Max Dauthendey
Raubmenschen
Max Dauthendey

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II. Raubmenschen

Der Dampfer »Prinzregent« vom Norddeutschen Lloyd war auf dem Wege nach New York.

Nun endlich hatte ich den langersehnten Atlant am Tage unter meinen Stiefelsohlen und nachts unter meinem schmalen Kabinenkopfkissen. Die ungeheure graue schwankende Wasserlinse hob und senkte sich draußen vor den Kabinenfenstern, als wäre rundum ein unermeßliches unterirdisches Wasserbeben, das nie endete. Und der große Lloyddampfer erschien mir wie ein wanderndes Riesenschneckenhaus, das viele hunderte Menschen forttrug.

Immer fand ich: nirgends vergißt man die Vergangenheit schneller als auf dem sich fortwährend verwandelnden Meer, und nirgends träumt es sich angenehmer von der Zukunft als auf einem vorwärts stampfenden Lloyddampfer. So vergaß ich auch schnell die Begegnung am Atlant, die mir unauslöschlich ins Gedächtnis und ins Gefühl geprägt erschienen war, noch in Southampton, ehe ich mich auf dem Amerikaboot einschiffte. Das Gesicht der jungen Dame im Lodenmantel zerschmolz wie gewärmtes Wachs in meiner Vorstellung, und ich konnte es auf dem Atlant nicht mehr fest in seine sicheren Züge prägen. Alles, was ich zuletzt erlebt hatte, verließ mich wie der gewaltige Rauch aus den Schloten des Dampfers, der sich unförmig ballte, tief sank und als undurchsichtiger Kohlennebel hinter dem Schiff zurückblieb.

Mit dieser Begegnung am Atlant ist für mich natürlich keine große Leidenschaft verbunden gewesen, sagte ich mir, sonst würde das Erinnerungsgefühl in mir größer als der Atlant sein, sonst würde das Meer meine Sinne und meine Seele nicht berauschen, sonst würde ich taub sein gegen Wasser, Luft und Wanderlust, gegen Zukunft und Gegenwart und würde den Atlant als den grauen Lodenmantel der jungen Künstlerin ansehen, die Abendsonne als den runden Kopf der Dame und den Abendhimmel als den großen Malerschirm, unter dem sie immer auf den Klippen von Pouldu gesessen und gemalt hatte.

Mir war aber bald alle Rückerinnerung auf der schwankenden Wassermasse verloren. Das quallenweiche Meer und der breiige Wolkenhimmel darüber erschienen mir an grauen Regentagen zusammen wie der immense Magensack eines vorweltlichen Tieres, und das Schiff schwamm wie ein Happen zwischen den schlappen und knetenden Wolken und Wellen. Der Atlant fesselte alle meine Aufmerksamkeit; er gab meinen Sinnen festlich gruselnde Vorstellungen.

Am Schiffsgeländer, wenn die Wellen wie grüne Glasgehäuse sich aufbliesen und zerplatzten, mußte ich mir sagen, daß ich Tausende von Metern hoch über einem Abgrund wanderte wie ein Seiltänzer auf einem Drahtseil, das zwischen dem Gletscher der Jungfrau und dem Montblanc gespannt wäre, und daß unter mir das Tal, das unendlich tiefe Tal des Atlant läge. So tief war der Abgrund, daß die Sonne durch das glashelle Wasser nicht mehr hinunterscheinen konnte und dort unten Fische ohne Augen in ewiger Blindheit lebten. Der Atlant beschäftigt den Neuling unausgesetzt.

Mit Verwunderung staunte man immer wieder und erwartete zuerst fast in jeder Stunde einmal, daß das schwere massive Schiff, das mit arbeitenden Eisenmaschinen angefüllt ist, senkrecht untersinken und der Lust unterzutauchen nachgeben würde, und man beobachtete fast ungläubig, daß es wie ein korrekter Schwimmer ewig auf der Oberfläche des Meeres blieb, ohne Laune, ohne Ausruhen, und daß es scheinbar ohne Schwergewicht auf den Wellenwalzen fortrannte.

An der Tafel im Speisesaal saß ich neben dem Schiffsarzt, der ein Münchner war, und der es sich, ebenso wie die Schiffsoffiziere und der Kapitän, angelegen sein ließ, die Herren und Damen bei guter Reiselaune zu halten und die Gesundheit der Seereisen zu loben; er wiederholte immer, daß die Reise über den Atlant als eine Nervenkur angesehen werden müßte – etwas, was ich gar nicht verstehen konnte. Denn es gibt für schwache Nerven wohl nichts Aufregenderes als das Bewußtsein, unbezähmbaren Elementen auf Gnade und Ungnade für Tage und Nächte preisgegeben zu sein. Was hilft da die gute Luft, die man preist, und mag sie auch noch so bazillenfrei sein, wenn einen die Seeangst einmal packt – die Angst vor dem ewig sich hin und her wälzenden Rücken des Atlant und die Angst vor dem Hohlraum darüber, vor dem Orkanloch, zu dem der Himmel jeden Augenblick werden kann, wenn er sich wie ein spitzer Trichter über dem Schiff oder am Horizont hin verengt, verdunkelt von Wolkenqualm, daraus der Sturm wie eine gigantische Bestie aus einer Höhle heraus heult, so daß das Schiff mit allen Tauen und Rahen zu winseln beginnt wie ein getretener Hund!

Auch die Seetüchtigen, die Engländer und Amerikaner wurden, wenn ein Sturm zu lange tobte, ein wenig gelb im Gesicht, als wäre gelber Senf statt Blut in ihren Adern. Und nun erst die Deutschen! Die waren bald alle gelbgrün. Keine Dame erschien mehr an der Tafel, als der Sturm drei Tage dauerte. Nur eine amerikanische Journalistin, eine vielgereiste und kaltblütige, fesche Dame, blieb an der lückenhaften langen Tafel als einzige Frau neben dem Kapitän sitzen, und sie ließ sich bei jeder Mahlzeit von allen Herren wegen ihrer Standhaftigkeit beloben und erschien auch stets in einer andern Toilette, in der sie leuchtete, nagelneu und in der Ferne wirkend. Trotz Sturmgepolter, trotz Salzregen und Wellenstürzen, die das Deck wuschen, ging diese einzige Gesunde nach Tisch mit uns auf die Deckpromenaden und lachte alle Gelächter jener andern Damen, die unten in ihren Kabinen krank lagen, und redete alle Gespräche, die die andern Damen nicht reden durften, so daß sie zuletzt auch den seetüchtigen Männern schlimmer erschien als der Sturmanfall und unbequemer den Gesunden als die Seekrankheit den Kranken.

»Immer gibt es so eine auf allen Meeren,« sagte der Kapitän zu mir, »und sie werfen immer triumphierende Blicke umher, daß einem bei ihren Blicken ist, als flöge einem lästiger Kohlenstaub ins Auge. Und wenn sie sich einem Mann anschließen, sind sie so luftig und kühl ins Leere strebend wie ein Kinderluftballon, den man sich im Knopfloch festbindet, und der gar nichts mit der Erde zu schaffen hat.«

Neben meiner Kabine war die Kabine eines Ehepaares, junger Leute, die in der Schiffsliste als »aus Paris« kommend eingeschrieben waren und als Beruf » artistes« in dem Schiffsbuch angegeben hatten.

» Artistes,« sagte der Erste Offizier, »das können Zirkusleute, Varietéleute oder Jahrmarktsleute sein. Die Dame und der Herr sehen aber gar nicht danach aus.«

»O ja,« meinte der Münchner Arzt, »die Dame hat ihr Haar gefärbt, das sieht man auf eine Meile.«

»Solche gelben Haare habe ich oft bei Engländerinnen gesehen«, behauptete der Schiffsoffizier. »Sehen Sie sich nur die Wimpern und die Schläfenhaare der Dame an, die sind ebenso auffallend blond und nicht gefärbt.«

»Fragen wir doch den Ehegemahl,« schlug ich scherzend vor, »oder die Dame selbst, ob ihre Haare gefärbt sind.«

»Wenn Sie die Dame zu fragen wagen, ob ihr Haar gefärbt ist, spendiere ich drei Flaschen Champagner«, sagte der Kapitän, der eben auf dem Deck an uns vorbeiging und dem Rest des Gespräches zugehört hatte.

»Oh, das ist alles gar nicht nötig«, rief die nie ausbleibende amerikanische Journalistin durch das runde Kabinenfenster des Rauchsalons. »Ich habe die Dame bereits gestern interviewt. Sie färbt ihr Haar, sie hat es mir eingestanden. Sie kommt deshalb bei Regenwetter nicht auf Deck, weil dann die Farbe abgeht.«

Und wieder sandte die übergesunde Amerikanerin ihre Triumphblicke auf uns alle, denn ihr amerikanisches Haar war echt und färbte nicht ab; sonst wäre sie nicht im Unwetter täglich auf Deck gekommen. Dies riefen ihre Augen in allen Sprachen durch den Sturmlärm.

Nach diesem Gespräch vergaß ich die blonde Artistin nicht mehr und suchte sie an sturmfreien Tagen überall auf dem Deck. Ihren Mann, einen zarten, kleinen, jungen Mann, beachtete ich erst gar nicht. Ich fand nur, seinem Aussehen nach hätte er gar nichts in Amerika zu suchen, denn er schaute viel zu verträumt und ein wenig langweilig vor sich hin. Wie hätte ich ahnen können, daß diese beiden später in meinem Leben einen Platz einnehmen würden, noch viel wichtiger als der, den in diesem Augenblick der Atlant in mir eingenommen hatte.

Nie vorher in meinem Leben hatte ich Europa verlassen, und ich wußte nicht, ob ich etwas verlieren oder vermissen würde, wenn ich die Kontinente wechselte. Vorläufig fühlte ich nur eine Neugier vor dem großen Unbekannten, vor Amerika, und vor den neuen Schicksalen, die mich dort erwarten würden.

Ich hatte mir niemals klargemacht, daß ich Europäer war; bisher, wenn ich in Europa nach Rußland, Italien, Norwegen oder Frankreich und England gereist war, hatte ich nur gewußt und überall empfunden, daß ich geborener Deutscher war – aber als Europäer hatte ich mich nur gefühlt, wenn ich zufällig einmal in Berlin oder Paris einen Amerikaner sprach, oder wenn ich einen Atlas aufschlug und die Erdteile mit dem Zeigefinger bereiste. Nun aber, je näher wir mit dem »Prinzregent« ans Ziel kamen, desto unsicherer wurde ich vor dem großen Kontinent, der mich erwartete; und um dem Riesenerdteil ein Gleichgewicht an Selbstbewußtsein entgegenzusetzen, genügte es nicht mehr, daß man sich im stillen einen Deutschen nannte. Man mußte zu größeren Überblicken greifen und sich als Europäer fühlen – nur so konnte man vor dem unermeßlichen Einheitsland noch einiges Persönlichkeitsgefühl bewahren. Sonst würde man sich verschluckt gefühlt haben wie eine verlorene Boje im Atlant, sagte ich mir.

Einen Tag vor New York fühlten wir eisige Luft; und da es Mitte Juni war, fürchtete der Kapitän, wir würden schwimmenden Eisfeldern begegnen, die sich um diese Jahreszeit in den nördlichen Eismeeren loslösen und mit der Strömung südwärts der amerikanischen Küste entlang treiben.

Die Gefahr ist dann die, daß ein Schiff von solchen Eisflächen weit südwärts geschleppt werden kann und seinen Kurs aufgeben muß.

Das Wort »Eisberge« brachte alle Passagiere auf Deck; und da der Sturm sich gelegt hatte und nur ein feiner Nebel fiel, erschienen alle Damen wieder. Auch die Dame mit dem gefärbten gelben Haar erschien an der Seite ihres Mannes, der noch kleiner und noch unscheinbarer neben der schönen, großen, elastischen Gestalt einherging.

Ich verwünschte im stillen die Journalistin, die mir verraten hatte, daß das Haar der schönen jungen Frau gefärbt sei. Denn ohne diesen Verrat hätte man dies seidige, feuergoldene Haar recht gut für echtes Blond halten können, wenn es auch als ein sehr seltenes, kostbares Goldblond jedem sofort glücklich auffallen mußte. So aber, da die blonde Dame es der interviewenden Amerikanerin selber eingestanden hatte, daß sie sich das Gold mit Pariser Tinktur ins Haar färbe, hatte dies Goldblond, wenn es auch noch so natürlich schien, keinen nachhaltigen Reiz für meine Bewunderung. Denn ich mußte dabei immer die triumphierenden Augen der Amerikanerin sehen, die ihren Spottblick öffentlich vor allen Herren hinter dem Rücken der Dame über jenes Haar gleiten ließ.

Es regnete fein; und die Reisemützen tief in die Stirn gezogen, die Kragenmäntel aufgeschlagen, standen überall auf Deck Herren mit Feldstechern umher und suchten den Horizont nach Eisbergen ab.

Man erwartete bei jeder Kopfwendung, daß einer rufen würde: »Eisberg in Sicht!«

»Und dieses nennen Sie eine nervenberuhigende Fahrt, Herr Doktor?« hörte ich den kleinen Mann der blondgefärbten Dame auf Deutsch zum Schiffsarzt sagen. »Erst Sturm, dann jeden Morgen, Mittag und Abend die gräßlich nervenerschütternden Trompetensignale der Stewards auf den Schiffspromenaden! Meine Frau bekommt immer einen Nervenschock, wenn der Trompeter mit seinem schmetternden Blechinstrument am Kabinenfenster vorbeigeht. Und nun, da der Sturm vorbei ist, stehen uns noch Eisberge zur Nervenglättung bevor?«

Der Münchner Arzt wußte nicht, was er sagen sollte. Er lachte und berief sich fortgesetzt auf Sauerstoff und Bazillenreinheit und auf das gute Essen, das wie in einem Hotel allererster Klasse wäre! Dann lief er davon und ließ den kopfschüttelnden jungen Mann stehen.

Der junge Artist und ich, wir sahen einander einen Augenblick an. Er schaute dann verächtlich lächelnd dem eiligen Doktor nach, und ich lachte auch. Damit war eine leichte Anknüpfung zwischen uns entstanden, ohne daß wir dies beabsichtigt hatten. Die junge Artistenfrau aber sah ins Meer, geradeaus; ihr Blick blieb eisig unberührt. Sie stand da, als reise sie als einziger Passagier ganz allein auf dem großen Schiff über den großen Atlant in das große Amerika, und ihr starrer Blick war so frostig, als könne er Eisberge erschaffen, wenn er wollte. Wie kann nur eine so hünenhafte und sichtbar großzügig und heroisch angelegte Frau an solch kleinliches Mittel wie das Färben ihres jungen Haares denken? mußte ich mich wieder fragen. – Ja, wäre sie älter und schon etwas grau gewesen, dann hätte ich diese weibliche Schwäche verstanden; aber so schien es mir lächerlich. Und trotzdem, je länger ich sie auf die Haarfarbe hin ansah, desto weniger konnte ich mir denken, daß sie mit einer andern, weniger goldenen Farbe so schön gewesen wäre. So heroisch, wie sie jetzt aussah – dazu paßte das auffallende Goldblond, das im grauen Nebel immer noch leuchtete, als wäre es von Hochsommersonne durchtränkt, und das einem mitten auf dem Atlant, sogar mitten in der Regenstimmung, die Freude irdischer Erntetage, den Juli mit goldenem Roggen und senkrechter Sonne und den Oktober mit Rheinwein in schweren Humpen kräftig und großzügig vor die fünf Sinne hinstellte.

»Ich glaube, daß die Blonde eine große Opernsängerin ist«, sagte der Kapitän zu mir, als ich ihn etwas später auf der Kommandobrücke besuchte und er meinen Augen folgte, die überall dem goldenen Heldinnenkopf der Artistin nachsahen. »Sie ist jedenfalls nicht alltäglich«, meinte der erste Steuermann. Auch der Mann, der das Rad zwischen seinen Fäusten drehte, strich sich einen Augenblick den Schnurrbartzipfel und rückte seine Schultern männlich zurecht, als er der Dame drunten auf dem Deck nachsah, die ihren Kopf leuchtend wie einen goldenen Helm trug.

»Und ihr Mann zählt gar nicht mit«, meinte der derbe Steuermann lachend, über die Schulter, zum Kapitän. Und ich fand das auch.

Wenn es eine Frau fertigbringt, die Aufmerksamkeit eines ganzen Ozeandampfers vom Kapitän und von den Passagieren an bis zur Mannschaft zu erwecken, dann geht das doch nicht ganz mit natürlichen Dingen zu, dachte ich bei mir; und diese auffallende Frau fing an, mir ein wenig unheimlich zu werden. Aber ich hatte nicht lange Zeit, mich eingehender mit den beiden Artisten zu beschäftigen. Am nächsten Mittag sollten wir schon in New York einlaufen. Beim üblichen Kapitänessen und dem darauffolgenden Abschiedsball am Vorabend der Ankunft blieben die Artisten unsichtbar. Sie erschienen erst wieder am nächsten Morgen, als draußen bei Coney Island der Lotse und der Hafenarzt auf den Dampfer kamen und ein paar Zeitungsjungen mit auf Deck kletterten, die den Passagieren riesige New Yorker Tageblätter verkauften.

Dies war der erste amerikanische Willkommgruß: Zeitungen!

Fünf Minuten später gab es von den Passagieren nicht einen, der nicht hinter dem New York Herald, der Morning Post, der Brooklyn Times, dem Philadelphia Speaker und so weiter verschwunden gewesen wäre, mit Ausnahme des Artistenpaares, das am Geländer stand und dort streitend eine Sprache sprach, die mir Holländisch oder Böhmisch zu sein schien. Ich stand mit dem Rücken gegen sie; plötzlich schwiegen beide auffallend schnell, so daß ich unwillkürlich meinen Kopf nach dem Paar umwenden mußte – und da sah ich, daß die blonde Dame weinte, daß die Tränen von ihren Wangen rollten, und daß der junge Mann mit seiner krampfhaft geballten, auffallend kleinen Männerhand dem Schiffsgeländer einen leichten Stoß gab, als wolle er damit das Schiff rascher vorwärts und aus einer peinlichen Situation forttreiben.

Das ist vielleicht ein Mädchenverkäufer, dachte ich – irgend so ein schwarzhaariger Rumäne, Bulgare, Kroate oder Serbe, dieser junge schmalschulterige und unsichere Mann. Er war zu ungeduldig und zu verschwiegen zugleich und zu hitzig, um bloß ein Deutscher zu sein. Will er gar die Blonde in New York verkaufen, weil sie weint und aussieht, als würde sie von einem tragischen Schicksal über den Atlant geschleppt? Und ich lachte innerlich über diesen meinen plumpen Gedanken.

Die beiden Leutchen wurden mir immer interessanter. In demselben Augenblick schmetterte das Trompetensignal, das zum letzten Mittagessen rief. Alle Zeitungen raschelten, und alle Köpfe der Passagiere erschienen wieder auf dem Schiff, mit Gesichtern, teils vom Lesen abwesend gemacht, teils erregt und gesprächig, als ob alle vom Lande aufs Schiff zurückkehrten.

Man setzte sich zu Tisch, die Damen waren vollzählig und schon in Straßentoiletten mit Sommerhüten auf den Köpfen. Nur die blonde Artistin hatte noch immer ihr warmes haselnußfarbenes Reisekleid aus Manchestersamt an und hatte keine Promenadentoilette für New York angelegt.

»Die wird es aber warm kriegen im Samtkleid auf dem New-Yorker siedendheißen Sommerpflaster«, flüsterte mir der Münchner Arzt bei Tisch ins Ohr, mit einem spöttischen Blick auf die Blonde, die uns gegenüber neben dem Ersten Offizier saß.

Sie sah noch etwas verweint aus; aber der junge Ehemann war kaltblütig wie immer und beachtete es nicht, daß die Hand seiner Frau zitterte, wenn sie das Glas hob.

»Der Kerl ist empörend kaltblütig, der Mann von der Blonden«, sagte ich leise zum Doktor. »Ich halte ihn für einen Mädchenhändler.«

»Um Gottes willen, sagen Sie das nicht laut!« flüsterte der Doktor und klapperte heftig mit Messer und Gabel. »Dieser Mensch hört und sieht alles. Er ist mir unheimlich, wenn ich ihn auch nicht gerade für einen Mädchenhändler halten möchte.«

Ehe man noch das Dessert auftrug und die siebzehn Mann starke Hauskapelle des Dampfers Abschiedsstücke im Vorsaal des Speisesaales spielte, erhoben sich viele Passagiere, um die Einfahrt in den Hudsonriver zu sehen und das gigantische New York.

Der Doktor begleitete mich auf Deck und erklärte mir die Lage der Weltstadt.

Wir passierten eben die eiserne Freiheitsstatue, dahinter mit bläulichem Ton das Meer und die Küstensilhouette in silberblauem Metallglanz des Mittaglichtes uns blendete.

Die Riesenstatue sah wie eine kleine Bleifigur mitten in den Riesenlinien von Meerfläche und Küstenflächen aus. Wie eine Nippfigur auf einer bronzenen Tischplatte. Der Doktor erklärte mir:

»Millionen Vögel schlagen sich jedes Jahr die Köpfe an der elektrischen Laterne der Freiheitsstatue entzwei, hunderte liegen jeden Morgen am Sockel unten tot.«

Ich stand noch und staunte und beklagte im Geiste die armen Vögel.

»Wissen Sie, was ich eben erlebt habe?« hörte ich plötzlich neben mir den Ersten Offizier zum Doktor sagen. »Die Blonde bekam, als sie aufgestanden waren, einen Weinkrampf, und ihr Mann mußte sie vom Tisch fort in die Kabine begleiten. Er blieb aber nicht lange vom Tisch fort, sondern kam bald zurück und war durch diesen Zwischenfall wie verwandelt. Er begann gesprächig zu erzählen, daß seine Frau Amerika und New York hasse und es nicht erwarten könne, bis sie nach Mexiko kämen. Als sie hörte, daß wir jetzt nach New York kommen, wollte sie gar nicht in die Stadt, sondern sofort aufs nächste Schiff und nach Mexiko weiter, und ihr Mann konnte sie kaum beruhigen und kaum überzeugen, daß sie drei Tage bleiben müßten, da das nächste Schiff nach Vera Cruz erst am Donnerstag von New York abgehe.«

»Ach, da bekommen Sie ja weitere blonde Reisegesellschaft bis Mexiko«, rief mich der Doktor an. Aber ich hatte jetzt keine Zeit und hörte nur halb hin – ich mußte New York erwarten. Und das Leiden der amerikahassenden Europäerin interessierte mich augenblicklich gar nicht. Der Erste Offizier sprach weiter: »Es ist ganz unmöglich, daß die beiden rätselhaften Menschen Artisten sind. Als ich ihn danach fragte, lächelte der junge Mann hochmütig, als wollte er sagen: Sie verstehen ja auf diesem Schiff doch nicht, was ich bin.«

Der Offizier wurde jetzt gerufen und lief fort. Der Doktor sagte zu mir: »Am Ende ist er Arzt wie ich und will das gelbe Fieber in Mexiko studieren. Er könnte gut ein Arzt sein. Er hat neulich ausgezeichnete Sachen über Therapie gesagt.«

Ich sah mit dem Fernglas über den Meerarm und hörte nur mit einem Ohr die Neuigkeiten über die beiden Artisten an.

Unregelmäßig hoch in die Luft geschossen, erschienen in der Ferne Reihen von seltsamen viereckigen hohen Schornsteinen, wie ich sie in solcher Breite und Höhe vorher nirgends auf der Welt gesehen hatte.

»Was ist das?« fragte ich ahnungslos den Doktor.

Er lachte. »Die Wolkenkratzer«, rief er dann. »Wer das noch nie gesehen hat, glaubt nicht, daß New York einen solchen Eindruck machen kann. Sieht es nicht verrückt aus, dieses New York?«

Ich konnte nicht antworten. Ich schüttelte nur staunend den Kopf. Meine gewaltigsten Vorstellungen von der Wolkenkratzerstadt waren hier überboten.

Diese Bauten dort in der Ferne waren wie ein regelmäßiger vorweltlicher Wald, der senkrecht in die Luft ragte. Dann, als die Fensterreihen erschienen, die nicht in die Breite, aber wie an Leiterspießen in die Höhe gereiht waren, da wurde mir, als käme ich nach Babylon, aber ein Babylon, wo nicht nur ein Turmbau, sondern Hunderte von Turmbauten in den Himmel wollten.

Im Mittagdunst glitzerten, noch viel höher als die höchsten Turmbauten im blauen Sommertagbrodem in der Ferne, in blaugrauer Höhe ein paar Drähte.

»Was Sie dort im Himmel zwischen den zwei gelblichen Hitzwolken für Drähte halten,« sagte der Doktor, »das ist das massiv eiserne Gerüst der riesigen Brooklynbrücke, die über den Meerarm geht. Darüber laufen Eisenbahnzüge, Lastwagen und Passagiere in drei Etagen übereinander.«

»Es sieht ja nur wie ein paar Drähte aus, hoch in der Luft«, konnte ich nur staunend stottern und war sprachlos und hatte vor den ungeheuren Maßen, die einem beim Eingang nach New York auf die Nerven fielen, nur den Ausruf übrig: »Doktor, und eine Reise zwischen Bremen und New York nennen Sie eine Nervenkur?« Kein Europäer, der nicht hier war, hat eine Ahnung davon, wieviel Nervenkraft er sich allein für den Anblick von New York mitnehmen muß. Schwache Nerven halten diesen Anblick gar nicht aus und beginnen vor dem alles Menschliche und alles Europäische überbietenden und fast gruseligen Anblick dieser Gigantenstadt zu verzagen.

London, Paris, Petersburg, Rom, Berlin und Wien sehen ja wie das künstliche Hirtendörflein Trianon der Marie Antoinette daneben aus. Nirgends in Europa stehen einem die Haare so vor Staunen und Schrecken zu Berg wie hier vor dem unheimlich riesenhaften New York.

Über diesem Staunen, erfüllt von den unerwarteten und nie erlebten Eindrücken, vergaß ich im Trubel der Landung sogar, dem plötzlich vielbeschäftigten Doktor Lebewohl zu sagen. Auch das Artistenpaar hatte ich vor dem Koloß New York, ebenso wie den Atlant und wie die ganze Seefahrt, im Handumdrehen aus dem Gesicht verloren. Als ich dann den Fuß von der Landungsbrücke setzte und im Zollhaus der Docks von Hoboken die neue Welt, den gewaltigen und selbstbewußten Kontinent, betrat, war ich sofort willig mehr Amerikaner als Europäer geworden.

Drei Tage hatte ich Zeit, mir Wolkenkratzer, Brooklynbrücke, Zentralpark und Hudsonriver in der Nähe anzusehen. Innen in der Stadt hatten die Straßen, die, eingefaßt von den himmelhohen Häusern, wie enge Gassen wirkten, etwas sehr Gemütliches, und das Gigantische, das die Silhouette New Yorks vom Meer aus einflößte, war im Stadtinnern nicht mehr beklemmend. Die neuzeitliche, eilige, fast lautlose Verkehrsart, die nirgends durch altmodische Einrichtungen und nirgends von schwerfälligen Traditionen gehemmt war, gab dem Neuling den Eindruck großer intelligenter Leichtigkeit, Zweckmäßigkeit und materieller Gediegenheit. Überall eilten, wie schnelle Schatten, Eisenbahnzüge durch die Luft, elektrische Tramcars gingen fast ohne Geräusch und Autos mit Gummireifen wie auf Teppichen. Pferde sah man kaum noch in dem Zentralpark, nirgends Hunde oder Sperlinge oder gar Kanarienvögel wie im guten Dorf Europa, da drüben über dem Wasser.

Sehr überlegen dachte und sprach ich schon am ersten Abend zu mir über Europa, als ob ich ein Stockamerikaner von Geburt wäre, und als ob ich mich schämen müßte, ein bäuerischer Europäer zu sein.

Ich hatte eine verheiratete Schwester in Philadelphia, die ich am nächsten Nachmittag auf ein paar Stunden besuchte. Als ich eine ihrer Töchter, die Griechisch und Latein wie ein Junge studierte, fragte: »Willst du mich nicht mal nächstes Jahr in Europa besuchen?«, da antwortete mir die junge Amerikanerin: »Ach, Onkel, komm doch lieber dann wieder zu uns herüber. Was soll ich denn da drüben in dem altmodischen Europa! Bei uns ist doch alles viel neuer.«

Das altmodische Europa da drüben...!

Als ich am Abend wieder von Philadelphia nach New York zurückfuhr, riefen die Eisenbahnräder unausgesetzt im Takt: »Das altmodische Europa da drüben! Das altmodische Europa da drüben!«...

Aber am dritten Tag atmete ich doch bei dem Gedanken angenehm auf, jetzt einen Dampfer nach Havanna und Vera Cruz besteigen zu können und nach dem heißen Asphaltpflaster und nach der Strenge der künstlichen Millionenstadt das natürliche Meer wieder sehen zu dürfen und Meerluft einatmen zu können, glücklich wie eine freie Wolke.

Vor allem jagte mich der Zahlenspuk aus New York. Fortwährend wurde man von Zahlen tyrannisiert; und daran, daß ich mich nicht an das Behalten von hunderterlei Zahlen gewöhnen konnte, erkannte ich mich doch immer wieder als unbeholfenen Europäer dem zahlenliebenden Amerikaner gegenüber.

Fragte ich nach einer Schiffsagentur, nach einem Magazin, nach einer Firma, so hieß es immer ungefähr so: 164. Straße, 52. Block, Hausnummer 3978, Telephon 71–63–29, Lift 16, in der 34. Etage. Wehe, wenn eine Ziffer einer Nummer dir entfiel! Fragtest du zum zweitenmal, wurden dir von neuem wieder alle acht Zahlen heruntergeschnurrt mit einer Schnelligkeit, als ob ein Blitzzug mit einer Reihe glitzernder Fenster dir vor der Nase davonführe.

Ich verließ also, zur Weiterfahrt nach Mexiko gerüstet, New York aufatmend wie ein Bauer, der sich ein paar Stadttage geleistet hat und jetzt zum Misthaufen heimkehren darf. Und dabei war ich seit Jahren in Berlin, Paris und London zu Hause wie ein Stallhase in seinem Stall. Aber Amerika und die amerikanische Milliardärstadt New York waren mir so neu, als ob ich ein einfältiger Hinterwäldler wäre, der vorher nie seinen Dachstuhl verlassen hätte.

Ich war im »Hollandhouse« in der Fifth Avenue abgestiegen. Diese Straße, die auch die Millionärstraße benannt ist, war mitten in New York immer noch eine der verhältnismäßig stillsten Straßen, da dort nur Autos und keine Hochbahnen rannten. Ich verließ am dritten Tag nach dem Lunch das Hotel, um noch einen Spaziergang auf dem Broadway zu machen, denn ich mußte erst am Spätmittag am Hafen sein, wo mein Schiff nach Mexiko abging.

Der Straßenasphalt brannte mich durch meine Stiefelsohlen, so heiß war er; und wie die gespannte Atmosphäre in einem Hochofen stand strahlende Junihitze zwischen den Häuserblöcken. Ich hatte in den Zeitungen eben erst gelesen, daß hier täglich Hunderte von Personen am Hitzschlag starben, und daß Hunderte von Menschen nachts vor Hitze nicht in ihren Wohnungen, sondern auf den Dächern, auf den Hudsonflußdampfern und auf den Bänken in den Squares schlafen mußten. Die Hitze strahlte jetzt auf mich, um zwei Uhr nachmittags, von vier Seiten: von dem Sonnenbrodem am Himmel herunter, senkrecht herauf vom gespannt heißen Asphalt und links und rechts aus den riesigen Steinprismen der an zwanzig und dreißig Stockwerke hohen, glühendheißen Mauermassen.

Man fühlt sich von jedem Haus heiß angehaucht, als wäre es mit flüssigem, weißglühendem Stahl angefüllt, und als könnten sich die Glutmassen durch die Myriaden von weißblendenden Fenstern jeden Augenblick über einen ergießen. Ich konnte kaum atmen: die Luft brannte mir in den Lungen wie der Asphalt unter den Stiefeln.

Ich hatte den Broadway noch nicht erreicht, da schien es mir, als schlösse man droben über den dreißig Stockwerken der Häuser den Himmel mit schwarzen Eisendeckeln zu, mit Deckeltüren, wuchtig wie an eisernen Tresoren.

Es waren Gewitterwolken, die sich so tief in die Straßen senkten, daß die obersten Stockwerke in dem dämonisch dunkeln Qualm aussahen, als sollten alle Menschen, die dort oben wohnen, vom Himmel erstickt werden.

Ich erreichte dann beklommen den Broadway und stand einen Augenblick vor der Office des New York Herald und sah den hinter mächtigen Glasscheiben arbeitenden Riesenrotationspressen zu, die mächtige Bänderrollen von Papier zu verschlingen schienen, und die in ihrem Papierhunger wie fressende eiserne Ungeheuer mit kauenden Metallzähnen hinter den Spiegelscheiben der Schaufenster Meilen von breiten Papierstreifen unausgesetzt in sich hineinschluckten.

Zugleich flog über mir im Dunkel des Himmels ein blauer Blitz nach dem andern durch die Wolken und beleuchtete kraß die Schnellpressen vor mir, so daß die Stahlräder und Stahlzylinder der Maschinen aussahen, als ob sie beim Papierkauen Funken spien.

Es regnete nicht, es donnerte auch noch nicht; um so heißer war es jetzt in den Straßen, deren Luftlücken droben von Elektrizitätsmassen wie verstopft schienen.

Ich überlegte eben, daß ich, wenn ich nicht auch einem Hitzschlag erliegen wollte wie Tausende täglich in Amerika, wohl besser täte, ein Automobil zu nehmen und nach dem Hafen zu fahren, damit ich aus den Hochglutspannungen der Dreißigstockhäuser in eine leichtere Atmosphäre käme.

Da wurde mir im Rücken heiß, als wenn mir mein Rock am lebendigen Leib hell aufbrannte. Ich sehe zugleich alle Maschinen hinter dem Spiegelglas weiß werden, als würden sie zu Aluminium, und waren doch eben noch dunkler Stahl gewesen. Ich habe keine Zeit, mich umzuwenden. Die Spiegelscheibe zerplatzt mit einem Klang, als zerspringe ein Instrument, dem alle Saiten platzten, und das von Schellengerassel begleitet wurde. Ich fühle: es geschieht etwas Grauenhaftes. Den Kopf über die Schulter zurückgewandt, sehe ich hinter mir große weiße Flammen fortfegen, verstehe aber nicht gleich, woher die Flammen kommen, die wie wogende Reihen weißer Fahnen durch die Luft jagen.

Da packt mich ein Arm, und es zieht mich mit einem Ruck ein Mensch zu sich.

Ach, die blonde Dame! riefen plötzlich meine Augen meinem Herzen zu. Die blonde Dame stand neben mir. Aber ihr Gesicht entsetzte mich, als ich es dicht in der Nähe sah: es war blaurot wie die Kropfhaut eines Truthahnes. Ich hörte Männer, die riefen: »Kurzschluß! Die Hochbahn brennt!« –

Dann weiß ich nicht mehr, wie alle Ereignisse der Reihe nach folgten; und oft habe ich mich seitdem besonnen, um mir den Gang der Erlebnisse klarzumachen. Ich höre immer nur Hilfegeschrei, Hilferufe aus der Höhe, von der Seite, aus der Tiefe, und sehe die Augen der Blonden, die sich mit beiden Händen, während ihre Augen wie zwei Kreisel vor mir tanzen, an meinem Spazierstock krampfhaft festhält, so daß ich nicht weitergehen kann, ohne meinen Stock in ihren Händen zu lassen. Menschen in Arbeitskitteln und nach Druckerschwärze riechend, Metall- und Maschinengeruch, vermischt mit einem ätzenden Schwefelgestank, waren plötzlich rings um mich und die blonde Dame, die an meinem Stock zerrte; dabei klingelte es fortwährend in den Lüften. Ich begriff nicht gleich, daß tausend Fensterscheiben platzten, sondern glaubte einen Augenblick, es klingelten mit Schellen behangene Zirkuspferde, oder Schlittengeklingel würde irgendwo als Reklame nachgeahmt. Ich dachte und verstand nur, daß entweder ich oder die ganze Stadt um mich plötzlich vor Hitze wahnsinnig geworden sei.

Die Blonde erzählte mir später oft, wenn wir diesen Schreckensaugenblick besprachen, daß ich immer gerufen hätte: »Davon wird es nicht besser! Lassen Sie doch meinen Stock los! Davon wird es nicht besser!«

Ich weiß nicht, ob ich das sagte. Ich weiß nur, daß ich plötzlich begriff, daß ein mächtiger Kurzschlußbrand entlang der ganzen elektrischen Hochbahn, deren Damm auf der anderen Seite der Straße lag, entstanden war. Elektrische Stichflammen von der Größe riesiger Geisire fuhren wie blendende Strudel dort oben vom Bahndamm in die Lüfte. Zugleich sah ich einen brennenden, menschengefüllten Zug in der Ferne stillstehen; sah die Waggons, aus denen rote und gelbe Brandfeuer und Rauch quollen und Menschen wie Akrobaten sprangen – springende Menschen, die aus der Ferne anzusehen waren wie Rudel von dressierten Flöhen, die vom haushohen weißlohenden Bahnkörper in die Straße hüpften, um wie kleine schwarze Kleiderbündel auf dem weißen Asphalt liegenzubleiben.

Dann weiß ich nur noch, daß ich zu den leblosen Kleiderbündeln eilen wollte, daß aber die Blonde rief: »Sehen Sie denn nicht? Der Asphalt beginnt zu rauchen! Alles brennt! Ach, wenn ich doch bei meinem Mann wäre! Ach, mein Herr, ich will nicht ohne meinen Mann sterben! Ich will nicht – ich will nicht sterben!«

Das erweichte meinen Willen, der durchaus zu den regungslosen Menschenkörpern wollte. Ich begriff, daß hier keine Zeit zum Helfen war. Ich sah, daß das brennende Metall der Bahnschienen schmelzend von dem Bahndamm in weißdampfenden Bächen auf die Straßen rieselte und den Asphalt in Brand setzte, der sich plötzlich schwarzqualmend wie die Haut eines lebenden Tieres in der Hitze zu krümmen begann und zu prasseln.

Ein, zwei, zehn Menschen, blutüberströmte Gesichter, eine Frau in Trauer, deren schwarzer Trauerschleier gelbes Feuer gefangen hatte, stürzten heulend wie Irrsinnige in die nächsten Häuser. Und immer noch sah ich in der Ferne Gestalten vom Fahrdamm hüpfen. Immer, wenn der Rauch sich zur Seite bog, sah ich mit hochgehobenen Armen Hüpfende, die sich in der Luft überschlugen.

Ich hatte von der plötzlich todstummen Blonden kein Wort mehr gehört. Um uns klingelten Glasscherben. Ich ließ ihr meinen Stock, den sie festhielt, und riß sie am Handgelenk vorwärts. Dabei mußte ich deutlich an ein Bild aus der Doréschen Bibel denken: die Flucht Loths aus dem brennenden Sodom. Die wahnwitzig weißen Flammenfächer fuhren droben auf der Hochbahn immer noch wie weiße Serpentinentänzerinnen unheimlich vorbei, und die tausend Glasscherben, die aus den Häusern oben herabstürzten, von den elektrischen Flammen wie zu Staub und Mosaiksteinchen zermalmt, überschütteten uns beide auf unserer Flucht, aber der Schreck hatte uns wie immun gegen jede Verletzung gemacht. Ich lief vom Bahndamm mit der Blonden im Arm in eine Seitenstraße, wo Reihen von Autos eingepfercht standen und Tausende von Menschenköpfen, durch weiße Feuer beleuchtet, uns Platz machten.

Kaum waren wir gerettet, kaum saßen wir in einem Auto, so fiel die Blonde bleich in die Lederkissen zurück, schloß die Augen und sagte: »Ich habe ja nie nach New York gewollt. Habe ich es nicht immer gesagt: ich hasse diese gräßliche Elektrizität, diese unnatürlichen, gräßlichen Maschinen. Aber du willst es ja nicht glauben, du wolltest es ja mir nie glauben, wenn ich's immer sagte, daß mir dies Maschinenleben heutzutage unheimlich ist. Oh, wären wir doch nie in dieser furchtbaren Stadt ans Land gestiegen!«

Dann öffnete sie die Augen, sah mich groß an, schloß die Augen wieder und murmelte wie eine Betrunkene: »Bringen Sie mich zu meinem Mann! Ich will nicht ohne meinen Mann sterben. Ich will zu meinem Mann!«

Dann wurde sie still. Ich weiß nicht: wurde sie ohnmächtig, oder war sie eingeschlafen vor Erschöpfung – das konnte ich nicht erkennen, denn ich hatte in meinem Leben noch nie eine ohnmächtige Frau gesehen.

Ich verhielt mich still, als ob ich nicht existierte, mußte nur mitten im Schreck einen Augenblick lächeln, weil die Dame meinen Stock immer noch krampfhaft in beiden Händen hielt.

Ich hatte das Auto nach dem Hafen beordert, zu jenem Dock, von dem mein Dampfer nach Mexiko abfuhr; denn ich erinnerte mich plötzlich wieder, daß der Doktor gesagt hatte, das Artistenpaar würde am dritten Tag nach Mexiko reisen. Also käme der Mann, wenn er nicht auf der Hochbahn verunglückt wäre, sicher dorthin aufs Schiff, da es nur noch ein paar Stunden bis zur Abfahrt waren und es meines Wissens keinen andern Dampfer gab, der heute nach Mexiko fuhr.

Aber wenn der Mann der Dame auf einem andern Dampfer wäre – was dann? fragte ich mich und betrachtete die geschlossenen Augen der halbtoten Dame, wie um sie mit meinen Blicken zu kräftigen. In Angst, daß sie am Ende vor Schreck irrsinnig würde und mir während der Fahrt aus dem sausenden Auto spränge, behielt ich die Regungslose in strenger Beobachtung und dachte dabei: Das alles kann ebensogut ein Alpdruck, ein Traum sein. Vielleicht wache ich auf, vielleicht bin ich durch einen Hitzschlag ohnmächtig umgefallen und sehe eine gigantische Fieberphantasie für Wirklichkeit an, während ich doch auf einer Unfallstation liege. Auf der langen Fahrt zum Hafen wurden uns bereits Extrablätter von Zeitungsjungen ins Auto geworfen. Wo die so schnell herkamen, weiß der Himmel. Ich las die großen Lettern: »Die Hochbahn brennt auf Meilen, zehn Züge stehen in Flammen. Ursache: Kurzschluß. Enorme Flammen eilen auf dem Hochdamm dem Bahnkörper entlang und schmelzen die Schienen. Viele Leute stürzten sich aus den Hochbahnzügen auf die Straßen hinunter. Hunderte Tote und Verwundete.« Da hatte ich es gedruckt, schwarz auf weiß vor meinen Augen. In ein paar nüchternen Sätzen hintelegraphiert und gedruckt – das gigantische Ereignis, dessen Zeuge ich eben gewesen war. Ein anderes Auto jagte uns in der Hafenstraße entgegen und hätte uns beinahe angerannt. Drinnen erblickte ich den Mann der blonden Dame, der auch schon ein Extrablatt in den Händen hielt und wahrscheinlich ein Auto genommen hatte, um seine Frau zu suchen.

Er erkannte sofort den hellblonden Kopf seiner Frau. Ich ließ halten. Er nickte mir nur zu; er verstand gleich alles, wir drückten uns kaum die Hände. Er stieg zu seiner Frau ein, und ich hörte nur, wie er das Dock und das Schiff nannte, das nach Mexiko gehen sollte, und das auch mein Schiff war. Dann sausten beide davon.

Ich nahm sein Auto, um zum »Hollandhouse« zurückzueilen und meine Koffer zu holen. Ich stellte mir im Geist das Bild der Ohnmächtigen noch einmal vor. Die Dame hatte fast verständnislos nur die Augenwimpern etwas geöffnet. Sie lächelte nur ein wenig, als sie ihren Mann sprechen hörte. Ich hatte nicht gewagt, sie aufzuwecken. Denn sie schien ganz schwach und einer Ohnmacht nahe zu sein.

Als ich zum Hotel fuhr, bemerkte ich unterwegs, daß ich der blonden Dame meinen Spazierstock gelassen hatte. Und ich mußte lächeln und nochmals das Extrablatt durchlesen, um mir zu bestätigen, daß ich nicht nur von diesen Schrecken träumte. – – –

Am nächsten Morgen, als ich auf dem Dampfer »Florida« in meinem Kabinenbett aufwachte und zu dem runden Fenster hinaussah, waren wir längst viele hundert Seemeilen von New York entfernt und gingen draußen im Meer südwärts und sahen die amerikanische Küste nur noch wie einen dunkelblauen Faden im Westen über dem Wasserraum.

Ich hatte am Abend vorher, als ich mich auf der »Florida« einschiffte, keine Lust gehabt, nach dem Nachmittagsschrecken Menschen zu sehen; ich dachte mir auch, daß wahrscheinlich das Artistenpaar ebenso wie ich der Ruhe bedürftig sein würde. Ich legte mich in meine Kabine und erwachte morgens in den Kleidern auf meinem Bett. So tief hatte mich die Erschöpfung und Ermattung in einen schweren Schlaf taub hingeworfen, daß ich weder das Lichten der Anker noch das Glockenzeichen zum Abendessen gehört hatte und auch nachts nichts von mir wußte und erstaunt war, mich des Morgens angekleidet im Bett zu finden.

Ich erinnerte mich beim Erwachen zuerst nur noch an die vielen Ambulanzautos der Rote-Kreuz-Vereine, die mir bei der Rückfahrt zum Hollandhouse in allen Straßen in langen Zügen begegnet waren, und die in mir den Eindruck hinterlassen hatten, als sei in New York plötzlich binnen einer Stunde eine Epidemie ausgebrochen. Mein Auto hatte zur Rückfahrt in die Stadt die doppelte Zeit gebraucht, da es wegen der vielen Krankenwagen, die uns begegneten, nicht schnell fahren durfte. Und der Karbolgeruch, der sich in kurzer Zeit durch die New-Yorker Straßen verbreitete, haftete jetzt, am nächsten Morgen, noch an meinen Kleidern wie ein letztes Anhängsel von jenen Schreckensminuten, das mich weit hinaus auf die See begleitete.

Neun Tage sollte die Seefahrt dauern. Am siebenten Tag sollten wir Havanna anlaufen, am achten Progreso in Yucatan und am neunten Tag Vera Cruz in Mexiko.

Jetzt lagen also sieben Seetage ohne Haltestation vor mir – so rechnete ich eben aus.

Da klopfte es an meine Kabinentür. Ein Negerkopf mit einer Stewartmütze schob sich durch die Türspalte und grinste und blähte die Nasenlöcher. Er sah aus wie der Kopf eines jungen Rhinozeros, das mich anblinzelte.

»Haben Master ausgeschlafen?«

»Bringen Sie mir Tee!«

»O Master, es ist sieben Uhr nachmittag und bald Dinerzeit!«

Ich betrachtete verblüfft meine Uhr, welche stillstand und auf acht zeigte – was ich für acht Uhr morgens gehalten hatte.

»Alle Leute sind heute spät aufgestanden, viele sind krank vom Schrecken gestern in New York; der Master wissen doch. Ich wollte nur sehen, ob der Master auch krank ist«, sagte der einsichtsvolle Schwarze.

Ich hatte also fast vierundzwanzig Stunden hintereinander in den Kleidern geschlafen, ohne es zu wissen, und sah mich noch immer von Schreckensbildern umgeben, sobald ich die Lider einen Augenblick schloß. Der erste Seetag war also ohne Bewußtsein für mich vergangen, und ich hatte nur noch sechs Tage Fahrt, bis wir den Hafen von Havanna anlaufen würden, und keine sieben Tage mehr, wie ich eben, ehe der Negerboy kam, ausgerechnet hatte.

Die sechs Tage bis Havanna vergingen mir beinah ebenso unbewußt wie dieser erste Tag, den ich im Schlaf zugebracht hatte.

Das Artistenpaar hielt sich seltsamerweise, beinahe wie verschämt, von mir fern. Nur bei den Mahlzeiten sah ich die beiden am entgegengesetzten Ende des Tisches.

Die Dame trug jetzt nicht mehr ihr eng anliegendes Manchestersamtkleid, sondern ein faltenreiches, maigrünes Kleid, das durchaus nicht nach der herrschenden Damenmode zugeschnitten war; es fiel wie ein Babykleid ohne Taille lose an den Hüften herab und war wie ein Kleid aus der Zeit der Königin Luise von einer grünen Seidenschärpe hoch unter der Brust zusammengehalten.

Wie ich es fertigbrachte, dem Ehepaar beinahe fünf Tage lang auf dem schmalen und nicht sehr großen Dampfer nicht zu begegnen, blieb mir täglich ein Rätsel. Ich begriff nur, daß die Dame sich wahrscheinlich wegen des Schrecks in New York und der grotesken Situation dabei nachträglich schämte, und daß beide mir heimlich auswichen, ohne daß ich es bemerkte; denn ich wich ihnen niemals aus. Aber auch ich suchte sie nicht auf, nachdem beide sich rasch vom Tisch erhoben hatten, als ich mich ihnen bei meiner ersten Mahlzeit nach dem Dessert genähert hatte, um mich nach dem Befinden der schönen Blonden zu erkundigen.

Wenn ich auf meinem Deckstuhl lag und las oder träumte, sah ich beide immer nur weit in der Ferne am entgegengesetzten Ende des Bootes auftauchen und verschwinden. Auch sagte mir der Negerboy, der Mann der Dame hätte seinen und seiner Frau Tischplatz am Tafelende gewählt, nachdem er vorher die Passagiernamen, die in einzelnen geschriebenen Karten bei jedem Kuvert lagen, sorgfältig durchgelesen hätte.

Der Mann ist eifersüchtig, oder er hat ein Geheimnis, dachte ich mir oft; aber ich kümmerte mich nicht länger um die beiden, bis ein neuer Zufall mir die blonde Dame, ähnlich wie das erstemal, noch vor Havanna und auf diesem Schiff in die Arme trieb.

Aber ehe das geschah, begab sich eine Weile vorher eine Einleitung. Die wurde hervorgerufen durch die auffallende Gesellschaft von Passagieren erster Kajüte auf diesem Dampfer, in deren Mitte ich mir hier täglich vorkam wie ein Detektiv unter Gaunern. Denn das Schiff mit dieser niegesehenen Welt, die da nach Mexiko reiste, erschien mir bald wie eine wandernde Hochstaplerburg.

Am zweiten Tag auf See begann bereits die Wärme des Südens sich über das Wasser zu breiten, und man konnte glauben, das Meer sei eine unendliche Herdplatte, die unterirdisch sanft und langsam angeheizt würde, und alle Kleider am Leib wurden einem unbequem.

Beim Lunch sagte der Kapitän, neben dem ich während der ganzen Reise saß, zu mir: »Donnerwetter, die verfluchten Kerle können nicht mal, wenn sie sich zu Tisch setzen, einen Kragen anziehen; wenn solche Leute erster Klasse reisen, sollten sie sich auch erstklassig benehmen können.« Und dann fügte er verächtlich hinzu: »Spanische Schweine!« Das wurde von dem ehrlichen Amerikaner so laut gesagt, daß jeder bis ans Tischende den ganzen Satz gut verstehen konnte. Und ich war erstaunt, daß keiner der indirekt Angeredeten aufsprang und den Kapitän aus seinem eigenen Eßsaal hinauswarf.

Ich betrachtete da zum erstenmal die Reisewelt um mich näher und kam mir vor, als ob man mich, im Vergleich zu den Passagieren des strammen, tadellosen Norddeutschen Lloyddampfers, aus einem Offizierskasino auf einen Kehrichthaufen befördert hätte.

Nicht der Dampfer, nicht der kleine, schmale Eßsaal oder die Bedienung gaben mir diese Empfindung, sondern das höchst unklare Reisepublikum, das diesen Dampfer anfüllte wie ein Haufen unangenehmer Bettinsekten und sich dazu halb frech, halb räuberisch, halb zuchthäuslerisch, halb verwildert und halb komisch ernst benahm.

Der Kapitän hielt sich zu mir und ich mich zu ihm, da er aus der Schiffsliste wußte, daß ich aus Deutschland kam, also kein »Spanisches Schwein« war, und weil er außerdem sah, daß ich bei Tisch einen Kragen trug, und schließlich, weil er mit diesen Goldschmugglerbanden und offenkundigen Straßenräubern nichts zu tun haben wollte.

Das Wort »Raubmenschen« tauchte mir gleich nach dem Mittagessen auf, als ich mich in den schmalen und mit Bambusstrohbänken ausgestatteten Rauchsalon setzte, ein Buch in der Hand hielt und lesen oder schlafen wollte. Ich saß noch keine zehn Sekunden in meiner Ecke und schaute durch das Fenster und in den Rauch meiner Zigarre, da tauchten drei Typen vor mir auf, die vorher mit zwei anderen halbleise verhandelt hatten. Jeder von ihnen hielt ein Paket Spielkarten in den Händen, dessen Blätter er zwischen den Fingern geräuschvoll schnurren ließ. Jeder einzelne ging mit den Karten in der Hand an mir noch einmal vorbei, pfiff oder summte eine Melodie, spuckte durch die offene Rauchsalontür schallend aufs Deck hinaus, ging dann an den Tisch zu den zwei andern, machte ihnen Zeichen und kam nervös wieder, um mich von neuem zu umkreisen wie eine Brummfliege, die sich niedersetzen möchte, aber noch nicht sicher ist, ob man nicht vielleicht nach ihr schlägt.

Endlich kommt ein großer, langer Mensch, schon grauköpfig, mit einem blauen Pincenez im Gesicht, das schlaff auf seinem vertrunkenen Nasenzipfel saß, vom Deck draußen herein, blättert in einer alten Zeitung, sieht mich über die Zeitung einen Augenblick an und tritt direkt auf mich zu. Den Hut im Nacken, ohne zu grüßen, ohne sich vorzustellen, fragt er, über die Zeitung schauend: »Sie sind Spanier? Sprechen Sie Englisch? – Die Herren dort lassen fragen, ob Sie mit ihnen Karten spielen wollen?«

Ich sagte, daß ich nicht Karten spielte, und rührte mich nicht hinter meiner Zigarre, doch fügte ich unvorsichtigerweise hinzu: »Ich kenne die Herren nicht.«

Sofort, wie auf einen Signalpfiff, standen die drei andern, die nicht mehr mit den Kartenspielen lärmten – als wenn sie alle lautlos auf meine Antwort gewartet hätten –, neben dem langen Grauen; ihre Augen glänzten wie Wolfsaugen hinter Menageriegittern, als warteten sie nur auf ein neues Signal, um mich ganz zu umzingeln.

» O well, Sie können das Spiel schnell lernen! Die drei Herren machen sich ein Vergnügen daraus, es Sie zu lehren. Sie tun ja doch nichts. Man muß sich auf der Seereise unterhalten, sonst wird man seekrank. Sie sehen übrigens sehr gelangweilt aus. Also, hopp, kommen Sie und spielen Sie. Man spielt, wenn Sie wollen, zuerst nicht zu hoch; dann später wird man sehen! Sie können Ihr ganzes Reisegeld von Europa nach Mexiko in einem Nachmittag zurückgewinnen. Come along, lassen Sie die Herren, die sich für Ihr Vergnügen interessieren, nicht herumstehen! Sie wußten nicht, ob Sie vielleicht nur Spanisch sprechen oder nur Deutsch, wir haben gedacht, dem Äußeren nach, daß Sie ein Spanier sind. Aber an Ihrem Akzent verstehe ich jetzt, Sie sind kein Spanier und auch kein Amerikaner...«

Als ich mich noch immer nicht rühre, und da der Mensch mir ansah, daß ich eine Abweisung auf den Lippen bereit hatte, sobald er in seinem Wortschwall aussetzen würde, schwätzt er unverfroren, unverschämt weiter, indessen er mit langen Armen sich einen Klappstuhl herbeilangt, ohne mich mit den Blicken hinter seinem wackeligen blauen Pincenez aus den Augen zu lassen, und immer sprechend, dirigiert er mit den langen Beinen zwei von den Kartenwölfen auf meine Bank hinter meinem Tisch. Der dritte holt sich gleichfalls mit dem stummen, gelenklockeren Handgriff eines begabten Taschendiebes einen Stuhl, die zwei neben mir ließen sofort wieder die Karten laut und ungeduldig durch ihre Finger schnurren – und nun sitzen plötzlich drei Kerle um mich, und ich in meiner Ecke an der Wand bin eingeschlossen, so daß ich meinen Weg entweder über den Tisch oder unter dem Tisch durch nehmen muß, sobald ich meine Absicht kundgegeben habe, daß ich nichts mit der Aufdringlichkeit dieser Herrschaften zu tun haben will.

»Was tun Sie oder wollen Sie eigentlich in Mexiko?« schwätzt der graue Lange mit gelenkiger Zunge weiter, gelenkiger noch als die unangenehm geschmeidigen Hände der andern, denen man ansah, daß sie den Bauernfang mit den Karten als jahrelangen Beruf gewandt und begierig trieben.

»Sie reisen natürlich, weil Sie Geld haben?« fuhr es ihm ungeschickt eilfertig und geläufig aus dem Mund, aber er schickte flugs ein paar Sätze hinterher, um die unkluge Direktheit der Frage zu verwischen. »Ich meine, weil es keinen Europäer gibt, der ohne Geld über den Atlant kommen darf, denn wir Amerikaner lassen jetzt keinen mehr zu uns, der nicht nachweisen kann, daß er sich erhalten kann.«

Nun fing der Vorsitzende des Kartenkollegiums, der mich so offenkundig plump und naiv und großsprecherisch mit Beschlag belegt hatte, an, mich zu belustigen. Ich sagte mir auch, es wäre besser, scheinbar gute Miene zu dem infamen Spiel der abgefeimten Kartenräuber zu machen, denn auf diesem Schiff könnte ich dieser Gesellschaft, die alle untereinander wie durch unterirdische Gänge verbunden schienen, bis zur Ankunft in Mexiko kaum mehr ausweichen. Auch hatte ich beobachtet, wie noch einige grinsende Typen draußen am Fenster des Rauchsalons gleich Wachtposten auf und ab gingen.

Die Kleider aller dieser Gentlemen waren abgenützt, das Schuhwerk schlecht, die Wäsche besudelt und der Hals natürlich in der Hitze kragenlos; einige waren mehrere Tage nicht rasiert. – Ich fragte mich: Wie kommt diese Menschenklasse dazu, das teure Billet nach Mexiko erster Klasse bezahlen zu können! Alle diese Beobachtungen blitzten mir wie Wetterleuchten durch das dunkle, ungemütliche Gefühl, das ich in der Umgebung dieser Individuen empfand.

»Was tun Sie eigentlich alle in Mexiko?« fragte ich scheinbar harmlos zurück, ohne mich in meiner Ecke zu rühren und ohne irgendeine Frage des Bandenführers beantwortet zu haben.

»O wir!« grinsten alle zusammen.

» Business! Verstehen Sie: Geschäft! Geschäft!« riefen sie mir alle zugleich entgegen. Nur der blaubebrillte Häuptling schwieg und benützte die Sekunden, wo die andern schrien, um sich über die Absicht meiner Frage in seinem verblüfften Gehirn zu orientieren.

Er begriff, daß ich nach dieser Umkehrung des Fragespießes eigentlich in unbequemer Weise gewandter und strategischer war, als er mir zugetraut hätte. Er hielt auch den Überfall für heute für genügend und wollte sich keine offene Abweisung holen; darum war er dankbar, daß er meine Frage jetzt vorteilhaft von seiner Seite als eine Anknüpfung auffassen konnte. Er erhob sich plötzlich und sagte ganz unvermittelt zu den anderen Herren:

»Seht ihr denn nicht, daß der Herr ein Buch neben sich liegen hat! Es scheint mir ein gelehrter Herr zu sein, alle Deutschen sind gelehrte Herren!«

Da mußte ich unmerklich hinter meiner Zigarre lachen.

»Damit Sie sehen, daß wir Amerikaner aber ebenso guterzogene Gentlemen sind wie die Herren Europäer, wollen wir Sie heute nicht weiter stören. Wenn Sie lesen wollen, hätten Sie das sofort sagen müssen; wir Amerikaner würden das gleich gesagt haben. Kommt, Boys!« rief er den anderen kommandierend zu. Und ohne den Hut zu rücken, grußlos, wie die Gesellschaft gekommen war, drehte sie sich plötzlich nach der Tür. Als wollten sie mir die Aussicht dorthin verbarrikadieren, standen sie breitrückig unter der Türöffnung.

Ich hatte aber genug gesehen, um zu wissen, was draußen vorging. Die Wachtpatrouille der Hochstapler draußen hatte nämlich inzwischen auch einen Raubzug auf dem Deck in Szene gesetzt; und sie hatten einen harmloseren Menschen als mich auch richtig fest unter den Arm genommen und wollten ihn eben halb überredend, halb gewaltsam zum Kartenspiel in den Rauchsalon schleppen.

Es war ein junger, lebenslustiger Holländer, der mit seiner Mutter nach Mexiko fuhr, um eine Erbschaft anzutreten. Er hatte eine Zuckerfabrik von einem Verwandten geerbt – dies hörte ich später von der Mutter selbst. Noch ehe wir in Vera Cruz ankamen, stürzte sich dann der junge Mann ins Meer. Die Raubmenschen hatten ihm im Kartenspiel eine Geldsumme, die er zum Unterhalt für seine Mutter und als Betriebskapital der Zuckerfabrik auf der Brust verwahrte, in raschen Raten abgenommen. Nachdem sie ihn erst ein paar Tage scheinbar Glück haben und in kleinen Einsätzen hatten Gewinner sein lassen, steigerten sie am letzten Tag die Einsätze aufs höchste und nahmen ihm das ganze Geld seiner Mutter ab.

Sie schenkten ihm während des Spiels Whisky in Massen ein, so daß das Gehirn des jungen Mannes erhitzt, überreizt und nach jedem Verlust noch gieriger und verstandloser wurde, bis er eines Nachts aufsprang und sich, da ihn auch niemand zurückhielt, über das Schiffsgeländer stürzte.

Gesehen hatte es niemand, daß er freiwillig den Tod gesucht hatte. Die Bande behauptete es, aber der Kapitän vermutete sogar, daß die Räubergesellschaft den jungen Mann im trunkenen Zustand, nachdem er von den Falschspielern geplündert war, über Bord geworfen hätte.

Im Augenblick, wo mich die Kerle verließen und, wie auf ein neues Signal hin, die Tür des Rauchsalons verstellten, begriff ich, daß sie mit den Kollegen draußen einen Augenblick überlegen wollten, ob es gut sei, die Ausplünderung des Holländers hier vor mir im Salon zu beginnen, oder ob es besser sei, nach einem unauffälligeren Platz auf dem Schiffsdeck zu suchen.

Die draußen aber, die sich wahrscheinlich durch Gespräche mit dem jungen Mann gründlich vergewissert hatten, daß er ein guter Fang war, schoben, in der Aussicht auf glänzenden Gewinn, ihr geködertes Opfer durch die Reihe der Kollegen; und ziemlich rücksichtslos und gleichgültig, ob sie mich dadurch verjagten oder nicht, ließen sich alle lärmend und sich mit Witzen anstachelnd und gar keine Notiz mehr von mir nehmend, mit dem jungen Holländer, drei Tische von mir entfernt, zum Spiel nieder.

Ich öffnete das Buch vor mir, stellte mich lesend, bis die Gesellschaft am Kartentisch lautlos wurde und so vertieft in ihrem Spiel lebte, daß ich wagen konnte, unauffällig den Rauchraum zu verlassen.

Ich sprach noch vor dem Diner den Kapitän und befragte ihn über diese Menschen. Er zuckte die Schultern. »Ja,« sagte er, »die meisten von ihnen schmuggeln Goldstaub, eingenäht in ihre Kleider, von Mexiko nach New York und reisen mehrmals im Jahr diesen Weg. Wenn sie sich auf dem Dampfer mit nichts anderm als nur mit Falschspielen befassen, kann man nichts machen; eine Schiffspolizei gibt es nicht, die das Spielen beaufsichtigt, und diese Leute spielen meist so verschmitzt, und es sind so viele, die da zusammenstecken, daß man ein ganzes Stadtviertel in New York und in der Hauptstadt Mexiko in die Luft sprengen müßte, um ein wenig unter dieser Sippe aufzuräumen. Sie plündern die Reisenden mit dem Kartenspiel, die als reiche Leute Mexiko verlassen und mit Vermögen in den Taschen heimkehren, und rupfen die Gimpel, die mit dem Rest ihres Vermögens nach Mexiko reisen, und die sich dort aufs Abenteuern verlegen wollen; sie schonen keinen, der sich mit ihnen ins Kartenspielen einläßt.«

»Ja, und das dürfen diese Banden so offen auf Ihrem Schiff, Kapitän? Falschspielen?!«

»Bedenken Sie, mein Herr, wir sind nicht im schnüffelnden Polizeihundland Europa. Sie sind hier auf diesem Schiff in den waghalsig freien Vereinigten Staaten; und wenn einer hier seinen Kabinenplatz bezahlt hat, dann habe ich ihm nicht in die Karten zu gucken. Das Schiff ist nicht mein Schiff. Ich bin von einer Schiffsgesellschaft als Kapitän angestellt und habe nichts anderes zu tun, als meine Passagiere und meinen Kargo sicher von Hafen zu Hafen zu befördern.

Sie sind alle erwachsene Menschen und können sich selber helfen. Jeder achtet in Amerika auf seine Haut; und wer es nicht tut, der ist ein Esel, und dem gebührt, daß ihm die andern die Haut nicht schonen, wenn ihm nichts an sich selber liegt.«

Natürlich, ganz recht...! Ich hatte ja vergessen, daß ich unter Republikanern war, seit ich den Atlant gekreuzt hatte, sozusagen am Urquell der Republik. Ich zuckte meinerseits auch die Schultern und ließ den Kapitän stehen.

Nach einer Weile, wahrscheinlich um mich diesen überseeischen Zuständen wohlgesinnter zu stimmen, kam der Kapitän an meinen Deckstuhl, auf dem ich lag und las, und brachte mir in der Hand einen schönen lebenden silberblanken Fisch, der feine seltsame lange bläuliche Flossen hatte, die den Flügeln einer Schwalbe ähnelten.

»Ein fliegender Fisch«, rief er mir zu. »Eben flog ein ganzes Rudel über das Schiff, und einer ist auf Deck gefallen. Haben Sie schon mal einen solchen Fisch gegessen? – Nicht? – Ich schicke den Fisch zum Koch hinunter, und heute abend sollen Sie ihn kosten, er schmeckt ausgezeichnet.« Der Kapitän lachte und trollte sich wieder auf seine Kommandobrücke zurück.

Von diesem Nachmittag an hielt ich mich meist in meinem Deckstuhl ausgestreckt, und wenn einer der Spielerfürsten an mir vorüber wanderte, schloß ich wie schlafend die Augen. Anders konnte ich diese Gewalttätigen nicht von mir halten. Oft hätte ich gern gewußt, ob das Artistenpaar auch in irgendeiner Beziehung zu diesen Raubmenschen stünde. Ich fragte einmal den Kapitän, ob er die blonde Dame und ihren Mann schon öfters nach Mexiko gefahren habe, aber er kannte sie beide nicht. Er taxierte sie für Vergnügungsreisende. Aber das konnte ich nicht glauben.

Am Nachmittag, der dem Tag der Ankunft in Havanna vorausging, saß ich wieder in meiner schattigen Ecke hinter den Kabinen und fächelte mir mit einem Buch Luft zu, denn es war schon tropisch heiß.

Da höre ich ein seltsames Pfeifen, zugleich das Läuten einer Schiffsglocke und das Tuten von kleinen Signaltrompeten.

Ein paar Matrosen, die eben über meinem Kopf eine Segelleinwand festknüpften, und ein paar andere, die das messingne Schiffsgeländer für die Ankunft in Havanna blank putzten und in meiner Nähe hantierten, fuhren mit den Köpfen herum, wurden blaß und ließen alles liegen und rannten fort, dem Signal nach.

Ein paar Matrosen, die unten an der äußeren Schiffswand das Schiff mit Ölfarbe weißten, kamen auf Deck geklettert und fragten mich, ob ich das Feuersignal gehört hätte. Dann, ehe ich antworten konnte, waren beide verschwunden.

»Feuer!« hörte ich noch ein paar Stimmen rufen. Zugleich sah ich die Köpfe der vielen Kartenspieler, die sich unter der Rauchzimmertür zeigten und lachten; dann winkte mir der lange Graue vertraulich aus der Ferne zu, so, als ob wir stündlich im Gespräch miteinander stünden, und rief: »Feueralarm, aber blinder Alarm. Es ist nur eine Übung der Mannschaft!«

Ich nickte und setzte mich beruhigt wieder auf meinen Stuhl.

Ich sah nach einer Weile die Matrosen mit blanken Messinghelmen auf dem Kopf, als Feuerwehrmänner gekleidet, an langen Wasserschläuchen zerren, die sie rund um das Deck schleiften.

Auf der Brücke kommandierte der Erste Steuermann, lebhaft gestikulierend und immer mit der Alarmpfeife in der Hand, und an den verschiedenen Schiffsenden antworteten ihm die Signaltuten der behelmten Matrosen; an einer Pumpe, deren Hebelarme sechs Mann auf und nieder stießen, war die Hauptmannschaft versammelt.

Da kommt eilig um die Kabinenecke die blonde Dame. Sie bemerkt die Schläuche, die quer über dem Deck liegen, nicht. Ich springe auf, da ich sehe, daß sie stolpert, und ich fange sie mit beiden Armen, so daß sie im Fallen mit ihren Händen an meiner Uhrkette einen Halt sucht und nun vor mir in die Knie sinkt. Aber sie hatte sich doch den Fuß beim Fall etwas verstaucht; und als ich ihr aufhalf, mußte sie sich auf meinen Deckstuhl setzen: sie konnte nicht sofort mit dem schmerzenden Fuß auftreten.

»Oh, brennt es wirklich?« fragte sie, und dabei mußte sie diesmal etwas lachen, weil es nun zum zweitenmal war, daß uns die Furcht vor einer Katastrophe einander in die Arme geführt hatte.

Ich beruhigte sie, und sie erzählte, daß ihr Mann unten in der Kabine Briefe schreibe, und daß sie der Feuerlärm und die fürchterlich frechen Gesichter der Leute im Spielzimmer aus ihrem Deckstuhl aufgescheucht hätten. Und dann beeilte sie sich und stand auf und hinkte leicht, duldete es aber nicht, daß ich sie zur Schiffstreppe führte.

Sie sagte mir keinen Dank für die Rettung in New York, auch jetzt keinen Dank dafür, daß ich sie aufgefangen hatte. Sie hatte es nur eilig, von mir fortzukommen, als wäre ihr verboten, mit einem anderen Menschen als mit ihrem kleinen Gemahl zu sprechen.

Sie ist wie ein fliegender Fisch, dachte ich, unbeholfen, wenn ihr etwas zustößt, und allgeschwind, wenn sie wieder fortschnellen kann, und sie ist sicher auch so wohlschmeckend wie ein fliegender Fisch, wenn man sie sieden machen könnte!

Seit ich ihre Hände an meiner Uhrkette gefühlt hatte, konnte ich an diesem Nachmittag stundenlang mit meiner Uhrkette spielen, ohne an etwas Bestimmtes zu denken. Es war mir dann nur, als ob ich nicht mit der Goldkette spielte, sondern mit ein Paar Frauenhänden.

Ich erwachte aus einem Halbschlummer und wußte, daß ich lebhaft von der Blonden geträumt hatte, aber den Traum selbst konnte ich in meiner Erinnerung nicht festhalten. Ich fühlte nur, daß ich mich langsam verlieben würde. Welcher Unsinn, sagte ich zu mir! Sie ist glücklich verheiratet. Es ist ein Unsinn, sich in das Glück anderer zu mischen; es ist infam, gemein, unsittlich, unverständig, hinterlistig, eines Mannes von Charakter unwürdig. Es bringt nur Unruhe, bringt schlechte Träume, macht ungesundes Blut, stört den Magen, die Nieren, das Herz und macht, daß die beste Zigarre nicht mehr schmeckt. Aber es schien, als ob die schwimmende Hochstaplerburg mich auch zum Hochstapler umwandeln wollte.

Ich konnte nicht anders: ich mußte meine Schritte noch am selben Abend mehrmals nach dem andern Ende des Schiffes lenken, mußte die blonde Dame umkreisen, wie mich die Falschspieler ein paar Tage umkreist hatten. Ich stand schon nahe bei ihr am Geländer des Schiffes, ausgerüstet mit aller Frechheit, die einen Ungeduldigen, einen von erwachender Leidenschaft ruhlos gewordenen Menschen unheimlich und räuberisch und teuflisch und komisch machen kann. Da trat jemand neben mich und sagte: »Guten Abend!« Es war der junge Mann der Blonden. Er hielt mir meinen Spazierstock hin und sagte: »Entschuldigen Sie, meine Frau trug mir schon lange auf, Ihnen Ihren Stock zurückzugeben. Ich fand noch keine Gelegenheit: Sie lasen immer, und ich muß sagen, ich bin auch etwas eingeschüchtert durch Ihre Kameraden hier, so daß ich es von Tag zu Tag verschob, mich bei Ihnen für die Hilfe, die Sie meiner Frau in New York gaben, zu bedanken.«

»Oh, oh, oh«, konnte ich nur sagen, dann mußte ich über das Wort »Kameraden« nachdenken. Der Mann, dessen Frau ich eben im Geist wie ein Seeräuber raubte, war kein gewöhnlicher Mensch, er war etwas befremdlich Neues, Unerklärliches für mich. Er hatte sanfte, unendlich ruhige Augen, und jetzt, wo ich mich im Geist vor ihm wegen der beabsichtigten Entführung seiner blonden Frau schuldig fühlte, sah ich ihn ganz anders als auf dem Atlantdampfer »Prinzregent«. Wahrscheinlich waren meine Augen durch die Erlebnisse der letzten Tage, durch den Todesschreck in New York, durch den Ekel vor den Falschspielern tiefsehend und ernster geworden, vielleicht auch ernster durch die Leidenschaft, die eben in mir für die Frau des kleinen Mannes aufkeimte, und ernster durch ein wenig Schuldbewußtsein, das ich dem Mann gegenüber empfand, weil ich meine Uhrkette in Gedanken stundenlang wie die Hände seiner blonden Gattin gestreichelt hatte.

Der Mann hielt dann plötzlich seinen Feldstecher vor die Augen und betrachtete die ferne dunkle Linie am abendlichen Horizont, die die Küste von Nordamerika war, an welcher wir nun fünf Tage schon entlang reisten.

»Präriebrand, Präriebrände«, sagte er und gab mir das Glas zum Hineinsehen.

Rotfeurige gelbe Striche, darüber sich schwarze Linien streckten, wahrscheinlich die Rauchlinien in der Luft und Feuerlinien im Gras, standen auf Meilen dort an der Küste von Norden nach Süden.

Während ich noch durch den Feldstecher sah, sagte mein Gehirn zu mir unaufhörlich: »Ihre Kameraden«, und ich fragte mich: sollten damit die Kerle gemeint sein, diese Falschspieler, die Raubmenschen?

Ich wurde bei diesem Gedanken an solche »Kameraden« in die beste Laune versetzt, gab den Feldstecher lachend zurück und sagte dem kleinen Herrn geradeheraus:

»Haben Sie sich deshalb von mir ferngehalten, weil Sie die Räuber dort im Rauchsalon für meine Kameraden hielten? Ich nehme Ihnen das übrigens gar nicht übel; denn da Sie sich so entfernt von mir hielten, glaubte ich wiederum, daß Sie selbst zu diesen Leuten gehörten.«

Wir lachten beide herzlich. Und nun war Freundschaft geschlossen, besonders, als sich mir die mystischen Artisten noch im Laufe dieses Abends beim Zusammensitzen unter dem Sternhimmel als zwei europamüde studierte junge Leute vorstellten. Er war ein junger Astronom. Sie war eine junge Holländerin, hatte in Paris Musik studiert und den jungen Deutschen, der zu Besuch bei Flammarion in Paris weilte, im Hause dieses Astronomen kennengelernt. Die beiden waren jetzt eben erst neu in England getraut und wollten über Mexiko nach Texas reisen, um dort die großen amerikanischen Sternwarten zu besuchen. Sie hatten nebenbei den kühnen Gedanken, wenn es ihnen in Mexiko gefallen würde, dort aus eigenen Mitteln eine Sternwarte zu bauen. In Mexiko, begünstigt von dem ewig klaren Himmel der Tropenzone, versprach sich der junge Astronom im jugendlichen Enthusiasmus, mit einer jungen schönen Frau an der Seite alle Einsamkeiten und Unbilden des fremden Kontinents leicht zu ertragen und sein ganzes Leben bei der Himmelsbeobachtung auf einer einsamen, selbst gebauten Sternwarte im Innern von Mexiko verbringen zu können.

Mir war, als wären die Sterne alle über dem wandernden Schiff jetzt auf einmal zu hübschen unschuldigen Kindergesichtern geworden. Wie ich dem jungen Ehepaar auf Deck in der Nacht gegenübersaß und mich wieder in der Nähe anständiger und wohlerzogener Menschen fühlte, schien mir das schwüle Schiffsdeck wie von einer frischen Brise reingefegt; Mexiko, vor dem mir schon gegraut hatte, wurde mir wieder lieb, und ich sah es wie mit den Augen der beiden träumenden Menschen an und sah die alten edlen Kulturen der Tolteken und der Azteken vor mir aufsteigen. Mir war, als verwandle die Gegenwart dieser ernst Strebsamen eine Räuberhöhle in einen Tempel.

Auch am nächsten Tag, als ich mit der blonden Dame sprach, fühlte ich mich vor ihrer Wohlerzogenheit nur als ein wohlerzogener Kamerad ihrer Gedanken, und nicht als ein brünstig und heimlich Begehrender. – Und wer hat das fertiggebracht, fragte ich mich, wer konnte die heimliche Sinnenlust in offene Seelenlust verwandeln? Nur die Raubmenschen sind daran schuld, mußte ich mir antworten.

»Ihre Kameraden«, hatte der junge Mann zu mir gesagt, als er mir meinen Stock reichte, und er hatte dies instinktiv richtig gesagt; denn ich war in derselben Sekunde, da er mich anredete, in meiner Seele und in meinem Herzen ein Raubmensch gewesen, wenn auch nur für Sekunden – ein Raubmensch oder Raubtier, so wie die Haifische da unten, die jetzt in der Nähe von Havanna in dunklen Umrissen unter dem Wasser unser Schiff umkreisten, und von denen man erzählt, daß sie Reisenden oder rudernden Matrosen beim Ausschiffen einen unvorsichtig über den Bootsrand ausgestreckten Arm abgebissen hätten, indem sich eines der Ungeheuer unversehens über die Oberfläche des Wassers aufschnellen ließ. Wie dieses gruselige Bild, so stand im Rückblick meine eigene Begierde vor mir, die Raubgier in mir, die um die junge Frau gekreist war, und die sich gerade angeschickt hatte, über die Oberfläche aufzuschnellen, um ein Stück von der Ahnungslosen an sich zu reißen.

»Ihre Kameraden.« Dieses Wort war ein Spiegel, in den ich plötzlich hineinsah, und in dem ich meine Raubmenschenhaltung gewahrte, weil das Wort unschuldig ahnungslos und unbewußt in der Abenddämmerung aus dem Munde des Mannes klang, des glücklichen jungen Mannes, dem mein Raubanfall gegolten hatte.

»Aber wie kommt es,« hatte ich das junge Ehepaar noch an jenem Abend gefragt, »daß Sie sich als Artisten in das Schiffsbuch des ›Prinzregent‹ eingeschrieben hatten, so daß die Offiziere und der Doktor Sie zum Varieté oder Zirkus gehörig betrachteten?«

Mit seiner eigentümlich melancholischen und verträumten Stimme sagte da der junge Astronom und streifte dabei mit einem lächelnden Blick seine Frau:

»Wir haben es wohl bemerkt, daß alle Leute auf dem ›Prinzregent‹ uns mit forschendem Blick beargwöhnten, konnten aber nicht verstehen, was diese Blicke hinter uns suchten. Da mir meine Pläne mit der Sternwarte heilig sind und ich sie vor der Ausführung nicht jedem Nächstbesten vertrauen wollte, und da wir uns nicht gerne unterwegs über den Zweck unserer Reise nach Mexiko ausforschen lassen wollten, habe ich es vermieden, mich als Astronom einzuschreiben. Weil nun meine Frau Musikerin ist und wir eben aus Paris kamen, wo das Wort Artist auf den Künstler im echtesten Sinn angewendet wird, schrieb ich ganz harmlos das Wort Artist hinter unsern Namen, um uns als Vergnügungsreisende, vielleicht als ein Malerpaar, welches Studienreisen machen will, auszugeben. Ich habe bei meinem langen Aufenthalt in Paris ganz vergessen, daß das Wort Artist in Deutschland eine Zweideutigkeit enthält und sowohl Künstler ernster als auch leichter Art bezeichnet.«

Nach dieser Erklärung des jungen Astronomen hat nächst dem Wort »Kamerad« uns jetzt das Wort »Artist« in den letzten Reisetagen zwischen Havanna und Vera Cruz viel Stoff zum Lachen gegeben. Und wir wurden besonders durch das Spielen mit diesen Worten immer vertrauter miteinander.

Auch den Raubmenschen, die uns noch immer auf diesem Dampfer umgaben, habe ich es noch fortgesetzt zu verdanken, daß meine Freundschaft mit dem Ehepaar herzlich und dauernd wurde, weil uns jene abenteuerliche Umgebung enger zueinander drängte.

Einmal, zwei Tage ehe wir nach Mexiko kamen, als wir draußen vor Yukatan bei Progreso Anker geworfen hatten und die junge blonde Frau neben mir am Schiffsgeländer lehnte und ins Wasser hinunter sah und neben uns ein paar Matrosen sich den Spaß machten, die Haifische, die unser Schiff umkreisten, mit leeren Sardinenbüchsen und mit Orangenschalen zu füttern, da mußte ich plötzlich wieder das starkgoldene Haar der Holländerin bewundern. Es hob sich wie getriebenes buckeliges Gold von der dumpfgrünen Meeresfläche ab und war auf dem von weißen Segeltüchern und weiß getünchten Wänden kreidig hellen Schiffsverdeck von so auffallender gelber Gegenwart, daß ich nicht umhin konnte, auszurufen:

»Ihr Haar, gnädige Frau, ist goldrot wie die Orangenschalen, die da unten im grünen Meer schwimmen!« Zugleich fiel mir schreckhaft ein, daß das Haar gefärbt sei, was ja damals die amerikanische Journalistin auf dem »Prinzregent« behauptet hatte. Aber es war zu spät. Ich konnte das Gespräch nicht mehr von dem heiklen und mir peinlichen Thema ablenken.

Schon sah die blonde Dame mich schnell an. Ich fühlte, was mir selten in meinem Leben passiert, daß das Blut mir in den Kopf schoß, und wußte, daß ich jetzt auf dem Schiffsdeck unter meinem weißen Segeltuchhut mit feuerrotem Gesicht vor ihr stand.

»Sie werden ja so rot,« rief sie lachend, »als ob Sie etwas anderes hätten sagen wollen? Meinen Sie nicht auch, daß meine Haare gefärbt sind? O bitte, fragen Sie nur ruhig! Ich bin es schon so gewohnt, immer gefragt zu werden, mit welcher Tinktur ich mein Haar färbe. Auf dem letzten Dampfer, dem ›Prinzregent‹, kam sogar eine Amerikanerin, eine Journalistin, in meine Kabine, um mich über mein Haar zu interviewen. Ich habe mir das Vergnügen gemacht, die Dame etwas an der Nase zu führen und habe ihr, als sie mit Notizblock und Füllfeder vor mir saß, die unglaublichsten Pariser Tinkturen diktiert, die ich täglich vom Morgen bis zum Abend anwenden müßte, um mein Haar bei Farbe zu erhalten. Als Dreingabe zu ihrer Zudringlichkeit machte jene Amerikanerin am Schluß des Interviews noch die Bemerkung:

›Die Europäerinnen müssen viel Zeit haben, wenn sie dafür Sorge tragen müssen, daß sie nicht abfärben.‹

Ich antwortete ihr daraufhin noch etwas boshafter:

›Ich finde, die Amerikanerinnen müssen noch mehr Zeit haben, wenn sie alle Geheimmittel Europas kennenlernen wollen und alle Menschen, um sich selbst zu verschönen, erst interviewen müssen.‹ Sie ging von mir in dem festen Glauben, daß ich gefärbtes Haar habe, und verstand gar nicht, daß ich mich im Geheimen gründlich über sie belustigt hatte. Ich bin aber sicher: sie ist sofort auf dem ganzen Schiff herumgegangen und hat es allen Herren und auch Ihnen erzählt, daß ich mein Haar färbe.«

»Ja, das ist wahr, das tat sie,« mußte ich bestätigen, »aber niemand hat es geglaubt, daß Ihr Haar, gnädige Frau, nicht natürlich wäre. Denn Ihr Gesichtsausdruck ist immer viel zu wahr, als daß Sie Ihr Haar lügen lassen könnten.«

»Oh,« fuhr sie erbittert fort, »ich hasse Amerika. Wenn mich auch das Gespräch mit der Amerikanerin belustigte, während ich sprach, war ich doch hinterher sehr aufgeregt über die inquisitorische Art jener Dame, die aus einem Lande kam, wo man immer mit dem Wort Freiheit protzt, und wo kein Privatleben geschont wird, keine Intimität, die jedem Gebildeten doch die höchste Freiheit bedeutet. Ich habe an demselben Tag noch krampfhaft weinen müssen; und an dem Tag, da wir in New York landeten, wollte ich gar nicht an Land gehen, so nervös war ich gemacht von der Zudringlichkeit der Journalistin. Dieses Land, scheint mir, erzeugt nur Raubmenschen, wie Sie die Spieler hier nennen, die das Schiff unsicher machen während der ganzen Fahrt. Und ist nicht das Riesenunglück in New York, die brennende Hochbahn, wie ein gigantisches Raubtier über uns hergefallen? Oh, mein Herr, ich glaube, nur hier im Süden läßt sich Amerika ertragen, wo die versöhnlichere Sonne wärmere Menschen erzeugt.« Und dann fuhr sie eifrig fort: »Ich freue mich so unendlich, wenn mein Mann und ich erst in einem stillen Land auf einer Berganhöhe bei unserer Sternwarte wohnen werden und ich das ganze Maschinendasein Europas und Amerikas über dem paradiesischen Dasein vergessen darf. Ich werde meine Violine spielen; und wenn mein Mann ruhig arbeiten kann, wird uns in Mexiko nichts mehr fehlen. Und wir werden dann glücklich sein in der selbstgewählten Einsamkeit, so glücklich, wie es einst die ersten Menschen waren.«

Ich antwortete nichts, um nicht die schöne Frau in ihrer schönen Schwärmerei zu stören. Ich sah nur hinunter auf das graugrüne Meerwasser, wo hie und da unter der Oberfläche ein dunkler breiter Schatten, der Körper eines sich tummelnden Haifisches, am Schiff entlang glitt.

Raubtiere und Raubmenschen, dachte ich, umgeben uns überall, auch in der Einsamkeit, offenkundige und heimliche.

Als das Schiff am nächsten Nachmittag in Vera Cruz landete, wo wir am Kai durch die Drogengerüche, durch Scharen blau eingepackter Zuckerhüte gingen, vorbei an den Haufen praller Kaffeesäcke und entlang an Wänden aufgestapelter goldbrauner Tabakbündel, und das kleine Hafenstädtchen mit den weißen niederen Häusern hell am Meer lag und aussah, als wäre es aus weißen Stücken Würfelzucker aufgebaut – da wollte ich eben der Dame und ihrem Mann sagen: »Wenn dieses ganze heiße Land, die Tierra caliente, voll so guter Menschen ist wie voll guter süßer Gerüche hier am Hafen, dann kann ich mir schon ein seliges Einsamkeitsleben für Sie beide hier im Innern des Landes vorstellen.«

Aber ich mußte mit dem Satz an mich halten, denn die junge Frau war ebenso wie ich vom ersten Schritt in das Land begeistert und fragte mich in einer Gedankenverbindung, die ihre Violine, ihre Einsamkeit und ihr Glück betraf, echt fraulich mitten unter Kaffee, Zucker, Tabak und Drogen:

»Kennen Sie vielleicht die Apollohymne, die man in Delphi ausgegraben hat? Sie ist auf einen Stein gemeißelt, und die Franzosen, die jetzt die Ausgrabungen in Delphi leiten, haben sie eben erst entdeckt. Mein Professor, der mir in Paris Harmonielehre gab, hat mir eine Abschrift davon besorgt und als Abschiedsgeschenk mitgegeben. Er hat mir die Apollohymne vorgespielt. Sie ist wundervoll und im Fünfvierteltakt geschrieben, was sehr selten ist. Wenn Sie uns auf unserer Sternwarte besuchen, werde ich sie bis dahin gelernt haben und sie Ihnen vorspielen.«

Während sie noch sprach, waren wir aus dem Hafen um eine Ecke gebogen, und zu gleicher Zeit mußte wir alle drei, ihr Mann, sie und ich, uns die Nase zuhalten, denn ein pestilenzialischer Gestank wehte uns aus den offenen Gossen der holperig gepflasterten Straßen entgegen – so scharf, so faulig und so fieberverpestet, daß wir den Atem anhalten mußten und kaum weitergehen konnten.

Und nicht genug damit – wir zögerten plötzlich auch weiterzugehen bei dem überraschenden und ungekannten Anblick von Hunderten von Aasgeiern, die alle Dächer die lange Straße hinauf dunkel säumten. Erschreckend war der Anblick der kahlen Schädel und nackten Hälse dieser schwarzen Riesenvögel. Einige hopsten in den Gassen und suchten mit ihren hakigen Schnäbeln nach Abfällen. Sie waren groß wie ausgewachsene Adler und schauten ebenso furchtbar drein. Drei, vier zankten sich mitten auf der Straße, beanspruchten die ganze Straßenbreite für sich, schlugen mit den Flügeln um sich und kreischten dazu ohrenbetäubend und gellend. Andere schwangen sich von den Dächern herab, als wollten sie uns hinterrücks überfallen. Andere flatterten, die Luft peitschend, daß es sauste, die lange Straße hinauf, die leer im Mittagslicht lag, nur auf den Gesimsen der flachen Dächer waren die Straßen belebt von den langen schwarzen Zeilen der menschengroßen Vögel, die unruhig ruckten, sich stießen und aufkrächzten. Es schien, als wäre die weiße Stadt ausgestorben und nur von schwarzen Aasgeiern bevölkert.

Haifische im Meere, Aasgeier in den Lüften und Fiebergestank auf der Erde – ich glaube, in dieser Raubwelt wird sich schwer der Friede zu einer Apollohymne finden, dachte ich. Aber ich sagte nichts, sondern trat hinter das schweigende Ehepaar und schritt auf schmutzigen glitschigen Stufen in ein kleines französisches Hotel hinein; das Haus war uns vom Kapitän empfohlen worden.

An meiner Schulter vorüber flog, ehe ich noch in der Tür war, durch das offene Speisezimmerfenster im Parterre ein Kotelettknochen in die Gassenmitte hinaus, und wie unter einem schwarzen Unwetter verfinsterte sich der Mittagshimmel, und mit höllischem Gekrächz stürzte ein schwarzer Knäuel von ungefähr fünfzig Riesenvögeln auf den armseligen Knochen. Eine wilde Balgerei, bei der die schwarzen Federn vor den weißen Häuserwänden in die Luft stoben, brach hinter mir los. Im Hausgang des kleinen Hotels kam ich mir dann vor, als hätte ich mich aus einer Schlägerei gerettet.

Während die junge Frau vorausging, flüsterte mir der Astronom ins Ohr:

»Es sieht nicht nach Apollohymnen hier aus – Raubwelt überall.« – Nach Tisch ließ ich mich in ein Gastzimmer führen, um etwas auszuruhen, und als ich mich im Zimmer umsah, bemerkte ich eine dünne Sandschicht auf der Tischdecke, eine Sandschicht auf den Plüschmöbeln, grauen Sand, fein wie Streusand, überall. Ich schlug das Moskitonetz am Bett zurück, da sah ich auch das weiße Bett von einer grauen Sandschicht bedeckt. Der Zimmerboy erklärte mir, daß am Vormittag ein Sturmwind gewesen sei, und daß der Dünensand bei solchem Sturm durch die geschlossenen Fenster und geschlossenen Türen in alle Häuser in Vera Cruz eindringe.

In demselben Augenblick höre ich im Nebenzimmer, in welches sich das Ehepaar begeben hatte, um auszuruhen, ein leises Lamentieren, und dann kam der junge Astronom an die geschlossene Verbindungstür und rief mir durch das Türbrett zu:

»Denken Sie doch! Als wir eben unser Gepäck bekommen und meine Frau ihren Violinkasten aufmacht, ist der ganze Kasten voll von roten Ameisen. Die haben sich auf der Reise über das Kolophonium hergemacht, haben den ganzen Vorrat von Darmsaiten angenagt, und das dünne Holz der schönen Violine selbst ist in dem heißen Lagerraum auf der Seereise gesprungen. Das Instrument, das teure Instrument, ist unbrauchbar...« Ich hörte die junge Frau drüben leise weinen und sich die Nase schnauben.

Raubwelt überall! Das war der Empfang in der Tierra caliente.


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