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Ozuma, der reiche Schildkrothändler von Nagasaki, hatte draußen vor der Stadt auf dem Hügel ein Haus mit einem Kirschgarten. Er zählte hundertfünf Jahre, sein Haar war weiß wie Milch, seine Hände dürr wie Schachtelhalme, aber sein Körper war ungebeugt. Er stand aufrecht in seinem Landhaus, dessen Papierwände weit aufgezogen waren, und er ließ die Leute von der Bergstraße aus durch sein Haus hindurch in seinen blühenden Kirschgarten schauen. Dort standen die Bäume wie mit rosa Daunen behangen, und darunter blühten scharlachne Rotdornhecken, die waren alt und verwachsen wie Korallenzweige. Zwei Fuß hoch über der Straße stand Ozuma in seinem schlafrockartigen, perlhuhngrauen Kaftan auf den strohgelben Bambusmatten seines Zimmers. Er hatte zur Rechten die Bergstraße, zur Linken seinen rosa Blütengarten, darinnen jeder Blütenbaum voll Bienen wie ein Kochtopf brummte. So war es alle Tage im hellblauen Frühling, aber heute war ein grauer Frühlingsregentag. »Es regnet Fruchtbarkeit in den Garten und Gedanken auf die Straße«, sagte Ozuma, der alte und einsame, zu sich.
Alle seine Familienmitglieder waren tot. Enkel hatte er keine. Das Schmerzhafteste für einen Japaner ist sonst die Einsamkeit. Aber sie war es nicht für Ozuma. Er redete mit allen Dingen, wie der Regen auf alle Dinge sein Echo gibt, und fand sich niemals einsam.
Seinem Hause gegenüber war das Teehaus der Bergstraße, das einzige am Wege. Dort fuhren die Rikschawagen, von Kulis gezogen, aus der Stadt und brachten viele Europäer herbei. Ozumas Kirschgarten war bis Europa und Amerika berühmt und stand, mit einem Stern versehen, in den Reisehandbüchern der Fremden. Wenn ein ausländisches Schiff am Vormittag im Hafen von Nagasaki, unten am Berg, im Frühlingstag vor Anker ging, dann rollte ein paar Stunden später ein Dutzend der winzigen Wagen hinauf in den Bambuswald und fuhr bei Ozumas Haus vorbei zum Teehaus, und die Fremden kamen herüber und blickten von der Straße durch das Haus bewundernd in Ozumas Kirschenblüte. Ozumas offenes Haus war dann wie die kleine Bühne eines Wandertheaters von Zuschauern belagert, und der Alte stand wie der einzige Schauspieler auf der Bühne, mit seiner kurzen Bronzepfeife, die er ab und zu am Aschentopf vor sich ausklopfte. Er hatte so viel eingewurzelte Falten in seinem Gesicht, daß man glaubte, er lache immer. Wenn Ozuma noch so traurig und gedankenvoll war, glaubte jeder, daß er in sich hineinkichere. Und doch war er inwendig so ernst wie ein Dutzend Gräber. Aber seine Falten lachten unabhängig von einem ernsten Innern wie eine Maske, die ihm längst nicht mehr gehörte und die er wie ein Schauspieler vor sein wirkliches Gesicht gebunden hatte. Ozuma hatte noch, als er neunzig Jahre alt war, Englisch gelernt, zu der Zeit, als das Fremde Mode wurde in Japan. Er sprach damals öfters mit dem Reisevolk vor seinem Hause, und einmal hatte er eine Aussprache mit einem amerikanischen Geistlichen. Der erzählte ihm von der Auferstehung allen Fleisches. Seitdem verging kein Frühjahr, wo der alte Ozuma, gläubiger als jeder Christ, nicht auf die Auferstehung allen Fleisches wartete. Auf die Auferstehung aller, die ihm gestorben waren, auf die Auferstehung seiner eigenen Jugend und Leibeskraft und auf die Auferstehung seiner feurigsten Liebeserinnerungen.
Es war heute einer der letzten Frühlingstage, und Ozuma hatte sein Haus wie immer weit offen. Der alte Teewirt und dessen Frau drüben bemerkten, als sie an diesem Morgen ihre papiernen Hauswände aufschoben, daß der alte Mann plötzlich über Nacht schwarze Haare bekommen hatte, schwarze Augenbrauen und rote, sehr rote Wangen und rote, sehr rote Lippen. Der Wirt und die Wirtin kicherten wie Mäuse, die über ein Stück Speck hüpfen, und sie stießen sich gegenseitig mit den Ellenbogen an. Aber sie sagten nichts zueinander, sie wechselten nur einen Blick.
Die Wirtsfrau bürstete die roten Wolldecken, worauf die Fremden am Nachmittag sitzen sollten, der Wirt kauerte sich hinter seine Rechenmaschine, schob die bunten Holzperlen hin und her und lachte in sich hinein. Als es Nachmittag wurde, hatten der Wirt und die Wirtin schon ganz vergessen, daß Ozuma sich künstlich jung gefärbt hatte; sie fanden seine Farbe schon natürlich und waren selbst wie um sechzig Jahre verjüngt bei Ozumas Anblick. Der Wirt holte ganz in Gedanken seine Okarina hervor und pfiff ein Lied, das er seit sechzig Jahren nicht mehr gepfiffen hatte. Die Wirtin steckte sich eine rote Nelke aus ihrem Nelkentopf ins Haar und lachte jeden Augenblick zu Ozuma hinüber, wie vor sechzig Jahren. Damals war sie Tänzerin in Nagasaki gewesen und hatte manche Nacht vor dem reichen Ozuma in den Teehäusern des Freudenviertels von Nagasaki getanzt. Ozuma aber saß drüben vor seinem bronzenen Aschentopf in seinem offenen Haus auf der gelben Strohmatte und lachte wie immer mit tausend Falten, trotzdem er wie immer traurig war. Hinter ihm strahlte der Kirschblütengarten im grauen Regentag wie in rosa bengalischer Beleuchtung. Der Luftzug des Abends trieb ein Blütengestöber in das Haus, so daß es auf einmal nicht mehr leer schien. Die Fremden, die den ganzen Nachmittag die Bergstraße heraufgefahren waren, kehrten jetzt um, und als die letzte Rikscha den Berg hinunterrasselte, saß der alte, junggeschminkte Ozuma immer noch hinter seinem Aschentopf und rührte sich nicht. Er ist eingeschlafen, sagte das Auge des Wirtes drüben im Teehaus zum Auge der Wirtin, und sie blinzelten einander zu und verstanden sich. Wir wollen warten, bis er aufwacht, antwortete die Wirtin ihrem Mann, indem sie sich auf eine der rotwollenen Decken niederkauerte und sich ihre kleine Pfeife anzündete. Der Wirt tat, wie seine Frau wollte, und hockte sich neben sie, und beide rauchten schweigend und hüteten sich, die Asche am Aschengefäß laut auszuklopfen, um den Nachbarn Ozuma nicht zu wecken.
Und nun geschah etwas, was niemand weiß, niemand gesehen hat als nur ich, der ich euch das erzähle.
Der junggeschminkte Ozuma stand plötzlich auf und kam über die Straße herüber in das Teehaus; seine Augen knisterten vor Vergnügen, als er zu der Wirtin sagte: »Mondscheinchen, du sollst tanzen wie früher.« Die alte Wirtin lispelte etwas, das war leiser als das Grasrascheln. Sie stand verschämt auf, von ihrem Blut verjüngt beschienen wie ein Kirschgarten, und sie hob den Saum ihres Kleides ein wenig über die Fußspitze hinauf und begann zu tanzen, aber der Wirt, ihr Mann, stand gelb im Gesicht wie ein Büschel brennendes Bambusstroh da und trat zornig dazwischen und sagte: »Das ist mein Weib und nicht deines, Ozuma. Mein Weib tanzt nicht mehr für dich, auch wenn du ihr alle Schildkrötenschalen aus dem Nagasakiwasser in Gold gefaßt zu Füßen legst. Scher dich fort, Ozuma, ich teile mein Weib nicht mit deinem Geldsack.«
Ozuma aber klatschte in die Hände, dreimal, da kamen sechs Kulis hinter der Hausecke vor und warfen dem Wirt Holzasche in die Augen, banden ihn und legten ihn mit dem Gesicht auf den Boden, damit er nicht zusähe, wie seine Frau vor Ozuma tanzte. Ozuma sog begierig die Luft ein von dem Haar, von der Haut und von dem Seidenkleide der Frau. Aber er beherrschte sich und bat um nichts weiter als um die Nelke, die die Frau im Haar trug. Die Frau aber verweigerte ihm die Blume und sah Ozuma nicht mehr an. Da stand Ozuma auf und legte einen Beutel mit ,Gold, einen Schmuckkasten aus Schildkrot und eine weiße Korallenkette auf die Strohmatte neben den gebundenen Wirt. Ozuma selbst band dann den Mann los und sagte klagend zu ihm: »Erschlag mich, Nachbar, ich liebe deine Frau, aber sie liebt mich nicht.« Der Wirt rieb sich die Asche aus den Augen und sagte: »Sie liebt dich nicht, Ozuma, darum sollst du leben, hundert Jahre und mehr leben und dich nach ihr totsehnen. Nimm nur dein Gold, deine Geschenke, ich erschlage dich nicht, nicht um alles Gold in der Welt.«