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Vater und Mutter

Den Erinnerungen an meine Kindheit mag ein abschließendes Wort über Vater und Mutter folgen. »Waren sie glücklich? – Wer ist glücklich?« Ich habe von Stunden gemeinsamer, erfolgreicher Arbeit und Hoffnung erzählt, und zuletzt ist ja doch gemeinsame Arbeit und gemeinsames Hoffen auf die Dauer das einzige Band, das Menschen selbst in Liebe zu binden vermag. Auch an schweren und schwersten Stunden hat es nicht gefehlt. Not und Sorge machen wund und reizbar, und Vater war immer eine überaus leidenschaftliche Natur. Ich kann nie am Goldfischteich im Tiergarten vorübergehen, ohne an manche Stunden zu denken, in denen ich hier sorglos spielte und nur erschrocken aufsah, wenn ich Mutters stilles Weinen hörte, die mich mitten aus der Arbeit hierhergeführt hatte und nun auf einer Bank schluchzend saß. Auf meine Fragen antwortete sie nicht, sondern strich nur zitternd mein Haar. Das mögen wohl Ausklänge dunkler Stunden gewesen sein. Aber sie waren in der Rosenthaler Straße trotz aller Not doch selten.

Viel schwerer wurden die Verhältnisse, als Vater die Werkstatt aufgab und bald auch die Hobelbank verkaufen mußte, weil die Arbeit auf ihr nicht so viel einbrachte, wie die Miete für ihren Stand verlangte. Da habe ich, freilich in jener Zeit unbewußt, den geradezu entscheidenden Wert eines Gartens auch für das Familienleben im Alter erkannt. Als wir in Neu-Weißensee unseren Garten besaßen, fand Vater erfreuliche, fruchtbare Arbeit in Hülle und Fülle – aber was wollte er tun in der engen Stadtwohnung von Zimmer und Küche? Es war eine Verdammnis zum Müßiggang, die ihn je länger je mehr quälen und reizen mußte. Und wie Mutter darunter litt, zeigt ihr bitteres Wort, das ich allerdings zunächst nicht verstand: »Junge, merke dir für dein ganzes Leben, gib nie deine Arbeit aus der Hand! Keine Frau kann einen Mann achten und lieben, der den ganzen Tag nichts tut!« Es war natürlich eine vorübergehende Gefühlsaufwallung; aber wer sich die Zusammenhänge klarmacht, erkennt, aus welchen Tiefen ein solch gefährliches Gefühl aufwallen kann und welch unendlicher Segen eine Heimstätte mit seiner Haus- und Garten-Arbeitsmöglichkeit für den Lebensabend Unzähligen bieten würde!

Wir Kinder durften bei Tisch nie über das Essen sprechen, und wer von uns etwa versuchte, das ihm Aufgefüllte ganz oder zum Teil stehenzulassen, der lernte, durch Erfahrung gewitzigt, bald das Abessen, wenn er den Rest dann am Abend oder noch am nächsten Tage vorgesetzt erhielt, bis alles von ihm aufgegessen worden war. Das einzige tadelnde Wort hörten wir von Vater bei Tisch, wenn ihm das Essen nicht heiß genug war. Ob dieses Verzehren ganz heißer Speisen die Ursache seines Magenleidens wurde oder ob schon eine Anlage zu diesem in ihm das Verlangen nach besonders heißen Speisen weckte, weiß ich nicht. Nach mancherlei Behandlungen in seiner späteren Krankheit blieb kein Zweifel: sein Leiden war Magenkrebs. Auch hier zeigte sich seine ungeheure Willenskraft. Der Arzt, der ihn monatelang behandelte, sagte mir einst: »Ich habe Ihren Vater heute auf der Belle-Alliance-Brücke getroffen; ich dachte, ich sehe ein Gespenst. Wissenschaftlich muß er schon lange tot sein.« Aus dieser letzten Krankheit Vaters steigt eine Erinnerung immer wieder in mir quälend auf. Ich hatte ihm Eisbonbons mitgebracht und war hocherfreut, als er mir sagte: »Junge, das hat mir wohlgetan; bringe mir doch von diesen morgen noch ein paar!« Nun hatte ich sie aber von weither mitgebracht. Am nächsten Tag hatte ich wichtige Angelegenheiten (was man im Dienst des Tages für wichtig hält!) in einer anderen Stadtgegend zu erledigen. Ich sah mich hier vergeblich nach dieser Art Eisbonbons um und nahm endlich andere von noch besserer Qualität, wie man mir sagte. Vater war etwas enttäuscht. Es war gewiß nur Einbildung, daß er sich von denen, die ihm gestern wohlgetan, etwas Besonderes versprach; aber diese Einbildung hätte ihm eine glückliche Minute bereitet. Gutmachen konnte ich es nicht, denn wenige Tage darauf erlöste ihn der Tod – am 30. Juni 1890.

Nun war ich mit Mutter allein. Ich dachte oft darüber nach, wie ich ihr Freude bereiten und etwas von dem, was mir in jener Zeit schön und groß zu sein schien, mitteilen könnte. Aber sie lehnte in den meisten Fällen müde ab: »Früher hätte es mir vielleicht auch Freude gemacht – aber jetzt – laß mich, das Leben macht so müde.« Meinem vielgeschäftigen Treiben sah sie kopfschüttelnd zu und warnte wohl: »Junge, du wirst auch noch dahin kommen, daß du dich fragst, ob das Leben überhaupt wert ist, daß man sich so in ihm müht!«

Zuweilen kamen Stunden, in denen sie um ganz kleiner Ursachen willen außerordentlich heftig werden konnte. Ich kannte in jener Zeit einen Doktor M., der mit seiner Mutter, der Witwe eines bekannten Künstlers, zusammenlebte und der mir klagte, daß seine Mutter ihm Auftritte bereite, denen er völlig verständnislos gegenüberstehe. Nach dem Tode ließ er sie sezieren. Da fand sich die Erklärung in irgendeinem krankhaften Auswuchs im Gehirn. Ich erklärte viel unbegründete Heftigkeitsausbrüche Mutters ähnlich und bat sie, doch einmal den Arzt zu Rate zu ziehen. Sie sagte, sie hätte auch schon gefürchtet, zuckerkrank zu sein, da sie an unstillbarem Durst litte. Sie hätte auch einen Arzt gefragt, der aber hätte sie lachend getröstet: »Ich wünschte, ich wäre so gesund wie Sie!«

Bald aber bildete sich eine Wunde am Fuß. Sie verbarg es vor mir. Aber als wir einmal vom Grabe des Vaters kamen und über das große Tempelhofer Feld gingen, konnte sie plötzlich nicht weiter. Ich erzwang eine ärztliche Behandlung. Es war zu spät. Das Übel wurde immer schlimmer, und endlich riet der Arzt, sie in ein Krankenhaus zu bringen. Es war ein böser Tag, als ich von einem Krankenhaus zum andern fuhr und überall abgewiesen wurde: »Alles besetzt!« Zuletzt blieb nur die Charitè. Mutter, die als alte Krankenpflegerin ja etwas verstand, war mit ihrer Pflege sehr zufrieden. Ich habe natürlich jede Besuchszeit hindurch an ihrem Bett gesessen. Und wenn sie dann meine Hand streichelte und sagte: »Junge, glaube, du bist ein guter Junge!« so haben diese leisen Worte durch die Jahrzehnte ihren Klang nicht verloren. Der Fuß wurde abgenommen – auch das rettete sie nicht mehr. Sie starb an Zuckerharnruhr am 17. Juli 1893. –

Wieviel gäbe man darum, könnte man Vater und Mutter noch einmal später, wenn uns das Verständnis des Lebens aufgegangen ist, liebhaben und ihnen danken für alles, was sie an uns getan haben. Wer sich ein wenig umsieht, weiß, was es allein bedeutet, daß sie uns einen gesunden Leib und einen gesunden Geist auf den Weg ins Leben mitgegeben haben!

Vater hatte Mutter natürlich zur alleinigen Erbin eingesetzt. Als sie starb, ergab sich, daß das ganze Vermögen der Eltern 16 000 Mark betrug, eine Summe, die trotz ihrer Kleinheit groß war, wenn man weiß, wie sie zusammengetragen war: eine Mark zur andern erarbeitet und entbehrt, damit den Kindern die Bahn des Lebens leichter werde! Und doch, wie wünschte ich, sie hätten es nicht in diesem Maße getan; sie hätten davon ein paar tausend Mark genommen, um das eigene Leben mit mehr Licht und Wärme zu erfüllen!

Kinderliebe? Wer löst das große Lebensrätsel? Den Kindern erscheint es selbstverständlich, daß die Eltern für sie arbeiten und sorgen – daß sie dann ihre Wege gehen, ihre Sorgen haben und nur so nebenbei etwas Zeit und Kraft übrigbleibt, sich in die Gedanken, in die Wünsche, in das Leben der alternden Eltern hineinzuversetzen. Das wird für jeden ernsten Menschen zu quälenden Fragen über sich, über seine Kinder – bis im reifen Alter eine Art Lösung kommt. Die Liebe, die wir den Eltern nicht zurückerstattet haben, müssen wir an unsere Kinder weitergeben. Diese müssen dann wohl im wesentlichen dieselben Wege gehen, wie wir sie gegangen sind. Auch sie werden wohl erst, wenn sie einst selber Kinder haben, in voller Deutlichkeit empfinden, was auch ihnen Elternliebe einst gab, und sie müssen dann, was sie uns nicht wiedergaben, ihren Kindern weiterreichen, so daß doch im großen Zusammenhang der Geschlechter Liebe und Recht zu harmonischem Ausklang kommen.


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