicht der Rede wert.«

»Sind vermutlich mit Frau Gemahlin hier, nicht wahr?« fragte Naundorf hämisch.

Ronald sah amüsiert um sich. Im Übermut seines Glückes nahm er sich vor, die Neugier seiner Umgebung noch mehr zu erwecken.

Er richtete sich auf und sagte laut:

»Jawohl, – ich bin mit meiner Frau hier.«

Atemloses Schweigen. Naundorf machte ein unbeschreiblich verblüfftes Gesicht. Diese Antwort hatte er nicht erwartet. Endlich faßte er sich.

»Ihre Frau Gemahlin ist hier?«

Grenzenloses Erstaunen lag in seiner Frage. Ronald hätte ihm fast in das Gesicht gelacht.

»Gewiß, – ich sagte es schon.«

»Richtig, ja, ich – dann darf ich doch bitten, mich Ihrer Frau Gemahlin vorzustellen.«

»Meine Frau ist etwas angegriffen und speist auf ihrem Zimmer. Aber heute abend beim Souper werde ich mir erlauben, Sie mit ihr bekannt zu machen.«

Naundorf verneigte sich noch immer sehr verblüfft und stellte Ronald seiner Tante vor.

Es blieb auffallend still an der Tafel. Einige der Herrschaften, die in Ronalds Nähe saßen, sagten ihm ein paar Artigkeiten über sein tapferes Rettungswerk. Er bat aber so bestimmt, nicht davon zu reden, daß man ihn in Ruhe ließ. Alle aber waren äußerst gespannt auf die Abendtafel. Man brachte der Baronin Hechingen ein brennendes Interesse entgegen und war neugierig, wie diese sich zu Lisa Limbach stellen würde.

Naundorf erwog im stillen, daß doch wohl noch nicht alle Hoffnung verloren wäre auf die Hand Fräulein Limbachs. Vielleicht klärte sich doch die Sache harmloser auf, als es den Anschein hatte.

Aber seine Hoffnung sank im Laufe der Nachmittags wieder in nichts zusammen. Erstens erfuhr das Kleeblatt nach eifrigem Forschen, daß Baron Hechingen allein gekommen war und daß weder die Dienerschaft noch die Geschwister Tenda etwas gesehen und gehört hatten von einer Baronin Hechingen, und zweitens hatte das Zimmermädchen Fräulein von Uechteritz berichtet, daß Baron Hechingen Fräulein Limbach in ihrem Zimmer besuchte.

Die Wogen der Erregung stiegen höher und höher. – – –

Lisa hatte sich so schnell wie möglich umgekleidet. Mit glücklichem Lächeln wählte sie ein besonders hübsches, weißes Kleid, von dem Tante Anna behauptete, es stehe ihr gut. Mit besonderer Sorgfalt ordnete sie ihr Haar und blickte prüfend auf ihr Spiegelbild.

Glück verschönt, dachte sie befriedigt, als sie sich abwandte. Gehorsam trank sie den heißen Tee, den ihr das Mädchen gebracht hatte, und ließ sich auch einen Imbiß geben.

Als sie den eingenommen, streckte sie sich behaglich in einen Lehnstuhl und träumte vor sich hin.

Nicht lange darauf trat Ronald bei ihr ein. Er blieb an der Tür stehen und sah sie an. Sie rührte sich nicht auf ihrem Platz, aber dunkles Rot stieg in ihr Gesicht.

»Wo ist meine Frau?« sagte er leise, sie fest und zwingend ansehend.

Da erhob sie sich und flog in seine Arme. Er preßte sie fest an sich.

»Du mein Glück, mein holdes, liebes Weib!«

Sie sah mit feuchten Augen zu ihm auf.

»Bin ich dir nicht zu häßlich?« fragte sie zagend.

Er sah mit ernsten Augen in ihr Gesicht.

»War das nicht schon wieder ein Zweifel?«

»Nein, nein, – aber ich gäbe all meinen Reichtum hin, wenn ich Schönheit dafür eintauschen könnte.«

»Du kleine Eitelkeit, wen willst du noch betören?«

»Dich.«

»Mir bist du so, wie du bist, das schönste, liebste Weib. Genügt dir das nicht?«

Sie nickte glückselig. »Ja, ja!«

Er zog sie zum Diwan und ließ sich mit ihr nieder.

»Weißt du, daß man jetzt hier im Hause über uns zu Gericht sitzt?«

Sie sah ihn fragend an.

»Was wollen die Menschen von uns?«

Er lachte und küßte sie auf die erglühende Wange.

»Wir sollen erst um Erlaubnis fragen, ob wir glücklich sein dürfen. Aber jetzt mußt du ruhen. Ich setze dann ein Telegramm auf an Tante Rahnsdorf; sie soll zuerst wissen, daß wir vereint sind. Also schnell, lege dich hier auf den Diwan und ich werde dir eine warme Decke überwerfen. Du hast kalte Hände.«

»Muß ich das tun? Wenn ich nun nicht will?« fragte sie schelmisch.

Diese Schelmerei kleidete sie zum Entzücken, wenigstens nach Ronalds Ansicht. So kannte er sie noch gar nicht, so hatte er sie noch nie gesehen.

Er hielt sie bei den Schultern fest.

»Dann wende ich ein anderes Verfahren an. Du hast dich jetzt in meine Macht begeben, Liebste, und ich verlange strengen Gehorsam von meiner Frau.«

Er erhob sich und holte eine Decke herbei. Sie legte sich gehorsam nieder, und er deckte sie sorgsam zu.

»So, mein liebes Herz. Nun das Telegramm für die Tante.«

Er setzte sich dicht neben sie und zog sein Notizbuch hervor. Lisa sah ihm lächelnd zu. Ihr war das Herz zu eng, um alle Glückseligkeit zu fassen. Sie seufzte tief auf.

Er blickte zu ihr nieder.

»Jeder Seufzer wird bestraft,« sagte er zärtlich.

»Was hast du denn aufgeschrieben für Tante?«

Er las ihr vor:

»Lisa ist mein. Ich bin unsinnig glücklich.«

Lisa lachte.

»Hast du etwa an dem Wortlaut etwas auszusetzen?« fragte er scheinbar gekränkt.

»Ja, es fehlt noch etwas.«

»Was denn?«

»Du mußt noch dazusetzen: Lisa auch!«

Er küßte sie stürmisch.

»Lisa auch? Das will ich nicht vergessen, – sonst glaubt es die Tante nicht.«

Er ging hinaus, um einen Boten nach dem Telegraphenamt zu schicken. Als er wieder zurückkam, sagte er amüsiert:

»Du, Lisa, – jetzt kannst du sehr froh sein, daß du meine Frau bist.«

»Warum?«

»Weil sonst morgen kein Mensch hier ein Wort mit dir sprechen würde. Heute abend stelle ich dich feierlich als meine Frau vor.«

Lisa seufzte.

»Ach, was werden die Leute dazu sagen?«

»Daß du meine Frau bist?«

»Nein, daß ich mich unter meinem Mädchennamen hier eingeführt habe.«

»Siehst du wohl, – warum hast du mich verleugnet? Nun mußt du büßen.«

Sie sah mit leuchtendem Blick zu ihm auf.

»So will ich es tragen.«

»Wie schön du bist, meine Lisa,« flüsterte er ihr in das rosige Ohr.

»Liebe macht blind,« neckte sie.

»Nein, Liebe macht sehend. Du bist jetzt eine ganz andere für mich, als die scheue, furchtsame, kleine Lisa, die ich meine Braut nannte.«

»Ja, ich war ein häßliches, geschmackloses Mädchen und kann dir gar nicht verdenken, daß du nichts von mir wissen wolltest.«

»Aber daß ich sehr, sehr viel wissen will von der reizenden, blühenden Frau mit den schönen, strahlenden Augen, die hier vor mir liegt und mir armem Mann den Kopf verdreht, das verdenkst du mir hoffentlich nicht.«

Sie schlang die Arme in heißer Empfindung um seinen Hals.

»Ach, Ronald, – wie kann ein Menschenherz nur so viel Glück fassen!«

Er bedeckte ihr Gesicht mit stürmischen Küssen.

* * *

Die Stunden vergingen den Glücklichen nur zu schnell. Gegen sieben Uhr trieb Lisa ihren Gatten fort. »Geh jetzt, Ronald. Ich will für heute abend besonders festliche Toilette machen. Du sollst Ehre einlegen mit deiner Frau.«

»Ja, Liebste, – ein weißes Kleid ziehe an – wie eine Braut. Heute ist unser wahrer Hochzeitstag.« –

Als Ronald Lisas Zimmer verließ, gingen gerade Frau von Rosen und Fräulein von Uechteritz draußen vorüber.

Sie erwiderten seinen Gruß nicht, und er hörte etwas wie: »Skandalös!«

Lisa und Ronald traten als die letzten in den Speisesaal. Jeder Laut verstummte, aller Augen richteten sich auf den stolz aufgerichteten Mann und die schlanke, blühende Frau an seiner Seite. Arm in Arm durchschritten sie den Saal. Vor Herrn von Naundorf blieb Ronald mit seiner Frau stehen. Naundorf sah mit einem unbeschreiblich genierten Blick zu ihnen auf. Was sollte das heißen, was fiel Hechingen ein, dieses Fräulein Limbach so auffallend am Arm zu führen?

»Herr von Naundorf, Sie wünschten, meiner Gattin vorgestellt zu werden. Sie steht vor Ihnen. Lisa, ein alter Regimentskamerad!«

Naundorf sprang auf. Alles lauschte atemlos.

»Ich verstehe nicht, – Baron Hechingen. Fräulein Limbach –«

»Pardon, – ich muß da einen kleinen Irrtum aufklären. Meine Frau nahm besonderer Familienverhältnisse halber hier ihren Mädchennamen auf kurze Zeit wieder an. Als Fräulein hat sie sich allerdings [nicht] ausgegeben, korrigierte indes den Irrtum nicht, weil sie vorläufig genötigt war, ihr Inkognito festzuhalten.«

»Ah, – allerdings – dann bitte um Verzeihung. Ist mir ein Vergnügen, gnädige Frau, Ihnen meine Verehrung zu Füßen zu legen,« stotterte Naundorf.

Die Generalin und ihre Getreuen saßen mit langen Gesichtern und zwangen sich, nicht gar zu enttäuscht auszusehen. Sie waren um eine grandiose Sensation gekommen.

Herr von Jagemann löste den Bann, der auf allen Gemütern lag, indem er zu Ronald sagte:

»Da brauchten wir uns freilich nicht zu wundern, daß Sie so schnell bereit waren, Ihrer Frau Gemahlin zu Hilfe zu kommen, Herr Baron.«

Ronald lachte.

»Jedenfalls war ich der nächste dazu.«

Lisa fand langsam ihre ruhige Sicherheit wieder. Sie zuckte mit keiner Wimper, als Ronald seelenruhig erklärte, er habe gar nicht die Absicht gehabt, nach Nizza zu kommen, aber Frau von Rahnsdorf habe ihm telegraphiert, sofort zu kommen, damit seine Frau sich in ihrer Abwesenheit nicht einsam fühle.

Er gab sich den Anschein, als seien er und seine Frau schon ein ganz altes Ehepaar.

Das Kleeblatt konnte sich lange nicht beruhigen, und Fräulein von Uechteritz behauptete leise zu Frau von Rosen:

»Und irgend etwas steckt doch hinter dieser romantischen Geschichte.«

Naundorf suchte durch doppelte Liebenswürdigkeit die Scharte auszuwetzen und plauderte über den Tisch herüber mit Lisa und Ronald sehr eifrig.

Alle Wohlgesinnten unter den Gästen waren froh, daß der drohende Skandal sich so harmlos aufgeklärt hatte. Und Geschwister Tenda hüteten sich, zu verraten, daß Ronald gar nichts von der Abwesenheit Frau von Rahnsdorfs gewußt hatte. Sie kümmerten sich nicht um die Privatverhältnisse ihrer Gäste.

Nach Tisch nahm Lisa einen Mantel um und ging mit Ronald noch ein Stündchen an den Strand. Der Wind hatte sich gelegt, und die Wellen bäumten sich nicht mehr so hoch empor.

Ronald legte den Arm um seine junge Frau.

»Von da draußen habe ich mir mein Glück geholt.«

Sie nahm seine Hand und küßte die Flächen, die heute vom Ruder blutig gerieben worden waren.

Er zog schnell die Hand fort.

»Nicht, – Lisa. Das sollst du nicht.«

»Es macht mich glücklich.«

»Küsse meinen Mund. Dann bin auch ich glücklich, Liebste.«

Innig umschlungen standen sie an dem dunklen Strand und schauten in die unendliche Weite.

* * *

Am nächsten Morgen kam ein Telegramm von Frau von Rahnsdorf. Es lautete:

»Tante Anna ist ebenfalls glücklich, kommt aber nun nicht nach Villa Tenda zurück. In Rahnsdorf gibt es viel Arbeit für die glückliche Tante. An Weihnachten sollen meine lieben Kinder hier Einzug halten. Bis dahin habt ihr Urlaub. Viel Glück, schreibt bald ausführlich.«

Lisa und Ronald saßen bei ihrem ersten gemeinsamen Frühstück, als die Depesche eintraf. Sie lasen sie zusammen und schauten sich dann glücklich an.

»Die Liebe, Gute,« sagte Lisa bewegt.

»Ja, ihr danken wir viel, meine Lisa; wie gut sie dich und mich verstanden hat, das weißt du noch gar nicht. Sie war die Vertraute all meiner Liebe und Sehnsucht. Sie hat mir geglaubt, trotzdem du an mir zweifeltest.«

Lisa umfaßte ihn mit leidenschaftlicher Innigkeit.

»Ich will es gutmachen.«

Er zog sie fest an sich und sah ihr tief, tief in die strahlenden Augen.

»Hast es schon getan – du, Liebe, Süße.« –

Ronald und Lisa verlebten herrliche, unvergeßliche Wochen in Villa Tenda. Er bezog Tante Annas Zimmer, da diese nicht zurückkehrte. Man kam dem jungen Paare sehr liebenswürdig entgegen. Am meisten bemühten sich Naundorf und seine Tante um die beiden.

Lisa zweifelte nicht mehr an Ronalds Liebe. Sein ganzes Wesen war so durchleuchtet von Liebe und Zärtlichkeit, daß sie beseligt daran glauben mußte. Sie erblühte herrlich in diesen glücklichen Tagen, – und sie verstand es jetzt mit dem Instinkt der liebenden Frau, ihre Reize zur Geltung zu bringen. Sie hatte gelernt, sich selbst Beachtung zu schenken. Nichts erschien ihr gleichgültig, was ihm gefallen konnte. Mit heißer Freude bemerkte sie, wie sein Auge sich voll Entzücken weitete, wenn sie sich besonders für ihn geschmückt hatte. Oft nahm er sie dann voll leidenschaftlicher Innigkeit in seine Arme und sagte:

»O du, Lisa, – wie reizend bist du!«

* * *

Mitte Dezember kehrten sie heim. Zuerst nach Leipzig, um Onkel und Tante Limbach und Ronalds glückliche Mutter zu besuchen, – und vor allem, um Lotte Hechingens und Mallwitz' Hochzeit mitzufeiern.

Auch Tante Anna war zu dieser Feier nach Leipzig gekommen. Sie wollte durchaus Lotte kennen lernen. Da auch Konsul Limbach und seine Frau bei der Hochzeitsfeier anwesend waren, kamen die beiden feindlichen Schwägerinnen zum erstenmal seit Jahren wieder zusammen.

Als sie sich gegenüberstanden und beide nicht wußten, ob sie miteinander reden sollten oder nicht, trat Lisa rasch heran und umschlang beide zugleich mit ihren Armen.

»Wenn ihr mein Glück vollständig machen wollt, so versöhnt euch. Ich bitte euch innig darum. Es ist mir schmerzlich, daß ihr euch stumm gegenübersteht. Und Onkel Karl würde sehr glücklich sein, wenn ihr euch die Hände reichtet.«

Hermine sah zu ihrem Mann hinüber. Ein ernster, bittender Blick traf sie. Ihre Wangen röteten sich, der feindselige Ausdruck ihrer Augen verlor sich.

»Komm, Hermine, gib mir die Hand. Laß Lisa nicht vergeblich bitten,« sagte in diesem Augenblick Anna Rahnsdorf.

Da legte sie ihre Hand in die der Schwägerin. Der Friede war geschlossen. Freilich entspann sich auch fernerhin kein inniges Verhältnis zwischen den beiden Frauen. Ihre Charaktere waren zu verschieden, um sich in Harmonie verbinden zu können. Aber es kam nicht mehr zu offenen Feindseligkeiten; man ertrug sich gegenseitig. – – –

Am Tage nach Lottes Hochzeit reiste Ronald mit Lisa und Tante Anna nach Rahnsdorf zurück.

Dort war alles festlich geschmückt zum Empfange des jungen Paares. Über Nacht war Schnee gefallen, – ganz Rahnsdorf war in festliches Weiß gehüllt. Auf der Schwelle des Hauses stand Mamsell Birkner im schönsten Feiertagsstaat. Ihre Augen schienen gegen das grelle Schneelicht sehr empfindlich – denn sie standen voll Wasser.

»Guten Tag, Birknern. Da bringe ich unser junges Paar. Nun haben wir sie glücklich alle beide in Rahnsdorf,« sagte ihre Herrin lachend.

»Nun, ich dächte, das hätte lange genug gedauert,« brummte Mamsell.

Ronald und Lisa schüttelten ihr lachend die Hand zum Gruß.

»Birknern, jetzt mußt du aber wirklich ein bißchen liebenswürdiger werden, jetzt ist wieder ein Herr in Rahnsdorf,« rief ihre Herrin mahnend.

Mamsell zuckte gleichgültig die Schultern. »Ich bin mit unserem seligen Herrn auch ausgekommen. Der Herr Baron ist ein vernünftiger Mann, – der weiß, wie es gemeint ist. Schmeicheln und Kriechen kann ich nun mal nicht. Ich sage frei heraus, wie mir's ums Herz ist.«

Frau von Rahnsdorf klopfte ihr lachend die Schultern.

»Mach dein Herz nicht schlecht; das sieht entschieden lieblicher aus als dein Gesicht.«

»Ja, ja, – nur schnell herein in die warme Stube; sonst kriegen wir wieder Husten und Schnupfen,« kommandierte die unverbesserliche Mamsell.

Frau von Rahnsdorf umschlang Lisa und Ronald und führte sie über die Schwelle.

»Euren Eingang segne Gott.«

* * *


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