Alphonse Daudet
Die wunderbaren Abenteuer des Tartarin von Tarascon
Alphonse Daudet

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Die Abreise

Endlich brach der große, der feierliche Tag an, der Tag der Abreise.

Seit dem ersten Morgengrauen war ganz Tarascon auf den Beinen; die Leute standen in Gruppen auf der nach Avignon führenden Straße und drängten sich ganz besonders um das kleine Haus, in dem der berühmte Baobab wuchs.

Alle Fenster waren von Neugierigen belagert, Dächer und Bäume waren von Menschen besetzt.

Leute aus allen Bevölkerungsklassen hatten sich da eingefunden: Schiffsleute von der Rhone, Lastträger, Stiefelputzer, Kaufleute, die kleinen Rentiers, die sonst niemals recht wissen, was sie mit dem lieben langen Tage anfangen sollen; ferner Arbeiterinnen aus den Fabriken, Schenkmamsells aus den Kaffeehäusern, die Mitglieder des Klubs – kurz, wer nur irgend sich losmachen konnte, war gekommen.

Auch aus dem benachbarten Beaucaire waren Leute über die Brücke herübergekommen, und sogar aus noch entfernteren Ortschaften waren sie herbeigeeilt, die Pächter in ihren hochrädrigen Planwagen, die Winzer auf ihren Maultieren, die sie sehr hübsch mit wehenden Bändern, Schellen, Schleifen und Klingeln herausgeputzt hatten. Selbst einige allerliebste Mädchen von Arles konnte man in der Menschenmenge bemerken, die, das Haupt in azurblaue Tücher eingehüllt, jede mit ihrem Schatz, auf den kleinen stahlgrauen Pferden der Camargue hergeritten waren. Immer größer wurde die Zahl der Anwesenden, immer heftiger wurde das Drängen, Drücken und Stoßen vor der Türe des Herrn Tartarin, des lieben, guten Herrn Tartarin, der nun wirklich ausziehen wollte, um »bei den Türken« die Löwen zu töten.

Algier, Afrika, Griechenland, Persien, die Türkei, Mesopotamien und wohl noch einige andere Länder, all das bildet nämlich für die Tarasconesen ein großes, sehr unbestimmtes, fast sagenhaftes Land und heißt »die Türken«.

Zwischen den Scharen und abgesonderten Gruppen gingen die Mützenjäger würdevoll einher; sie waren von gerechtem Stolze auf ihren Herrn und Meister erfüllt, man konnte das an ihren strahlenden Gesichtern sehen.

Direkt vor dem Hause des Baobab standen zwei große Karren. Von Zeit zu Zeit öffnete sich die Haustüre, und dann konnten die Außenstehenden mehrere Personen bemerken, die, offenbar in ein ernstes Gespräch vertieft, langsam in dem kleinen Garten promenierten. Mehrere Lastträger brachten Kisten, Kasten, Schlafsäcke usw. heraus und luden sie auf die bereitstehenden Karren.

Bei jedem neuen Gepäckstück lief ein Murmeln durch die Menge. Man rief sich einander die verschiedenen Gegenstände zu. »Das da ist der Zeltschirm gegen den Sonnenbrand, . . . das sind die Konserven, . . . die Reiseapotheke, . . . die Waffenkiste«, – und die Mützenjäger gaben bereitwilligst nähere Auskunft über den Zweck aller dieser wunderbaren Dinge.

Plötzlich, es war fast 10 Uhr morgens, ging eine Bewegung der höchsten Spannung durch den Menschenhaufen. Die zum Garten führende Türe öffnete sich sperrangelweit.

»Da ist er! Da ist er!« schrien und tobten unzählige Stimmen.

Ja – da war er.

Als er auf der Schwelle erschien, verstummte alles für einen Augenblick; dann machte sich das Erstaunen in zwei Ausrufen Luft.

»Ein Türke!«

»Mit einer Brille!«

Tartarin hatte es nämlich in der Tat für unumgänglich nötig gehalten, bei seiner Abreise nach Algerien auch das algerische Nationalkostüm anzulegen. So trug er denn weite Beinkleider aus weißer Leinewand, eine kleine Jacke mit Metallknöpfen und einen sehr breiten roten Gürtel, der schon mehr wie eine Leibbinde aussah; der Hals war bloß, die Stirne ausrasiert, auf dem Kopfe prangte ein riesiger roter Fez mit langer blauer Quaste. Außerdem hatte er sich mit zwei Gewehren ausgerüstet, über jeder Schulter eines; ein großes Jagdmesser steckte im Gürtel, um den Leib hatte er eine Patronentasche geschnallt, und um die Hüfte hing ihm eine Ledertasche, aus der ein Revolver herausschaute. Mehr Waffen trug er nicht bei sich.

Fast hätte ich aber etwas vergessen, soll die Beschreibung anders vollständig sein: die Brille nämlich; sie bestand aus zwei außergewöhnlich großen blauen Gläsern und einem schwarzen Gestell. Was etwa noch gefehlt hatte, um die äußere Erscheinung unseres Helden zu einer möglichst wilden und gefährlichen zu machen, das wurde durch diese Brille mehr als reichlich gedeckt.

»Es lebe Tartarin! Es lebe Tartarin! Unser Tartarin – hoch!« so schrie und jauchzte das Volk. Der große Mann lächelte, aber er grüßte nicht. Erstens hinderten ihn daran die beiden Gewehre, die ihn beim Gehen überhaupt etwas genierten, und zweitens hatte er jetzt an sich selbst zur Genüge erfahren, wie es um die Gunst der Menge bestellt ist. In tiefstem Herzensgrunde verwünschte er vielleicht sogar seine verdammten Mitbürger, die ihm jetzt so laut zujubelten und die ihn doch zu dieser Reise gedrängt hatten; die ihn zwangen, sein gemütliches Heim aufzugeben, sein hübsches Häuschen mit den weißen Mauern und den grünen Jalousien zu verlassen. Äußerlich jedoch ließ er nichts von solcher Empfindung wahrnehmen.

Ruhig und stolz, wenn auch ein bißchen bleich im Gesicht, trat er auf die Straße hinaus, musterte die beiden Karren, und als er sah, daß alles in Ordnung war, schlug er unverzüglich den Weg nach dem Bahnhof ein, ohne sich auch nur ein einziges Mal nach dem Hause des Baobab umzuwenden. Unmittelbar hinter ihm gingen der tapfere Kommandant Bravida, der früher im Montierungsdepot Dienste getan hatte, der Präsident Ladeveze, ferner der Waffenschmied Costecalde und die Schar der Mützenjäger; dann folgten die beiden Karren mit den Gepäckstücken; das unabsehbar große Gefolge aus der Bevölkerung Tarascons und Umgebung schloß den Zug.

Vor dem Eingang zum Bahnhof erwartete der Bahnhofinspektor den Reisenden. Es war ein schon bejahrter Herr, der einst in Afrika gefochten hatte und Herrn Tartarin um so mehr Wohlwollen entgegenbrachte, als dieser ja auch in den fremden Erdteil ziehen wollte, in dem er Leid und Freude so mancherlei Art erlebt. Mit Innigkeit und Wärme drückte er dem Helden mehreremal die Hand. Der von Paris nach Marseille fahrende Expreßzug war noch nicht angekommen. Tartarin und sein nächstes Gefolge traten deshalb in den Wartesaal, und hinter ihnen ließ der Bahnhofsinspektor den Saal verschließen, damit durch das Nachdrängen der übrigen Menschenmassen keine Unzukömmlichkeiten und Störungen im Dienste verursacht würden.

Während der nächsten Viertelstunde durchmaß Herr Tartarin unaufhörlich den Wartesaal der Länge und Breite nach mit seinen Schritten. Die Mützenjäger standen an den Wänden und lauschten aufmerksam auf die Worte des Scheidenden. Er sprach von der Reise, wie er es mit den Jagden zu halten gedenke, und versprach, zahlreiche Löwenfelle in die Heimat zu senden. Jeder bat, ihn doch gefälligst auch für ein Fell vormerken zu wollen, und Tartarin schrieb sich die Namen in seinem Notizbuche auf, wie man in einer Tanzkarte die Namen der einzelnen Tänzer notiert.

Ruhig, freundlich und milde, gerade wie Sokrates, als er den Giftbecher leerte, hatte der unerschrockene Tartarin für jeden ein Wort, für jeden ein Lächeln. Er sprach einfach und zu Herzen gehend; es war, als wollte er vor seiner Abreise allen noch einmal seine Liebenswürdigkeit, seine Güte zu Herzen führen, damit ihm alle auch ein recht freundliches Andenken bewahrten. Als die Mützenjäger ihren Herrn und Meister so sprechen hörten, traten ihnen allen die Tränen in die Augen: einige, wie z. B. der Präsident Ladeveze und der Apotheker Bezuquet, fühlten sogar etwas wie Gewissensbisse.

Ein paar Schaffner und Kofferträger, welche sich im Wartesaal aufhielten, konnten das nicht länger mit ansehen, sie stellten sich in die Ecken und weinten ganz laut. Von außen aber tönten die Stimmen der Leute herein, die sich an den Türen drängten und unaufhörlich schrieen: »Es lebe Tartarin!«

Endlich ertönte die Bahnhofsglocke. Ein dumpfes Rollen wurde hörbar, dann folgte ein Pfiff, der schrill durch alle Räume des Gebäudes hallte. »Der Zug ist da! Einsteigen! Einsteigen!«

»Leb' wohl, Tartarin! Leb' wohl, Tartarin!«

»Lebt wohl, ihr alle!« murmelte der große Mann, und indem er den tapferen Kommandanten Bravida umarmte, tat er dies im Geiste mit seinem ganzen lieben Tarascon. Dann trat er auf den Perron hinaus und stieg in ein Kupee, das fast ganz mit Damen aus Paris besetzt war. Die Insassinnen glaubten vor Schreck auf der Stelle sterben zu müssen, als der so sonderbar kostümierte Herr, der so viele Gewehre und Revolver trug, bei ihnen einstieg.


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