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Grollo saß unbeweglich mit gesträubtem Gefieder in der Bauernstube des alten Wirtshauses hochoben am Gebirgspaß. Er war starr vor Entrüstung über seine neue Umgebung.
Hatte man ihn, der es gewohnt war, stets auf einem Tisch mit dicker Seidendecke zu stehen, in einem eleganten Zimmer, unter eleganten Menschen, nicht auf einen groben, weißgescheuerten Tisch gestellt?
Unten der sandbestreute Boden, kahles Mauerwerk ringsum, kleine mit Blei verglaste Scheiben, vor denen armselige Blumen standen, die in dem harten Winter da heroben Schaden gelitten hatten. Dazu diese groben Menschen, die sich täppisch um ihn drängten und grobe Laute ausstießen, Menschen, deren Gegenwart ihm so zuwider war, daß er die Augen schloß und Futter zu nehmen verweigerte.
137 Oh, Grollo war nicht etwa traurig oder hatte Heimweh, er war nur bis ins Innerste verletzt über seine Herabwürdigung.
Wohl, den schönen Messingkäfig, in dem er in seinem brasilianischen Salon drüben gethront, würdig, schäkernd, gnädig oder ungnädig, von allen Besuchern bewundert und gesucht, den hatte man ihm gelassen. Es war sein Haus, und in diesem Hause hatte er die große Fahrt übers Meer angetreten, auf dem Schiffe noch eine beliebte und gesuchte Persönlichkeit, stets von Schwatzenden und Neckenden umlagert, obgleich er sich selten herbeiließ, Antwort zu geben, wenn man ihn frug, oder gar zu singen und zu pfeifen. Denn auch die Veränderung, die die Reise brachte, gefiel ihm nicht.
Erst als die große Stadt in Sicht kam mit ihren Türmen und Dächern, als die Schiffe tuteten und die Sirenen heulten, als alles auf dem Verdeck wie wahnsinnig durcheinanderrannte, fuhr's auch in ihn, und er begann zu schreien, zu singen, zu lachen, zu gröhlen und zu pfeifen, wie fünf Papageien auf einmal. Nur daß sich leider niemand sonderlich um ihn kümmerte, jetzt, wo es ihm gefiel, nicht mehr der hochmütige und verschlossene Grollo zu sein, der er auf der ganzen Reise war, sondern wo er der lustige und übermütige sein wollte.
138 Er tanzte und drehte sich, schrie sich in einen förmlichen Taumel hinein, außer Rand und Band, daß diese eklige Fahrt endlich zu Ende sein und er wieder seinen kleinen, feinen Salon bekommen und von parfümierten Frauenhänden gekrauelt, gehätschelt und geliebkost werden sollte.
Doch es kam anders, ganz anders.
Der vornehme Grollo erstarrte zuerst vor Staunen, und dann schrie und schimpfte, tobte und kreischte er – alles auf portugiesisch, jedoch es war umsonst. Ein klobiger Kerl lud ihn in seinem goldenen Käfig mit schmutzigen Sachen auf seinen breiten Rücken, kopfüber, kopfunter, wie's gerade kam, schüttelte ihn auch noch derb, wenn er's zu arg trieb, und warf ihn endlich in eine dunkle Ecke, wo er ganz betäubt, ja ganz von Sinnen liegen blieb.
Kein Wunder, daß er sich nicht wieder aufrappeln konnte und wie ein Häuflein Elend war, das Untier hatte ihn ja mitten durch das wildeste Gedränge geschleppt, und ringsum war ein Gelärm und Gestoße und Gepolter gewesen, wie es Grollo noch niemals erlebt hatte. Er meinte bersten zu müssen vor Wut und Elend.
Doch nicht genug, kaum begann er sich in seiner 139 dunklen Ecke zurecht zu setzen und sich ein wenig zu erholen, da ging ein Stoßen und Rattern, ein Gestampf und ein Geschüttel los, und so dauerte das fort, bis er fast halbtot war. Manchmal wurde er hervorgezerrt, irgendwo hingeworfen, irgendwo hineingestopft, ach was wußte er, wie oft, da er doch halbtot war vor Angst.
Endlich, endlich wurde es wieder Licht um ihn, man faßte ihn behutsam an, bestaunte und bewunderte ihn, obgleich er zerzaust und struppig ankam und nur tückische Blicke aus seinen orangefarbenen Augen auf seine Umgebung warf, man hob ihn auf einen Wagen und langsam, langsam ging's auf wüsten, steinigen Straßen in die Höhe.
Wohl schien die Sonne, aber ihn fröstelte, und als man vor dem dunklen, alten Holzhause hielt, war er ganz erstarrt.
Und nicht nur vor Kälte.
Das sollte seine neue Heimat sein? Das seine Herrinnen? Dies grobe, alte Haus, diese groben Weiber mit den glatten Haaren und festen Zöpfen, die ihre plumpen Finger nach ihm ausstreckten und ihn anschrien in einer Sprache, die er nicht verstand?
Er erstarrte immer mehr, und also erstarrt saß er 140 nun schon drei Tage auf dem abscheulichen Holztisch neben der grünen Bestie, der die Weiber große Scheite Holz in den Rachen schoben: »Es schneit,« sagten sie. »Es schneit,« sagten die Bauern, die mit ihren großen schmutzigen Stiefeln in die Stube getrampelt kamen und ein Kraut qualmten, das Grollo fast ohnmächtig machte!
Da standen nun alle um ihn, lachten und schwatzten durcheinander und versuchten ihn so lange zu necken, bis er sich besann, was sich ein vornehmer Papagei schuldig sei, und ordentlich mit dem Schnabel zuhackte.
Dann hatte er Ruhe, nur das Weibervolk lamentierte und machte ihm Vorwürfe, das verstand er wohl, wenn er auch nicht Deutsch konnte, den Ton kannte er, der war international.
So, genau so, hatte die Patronin, hatten die jungen Damen gezankt! Freilich, das war Geflöte und Gezwitscher gewesen, gegen dies Gekrähe und Gegurgel hier!
Mochten sie schimpfen und schreien, ihm war's gleich; er blieb tückisch sitzen, senkte den Schnabel zum Angriff, schloß die Augen lauernd, um sie gleich wieder grell zu öffnen, oder nahte sich gar mit trippelnden Schritten, die vor Bosheit zitterten, dem Rand des 141 Käfigs, daß all die Weiber quietschten und zurückwichen – nur die blonde Wirtin blieb bei ihm stehen, seine jetzige Patronin.
Ach welcher Kontrast gegen die runde, kohlschwarze Brasilianerin, diese steife, dürre Blondine mit dem Madonnenscheitel! Mochte sie noch so lieblich blicken, auch ihr tat er den Gefallen nicht, zu reden, entfernte sie sich jedoch, unmutig und enttäuscht, so begann er zu kreischen und zu schimpfen, wie er es nur in seinen bösesten Tagen in Brasilien getan hatte.
Und: »Grollo schreit! Grollo redet! Grollo schimpft! Grollo! Grollo! Grollo!« Das ganze weibliche Personal war plötzlich wieder um ihn versammelt, um ihn abermals stumm, nur mit boshaft blinzelnden Augen vorzufinden. Wurde ihnen das Warten langweilig und verzogen sie sich murrend, so war's, als ritte ihn erst recht der Teufel, und er begann einen Heidenspektakel, daß alle wieder schleunigst zurückrannten.
Da geschah's, daß, während er so ganz hingegeben innig spektakulierte, plötzlich ein feiner junger Mann auf der Schwelle des Herrenzimmers stand und belustigt in die Bauernstube und nach dem heftig sich betätigenden Papagei blickte.
142 Kurze Zeit horchte er mit offenem Munde zu, dann schlug er sich mit der flachen Hand auf den Schenkel und lachte lange und schallend. »Das Biest spricht ja portugiesisch! Und was er spricht. Nein, Sie ahnen es nicht, Frau Wirtin! Woher haben Sie den gelungenen Kerl?«
Frau Wirtin, die blonde, mit dem Madonnenscheitel, beeilte sich natürlich, dem jungen Schiffsarzt die illustre Herkunft Grollos zu erklären. Der junge Arzt, den der Schnee da oben an der Allgäuer Grenze festhielt und ihn vorderhand nicht ins Lechtal hinunterließ, horchte angeregt und ernsthaft zu. Das war doch endlich einmal eine amüsante Episode in diesem sterbenslangweiligen Dasein da heroben! Also Grollo war erst kurz aus Brasilien importiert und hatte sich bis jetzt bei vornehmen Verwandten befunden, die eine feine Pension drüben hatten.
»Feine Pension,« kopfnickte der Doktor.
Grollo war natürlich furchtbar verwöhnt, das konnte man sich denken, so mit Luxus umgeben, und es tat der Frau Wirtin furchtbar leid, daß man ihm das nicht bieten konnte. Er gewöhnte sich auch deshalb wohl nicht ein, wollte kein Wort reden, und drüben hatte man ihn weggeschickt, weil er zu viel Spektakel machte! 143 Freilich, ob das wirklich so war –? Sie hätten sich ja längst schon einen solchen Vogel für die Wirtsstube gewünscht, davon hatten sie mit der brasilianischen Verwandten gesprochen, als sie da war.
»War sie bei Ihnen, Frau Wirtin, und allein?«
Frau Wirtin fand kein Ende, von der Eleganz ihrer Tante zu erzählen, von all den Seiden- und Samttoiletten, den Negligés und dem vielen Schmuck! Und die schöne, junge Dame dabei! Es war ein ganzer Aufruhr im Ort, alles strömte herbei, um die Fremden zu sehen, besonders Fräulein Alice!
»Blieb das Fräulein lange hier?« frug der junge Schiffsarzt, den, wie's bei der Männerwelt hier auch so Usus gewesen, die schöne Alice am stärksten zu interessieren schien.
»Oh nein, wie können Sie denken! Sie ging in die Modebäder mit ihren schönen Toiletten! – Sie werden es aber nun begreiflich finden, daß Grollo nichts von uns wissen will. Nicht einmal Deutsch will er lernen, und ich gebe mir so viele Mühe, seine brasilianische Sprache zu verstehen!«
»Oh, es ist kein Unglück, wenn Sie das Brasilianisch nicht verstehen,« meinte lachend der junge Arzt. Er wollte noch etwas hinzusetzen, klappte aber, nach einem 144 Seitenblick auf den Madonnenscheitel, den Mund wieder zu.
»Was sagt er denn eigentlich? Was singt er denn?« fragte unsicher die Wirtin.
»Nichts von Belang gerade, ich will ihn auch noch einmal hören: Hollah, Grollo!«
Doch wenn Grollo nicht wollte, wollte er eben nicht, er schwieg ebenso hartnäckig und blinzelte schlau mit den orangefarbenen Augen, wie er es bisher getan. Trotzdem entspann sich ein eigenes Verhältnis zwischen dem jungen Arzt und dem aus Brasilien importierten Grollo.
Nicht daß etwa Grollo sich nach und nach herbeigelassen hätte zu schwatzen oder nur den jungen Mann überhaupt zu bemerken, wenn er vor ihm stand und sich halb zu Tod fragte. Oh nein, erst wenn er geärgert gegangen war und im Nebenzimmer saß, wo er zum zehntenmal die alte Zeitung las, weil keine neue kam, fing es plötzlich in der Bauernstube an, ganz dünn, ganz leis' und lockend zu flöten, zu trillern und zu pfeifen.
Kam der also Gerufene freudig unter die Tür, saß Grollo unbeweglich da, oder kratzte sich geschäftig am Kopfe, um sofort, wenn der andere ging, ihn aufs 145 neue mit schäkernden Tönen, mit spitzen kleinen Schreien, mit Rufen und Bitten anzulocken und dann ebenso plötzlich wieder zu verstummen.
Dieses süße Spiel dauerte nicht lange, denn der also Geprellte verfiel auf die richtige Taktik. Er war nun der Spröde, der Abweisende, er blieb taub und stumm, wie es Grollo gewesen. Darüber wurde nun Grollo so rabiat, daß er alle seine Künste preisgab.
Und keine Nuance fehlte. Der ganze Betrieb einer feinen Pension bei Tag und Nacht lag für Kenner offen da. Vielleicht auch für Nichtkenner, wenn sie gerade nicht so harmlos waren, wie diese Bergbewohner. Für den jungen Arzt war es jedenfalls ein unvergleichliches Vergnügen, den indiskreten und geschickten Vogel als einzig Wissender anzuhören.
Nun konnte der Schnee schon eher liegen bleiben und die Straße versperren, wenigstens sorgte Grollo für Unterhaltung. Am Sonntag sogar so ausgiebig, daß er beinahe das zarte Geheimnis seiner hohen Herkunft verraten hätte.
Der Doktor sah es wohl, daß sich verschiedene Ohren spitzten, als Grollo mitten im Trubel der sonntäglichen Bauernstube sein Triumphgeschrei anfing; ja, je lauter 146 die Bauern schrien, desto lauter lärmte Grollo, bis auf einmal alles still wurde und dem Vogel zum Solo das Wort ließ.
Was er nun zum besten gab, unterschied sich sehr wesentlich von dem Gelärm einer allgäuisch-tirolischen Sonntagnachmittags-Bauernstube.
Vor allem operierte er mit gar vielen Weiberstimmen. Quietschende und kreischende erklangen, lachende und schimpfende, (»O Gott die Tante,« rief ängstlich die Wirtin); aber auch männliche tönten dazwischen, brutal und schmeichelnd, daneben wieder Geschrei und Gejohle und Gelächter, das sich immer mehr steigerte, ein Knallen von Pfropfen, ein Aneinanderklingen von Gläsern – –
»Die Tante hat Gesellschaft,« sagte verklärt die Wirtin mit dem Madonnenscheitel, da traf ihr Blick den des jungen Arztes. Sie wurde rot, sie wurde verwirrt, und wußte nicht recht warum. Ganz unbewußt trat sie zu Grollo und wehrte ihm: »Hör doch auf, Grollo! Sei still Grollo!«
Doch die Schleusen seiner Künste waren nun geöffnet, und wie es wohl Dichter zu machen pflegen, wenn man es nicht mehr haben will, daß sie noch weiter vorlesen, zog Grollo quasi ein Gedicht nach dem 147 andern aus der Tasche und absolvierte es immer lauter und immer eindringlicher. Während die Bauern wieder zu ihrem Gesumm und Gebrumm und Kartengehau zurückkehrten, ließ Grollo unentwegt den Lärm seines brasilianischen Salons erschallen.
*
»Herr Doktor,« stotterte die Wirtin, als der junge Arzt eben daran war in den Wagen zu steigen, der ihn endlich in bewohntere Gegenden bringen sollte, »was ist es mit dem Papagei? Ich weiß nicht – – was singt und sagt er denn eigentlich?«
»Grollo ist zu wenig fromm für Ihr Haus und Ihr Land, Frau Wirtin, er singt und sagt ziemlich Unheiliges. Nehmen Sie ihn tüchtig in die Schule, lehren sie ihn Deutsch, sein Portugiesisch ist stillos in dieser Umgebung, er ist unmöglich damit.«
Von diesem Tage an ließ sich die Wirtin keine Mühe verdrießen, Grollo Deutsch – das heißt Allgäuischtirolisch – beizubringen. Denn sie wollte durchaus nicht wieder in die Lage kommen, daß ein Durchreisender, der Portugiesisch sprach, fände, daß Grollo absolut nicht zur Zierde ihres Hauses gereiche. Sogar umgetauft wurde er, und es war jedermann streng 148 verboten, ihn fernerhin Grollo zu nennen, er sollte Jockele heißen und als Jockele zur Glorie des Hauses herangezogen werden.
Aber Grollo'n, beziehungsweise Jockele'n fiel es gar nicht ein, offiziell umzulernen. Er blieb widerhaarig, verstockt und zu Zeiten zügellos wie bisher. Sagte man ihm bittend oder gar flehend vor: »Jockele, Jo–cke–le,« so antwortete er süß und schmelzend vor lauter Tücke: »Grollo.«
Manchmal freilich meinte die Wirtin ihn heimlich Deutsch wälschen oder üben zu hören. Kam sie ihm nah, wenn er so in sich hineinredete, so überschüttete er sie mit einer Flut ihr unbekannter Schimpfworte. Stundenlang saß sie bei ihm und lehrte ihn: »Grüß Gott! B'hüt Gott.« Oder summte ihm vor: »Dann gehet leise, nach seiner Weise, der liebe Herrgott durch den Wald« –
Grollo hörte höflich zu (sie gab gern Nüsse und Gebäck, wenn er zuhörte); hatte sie geendet, machte er ein Kompliment und hielt den Kopf hin zur Belohnung, damit sie ihn krauen möge. Soweit waren die beiden, Grollo, alias Jockele, und die Wirtin schon gute Freunde geworden, er konnte sogar zärtlich sein, denn er liebte Frauen. So fuhr er ihr mit dem dicken 149 Schnabel durchs Haar und versuchte sie sogar zu küssen.
Dafür durfte er auch hier und da frei in der Stube herumlaufen. Soweit wäre alles schön und gut gewesen, und die Wirtin hoffte immer noch, den weltlichen und lärmenden Grollo in ein frommes, braves Jockele umwandeln zu können. Doch Grollo-Jockele hielt aller Mühe seinen liebenswürdigen Eigensinn entgegen und setzte an stillen Sonntagen stets seine lautesten Kunststücke in Szene:
»Alice! pst! pst! – Kora! – – Kora! pf! pf! – Hähähä, hähähä!« und so weiter und so fort.
Er wollte Brasilianer sein und bleiben. Bis auch sein Damaskus kam. Und das ging so zu.
Grollo-Jockele hatte im Haus einen Nebenbuhler, mit dem er alle Liebe und Zärtlichkeit teilen mußte und den er mit wütender Eifersucht haßte; das war der wunderschöne rote Angorakater Waudele.
Sobald Grollo ihn nur von weitem sah, rannte er wie besessen an die Stäbe seines Käfigs und versuchte auf den Kater einzuhacken. Waudele dagegen tat, als gewahre er Grollo'n nicht, legte sich sogar dicht bei seinem goldenen Haus nieder, freilich nicht ohne von Zeit zu Zeit einen stechenden Blick aus seinen 150 grüngelben Schlitzaugen nach dem exotischen Vogel zu werfen. Einmal war es sogar passiert, daß der arge Waudele mit der Pfote blitzschnell durch die Stäbe des Käfigs fuhr und zwar nicht den stolzen Grollo selbst, wohl aber zwei seiner farbenprächtigen Schwanzfedern erwischte.
Grollo erhub ein solches Wehgeschrei, ganz wie wenn der Schwanz mitsamt einem Teil seines Leibes dahin wäre, daß das ganze Haus zusammenlief und der wunderschöne Kater mit Schimpf und Schande aus der Stube gejagt, der blessierte Grollo aber geliebt und gehätschelt wurde wie nie.
Außerdem wurde dem schönen Waudele auf seinen frechen und heimtückischen Überfall hin das Wirtszimmer auf immer verboten. Näherte er sich nur von weitem, schrie alles: »Ksch! ksch!« und jagte den Kater mit Händeklatschen und bösen Drohungen weg. Er wurde nur mehr an dunklen Orten, in den hintersten Ecken der Gänge, in der Küche, wo er sich demütig an den Röcken der Mägde zu reiben versuchte, gehätschelt, und das nur flüchtig und ängstlich, gerade, wie wenn Grollo-Jockele die Liebkosung als Demonstration auffassen und sie höllisch übelnehmen könnte.
Grollo triumphierte. Nicht nur, daß der mörderische 151 Kater aus seinem Bereiche verbannt war, er selbst durfte nun aus seinem Käfig heraus und in all seiner Pracht (leider fehlten die von Waudele herausgerissenen Schwanzfedern in Grün und Blau) im Zimmer herumspazieren. Dieses Zimmer haßte er aber noch immer gründlich, wie er seine ganze Umgebung haßte, mit Ausnahme der blonden Wirtin mit dem Madonnenscheitel, zu der er eine gewisse gönnerhafte Zuneigung gefaßt hatte.
Sein ganzer Traum und sein Sehnen blieb Brasilien; er lebte quasi gar nicht hier, sondern immer in der vornehmen Pension, wo die schönen jungen Damen und Kavaliere sich auch gewiß nach ihm sehnten.
Als eines hellen Sonntags das Fenster der Stube auf war und draußen die grünen Bäume winkten, faßte Grollo den Entschluß, nach Brasilien auszuwandern, einen Entschluß, dem er sofort die Tat folgen ließ.
Schon saß er auf dem Fensterbrett, mit einiger Energie auf der Mauer, ein kurzer Flug, – ach wie schwer und ungewohnt! – quer über die grüne Wiese in den Wald, und Grollo war in Freiheit!
Er watschelte vorerst unter den Bäumen herum, lachte und schäkerte vor sich hin und fand es 152 überaus unterhaltend, sich die Gegend dieses barbarischen Landes noch einmal genau anzusehen, ehe er die große Reise übers Meer antrat.
Er amüsierte sich außerordentlich und beobachtete von einem Baume aus, welchen Tumult seine Abwesenheit hervorrief. Er hohnlachte geradezu. Ja, nun sollten sie suchen und rennen und schreien und weinen, nun war es vorbei, ihn erwischten sie nimmermehr!
Prost Mahlzeit! Mit einem hatte er nicht gerechnet, und der setzte eben zum Sprung an. Grollo stieß einen heiseren Schrei aus, einen Schrei um Hilfe, einen Schrei der Todesangst! Der böse Feind, der rote Kater Waudele hatte ihn in den Krallen! Aus tiefster Not schrie er dreimal laut und deutlich:
»Jockele! Jockele! Jockele!«
Und siehe da, der blonde Madonnenscheitel der Wirtin neigte sich über ihn, und als ihn die Zärtliche, armselig, zitternd und zerzaust wie er war, an ihr Herz nahm, war aus dem Brasilianer ein Deutscher, aus Grollo ein Jockele, aus dem stolzen Vogel ein kläglicher Klumpen geworden.
Jedermann kann ihn nun in Augenschein nehmen, wie er, gerade nicht mehr glänzend anzusehen, brav und sittsam im Käfig sitzt und: »Jockele brav! Jockele 153 lieb!« schreit oder sanft, mit niedergeschlagenen Augen, flötet:
»Dann gehet leise, nach seiner Weise,
Der liebe Herrgott durch den Wald.«
Es kann allerdings nicht verschwiegen werden, daß er von Zeit zu Zeit böse Anwandlungen hat, Gesichte aus früheren Tagen. Dann spektakuliert er, daß es ein Graus ist, schäkert, brüllt und tobt, die Sektpfropfen müssen knallen, und meckernd schreit er: »Alice! hä! hä! Kora! pst! ksch! ksch!« bis die Herrin mit geröteten Wangen herbeieilt und den ekstatischen und rückfälligen Vogel mit einem dicken schwarzen Tuche bedeckt.
Dann wird er allmählich ruhiger und geht in sich, es ist doch mehr ein vorübergehender schwerer, traumhafter Zustand. Grollo ist und bleibt trotzdem im Grunde das brave, deutsche Jockele, bieder, folgsam und fromm, ganz im Gegenteil zur Dame Alice, die wohl auch zerrauft und der Schönheit beraubt aus dem Modebad zurückgekehrt ist und im alten Wirtshause nächtigen wollte, sich aber durchaus nicht als folgsam, bieder und fromm erwies, sondern sich so unflätig aufführte, daß sie mitsamt ihren 154 verdreckten und zerfetzten Staatskleidern vor die Tür gesetzt wurde.
Als sich die Katastrophe mit Fräulein Alice ereignete, dachte die Wirtin, – sie wußte wiederum nicht warum – an den jungen Schiffsarzt.
Von der brasilianischen Tante und ihrer vornehmen Pension sprach sie von diesem Tage an nicht mehr. Desto mehr liebte sie Jockele – Grollo versinke! – das brave, zerzauste, folgsame Jockele: »Jockele brav! Jockele brav!« das so fromm flöten konnte:
»Dann gehet leise, nach seiner Weise,
Der liebe Herrgott durch den Wald.« 155