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263 An dem schweren eisernen Tor der Villa Lohberg ging das Schäferstündchen, unbeirrt durch des lahmen Statisten Flucht, seinen Gang weiter.
Daß die Line in ihrem angeborenen starken Sittlichkeitsgefühl das Tor »unentwegt« geschlossen hielt, verdroß den Fritzl über alle Maßen. Er war durchaus nicht veranlagt, hier Pyramus und Thisbe zu spielen, besonders wenn ein Schlüssel da war, den noch dazu und schmählicher Weise dieses weiß beunterrockte weibliche Wesen in der Hand hielt. Jede irgend mögliche sonstige Annäherung verwehrte das tückisch gewundene Gitter. Hatte er einmal glücklich die Hand durch und glaubte die Line zu fassen, so blieb er gewiß stecken und weh tat's noch obendrein. Kriegte er den Arm frei, so entschwebte die Line. »Ach, Monsieur Glocke, ich bitte schön, machen Sie mir keine handgreiflichen Liebeserklärungen! Es geht nicht. Freilich, die Liebe! Sie kommt und sie ist da, und wir können nichts machen, wenn sie groß und echt ist. Aber ich 264 darf Sie definitiv nicht immer so anhören, wenn's auch heimlich ist! Nein! nein! –! rühren Sie mich nicht an! Es ist sündhaft! Ach ich liebe Sie, aber ich habe mir geschworen, standhaft zu bleiben! Ich bringe ja dieser Liebe Opfer, wie Sie wissen, ich könnte alles opfern, aber das Rosinerl hat Sie schon dreiviertel in Besitz, es geht nicht an.«
»Aber Schatz, Lini, ich hab ja nur dich gern,« sagte der Fritzl, indem er verzweifelte Anstrengungen machte, nach der Line zu haschen. »Es gibt ja Augenblicke, wo ich wünsch, dieselbige, noch nicht ganz anverlobte Braut und ihren Alten möcht der Teufel holen! Aber Sie, Angebetete, geben Sie doch den Schlüssel her! Nein? Stellen Sie sich doch net so! Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihrer Gnädigen! Der Herr Kaplan hat gewiß einen Schlüssel, Sie brauchen gar nicht »Pfui« zu schreien. Jetzt gibst ihn her, gleich gibst ihn her! Nein? Also nicht, und da wird dir so manches entgehen, der Schaden kommt auf dein Haupt! – Was ich sagen wollt': ich hab doch ein schönes Geschäft.«
»Ein schönes Geschäft,« hauchte die Line.
»Und eine schöne Hypothek drauf.«
»Eine schöne Hypothek drauf,« sagte bewundernd die Line.
»Da muß ich nach Geld heiraten.«
265 »Nach Geld heiraten,« echote die Line.
»Wieviel haben denn Sie eigentlich, am meisten Geliebte?«
»Ach, reden wir nicht davon, aber ich bin bereit, alles für dich zu opfern, wenn nur dieser Hemmschuh, das Rosinerl – ich liebe dich ja allzusehr!«
Sie fing an zu schluchzen und preßte sich gegen das Gitter, daß nicht nur die früher verleugnete und nur verschämt zur Schau getragene Brust, sondern auch die drallen Backen sich zwischen den Verzierungen herausdrängten, und der Fritzl eifrig bemüht war, etwas von diesen Herrlichkeiten zu erobern. Doch stets waren die gebogenen Eisen dazwischen, immer legten sich stachlige Kanten vor. Er maß die Entfernung, die Höhe des Gitters, soweit es ihm die Nacht erlaubte, auf einmal machte er einen Satz in die Höhe:
»Nicht! nicht!« kreischte die Line, »das gehört sich nicht! Das darf man nicht tun! Ich will keusch bleiben!«
»Von mir aus!« schrie der Fritzl wütend, und: »Da! da!« schrie die Line entgegen, warf blitzschnell ein Paket über das Gitter und flog sofort spornstreichs den Kiesweg hinunter. Schnell bückte sich der Fritzl, öffnete und erkannte im Licht eines Schwedischen einen feinen, weichen, 266 grauen Filzhut, den er sich schon lange gewünscht. Ohne viel Umstände drehte er sein Wunschhütlein zusammen, stopfte es in eine Tasche und setzte den vornehmen Grauen schief aufs linke Ohr. So ging er pfeifend der Stadt zu, ein Eroberer, ein Held, und voller Schadenfreude des Maxl gedenkend. –
Als er bei seiner Wohnung angelangt war, bemerkte er, daß nebenan im »Salon« seiner Frau Mama noch Licht brannte. In der übermütigen Stimmung, in die er durch den Grauen versetzt worden war, juckte es ihn, sich einmal wieder an der Stätte seiner Geburt umzusehen. Die Alte hatte vergessen, die Vorhänge zu schließen, so konnte er hineinschauen. Da lag sie im Bett, wie ein hilflos auseinander gegangener und zugleich zäher Teig, der allerlei unerwartete und unmotivierte Blasen macht. Neben dem Bett saß weiß Gott jene zweite, zum Verwechseln ähnliche Mutter Glocke, allerdings jüngere Ausgabe, aber täuschend ähnlich. Dieselben Wülste unter den Augen, dieselbe Unterscheidungslosigkeit zwischen Brust und Leib, dieselbe Zerflossenheit. – Er wäre gern gleich vom Fenster weg und nach Hause gegangen, wenn ihn nicht etwas gehalten hätte. In der Sofaecke – die alte Kanaille hatte jetzt ein Sofa! – 267 schlummerte etwas, das nur ganz traumhaft die weitausholenden Formen der andern andeutete und kleine süße Wülstchen unter den Augen hatte, fast wie ein Kind, das sich müde geweint hatte. Ein kleines, rundes, liebes und ein wenig trauriges Gesicht unter einem Wust von krausem hellbräunlichem Haar, – – und eine Haut, eine Haut wie Elfenbein, genau wie man ihm die Haut seiner unbekannten weiland Schwester, der verehelichten Frau Wischnofsky, Schweinezüchtersgattin in Ungarn, beschrieben.
Mit einem Ruck schob der Fritzl den weichen, grauen, neuen Filz vom linken aufs rechte Ohr, fingerte an seinem Kragen herum – zum Teufel, schließlich gehörte er auch zur Familie, und war's eine ungewöhnliche Zeit und eine Ueberraschung, er liebte eben ungewöhnliche Zeiten und Ueberraschungen. – Das Geheimnis des Schlosses kannte er noch von seiner Jugend her und mit einem jovialen: »Guten Abend, Mama!« trat er in den Familienkreis ein.
Am andern Morgen in aller Frühe drängte es ihn heftig, beim alten Mahn vorbeizugehen. Das Rosinchen stand unter der Ladentüre und bemerkte ihn nicht. Besonders geistreich sah es nicht aus. Es ließ die Unterlippe hängen, hielt die Hände im Rücken gefaltet und schaute mit 268 mächtig weit herausgedrehten Augen die Gasse hinab.
»Guten Morgen, Schneckerl,« sagte der Fritzl und lüftete den Grauen.
Natürlich fiel des Rosinchens Blick sofort auf ihn.
»Wo is der her?« inquirierte es.
Der Fritzl sah triumphierend nach ihr: »Von der Kravattenspenderin.«
»Was? Wer is des? – Und so was setzscht du am Werktag auf? Warum bischde überhaupt nit im Geschäft? Wer hat d'r de Hut gewe? Jetz sag's auf der Stell!«
»O nein, ich sag das nicht. Im Geschäft bin ich nicht, weil meine Schwester, die Frau Großhändler Wischnofsky mit ihrer Fräulein Tochter, etwas leidend, hier zu Besuch ist, ich werde die Damen auf einem Spaziergang begleiten.«
»Du wirscht se doch nit zu uns bringe?«
»Als was könnt ich denn da kommen, Geliebte meiner Seele? Nana, so tun mir net. Ist erst die Frage, ob meine Familie was von dir wissen will, bild dir net allzuviel ein, Tochter Aarons!« drehte sich auf dem Absatz herum, schwenkte recht leutselig den grauen Hut und stieg wie ein kleiner Triumphator die Girgengaß hinunter.
269 Nur einen kurzen Augenblick stand das Rosinchen perplex, dann fing alles in ihm zu rumoren an, wie wenn Zündstoff in ein Pulverfaß fliegt. Es vergaß den Laden, es dachte nicht mehr daran, daß es Hausschuhe mit ganz krumm getretenen Absätzen anhatte, es fingerte nur schnell seinen alten Hut herunter, riß den Knicker an sich und lief, was es nur konnte, der Villa Lohberg zu.
Als es in eiligem Wackellauf, einer verfolgten Ente nicht unähnlich, dort ankam, wurde gerade das Gitter geöffnet. Ein Gärtnerbursche harkte die Wege, der gestrige Regen lag noch auf den Beeten, und schwere Tropfen fielen aus den Sträuchern. Auf der Terrasse in der Morgensonne stand ein gedeckter Frühstückstisch, und durch die offene Türe sah das Rosinchen eben die Line verschwinden.
Spornstreichs lief es an dem verdutzten Gärtnerburschen vorbei, quer über den nassen Rasen, stieg keuchend die Stufen zur Terrasse hinauf, überquerte dort die roten Läufer, überall schmutzige Spuren zurücklassend, und stand plötzlich nach Luft schnappend, im Salon der ganz fassungslosen Line gegenüber, die vor der drohenden Haltung der kleinen kriegerischen Person immer mehr in den Hintergrund rückte. Aber das Rosinchen rückte kampfbereit nach, es wußte, was 270 es wollte, und es brachte seinen Willen nachdrücklich zur Geltung.
Als die Line nicht mehr weiter zurückweichen konnte und sie sich ganz nahe gegenüberstanden, hatte das Rosinchen seinen Atem wiedergefunden:
»Hascht du dem Glocke (es sagte nicht dem Fritzl!) die rot Kravatt' mit dene weiße Tuppe gewe? – –«
»Hascht du dem Glocke Goldfüchs' angehängt? – –«
»Hascht du dem Glocke en weiche helle Filzhut gewe, gewiß siebe oder acht Mark wert?«
Die Line stand mit gefalteten Händen da, dicke Tränen sammelten sich in ihren Augen und liefen über ihre Wangen herab. So war's recht, das war wieder die demütige Line von früher, die Sklavin – –
»Rosinerl,« stammelte sie, »ja, ja, ja, – ich bin diese Elende, verzeih mir! Wüßtest du dich in mich zu versetzen, ich hab ja nicht anders [gekonnt. Wenn die Liebe ins Spiel kommt, weißt du,] was das ist? Wenn du wirklich liebst, mußt du das wissen. Alles könnt' ich für ihn tun, es ist meine Bestimmung. Aber du, sei nicht so hart, sei nicht unbarmherzig, denke nicht schlecht – oh Gott, nein! Ich schwöre dir's, ich bin rein – ich habe Grundsätze. Schone mich, es ist die Liebe, und es kommt ja nur darauf an, wen er 271 am meisten liebt« – (beinahe wäre die Line in die Knie gesunken).
»Esel!« schrie das Rosinchen empört, »aufs Geld kommt's an. Der pfeift dir auf dein Lieb mit deine paar Grosche! Werf se auf de hinkende Maxl, da brauchscht dich nimmer so gemein aufzuführe und der beste Freundin den Bräutigam abzufange! Pfui Teufel! Schäm' dich!«
Und in einer Aufwallung zorniger Verachtung stieß sie der Line den grünseidenen Knicker in den Busen, daß die Fransen wie wahnsinnig tanzten. Es war ihr eine Wollust, mit der Spitze des Schirmchens in dies weiche nachgiebige Fleisch zu stoßen und ehrlich verachtend dabei zu rufen: »Pfui Teufel, schämst du dich nit? Nit ämal ä Korsett hascht an, du, mit deiner Schamhaftigkeit!«
Regungslos wie eine Märtyrerin hielt die Line auch dem letzten »Stich« mit dem Knicker stand und schaute entgeistert der wackelnden Silhouette des Rosinchens nach, das auf demselben Weg verschwand, auf dem es gekommen, verfolgt von dem aufgeregten Gärtnerburschen und einer großen grauen Dogge.