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Niemals in den zwanzig Jahren, die sie nun schon in Montrouge verlebt hatten, war Sigismund Planus so lange ausgeblieben, ohne seine Schwester davon zu benachrichtigen. Mademoiselle Planus befand sich daher in großer Sorge. Da sie mit dem Bruder ein Herz und eine Seele war und alle seine Interessen teilte, hatte sie auch monatelang die Sorgen und Befürchtungen des alten Kassierers so treulich mitgetragen, daß ihr davon eine große Erregbarkeit und Aengstlichkeit zurückgeblieben waren. Sobald Sigismund sich im geringsten verspätete, dachte sie: »Wenn nur um Gottes willen in der Fabrik nichts passiert ist!«
Darum saß denn auch Mademoiselle Planus diesen Abend, nachdem das Geflügel im Hühnerstall eingesperrt und das Mittagessen unberührt abgetragen war, aufgeregt wartend in ihrer kleinen Wohnstube.
Endlich, gegen elf Uhr, wurde geklingelt; aber es war ein schüchterner, wehmütiger Ton, der nicht von Sigismunds kräftigem Handgriff herzurühren schien.
»Bist du's, Monsieur Planus?« fragte das alte Fräulein von der Freitreppe aus.
Er war es; aber er kam nicht allein . . . ein großer Mann, dessen Gestalt vor Alter gebeugt war, und der beim Eintreten mit langsam-matter Stimme guten Abend sagte, begleitete ihn. Nun erst erkannte Mademoiselle Planus ihren Freund Risler, den sie zuletzt bei der Neujahrsgratulation gesehen hatte, also mehrere Wochen vor den unglücklichen Vorgängen in der Fabrik. Sie war bei seinem Anblick kaum im stande einen Ausruf der Teilnahme zu unterdrücken, aber das ernste Schweigen der beiden Männer sagte ihr, daß auch sie schweigen müsse.
»Mademoiselle Planus, liebe Schwester, du wirst die Güte haben, mein Bett frisch zu überziehen. Unser Freund Risler will uns die Ehre erzeigen, diese Nacht bei uns zu schlafen.«
Die alte Dame beeilte sich, das Schlafzimmer mit beinah zärtlicher Sorgfalt instandzusetzen, denn außer »Monsieur Planus, meinem Bruder« war Risler, wie wir wissen, der Einzige, den sie von der allgemeinen Verurteilung des Männergeschlechtes ausnahm.
Beim Verlassen des Café chantant hatte sich Sidoniens Gatte in einer entsetzlichen Aufregung befunden; sein ganzer Körper bebte, während er am Arme des Freundes hinschritt, und vom Abholen des Päckchens in Montrouge war nicht mehr die Rede.
»Geh, laß mich!« sagte er zu Sigismund Planus; »ich muß allein sein!«
Aber Planus fand es unmöglich, ihn seiner Verzweiflung zu überlassen. Ohne daß es Risler bemerkte, führte er ihn aus der Nähe der Fabrik hinweg, und der Instinkt seines Herzens sagte dem alten Kassierer, von welchem Thema er mit seinem Freunde sprechen müsse. Während des ganzen Weges hatte er ihm unablässig von Franz erzählt, seinem kleinen Franz, der ihm so herzlich gut war.
Ja, das war Liebe – wirkliche, treue Liebe! von einem Herzen wie dies ist kein Verrat zu fürchten . . .
Während ihm Planus so zuredete, hatten sie das geräuschvolle Centrum der Stadt verlassen, gingen die Quais entlang, kamen am Jardin des Plantes vorüber und durchwanderten das Faubourg Saint Marceau. Risler ließ sich fortziehen; die Worte des Freundes thaten ihm so wohl!
Sie kamen in die Nähe der Bièvre, an deren Ufer Lohgerbereien mit großen Trockengerüsten liegen, welche zwischen ihrem Gitterwerk regelmäßige Streifen des dunkelblauen Himmels sehen lassen. Dann gingen sie über die weitgedehnte Ebene von Montsouris, ein wüstes Gebiet, das der heiße Atem der Pariser Arbeit versengt, wie der Hauch eines Drachen, dessen feuerspeiender Schlund im weiten Umkreis jede Vegetation zu Grunde richtet.
Von Montsouris bis zu den Festungswerken von Montrouge ist nur ein Schritt, und als sie einmal dort waren, fiel es Planus nicht schwer, seinen Freund zum weiteren Mitgehen zu bestimmen. Er dachte mit Recht, daß der Anblick seiner friedlichen Häuslichkeit, des freundlichen, innigen Verhältnisses zwischen ihm und seiner Schwester, dem Herzen des Gequälten einen Vorgeschmack des Glückes geben würde, das ihm im Zusammenleben mit seinem geliebten Franz bevorstand. Und sie waren wirklich kaum eingetreten, als sich der wohlthätige Einfluß des stillen, kleinen Hauses schon bemerkbar machte.
»Ja, ja, du hast recht, alter Freund!« sagte Risler, während er mit großen Schritten in dem niedrigen Eßzimmer auf und ab ging; »ich darf mich um diese Frau nicht mehr grämen, nicht mehr an sie denken . . . sie muß von nun an tot für mich sein. Ich habe nichts mehr auf Erden als meinen Franz. Ob ich ihn wieder herkommen lasse, oder ob ich zu ihm gehe, weiß ich noch nicht – jedenfalls aber werden wir wieder zusammen sein. Ich habe mich immer so sehr nach einem Sohne gesehnt; er soll mein Sohn sein, einen andern wünsche ich mir gar nicht. Wenn ich bedenke, daß ich ernstlich an den Tod gedacht habe! . . . Nichts mehr davon . . . jene Frau würde sich ja nur darüber freuen! . . . Im Gegenteil, ich will leben . . . mit meinem Franz und für ihn allein.«
»Bravo!« rief Sigismund; »so wollte ich dich haben.«
In diesem Augenblick erschien Mademoiselle Planus, um zu sagen, daß das Zimmer bereit sei.
Risler entschuldigte sich, daß er sie belästigt habe.
»Sie leben hier so glücklich, so behaglich miteinander . . . es ist unrecht, Ihnen mit meiner Traurigkeit beschwerlich zu fallen.«
»Lieber Freund, du kannst dir ja, sobald du nur willst, ein eben solches Glück schaffen,« antwortete der wackere Sigismund mit strahlendem Gesicht. »Ich habe meine Schwester, du hast deinen Bruder . . . was fehlt uns noch?«
Ein schwaches Lächeln glitt über Rislers Züge; im Geiste sah er sich schon mit Franz in einem ebenso stillen, quäkerhaft einfachen Häuschen, wie dieses war.
Vater Planus hatte jedenfalls einen glücklichen Einfall gehabt.
»Komm, lege dich nieder,« sagte er mit triumphierender Miene: »ich will dich in dein Zimmer führen.«
Es war das Schlafzimmer Sigismunds, ein großes, einfach möbliertes Gemach im Erdgeschoß, mit Kattunvorhängen an Bett und Fenstern und kleinen Teppichvorlagen vor jedem Stuhle auf dem blankgebohnten Backsteinfußboden. Selbst die alte Madame Fromont hätte an der Ordnung und Reinlichkeit des Zimmers nichts auszusetzen vermocht. Auf einem Bücherbrette standen ein »Handbuch für Fischer«, ein »Koch- und Wirtschaftsbuch für Hausfrauen auf dem Lande« und Barèmes »Hilfsbuch beim Rechnen«; das waren die gesamten geistigen Schätze der Wohnung.
Vater Planus sah mit stolzer Befriedigung umher; alles stand auf dem richtigen Platze. Das Glas Wasser auf dem Tische von Nußbaumholz, der Rasierkasten auf dem Waschtische.
»Du siehst, Risler, es ist alles da . . . übrigens, wenn dir irgend etwas fehlen sollte . . . die Schlüssel stecken überall . . . du brauchst nur aufzuschließen. Und sieh nur, welche schöne Aussicht wir haben . . . In diesem Augenblick ist es freilich etwas dunkel; aber morgen früh beim Aufstehen wirst du dich davon überzeugen . . . es ist geradezu herrlich.«
Er öffnete das Fenster; eben begannen schwere Regentropfen zu fallen, und die Blitze, die hin und wieder das Dunkel zerrissen, zeigten die weitgedehnte Linie der Böschungen, die regelmäßig verteilten Telegraphenstangen, ab und zu das Thor einer Kasematte und von Zeit zu Zeit verriet der schwere Schritt einer Patrouille, das Klirren eines Gewehres, das Rasseln eines Säbels, daß man sich hier inmitten der Festungswerke befand. Sie bildeten die von Planus gepriesene Aussicht – eine der traurigsten, die sich denken läßt.
»Nun sage ich dir gute Nacht . . . schlaf recht wohl.«
Aber im Augenblick, als der alte Kassierer hinausgehen wollte, rief ihn sein Freund zurück.
»Sigismund!«
»Zu Befehl!« sagte der wackere Mann, indem er wartend stehen blieb.
Risler errötete flüchtig, bewegte die Lippen, als ob er etwas sagen wollte, aber mit großer Anstrengung bezwang er sich wieder.
»Nein, nein, nichts mehr! Gute Nacht, lieber, alter Freund.«
Im Eßzimmer saßen Bruder und Schwester noch lange bei einander und unterhielten sich mit leiser Stimme. Planus schilderte den entsetzlichen Vorgang dieses Abends – die Begegnung mit Sidonie, und man kann sich leicht denken, wie oft die Ausrufungen: »Oh, die Weiber!« – »Oh, die Männer!« zu hören waren. Endlich, nachdem noch der Schlüssel der kleinen Gartenthür abgezogen war, stieg Mademoiselle Planus in ihr Schlafgemach hinauf, wahrend sich Sigismund so gut es eben ging, in einem Nebenstübchen einrichtete.
Mitten in der Nacht wurde der Kassierer plötzlich durch seine Schwester geweckt, die ihm halblaut, mit dem Ausdruck des Schreckens zurief: »Monsieur Planus . . . lieber Bruder!«
»Was gibt's denn?«
»Hast du nichts gehört?«
»Nein! . . . was denn?«
»Es war fürchterlich . . . wie ein schwerer Seufzer, ein Stöhnen . . . aber so schwer, so traurig! . . . Es kam von unten, aus deinem Zimmer . . .«
Sie horchten; der Regen fiel in Strömen auf das welke Laub mit jenem eigentümlichen Rauschen, das ein Gefühl der Oede und Verlassenheit durchschauert.
»Es war der Wind!« sagte Planus.
»Nein, nein! der war es nicht . . . still, horch nur!«
Durch das Tosen des Unwetters stieg ein Klagelaut empor . . . ein Schluchzen, dem sich ein halbartikulierter Name entrang: »Franz! Franz!«
Es war unheimlich, jammervoll.
Als der gekreuzigte Christus den verzweifelten Angstschrei: »Eli, eli, lama asabthani« zum schweigenden Himmel emporsandte, mußten die Umstehenden etwas von der abergläubischen Furcht empfinden, die sich plötzlich der lauschenden alten Dame bemächtigte.
»Mir wird bange,« flüsterte sie; »wenn du einmal nachsähest . . .«
»Nein, nein! es ist besser, ihn in Ruhe zu lassen . . . Er denkt an seinen Bruder . . . Armer Mensch! . . . Der Gedanke kann ihn am besten aufrichten.«
Damit schlief der alte Kassierer wieder ein.
Am nächsten Morgen erwachte er wie gewöhnlich, als in den benachbarten Forts die Reveille geschlagen wurde; denn das kleine, von Kasernen umringte Haus richtete seinen Tageslauf nach den Militärsignalen ein. Die Schwester, die bereits aufgestanden war, fütterte die Hühner; als sie Sigismund erblickte, kam sie hastig auf ihn zu.
»Es ist sonderbar,« sagte sie; »in Rislers Zimmer ist kein Geräusch zu hören, obwohl das Fenster weit offen steht.«
Verwundert ging Sigismund an die Thür des Freundes und klopfte an,
»Risler! Risler!«
Sein Ton verriet eine gewisse Aengstlichkeit.
»Risler, bist du da? schläfst du noch?«
Keine Antwort. Er öffnete die Thür.
Es war kalt im Zimmer . . . Die Feuchtigkeit der Nacht mußte hineingedrungen sein. Bei dem ersten Blick auf das Bett sagte sich Planus: »Er hat sich nicht niedergelegt,« denn die Decke war unberührt und allerlei Einzelheiten ließen auf eine Nachtwache voll schmerzlicher Erregung schließen; die rauchende Lampe, deren Auslöschen vergessen, die Wasserflasche, die im Fieberdurst der Schlaflosigkeit geleert war. Was den Kassierer jedoch am meisten erschreckte, war, die Kommodeschublade, in welcher er den Brief und das Päckchen des Freundes verwahrt hatte, weit geöffnet zu finden.
Der Brief lag nicht mehr da: das gleichfalls geöffnete Päckchen enthielt eine Photographie, das Bild Sidoniens als fünfzehnjähriges Mädchen. In ihrem hoch herauf gehenden Kleidchen, mit ihrem in der Mitte gescheitelten Kraushaar, in der linkischen Haltung eines halberwachsenen Kindes hatte die ehemalige kleine Chèbe, das Lehrmädchen der Mademoiselle Le Mire, nur geringe Aehnlichkeit mit der jetzigen Sidonie; gerade darum aber hatte Risler das Bildchen aufbewahrt, nicht als Erinnerung an seine Frau, sondern an die »Kleine«.
Sigismund war tief bestürzt.
»Ich bin schuld . . .« sagte er zu sich selbst; »ich hätte den Schlüssel abziehen sollen. Aber wie konnte ich ahnen, daß er noch immer an sie dachte . . . Wie oft hat er mir zugeschworen, daß diese Frau nicht mehr für ihn existiere.«
In diesem Augenblick trat Mademoiselle Planus mit aufgeregtem Gesicht ins Zimmer.
»Risler ist fort!« stieß sie hervor.
»Fort? war denn die Gartenthür nicht zugeschlossen?«
»Er ist über die Mauer geklettert; die Spuren sind deutlich zu erkennen.«
Ratlos sahen sie sich an.
»Der Brief . . . der Brief hat ihn fortgetrieben,« dachte Planus.
Sicherlich hatte er aus dem Schreiben seiner Frau etwas Unerwartetes erfahren, und um seine Gastfreunde nicht zu stören, war er wie ein Dieb aus dem Fenster gestiegen. Warum aber? zu welchem Zwecke?
»Glaube mir, liebe Schwester,« sagte der arme Planus, indem er sich in großer Hast fertig ankleidete, »glaube mir, das nichtswürdige Weib hat ihm wieder irgend einen Streich gespielt.« Und als ihn das alte Fräulein zu beruhigen suchte, kam der wackere Mann immer wieder auf seinen Lieblingsausdruck zurück.
»Gut steht's gar nicht!« wiederholte er, und sobald er fertig war, eilte er hinaus.
Auf dem durch den Regen der Nacht förmlich durchweichten Erdreich ließen sich Rislers Schritte bis zur Pforte des kleinen Gartens verfolgen. Er mußte schon vor Tagesanbruch gegangen sein, denn den Gemüsebeeten und Blumenrabatten waren in ungleichmäßigen Zwischenräumen tiefe Fußstapfen eingedrückt. An der Mauer im Hintergrunde ließen sich weiße Abschürfungen erkennen, und vom Rande derselben waren einige Steinchen herunter gefallen. Die Geschwister traten auf die Straße hinaus; hier war es aber nicht mehr möglich, seine Spuren zu verfolgen; nur daß er sich der Orleaner Chaussee zugewendet hatte, war noch erkennbar.
»Vielleicht ist's eine Thorheit, daß wir uns ängstigen,« wagte Mademoiselle Planus zu bemerken. »Möglicherweise ist er einfach in die Fabrik gegangen.«
Sigismund schüttelte den Kopf; wenn er gesagt hätte, was er dachte!
»Geh hinein, liebe Schwester; ich werde mich nach ihm umsehen . . .«
Und der alte »Gar nicht gut« eilte fort wie ein Sturmwind, und seine weiße Mähne sträubte sich noch mehr als sonst.
Um diese Stunde war ein reger Verkehr auf der Vorstadtsstraße, ein Kommen und Gehen von Soldaten, Gemüsehändlern, aufziehenden Wachen, Offizierspferden, die spazieren geführt wurden, Marketendern mit ihren Karren, all das Leben und Treiben, das morgens die Forts umdrängt. Planus ging mit großen Schritten durch das Gewühl, plötzlich aber blieb er stehen. Zur Linken, am Fuß der Böschung, vor einem kleinen, viereckigen Gebäude, auf dessen weiß getünchter Wand in großen, schwarzen Buchstaben zu lesen ist: »Stadtbezirk Paris, Eingang der Steinbrüche« bemerkte er einen Auflauf von Soldaten, Zollwächtern, Landstreichern und Leuten in schmutzigen, verschlissenen Arbeitskitteln. Unwillkürlich trat der Alte heran. Auf der steinernen Stufe eines Ausfallthors mit eisernem Gitter saß ein Zollwächter, der mit lebhaften Gebärden etwas zu erklären schien.
»Hier, auf demselben Platze, wo Ihr mich seht, hat er es gethan . . . hat sich im Sitzen erhängt, indem er den Strick fest zugezogen . . . so . . . so! Und es muß ihm mit dem Sterben bitter ernst gewesen sein, denn in seiner Tasche hat man ein Rasiermesser gefunden; wenn ihm der Strick gerissen wäre, hätte er das zu Hilfe genommen.«
»Armer Teufel!« sagte eine Stimme aus der Menge, und eine zweite, zitternde, vor Aufregung halb erstickte, fragte schüchtern: »Hat man auch nachgesehen, ob er wirklich tot ist?«
Die Leute lachten und sahen Planus an.
»Freilich ist er's, alter Gimpel!« antwortete der Zollwächter. »Ich sagte ja schon, daß er ganz blau war, als wir ihn heute in der Frühe losgemacht und in die Jägerkaserne getragen haben.«
Die Kaserne lag ganz in der Nähe, und doch fiel es Sigismund schwer, sich bis dorthin zu schleppen. Umsonst sagte er sich selbst, daß in Paris und besonders in dieser Stadtgegend häufig Selbstmorde vorkommen, daß nicht ein Tag vergeht, an dem nicht längs der weit ausgedehnten Festungswerke, wie an den Ufern eines milden Meeres, irgend ein Leichnam gefunden würde – das schreckliche Vorgefühl, das ihm seit dem frühen Morgen das Herz zusammenschnürte, ließ sich nicht bannen.
»Sie möchten den Erhängten sehen?« sagte der wachthabende Unteroffizier am Kasernenthor: »dort hinein . . . da ist er.«
Man hatte den Toten in einer Art Schuppen auf einen schmalen Tisch gelegt. Der Kavalleristenmantel, der ihn vollständig bedeckte, fiel in den schweren, starren Falten eines Bahrtuches um ihn her. Eine Gruppe von Offizieren und einige Soldaten in Leinwandhosen standen in geringer Entfernung, sprachen mit gedämpfter Stimme wie in der Kirche und auf einem Fensterbrett schrieb ein Feldwebel den Rapport über den Todesfall.
Sigismund trat zu ihm.
»Darf ich den Toten sehen?« fragte er leise.
»Gewiß.«
Er ging heran, zauderte einen Augenblick, faßte sich dann ein Herz, schlug den Mantel zurück und enthüllte ein gedunsenes Gesicht, einen großen, starren Körper, dessen Kleider vom Regen getränkt waren.
»Sie hat dich also doch noch umgebracht, alter Kamerad!« murmelte Planus, indem er schluchzend in die Kniee sank.
Die Offiziere waren neugierig näher getreten, um den Toten zu sehen, der jetzt unbedeckt dalag.
»Sehen Sie doch, Sergeant,« sagte einer von ihnen, »seine Hand ist geschlossen, als ob er etwas festhielte.«
»Ja, wirklich!« antwortete der Sergeant, indem er noch näher herantrat. »Das kommt im Todeskampfe häufig vor . . . Wissen Sie noch bei Solferino? Da hielt der Kommandant Bordy das Medaillonbildchen seines Töchterchens in der Hand, und es war kaum möglich, es ihm wegzunehmen.«
Während er das sagte, versuchte er, die arme, krampfhaft geballte Totenhand zu öffnen.
»Sehen Sie . . . diesen Brief hat er so fest gehalten . . .« sagte er und schickte sich an, das Blatt zu lesen, aber einer der Offiziere nahm es ihm aus den Händen, um es Sigismund zu reichen, der noch immer auf den Knieen lag.
»Nehmen Sie es hin, Monsieur . . . vielleicht ist es ein letzter Wunsch . . .«
Sigismund Planus stand auf; da es in dem Raum ziemlich dunkel war, trat er schwankenden Schrittes an das Fenster und las mit von Thränen verdunkelten Augen: »Ja, ja, ich liebe Dich . . . liebe Dich mehr als je und auf immer . . . Warum sollten wir kämpfen und uns sträuben? Unsre Sünde ist stärker, als unsre Willenskraft – – – – – – – – – – – – – – – – – – –«
Es war der Brief, den Franz vor einem Jahre an seine Schwägerin geschrieben und den Sidonie am Tage nach der Katastrophe ihrem Manne geschickt hatte, um sich gleichzeitig an beiden zu rächen.
Den Verrat seiner Frau hätte Risler zu überleben vermocht; der Verrat seines Bruders gab ihm den Tod.
Als Planus den Zusammenhang begriff, fühlte er sich wie vernichtet. Mit dem Briefe in der Hand stand er da und blickte mechanisch zu dem weit geöffneten Fenster hinaus.
Es schlug sechs Uhr.
In der Ferne, über der Stadt Paris, von der, obwohl sie nicht zu sehen war, ein dumpfes Getöne herüberklang, erhob sich schwer und langsam ein heißer Brodem, dessen Rand, wie der Pulverdampf eines Schlachtfeldes, mit Schwarz und Rot umsäumt war. Nach und nach tauchten Kirchtürme, weiße Giebel, eine goldne Kuppel aus dem Nebel empor und leuchteten auf im Morgenglanz des Erwachens. Dann begannen die tausend Fabrikschornsteine, die sich über das Dächergewirr erheben, ihren keuchenden, vom Winde getragenen Atem auszustoßen, wie ein Riesendampfer im Augenblick der Abfahrt . . . Das Leben des Tages trat in sein Recht. Vorwärts, Maschine! und wehe jedem, der unterwegs liegen bleibt.
Ein wilder Zorn stieg plötzlich in dem alten Planus auf.
»Oh, du Nichtswürdige! du Nichtswürdige!« rief er und ballte die Faust, und es blieb ungewiß, ob er das Weib oder die Stadt gemeint hatte.
Ende.