Max Dauthendey
Raubmenschen
Max Dauthendey

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3. Tierra caliente

Der junge Astronom und seine Frau wollten, wie ich, nach der Hauptstadt Mexiko. Um ein Uhr mittags saßen wir an der Station von Vera Cruz in den Waggons, von welchen es zwei Klassen gibt: eine, in der die Indianer reisen, und eine für die Europäer.

Die letzten Abkömmlinge der Azteken gingen auf dem Bahnsteig umher, in weißen Hosen und in einem weißen Hemd, das sie über den Hosen um die Hüften zusammenknoten, so daß der weiße Knoten vorn am Leib sitzt. Sie haben große breitrandige Sombreros auf aus weißem Stroh, in der Form von großen breiten Zuckerhüten, mit breitem Strohrand. Sie tragen die "Zerape", eine Wolldecke, bei kühlem Wetter über den Schultern. Dies ist ein gewebter, meist grellfarbig quergestreifter Teppichstoff oder auch nur eine rote Flanelldecke, in deren Mitte ein Schlitz ist, durch den sie den Kopf stecken, so daß der Stoff als ein Mantel vorn senkrecht wie ein Brett über die Brust und rückwärts senkrecht über den Rücken herabhängt. Alle Indianer gingen barfuß, und ihre Hautfarbe ähnelte dem Erdton von irdenen gebrannten Töpfen.

Diese groteske Welt der Indianer, die mit ihren spitzen hohen Hüten einer Herde altmodischer Zauberer glichen, wirkte befremdend, aber nicht so herausfordernd waghalsig wie im Europäerwaggon die Schar der reisenden Mexikaner, denen aus allen Taschen und aus den Gürteln die plumpen Kolben riesiger, in unserer modernen Zeit lächerlich aussehender Pistolen starrten. Im Nacken tragen sie mächtige Farmerschlapphüte; und so sahen diese Menschengruppen im Waggon wie die Schauspieler in jenem Akt der Oper "Carmen" aus, in dem die bis an die Zähne bewaffneten spanischen Schmuggler auftreten.

Uns, die wir als Neuzeitmenschen eben erst aus Ländern kamen, wo die Schaustellung von Waffen nur dem besoldeten Militär überlassen ist, wir Jüngsten, die wir schon den Spazierstock als ein Rudiment eines vergangenen Jahrhunderts betrachten, die höchstens in einer verborgenen Seitengasse eine kleine Schußwaffe in Westentaschenformat geheim bei uns tragen – wir mußten immer wieder auf die mit Revolverkolben gespickten Lendentaschen und Ledergürtel der mitreisenden Männer schauen und wußten nicht, ob diese Waffenmaskerade nur harmlose Eitelkeit oder pulverstinkenden Ernst bedeutete.

Der Astronom, seine Frau und ich, wir sahen uns an und redeten nur mit den Augen miteinander, indem wir uns mit langen Blicken auf die uns umgebenden Mordinstrumente und ihre Besitzer aufmerksam machten.

Der Zug stieg immer bergan, denn die Hauptstadt Mexiko liegt achttausend Fuß höher als Vera Cruz. Wir sollten am Abend auf halbem Weg in Orizaba ankommen, von wo der Zug in der Nacht nicht weiterging. Alle Reisenden mußten dann dort übernachten und konnten am nächsten Vormittag erst weiter fahren, um abends in der Hauptstadt Mexiko anzukommen.

Draußen vor den Waggonfenstern stand jetzt stundenlang nur Urwald, monotones graugrünes Unterholz, trostlos, farblos. Keine farbigen Blumenmatten, nirgends eine einzige Blüte; nur ein meilenweites, eintöniges graues Blättermeer, hie und da unterbrochen von einem weitarmigen Riesenbaum, der sich über das Unterholz hob und auch keine andere Farbe als das freudlose Graugrün zeigte.

Gedrückt, als läge die Hitze wie ein Ballast sichtbar auf den Blätterschichten, schoben sich die Wälder gleichwie die flachen Strandwellen eines grauen Blätterozeans an den langgedehnten Gebirgslinien hin. Der Zug mußte durch viele Tunnel, und die Bahn geht an Urwaldabgründen entlang, die alle von den regungslosen, starr stillhängenden blaugrauen Blättern und von wüstem Gestrüpp angefüllt sind.

An einer Station mit zwei, drei Häusern, die in zierlichen Kaffeeplantagen und Zuckerrohrfeldern lagen, begann es zu regnen; dicke Tropfen fielen, wie Taubeneier groß. Und sofort dampften die vielen Wälder, als bestände der Boden aus überhitzten Herdplatten, auf denen der Regen sogleich zu Dampf würde. Die treibhauswarmen Nebelschwaden beklemmten unseren Atem. Wir mußten die Waggonfenster schließen und fuhren dann in einer blinkenden Nebelwelt, hörten nur an den Echos der rasselnden Eisenräder, daß wir an Gebirgswänden vorbeidonnerten, an hohlschallenden Abgründen und durch weißen, heißen Dampf, als hätte der Zug die Erde verlassen und führe in einem bodenlosen heißen Luftraum.

"Die Regenzeit hat angefangen. Gestern war der erste Regentag", sagte uns der Schaffner. "Nun wird es ununterbrochen drei Monate regnen, erst täglich eine Stunde, dann zwei, drei, vier, fünf Stunden. In den ersten Monaten der Regenzeit nimmt der Regen stundenweise zu und in den letzten ebenso wieder stundenweise wieder ab. Man weiß täglich ganz genau, wann der Regen beginnt und wann er aufhört. Und wenn sich die Leute in der Hauptstadt Mexiko nachmittags besuchen wollen, fragen sie sich erst am Tag vorher:

'Ist es Ihnen angenehmer, wenn ich eine Stunde vor oder nach dem Regen zu Ihnen komme?'" –

Wieder sahen wir drei uns mit den Augen an und sprachen schweigende Worte. Nur die junge Frau fing plötzlich hellauf zu lachen an und fand, wir Herren machten Gesichter, als wenn wir einem Begräbnis beiwohnten, und nicht unsern Einzug hielten in ein neues Land.

Ich fühlte mich jetzt schon bei den beiden Eheleuten durch die schweigende europäische Zusammengehörigkeit wie ein altangestammtes Familienmitglied, wie ein Bruder oder Schwager. Und als wir so stundenlang hinter den erblindeten Fensterscheiben des Waggons beieinander saßen, nichts sahen und immer nur durch den Tropennebel fuhren, und als wir nacheinander zu gähnen begannen und einander immer wieder mit neuem Gähnen ansteckten, da entfuhr plötzlich dem jungen Astronomen der Ausruf:

"Herrgott, hier in dem tropischen Nebelland werde ich ja nie einen Stern zu sehen bekommen! Ich wünschte, ich wäre wieder auf dem Schiff und führe nach Europa zurück!"

"Ich wünsche das nicht", sagte die junge Frau ein klein wenig trotzig. "Ich bin froh, daß ich nach neuntägiger Seefahrt festes Land fühle. Ich bin lieber wieder in Wäldern als unter Haifischen, und überhaupt ist der Wechsel im Leben schön. Mir gefällt es sehr gut in Mexiko; wenn du mir in der Hauptstadt eine neue Violine kaufst, fehlt mir hier gar nichts; ich liebe diese unheimliche Treibhausluft, die einem das Gefühl gibt, als müßten hinter dem Nebel riesengroße, mächtige Blumenkelche stehen, die sich nicht rühren, und die wie die Götter des Landes sich von den Leuten besuchen lassen und anbeten."

"Mir gefällt es hier nicht", antwortete ihr Mann. "Ich wünschte, ich wäre wieder in Europa; ich glaube, ich sehe Europa nie mehr wieder."

"Ach, warum sagst du das! Ich habe eben noch das Gefühl gehabt, als wäre Europa draußen manchmal da, wenn ich es wünsche und der Treibhausblumen müde bin; und wenn der Tropennebel einen Augenblick verfliegt, dann glaube ich immer: jetzt taucht vielleicht wieder eine europäische Stadt auf."

"Du spielst mit der Wirklichkeit wie mit den Träumen; aber ich sehe immer nur Wirklichkeit, überall Wirklichkeit, die sich berechnen läßt, abmessen und addieren. Ihr Frauen seid glücklicher als wir Männer. Ihr seht einfach nicht, was ihr nicht sehen wollt, und damit basta!"

Ich hatte meine Augen geschlossen und hörte wie aus weiter Ferne das Gespräch der beiden und mischte mich nicht in den Meinungsaustausch der Neuvermählten.

Aber ich mußte im stillen dem jungen Astronomen recht geben. In diesem Tropenland, unter den Revolverträgern und unter den Indianern, die jeden Bahnsteig jeder Station, die wir durchfuhren, anfüllten hatte auch ich das Gefühl, als ob Europa von der Erdkugel abgelöst sei, als ob eine geregelte europäische Welt gar nicht mehr existieren könnte; es ließen sich die beiden Kontinente Amerika und Europa gar nicht mehr miteinander vergleichen, so daß man ängstlich wurde und so wie der Astronom glauben konnte, Europa wäre niemals mehr zu erreichen.

"Jetzt schlafen sie drüben", hörte ich die junge Frau sagen. "Zu denken, daß wir hier immer dann Tag haben, wenn drüben Nacht ist, und daß mein Professor in Paris jetzt immer schläft, wenn ich seine Hymne, die Apollohymne, üben werde!" Da mußte ich die Augen öffnen. Wir sahen uns wieder an und mußten alle drei in ein herzliches Lachen ausbrechen über den Gedanken der jungen Musikerin, die sich grämte, daß Europa samt dem Harmonieprofessor jedesmal schlafen werde, wenn sie die Apollohymne den Geistern der abwesenden Europäer spielen wollte.

"OH!" riefen wir dann alle drei zugleich bewundernd. Denn an der Station, wo eben der Zug hielt, stieg eine vornehme junge Dame ein, ein schöne Spanierin, und mit ihr kam ein älterer, schwarz gekleideter Abbé, der, sehr männlich, stattlich und selbstbewußt wie ein gewandter Kavalier, der Dame bei Einsteigen half und dann bei ihr saß und sich so lebhaft in spanischer Sprache mit ihr unterhielt, daß wir gähnenden drei das lebhafte Paar um seine gute Unterhaltung und Laune beneideten.

"Eine entfernte verwandte des Präsidenten der Republik Mexiko", flüsterte mir der Schaffner im Vorübergehen zu, "und ihr Beichtvater."

Nun hatte ich keine Luft mehr, mit geschlossenen Augen in der Ecke zu lehnen. Das Gesicht dieser Dame leuchtete wie der vornehme Kelch einer Tropenblume, die jetzt aus dem Nebel draußen aufgetaucht wäre, und die Mexikanerin erschien mir wie eine Göttin des Landes, die die Blicke der Leute anbetend zu sich kommen ließe, so, wie es vorhin die junge Astronomenfrau schwärmerisch prophezeit hatte. –

Trotzdem ich wußte, daß ich unhöflich war, mußte ich die große Schönheit immer anstarren. Leider wird es nach sechs Uhr in den Tropen gleich dunkel; und dann konnte ich im schlecht beleuchteten Waggon die schöne Mexikanerin nur noch schwach sehen. Oft mußte ich jetzt im Halbdunkel beim Anblick der großzügigen Augenbrauen, die sich in dem südlichen blassen Gesicht gescheit und hochherzig wie zwei kleine Torbogen wölbten, an die intelligente Österreicherin im Lodenmantel drüben in Europa denken. Es war, als säßen die Augen jener blassen, werdenden jungen Mutter mir auch hier gegenüber. Es war eine ähnliche Sorge, ein ähnlich stark sich zusammenraffender Wille in dem Augenausdruck dieser jungen mexikanischen Dame, ähnlich dem Unglücksausdruck jeder Frau im Lodenmantel, jenseits des Atlant. Vielleicht wären beide Zwillingsschwestern, eine jenseits, die andere diesseits des Meeres, Zwillingsschwestern eines und desselben Unglücks oder einer und derselben verhängnisvollen Zukunft, dachte ich.

Ich konnte aber dabei nicht ahnen, daß ich wenige Monate später hier in Mexiko persönlich Zeuge des hereinbrechenden Unglücks sein sollte, welches diese junge Mexikanerin traf; und daß jenseits des Wassers die Dame im Lodenmantel in demselben Jahr wie diese Mexikanerin untergehen würde.

Wie ich noch über die Ähnlichkeiten, die ich entdeckt hatte, nachdachte, kam ein tiefes Seufzen von den Lippen der blonden Astronomenfrau, ein Seufzen, das klang, als ob ein Schlafender unter einem Traumalp gequält aufseufzen müsse.

Die junge Frau hatte die Augen seit einer Weile geschlossen und schlief, mit dem Kopf an die Schulter ihres Mannes gelehnt. Jetzt aber wachte sie auf, sah sich im Halbdunkel nach mir um und hatte einen weltfernen Ausdruck. "Ist etwas passiert?" fragte sie mich leise, da sie sah, daß auch ihr Mann eingeschlafen war. "Sie machen ein so ernstes Gesicht, und ich habe eben geträumt, wir wären auf einem Schiff, das uns nach Europa zurücktrug, aber mein Mann wollte nicht warten, bis wir ans Ufer kamen, sondern er sprang ins Wasser und lief dem Schiff eilend über das Wasser voraus. Sie und ich standen nebeneinander auf der Schiffsbrücke und riefen ihm nach, er solle aufs Schiff kommen. Aber er hörte nicht und lief von uns fort, so daß ich ganz verzweifelt war. – Oh, ich bin so froh, daß nichts passiert ist, und daß er hier so ruhig schläft. Aber Sie sehen so ernst aus, als ob die Welt untergeht."

Der Zug pfiff jetzt grell, und die Hotelboys aus Orizaba sprangen, als der Zug in die Station einlief, von draußen in die Waggons herein und riefen die Namen ihrer Hotels aus. Es war jetzt eine sternenhelle Tropennacht draußen.

Der Astronom wachte auf und freute sich über die Helle. Wir einigten uns mit einem Hotelboy über Zimmer in seinem Hotel. Erst hinterher fiel es mir ein, daß ich in dem Hotel, wo jene Mexikanerin abstieg, hätte Zimmer nehmen sollen.

"Sie ist bei einem Pferdekauf gewesen", erklärte mir der Schaffner, "sie hat sich auf einer befreundeten Hazienda ein Reitpferd gekauft. In der Hauptstadt ist sie als eine der besten Reiterinnen bekannt."

Bei der Ankunft in Orizaba, als das Astronomenpaar zum Hotel vorausging, blieb ich noch einen Augenblick zurück, um das Reitpferd, ein isabellenfarbenes Prachttier zu sehen, das man aus dem Güterwaggon ausladen sollte. Die Spanierin und ihr Beichtvater standen nur ein paar Schritte von mir entfernt. Während die Arbeiter den Wagen des Pferdes aufschlossen, streichelte die Dame die Nüstern des Tieres, das den Kopf zu ihr herausstreckte.

Das Pferd wieherte. Der Abbé aber sagte rasch zu der Dame ins Ohr und sah nicht, daß ich hinter ihm stand: "Also, es ist bestimmt: wenn wir morgen abend in Mexiko ankommen, dann brechen Sie alle Beziehungen zu ihm ab. Ich werde ihn besuchen und ihm Ihre Absicht mitteilen. Fürchten Sie nichts!"

Der Abbé sprach laut, als ob er noch das Räderrasseln des Zuges in den Ohren hätte.

Nachdem ich so unfreiwillig eine intime Mitteilung gehört hatte, fürchtete ich, indiskret zu sein, wenn ich stehen bliebe, um das Pferd zu erwarten. Ich zog mich hinter dem Rücken der beiden lautlos zurück und eilte nach meinem Hotel, von einem Indianerburschen geführt. Der Indianer lief lautlos wie mein Schatten vor mir her, durch die mondhellen, todstillen Straßen des mitten in hohen Bergen gelegenen Städtchens Orizaba. Ich sah im Mondschein die weiße Zuckerhutspitze des beschneiten Kraters, des Orizaba Peak, und andere Kuppelberge voll Urwald, deren Blätterherden wie blaue Stahlpailletten im Licht glitzerten. Dazu hatte ich in den Ohren das Flügelwetzen der Zikaden, der Milliarden Insekten in den Gärten und Feldern ringsum und um mich das Getrommel und Geschnarre riesiger Posaunenfrösche und das Geschwirr eifriger Käfer, die wie irrsinnig wild über die mondhelle Straße fortstürzten, as kämen sie verzückt von einem Bacchanal, und als wollten sie Menschen und Bäume und Häuser umrennen. Die Luft war angefüllt von den Säuredünsten großer Nachtblüten, und alle Bäume und Blüten mischten ihre Gerüche wie zu einem nervenaufstachelnden, berauschenden Gebräu, das einen jeden überschwemmte, als wäre die Nacht bis hoch an die Sterne ein wollüstiges Rad, zusammengegossen aus elektrischen Blütenessenzen.

Die ersten Schritte in das aufgeregte tropische Nachtleben sind für den Europäer so befremdend, als ob ihm plötzlich alle Hirngespinste einer sonst nur in der Phantasie existierenden Unterwelt entgegenkämen. Es scheint, als hätten sich alle Poren der Erde geöffnet und schickten Liebesseufzer und lüsterne Rufe und bestrickende Versprechungen und hitzige Beschwörungen in die Lüfte. Alle Verbote, alle Fesseln, die das Tageslicht und die Tagessymmetrie erfunden haben, müssen einer Verzückung weichen, die sich in den Tropen sofort mit der Dunkelheit einstellt. Jeden Abend, Sommer und Winter, wenn die Sonne um sechs Uhr untergegangen ist, eröffnet die tropische Nachtwelt ihr Riesenbacchanal, das deine fünf Sinne bestürmt, und das deine Tagesgedanken über den Haufen wirft mit den tausend wollüstigen Düften, mit den riesigen, unruhigen Sternbildern, mit den Myriaden von Leuchtfliegen, die dich umkreisen, mit dem unterirdischen Gelächter, unbekannter Nachtvögel und mit dem langgezogenen Geheul unbekannter Raubtiere, so daß der Verstand deiner fünf Sinne in einen Irrsinn gerät und du dich nach Betäubungen sehnst, die dir am Tage fernliegen.

Dieser mir unbekannte Reichtum der Tropennacht, den ich bisher nur vom Hörensagen her kannte, ließ mich in dieser Nacht im Hotel nicht schlafen. Die Zimmer in den mexikanischen Häusern haben keine Fenster nach der Straße, überhaupt keine Fenster. Sie führen in allen Etagen auf Veranden, die rund um eine Art Gartenhof liegen. Und jedes Zimmer erhält sein Licht nur durch die Tür, die von der Veranda hereinkommt.

Mein Zimmer lag im ersten Stock, und durch die Glastür schien der Mond in das kalkweiße Gemach. Ich hatte die gläsernen Türflügel offen gelassen, und draußen lebte die laute Tropennacht. Mexikanische Nachtigallen, die unten im Hof in Käfigen an den Wänden hingen, trompeteten und pfiffen so laut wie Dampfersirenen und Lokomotivenpfeifen. An einen Schlaf war schon des Lärmes wegen nicht zu denken. Aber hätte ich denken können, daß es für den Europäer überhaupt nur schlaflose Nächte in diesem Lande gibt, und daß ich nicht eher einen ruhigen Schlaf genießen würde, als bis ich wieder in einen Dampfer zurück nach Europa bestiege?

Wir glauben immer, wir Neuzeitmenschen: wir nehmen ein Billet, kommen in ein Land, essen, schlafen, trinken dort und kommen wieder zurück. Aber wir bedenken nicht, daß uns kein Billet, keine Eisenbahn, kein Schiff in ein anderes Land bringen kann. Wir selbst, unser Körper, unsere gewohnte Art zu empfinden, unsere Art zu denken – nichts von uns kommt jemals in einem fremden Land an.

Ich bin später nach dieser mexikanischen Reise auf vielen, vielen Schiffen und vielen, vielen Eisenbahnen nach vielen, vielen Ländern rund um die Erde gereist. Aber immer, wenn ich wieder in die Heimat komme, nach Europa zurück, dann weiß ich, daß ich nirgends war.

Wohl kommen mit unseren Kleidern unsere Knochen, unsere Muskeln, unser äußerlicher Apparat in fremden Ländern an, aber nicht unsere Denkkraft, nicht unsere Herzwelt, nicht die Jahrtausende von heimatlichem Vorleben, die wir im Blute haben.

Jedes neue Land benutzt unseren körperlichen Apparat und beachtet nicht, was wir waren, und nicht, was wir sein wollen. Jedes fremde Land will uns vollständig zu etwas Neuem umwandeln, und es fragt uns nicht, ob wir dabei mittun wollen oder nicht – es verwandelt uns. Es verwandelt das, was von uns an der fremden Küste angekommen ist, zuerst die Kleider, dann die Haut und den Leib, aber niemals die Herzwelt in uns. Jedes Land ist wie ein Theaterstück, das seine eigenen Rollen austeilt; und das Stück, das in der Heimat spielt, ist nicht dasselbe, das in Mexiko gespielt wird. Vieles, wovon ich hier schreibe, sagte ich mir in der Nacht meiner Ankunft, in der ersten Tropennacht meines Lebens. Ein Land hat die Eigentümlichkeit, daß es nur Tragödien spielt, nur tragische Rollen austeilt. Ein anderes Land spielt nur Idyllen, ein anderes liebt das große Pathos, ohne Intimität...

Mexiko ist tragische gestimmt, mit einem Einschlag ins Dämonische, ins Phantastische, und immer mit der Endnote der Grausamkeit. Diese Erfahrung erlebte ich nicht an mir allein, sondern sie lag in der Luft des Landes, auf allen Gesichtern, in seiner Geschichte. Und ich habe niemals, in keinem Land der Welt, wieder ein solch grimmiges Heimweh nach Europa empfunden vom ersten bis zum letzten Tage wie auf dem vulkanischen Boden Mexikos, wo täglich Erdbeben zittern, wo Städte plötzlich in einer Nacht untergehen, von deren Untergang nie die Kunde nach Europa kommt; wo sich gigantische Grausamkeiten abspielen, von denen Europa nichts ahnt und nichts erfährt.

Während meines kurzen Aufenthalts von fünf Monaten war ich hier der Zeuge eines der unheimlichen Dramen, das in engster Beziehung zu jener Verwandten des Präsidenten stand, die ich am ersten Tag in der Eisenbahn getroffen hatte – eines Dramas, das seinen Abschluß vor Gericht fand, wobei vom Richter der Hauptstadt Mexiko zwanzig Todesurteile gesprochen werden mußten. Davon sollen die folgenden Kapitel handeln.

Heiße Erde – Tierra caliente – nennt man den Landstrich, die Hitzezone, die von Vera Cruz bis zur halben Weghöhe nach der Hauptstadt Mexiko hinaufreicht. Aber Tierra caliente mußte ich für mich das ganze Land nennen. Denn nirgends auf der Welt brannte unter meinen Füßen der Boden so von Schrecknissen. Es ist, als hefte sich an jeden Fremdling hier in diesem alten Goldland der Fluch, den das Gold in sich trägt. Es scheint hier, als sei das unschuldig gewordene Blut der Azteken, welche der Goldgier der Europäer erlagen, heute noch nicht genügend gerächt, als verfolgte jeden Europäer hier die Rache des beleidigten uralten Volksgeistes dieses Landes. –

Die mexikanischen Nachtigallen johlten vor meiner Schlafzimmertür unterhalb der Veranda. Es schien mir plötzlich, als wären es nicht die Kehlen liebessehnsüchtiger Singvögel. Es klang, als wären die Vögel hier in diesem Lande zu spottenden Teufeln geworden, die den fremden Eindringling auspfiffen – so höllisch war ihr Signalpfeifen. Und ich bedachte schlaflos, wieviel eingeborenes Leben einst von den europäischen Fremdlingen, den Spaniern, hier niedergemetzelt wurde, um Schiffsladungen von Goldbarren dem Lande zu rauben und nach Europa zu schicken. Darüber schrien heute noch die Nachtvögel.

In den Dschungeln des mexikanischen Urwalds sollen sich noch große verschollene Aztekenstädte versteckt befinden, vom Blättermeer verschlungen; und Täler, in denen noch die reichen Tempel und Schlösser der Landeskönige stehen, sollen von den Indianern zugemauert sein. Die Indianerinnen, die heute an den Stationen erschienen und schweigend auf einem grünen Blatt etwas gehacktes Fleisch oder ein paar dürftige Maiskuchen den Reisenden anboten, sahen verschlossen wie beleidigte Erzengel aus, arm wie darbende Heilige. Ihre blauschwarzen Haare sind in der Mitte des Kopfes glatt gescheitelt wie die Frisuren der italienischen Madonnen. Die blauen Leinwandtücher, in die die Indianerinnen den Körper einwickeln, sind schlicht und einfach und bescheiden. Die Frauen gehen an dem eisenstampfenden Bahnzug entlang, wie von ihrer Einfachheit und ihrer landeseingeborenen Natürlichkeit unsichtbar gemacht, und sind wehrlos adelig in der Haltung.

Aber aus ihrem schwarzen, unergründlichen Auge sieht dich die Trauer eines ganzen Volkes an, eines Naturvolkes, das unter den Fremdlingen, die mit Eisen gegen das Gold kämpften, fremd im eigenen Mutterlande geworden ist. Es tat mir später hier in der Seele weh, die im Boden eingewurzelten Indianervölker zu sehen, die von der Brutalität der Geschäftsgier des Europäers erstickt werden, und die einst ein Reich hatten, wo das Gold der Alltagsschmuck des Landes war; oh, es war schmerzlich, die Schweigenden zu sehen, die jetzt nur geduldet und geduldig neben den Schienengleisen der rasend reisenden Fremden leben, und die einst nichts Böses taten, als daß sie zufrieden lebten und die Europäer vor Hunderten von Jahren vertrauend und liebenswürdig empfingen.

Mir wurde unheimlich vor mir selbst. Ich schämte mich fast, daß ich einem Kontinent angehörte, aus dem alles Unglück und alle Ungerechtigkeit über das Land Mexiko und sein Volk gekommen war. Mir war vom ersten Tag bis zum letzten hier vor den alten Göttern des Landes unheimlich zumut, da ich wußte, daß sie alle hassen mußten, die aus Europa zu ihnen kamen. Und ich fühlte auch, wie mich Schrecken und Gefahren hier stündlich zu vernichten suchten, als ob Tag und Nacht die mexikanische Luft von Rachegeistern wimmelte.

Am nächsten Morgen, nach der ersten schlaflosen Nacht in dem schlaflosen Lande Mexiko, ehe die "messingblonde Frau" (wie ich im Geist die Astronomenfrau immer nennen mußte) mit ihrem Mann und mir den Zug zur Hauptstadt Mexiko am Bahnhof von Orizaba bestieg, gab es noch eine aufregende Bahnhofsszene, in der die schöne Mexikanerin uns allen das Leben rettete.

Der Zug stand dampfend auf dem Schienengleise am Bahnsteig, wo viele Reisende sich mit ihrem Handgepäck drängten. Plötzlich entsteht ein Gemurmel. Ein paar gestikulierende Beamte rufen, ein paar Männer stoßen sich durch die drängenden Reisenden. Ich bemerke, daß die stillstehende Lokomotive auffallend viel Geräusch macht, und daß aus allen Fugen und Nieten sich Dampf herauspreßt; aber ich werde erst durch die blassen Menschen, die alle vom Zug fortdrängten, aufmerksam, daß Gefahr im Anzug ist.

Die junge Mexikanerin und der Abbé traten im gleichen Augenblick aus dem Wartesaal auf den Bahnsteig. Es hatte sich ein großer freier Raum vor dem Zug gebildet. Die Leute deuteten nur von fern auf die Lokomotive, die jetzt wie ein lebendes Wesen mit ihrem mächtigen Eisenleib zu zittern begann, als würde sie geschüttelt. Der Lokomotivführer war nirgends zu sehen, und das Bahnpersonal war fortgestürzt, um Heizer und Lokomotivführer zu suchen, die sich wahrscheinlich in irgendeiner nahegelegenen Indianerkneipe betranken. Ich sehe, wie die Mexikanerin die Lokomotive betrachtet und einen Augenblick später dem Abbé ihre Handtasche und ihren Bambusfächer reicht; dann geht sie ruhig, mit den festen Augen einer Tierbändigerin, zu der heftig zitternden Maschine hin. Sie klettert hinauf, und – ich weiß nicht, welcher Schreckensruf mir plötzlich entfuhr. Ich rufe irgend etwas und springe zu ihr, um sie von der Lokomotive zu reißen, die jeden Augenblick explodieren kann, und deren Vorderteil ab und zu bereits so heftig wie ein sich schüttelndes Tier auf den Schienen krampfhaft einige Zoll in die Höhe springt und dröhnend wieder niederfällt. Der Lärm des Dampfes war dabei ohrenbetäubend, und die Hitze des Maschineneisens und die Dampfschwaden, die wie weiße Gebläsestrahlen nach allen Richtungen schossen, waren so heftig, daß ich nicht begreife, wie die junge Mexikanerin und ich nicht beide über und über verbrüht wurden.

Sie hatte aber, ehe ich sie noch faßte, die Ventile geöffnet, und aus dem überheizten Kessel stürzten befreit die Dampfsäulen. Ein paar Sekunden später klatschte der ganze Bahnhofsaal, der voll von flüchtenden Reisenden war, stürmisch Beifall.

"Wie konnten Sie das?" fuhr ich sie mitten im Beifall an; und sie sah mich erstaunt an wie eine Dame, die von einem scheuen Reitpferd springt und gar nichts von Furcht empfunden hat.

„Ich habe als junges Mädchen auf der Hazienda meines Vaters öfters die kleine Strecke der Lokalbahn mit dem Lokomotivführer zusammen auf der Maschine zurückgelegt.“ Sie lachte mich an, als hätte sie plötzlich entdeckt, daß es lustig wäre, mit mir zu plaudern. „Was war denn jetzt dabei? Das war gar nichts, das da; es war nur nötig, daß man die Ventile verstellte – jetzt ist der Dampf draußen. Komisch war es, wie die Maschine hopfte“, so plauderte sie immer lachend, als wären wir alte Bekannte.

Dann saßen wir bald alle im Zug, und natürlich reisten wir bis zum Abend im gleichen Kupee, und ich hatte das Vergnügen, nach dem Schrecken mit der jungen Mexikanerin zusammenzusitzen und weiterplaudern zu dürfen. Nur die beiden alten Bekannten von mir, der Astronom und seine Frau, hatten sich etwas abseits gesetzt, und die messingblonde Frau schien mir immer ernster zu werden, je mehr wir uns der Hauptstadt Mexiko näherten, indessen ihr junger Gatte nervös und schweigsam in seinem Reiseführer durch Mexiko stundenlang blätterte, ohne viel zu lesen.

Noch ein kleiner Zwischenfall am Nachmittag beschloß die Kette der Überraschungen, die mir so reichlich vor der Ankunft in der Hauptstadt zuteil wurden, die aber nur erst das Präludium zu einem großen Konzert von aufregenden Zeiten für mich bedeuteten.

An einer Station, wo Mittag gegessen wurde, hatten sich einige Herren aus anderen Wagenabteilen zusammengetan, und ein paar kamen mit großen Sträußen aus Tropenblumen, weißen Tuberosen und rosa Gartenrosen zu der mutigen Mexikanerin, um ihr eigens den Dank einiger Reisenden mit echt spanischer Grandezza, wie ich dachte, auszudrücken. Diese Ovation war hier in Mexiko übrigens nicht so auffallend, wie es klingen mag, wenn man es in Europa wiedererzählt; denn diese Station, an welcher Mittag gehalten wurde, war dafür bekannt, daß sich in der Nähe große Blumenplantagen befanden. Auch die anderen Reisenden kauften radgroße weiße und rosa Tropensträuße, die man an den Decken der Waggons befestigte, und die während der Nachmittagsfahrt dann wie lebende Blumenbaldachine über den Köpfen der Damen schaukelten.

Während die Herren mit den Blumensträußen der Mexikanerin ihre Aufwartung machten, stand ich auf und schlenderte mit dem Abbé draußen auf dem Bahnsteig ein paarmal auf und ab; auf einmal fiel mir auf, daß unter jenen Herren einer jener „Raubmenschen“, einer jener Kartenspieler, gewesen war, den ich nicht gleich wiedererkannt hatte. Der Abbé war wieder eingestiegen; und von einer plötzlichen bangen Ahnung erfaßt, stand ich im Begriff ebenfalls wieder einzusteigen, als der Abbé schon seinen erschrockenen Kopf aus dem Kupeefenster zu mir herausstreckte und rief: „Die Handtasche der Dame ist verschwunden!“ Ich weiß nicht mehr, warum ich instinktiv ans andere Ende des Waggons eilte und einen andern Weg zum Einsteigen wählte; mir war, als könnte ich den Dieb packen. Da ich sehr groß bin, konnte ich im Entlangeilen am Waggon in die Fenster schauen und bemerkte nun auch das Gesicht jenes verdächtigen Bekannten vom Schiff, der zugleich auch mich sah. Er steht drinnen im Mittelgang des Wagens. Wie ich eintrete, macht er mir Platz, grüßt plötzlich geschmeidig höflich und gleitet an mir vorüber hinaus. Da kommt auch schon der Abbé mir entgegen und deutet auf die Bank, welche jener Herr eben verlassen hat. Da stand dicht am Kupeeausgang die Tasche der Mexikanerin auf der Bank. Jener Mensch hatte sich wahrscheinlich von mir beobachtet gesehen und war geflohen, da es ihm nicht mehr möglich war, die Tasche weiterzutragen. Als er den Abbé von der einen und mich von der andern Seite suchend eintreten sah, ließ er die Tasche stehen, als wenn sie ihn nichts anginge, und verließ den Wagen. Er war dann auch auf der Weiterfahrt nicht mehr zu entdecken.

„Die ganze Komödie mit der Überreichung des Buketts war nur eine abgekartete Diebesgeschichte jener Gauner“, sagte sofort der Abbé. „Man wollte die Aufmerksamkeit der Dame von ihrer Handtasche ablenken, da man uns wahrscheinlich auf der Wechselbank in Drizaba beobachtet hat, wo wir Geld erhoben. Das ist Mexiko!“ Und ahnungsvoll fügte der alte, erfahrene Kirchenherr hinzu: „Wenn Sie lange hier sind, werden Sie vielleicht noch ganz andere Dinge erleben.“

Ich konnte aber freilich nicht ahnen – und er wahrscheinlich auch nicht, als er dies sagte –, daß derselbe freundliche Abbé bei diesen „ganz anderen Dingen“ wenige Monate später sein Leben einbüßen würde. –

Es war früher ein alter, hartnäckiger Charakterzug bei mir, der sich jetzt aber mit dem Alter verloren hat, daß ich mich, wenn Frauen leidend aussahen, in meinem Herzen verpflichtet fühlte, mich ihnen zu nähern und sie zu lieben, ob ich wollte oder nicht – und wenn ich damit auch einer anderen lachenden Dame, der ich eben noch großes Interesse gezeigt hatte, weh tat und sie vernachlässigte. So geschah es noch an diesem Nachmittag, daß ich mich wieder zu der messingblonden jungen Frau hinsetzen mußte, die so trübselig und totenstill in der Waggonecke saß und in die öde Hochebenenlandschaft starrte – in diese Landschaft, die draußen ohne Bäume und ohne Wälder, nahe der Hauptstadt Mexiko nur mit steifstacheligen Agavenpflanzungen besetzt, vorüberflog. Die Agaven, die so starrsinnig in die leere Luft stachen wie Reihen von kaltbläulichen Eisblumen, die fleischige Körper bekommen hätten und regungslos mit den kalten, ungeschlachten Körpern nichts anzufangen wüßten. Die arme Blonde sah aus, als wäre ihr europäisches Herz von dem neuen, fremden Land so zerbrochen und von Ameisen zernagt wie ihre arme europäische Violine im Geigenkasten, der bei ihrem Handgepäck eben im Netz des Waggons lag. Welch ein Kontrast, sagte ich mir: alle diese Kerle, die da um uns mit dickklobigen Pistolen im Gürtel reisen, und diese Europäerin, die eine Violine mit herüber in das Räuberland bringt, und die sich sehnt, eine Apollohymne zu erlernen! Europa ist so wunderbar sentimental, dachte ich. Alle anderen Erdteile, so schien es mir, müßten uns verlachen, weil bei uns das Leben zu einer zweitausendjährigen Apollohymne zurückkehren kann, zu einer ausgegrabenen Melodie, die unser Leben heute nicht hervorbringen kann, wegen der wir deshalb unser Leben, das diese Melodie nicht fertigbringt, beinah verachten können, auswandern und ruhelos werden und uns um zweitausend Jahre zurücksehnen können.

Es muß also etwas nicht richtig an unserer gegenwärtigen europäischen Völkermaschine sein, weil wir uns immer nach alten Kulturen zurücksehnen. Kommt dieses Leiden vielleicht davon, daß wir staatliche Institute haben, die Gymnasien, welche es sich hauptsächlich zur Aufgabe machen, uns mit dem Seelenleben dieser alten heidnischen Kulturen bekannt zu machen? Was erlaubt sich da der Staat eigentlich für seltsame widerspruchsvolle Gewaltakte an unserer Jugend? Einerseits befürwortet er die Religion des Christen als das Staatsideal, andererseits zugleich das Seelen- und Geistesleben der vergangenen Heiden als Staatsideal! Wie kann denn da ein junger Mensch wissen, was Staat und Menschheit von ihm wollen, wenn er zwei einander ganz entgegengesetzten Idealen huldigen soll, dem christlichen und dem heidnischen zugleich? Denn sobald der Mensch das eine von den beiden Idealen, das Christusideal oder das Apolloideal, ernst nimmt, muß er dem andern Ideal vor den Kopf stoßen.

So ist es jetzt mir hier gegangen mit den beiden Damen. Die eine, die Schwärmerin für alte Kulturen, die Apolloidealistin, mußte ich beleidigen, wenn ich plötzlich die vom Abbé begleitete Mexikanerin, die eine gründliche Katholikin war, bevorzugte. So trieb ich für mich eine Art von Weltphilosophie und vermischte sie unklar mit meinen Liebesgefühlen.

Die Reiseermüdung tat außerdem ihr übriges bei den Damen und mir; und als der Zug am Abend in Mexiko einlief, war ich gleich den Damen in eine abgespannte und gegen die andern erkältete Stimmung geraten, so daß ein rasches, lautes, schallendes Abschiednehmen das augenblickliche Ende dieser Reiseromantik war, eine Romantik, die aber trotzdem hier auf dem Weg nur ihren Anfang, aber noch lange nicht ihr Ende für alle Beteiligten gefunden hatte. Ich tröstete mich einstweilen mit dem Betrachten der mexikanischen Indianer, die mich jetzt bei der Ankunft in der Stadt sehr unterhielten. Die Bevölkerung der Stadt bestand damals aus hunderttausend Europäern und dreihunderttausend Indianern.

„Wer lange lebt, lebt kurz“, hatte unterwegs der Abbé zu mir gesagt, und ich mußte in Mexiko jetzt täglich denken, daß das gar nicht auf mich paßte, denn es schien mir gleich am nächsten Morgen, als ich aufstand, eine Ewigkeit vergangen zu sein, seit ich in Mexiko war. Viel beschäftigten mich im Geist die drei verschiedenen Frauen, die ich in diesen letzten Tagen in mein Herz geschlossen hatte, und die mich abwechselnd an sich erinnerten. Es war, als ob eine weiblich Schildwache die andere in der Nacht an meinem Bett ablöse – so kam in jeder zweiten Stunde für eine Stunde eine andere der drei heimlichen Geliebten meines Herzens zu mir; bald war es die Österreicherin im Lodenmantel mit dem Graphitkarbon in der Hand, dann die Messingblonde mit der Violine und der Apollohymne und dann die Mexikanerin, halb zu Pferd und halb auf der dampfenden, erhitzten Lokomotive.

Die dreihunderttausend Indianer haben es doch nicht fertiggebracht, mich sofort über die drei entschwundenen Frauen zu trösten, dachte ich eines Morgens, als es klopfte und ich die Glastür zur Veranda öffnete, wo vor mir eine junge Indianerin in blauem Leinenrock und schwarzem Kopfschal stand, auf dem Kopf einen großen flachen Strohkorb, bedeckt mit gelben Orangen und Bananen und rübenfarbenen Mangofrüchten.

Wie ein Öltropfen lautlos sank die Erscheinung vor mir auf dem Boden ins Knie und lächelte unter ihrem flachem Fruchtkorb wie unter einem flachen Hut, der mit goldgelben Früchten garniert wäre.

„Wie heißt du?“ fragte ich sie freundlich auf spanisch, ohne zu bedeuten, daß sie nicht sich, sondern ihre Früchte anbot.

„Angela“, kam es an mein Ohr, als ob mich eine Hand streichele – so dicht und nah ging mir diese Mädchenstimme über die Haut.

„Angelika?“ fragte ich sie.

„Angela“, so streichelte sie mich nochmals mit der Stimme und hob jetzt ihren Fruchttellerkorb vom Kopf, um ihn vor sich aufs Knie zu legen, wo sie ihn wie eine kleine Tischplatte vor meine Knie hielt.

„Ich esse keine Früchte, Angela“, sagte ich und wappnete mich zum Widerstand gegen diese Stimme, die mit dem Wort „Angela“ das ganze Haus für mich schwankend wie ein wiegendes Palmblatt machen konnte.

Ich war sehr einsam, und es kam mir der Gedanke, mir einen fröhlichen Tag zu machen und mit Angela, wenn sie wollte, Freundschaft zu schließen, vielleicht bis die Sonne unterginge, vielleicht noch länger.

„Angela, deine Früchte riechen sehr gut“, fuhr ich fort. „Wenn ich sie auch nicht esse, so rieche ich sie doch sehr gern; stelle also den Korb mit den Früchten auf meinen Tisch.“

Angela hatte einzelne Mangos mit der Hand gestreichelt, als ob sie ihre Vorzüglichkeit andeuten wollte.

Daß ich die Früchte wollte, verstand sie, daß ich aber auch den Korb kaufen wollte, begriff sie nicht.

„Angela, willst du mit mir spazierengehen?“ fragte ich die schöne vierzehnjährige, vollständig ausgewachsene und jungfräulich reife Indianerin.

Ich erwartete, daß sie verlegen lachen würde; aber ohne jede falsche Scham fragte mich Angela: „Wohin wünschen der Herr zu fahren?“

Das wußte ich wirklich noch nicht; ich hatte diese Antwort nicht im entferntesten erwartet. Aber ohne mein Erstaunen zu verraten, sagte ich und bedachte, daß ich ihr als einer frommen spanischen Katholikin wahrscheinlich eine große Freude bereiten würde (denn alle Indianer sind sehr fromm und sehr katholisch): „Fahren wir nach dem Wohlfahrtsort Guadelupe, wo das steinerne Schiff steht und die Kirche zur heiligen Quelle ist.“

Angela nickte, lächelte und schwieg. Sie schien etwas nachdenklich und etwas kühler zu empfinden, aber ich begriff erst später, weshalb.

Ich ließ einen Wagen holen. Angela zog ihr großes, dünnes, schwarzes Tuch über den Kopf und sah wie eine kleine Matrone mit braunem Gesicht aus dem schwarzen Schal. Sie stieg in den Wagen, war aber nicht zu bewegen, an meiner Seite Platz zu nehmen; sie setzte sich wie ein Dienstbote auf den schmalen Rücksitz und ließ mich allein den Platz im breiteren Wagenfond einnehmen. – Das ist gar nicht gemütlich, dachte ich, es sieht zwar besser aus, solange wir durch die belebten Straßen fahren, aber es ist zuviel Unterschied zwischen ihr und mir markiert, und das war nicht meine Absicht.

Kaum hatte sich der Wagen vom Gartenhotel aus in Bewegung gesetzt, so mußte er zwischen Trambahnen, Reitern, Lastkarren, Mauleseln an einer Straßenbiegung warten.

Da legte Angela ihre Hand vorsichtig auf mein Knie und sagte: „Nach dem Museum!“ Ich hörte wohl, daß sie sagte: „Nach dem Museum!“ Aber wie hätte ich denn das sofort begreifen können, daß eine junge Indianerdame statt zur heiligen Jungfrau nach Guadelupe in ein Mißgeburtenkabinett gefahren zu werden wünscht.

Später habe ich allerdings erfahren, daß das naturwissenschaftliche Museum, wo Kälber mit zwei Köpfen, Hunde mit acht Beinen, Schweine mit einem Widderhorn an der Stirn und zusammengewachsene Kaninchen zu sehen sind, ein Ort schwärmerischer Verehrung für viele Indianer ist.

Wir fuhren also zum Museum. Angela saß im Wagen wie eine junge Dame, die zeitlebens gewöhnt ist, ihren Tageslauf in verschiedenen Wagenfahrten einzuteilen; man konnte nicht denken, daß sie die Tochter eines Gärtnergehilfen aus dem La-Viga-Kanal war, wo sich die schwimmenden Gärten der Stadt Mexiko befinden, und wo man mit den Booten ganze Tage zwischen Blumen- und Fruchtgärten fahren kann. Weil sie aber tägliche Bootsfahrten gewöhnt war, behielt sie auch ihre Ruhe beim Wagenfahren und wurde richtig unruhig, als wir zwischen Pferdeköpfen und Wagen auf der lebhaften Calle de San Fransisko, der Hauptstraße der Stadt, dahinfuhren. Angela lächelte mich von Zeit zu Zeit an, wie eine, die ein Geheimnis hat, das sie aber erst später verraten will. Als wir beim Museum ausstiegen, lächelte sie wieder so eigen. Da saß ein junger Indianer am Tor, der hatte an dem einen halb abgestorbenen Arm, den er nackt zeigte, noch einen kleinen angewachsenen Arm hängen, der ganz tot und verrunzelt war, so daß der junge Mann drei Arme besaß; aber nur einen Arm von den dreien war gesund, und mit diesem gesunden Arm hielt er abwechselnd bald den einen, bald den anderen der beiden welken nackten Mißgeburtenarme den Vorübergehenden hin, damit man ihm ein Almosen gebe. Angela hat kaum den Wagen verlassen, so steht sie bei dem Indianer, und ich sehe, wie sie ihm die Silberdollar, die ich ihr für die Früchte gegeben hatte, einen nach dem andern in die beiden welken toten Hände zählt. Damit aber nicht genug. Sie umschlang den abgemagerten Körper vor meinen Augen und sagte: „Mein lieber Paolo! Sieh, der Herr hier will uns noch viel mehr Geld geben, so daß wir sicher bald heiraten können.“

„Ja, das will ich“, sagte ich rasch entschlossen, zog meine Brieftasche, reichte den beiden höflich einen Geldschein, schüttelte Angela freundlich die Hand, sprang in meinen Wagen, ließ die Indianerin hochbeglückt bei ihrem Bräutigam und fuhr schleunigst nach dem Schloß Chapultepec, da mir einfiel, daß ich heute dort noch einen Brief beim Präsidenten abholen könnte.

So ist Mexiko täglich, sagte ich mir auf der Heimfahrt. Es ist für den Europäer wie das Blendwerk eines Teufels; es leuchtet, strahlt, und jedes Gefühl verwandelt sich unter den Händen der Mißgeburten, wenn du es fassen willst.

Noch zwei Tage erschien Angela morgens an meiner Glastür; am ersten Morgen verkaufte sie mir rosa Rosen, denen ich zwar gleich ansah, daß sie künstlich gefärbt waren, die ich ihr aber doch abkaufte.

„Wem bringst du jetzt das Geld“, fragte ich sie, „Paolo?“

Sie nickte sanft und etwas melancholisch. Ich weiß nicht, ob sie wieder eine Wagenfahrt ersehnte, oder ob ich nicht freundlich genug war. Am Abend war das Wasser im Wasserglas, in das ich die seltsam leuchtenden gelbrosa Rosen gestellt hatte, rosa, und die Rosen waren schneeweiß; das Wasser hatte die künstliche Farbe der gefärbten Rosen ausgesogen.

Am nächsten Morgen erschien Angela mit einem kleinen Käfig, darin ein feuerblauer Vogel flatterte.

Sie war schon etwas vertraulicher und sagte: „Sehr teuer“, und sie ging, zufrieden, aber wiederum nachdenklich.

An demselben Abend hatte der Vogel sich in einem Wassernapf gebadet, und das Wasser war blau und der Vogel unscheinbar schwarz. Da er auch nicht sang, ließ ich ihn fliegen.

Gefärbte Rosen, gefärbte Vögel und Mißgeburten hatte Angela mir vor Augen geführt – jene Angela, die mir mit ihrer Stimme im ersten Augenblick das Haus schwankend gemacht hatte wie ein Palmblatt.

Ich zog dann aus dem internationalen vornehmen Gartenhotel fort, weil es mir zu belebt wurde; es kamen zuviel amerikanische Reisegesellschaften dorthin; und in dem spanischen Hotel, in das ich übersiedelte, erschien Angela nicht mehr. Dafür begannen hier aber die tiefgehenden Verwicklungen, die mein Herz in Wallung bringen sollten. Es wäre mir ein leichtes gewesen, Wohnung und Gewohnheiten der Mexikanerin zu erforschen, um mich mit ihr vielleicht in eine neue Beziehung zu setzen. Ebenso wäre das Auffinden des Astronomenehepaares mir in der Stadt Mexiko nicht schwer gefallen. Aber gerade, daß ich es in meiner Macht hatte, mich jeden Tag durch die Beziehungen, die mir hier zur Hand waren, den beiden romantischen Reisebekanntschaften wieder zu nähern, legte meine Abenteuerlust etwas lahm, und ich sagte mir (was ich mir zeitlebens immer wiederholte): was nicht zu mir kommt, vom Schicksal eingebrockt, das macht mir keinen Spaß. Ich ließ es also auf mein gutes Glück ankommen und erwartete das Schicksal. Wenn ich auch in den freien Stunden, die mir neben meinen wissenschaftlichen Arbeiten, die ich für die geographische Gesellschaft auszuführen, an Einsamkeit litt, so rührte ich doch keinen Finger, um den beiden Frauen, die noch immer meine Phantasie beschäftigten, ein Lebenszeichen zu geben. Denn ich konnte ja mit Bestimmtheit annehmen, daß die Mexikanerin sowohl wie das Astronomenehepaar vollauf mit ihren persönlichen Angelegenheiten beschäftigt wären, und daß man dort gar nicht mehr an mich dächte und es wahrscheinlich sehr überflüssig finden würde, wenn ich von mir hören ließe.

Aber wenn man eifrige Empfindungen zu übersehen sucht, sind sie wie Quecksilber, das man in einen Sack steckt, und das doch überall einen Ausweg findet. Weshalb begann ich mich plötzlich für Pferde zu interessieren? Ich weiß es nicht; ich tat es, ohne etwas Besonderes dabei zu wollen. Wahrscheinlich aber mit dem Untergrundgedanken, daß auch die schöne Mexikanerin für Pferde schwärmte. Offenkundig machte ich mir das aber gar nicht klar; das fiel mir erst ein, als ich durch dieses erwachte Pferdeinteresse wirklich mit jener Dame zusammengeführt wurde. Dann erst sah ich klar, ertappte ich mich auf einem Selbstbetrug und schämte mich vor meinem Unterbewußtsein, das mich heuchlerischen Gedanken auslieferte, die mich umgarnten, und die, ohne daß mein Bewußtsein eine Ahnung davon hatte, mich bestimmte Wege gehen ließen, die mich versteckter und unterdrückter Leidenschaft wehrlos preisgaben.

Ich hatte als Wohnung mit Absicht ein kleines spanisches Hotel in der Nähe der Hauptstraße, der Calle de San Francisco, gewählt und nahm meine Mahlzeiten teils dort, teils im Restaurant Français in derselben Straße ein. Die Hotelbesitzerin hatte die Gewohnheit, mehrmals in der Woche, wenn sie ihr Haar gewaschen hatte, auf der Veranda, die im ersten Stock innen im Hof des Hotels entlang lief, auf und ab zu gehen und ihr offenes nußbraunes Haar zu sonnen. Sie trug dann eine weiße Serviette auf dem Rücken und hatte ihr gebürstetes und frischgekämmtes Haar auf dieser Serviette liegen, damit das noch feuchte Haar ihr Kleid nicht am Rücken berühre. Mit südländischer Unbehindertheit ging sie so vor der Glastür meiner Zimmer, die gerade auf diese Veranda führten, auf und ab und dirigierte den Hausstand, die Boys, die im Eßsaal decken sollten, und die Mädchen, die nebenan die anderen Fremdenzimmer in Ordnung brachten. Vom Vormittag bis gegen vier Uhr mittags hin war es jetzt täglich immer noch sehr schönes Wetter; der Regen begann erst gegen halb fünf Uhr und endete gegen halb sechs Uhr. Immer kam und ging an bestimmten Tagen der Schatten dieser Frau, die ihr offenes Haar draußen sonnte, stundenlang durch meine Zimmertür, glitt über mich hin und verschwand; und dieser Schatten, der in dem weißen hellen Zimmer das einzige Lebewesen neben mir war, wurde mir vertraut, wie einem, der sich einen Hund oder Papagei gezähmt hat, die Bewegungen des Tieres im stillen Zimmer vertraut werden.

Saß ich am Schreibtisch, so lief der Schatten über mein Schreibpapier und schrieb eine Geste über den Schreibtisch wie ein Arm, der mir das Papier wegschöbe und mich auf anderes als auf Schreiben aufmerksam machen wollte; ebenso schien mir, wenn ich im Schaukelstuhl lag und las, der weibliche Schatten das Buch von den Knien fortzuschieben; wenn ich auf dem Sofa oder im Bett lag und die Decke des Zimmers anstarrte, lief der Schatten über mich hin und zog mich aus dem Bett. – Das geht nicht länger, dachte ich eines Morgens. Die Frau draußen ist es nicht, die mich stört, ihr Schatten ist das auch nicht. Aber in ihrem Schatten müssen noch andere Frauenschatten sozusagen inkarniert sein, die sich verbündet haben, um mich aus diesem Haus in irgendeine Richtung zu ziehen. Just immer dann, wenn ich mit Schreiben und Lesen fertig bin und freie Zeit habe, kommt dieser weibliche Schatten herein, als wolle er mich abholen, irgendwohin, wenn ich nur wüßte, wohin? –

Eines Tages ließ ich mich auch wirklich emporscheuchen und sah auf und dachte: nun stehe ich auf. Es ist irgend jemand da in der Nähe, der mir den Schatten dieser Frau so herausfordernd hereinsendet. Ich setzte meinen Panamahut auf und nahm zur Vorsicht einen Schirm mit, da man ja nie weiß, wie lange man sich draußen auf der Straße aufhält, wenn man sich von einem weiblichen Schatten aufstöbern läßt. Ich ging aber nicht direkt auf die Straße; ich ging die Veranda entlang auf das flache Dach des Haustores, das ein langes Gewölbe bildete und ein flaches Dach mit einer Brüstung oben hatte, von wo man auf die Straße hinunterschauen konnte.

Ich setzte mich oben mit einem Bein auf die Brüstung und schaute vorsichtig auf die Straße hinunter, wie einer, der eine Begegnung erwartet und sich nicht gleich zeigen will.

Unten rannten die weiß gekleideten Indianer in Hemd und weißgrauer Hose mit weißen hohen Sombreros auf den Köpfen. Gerade wurden Maultiere, mit Säcken beladen, in langen Reihen vorübergeführt. Es gab viel Geschrei von den Treibern, und die Straße wogte unter mir von den weißen Säcken und von weißen Hüten. Das alles sah von oben aus wie ein weißer gequetschter Brei, der sich durch die schmale Gasse in weißen Klumpen langsam fortschöbe. Mitten in diesem klumpigen Weiß sehe ich drüben zwischen Maultieren eine Dame eingeklemmt, die sich nach einem Schirm bückt, der ihr in dem Gewühl entfallen ist. Die Dame zeigt mir, während sie sich beugt, ihr messingfarbenes Haar.

Die Frau des Astronomen!

Anstatt hinunterzulaufen, zog ich mich wie erschrocken vom Geländer des flachen Daches zurück. Ich blieb sitzen. Ganz still sah ich die Blumentöpfe mit ziegelroten Geranien an, die vor mir auf dem flachen Dach unordentlich in Gruppen standen, und ich rührte mich nicht. Es war nicht der gewöhnliche Schreck, der fröhliche, eines Wiedersehens; es war nicht der feige Schreck einer unangenehmen Überraschung. Es war ein unheimlicher Schreck, ein Schicksalsschuß, als würde eine Kanone von der Erde in den blauen Himmel abgeschossen, und die Bläue hallte nicht, war auch nicht verwundet, nicht verwundert, aber irgendwo angeschossen, irgendwo getroffen. Der Himmel weiß es nur selbst nicht, an welchem Fleck er getroffen ist, aber er spürt den Schuß durch und durch wie ein mächtiges Signal, das sagt, der Himmel müsse auf die Erde stürzen, es gebe keinen Abstand, keine Trennung zwischen Materie und Raum, beides habe sich vermischt und sei eins.

Ich saß und rührte mich nicht.

Und in mir dröhnte mein Blut und gab sich nicht zur Ruhe.

Nach einer Weile, wie ich noch gar nichts anderes dachte, als daß unten immer noch die weißen Säcke auf den Maultieren vorüberziehen müßten und die weiß gekleideten Indianerscharen, und daß die Messingblonde sich vielleicht immer wieder bücken und ihren Schirm im Gedränge aufheben würde, da kam ein Schatten. Derselbe Schatten, der mich aus dem Zimmer getrieben hatte, ging über das flache Dach und die Geranien. In der Ferne stand auf dem Dach die Hotelbesitzerin und rief meinen Namen und sagte, eine Dame wünsche mich zu sprechen; und sie hob dabei eine Visitenkarte in die Luft, wie zum Zeichen, daß ich von der Brüstung zu ihr auf die Veranda kommen müßte.

„Ich komme“, sagte ich nur. „Ich weiß.“

„Oh, Sie wissen es schon!“ sagte die Hotelfrau erstaunt, und dann fügte sie verstehend hinzu: „Ah, Sie haben die Dame kommen sehen.“

Ich sprang von der Brüstung über den Schatten der Hotelfrau, als dürfe ich nicht auf ihn treten, auf den lebendigen Boten der Messingblonden – deshalb machte ich einen breiten Luftsprung.

Die Hotelfrau lächelte ein wenig, als wollte sie sagen: Ich kann mir denken, daß die blonde Dame einen Mann so lebendig macht, daß er Luftsprünge versucht. – Ein paar Minuten später ging ich neben der Astronomenfrau auf der Straße. Sie hatte mich gebeten, ihr einen Rat zu geben, aber sie hatte nicht in mein Zimmer treten wollen und hatte es auch im Sprechzimmer des Hotels, wo Gäste waren, nicht ruhig genug gefunden. Sie bat mich, mit ihr einen Spaziergang irgendwohin zu machen.

Als ob mir ein Kobold die Stimme nähme und für mich spräche, so entfuhr mir das Wort: „Wollen Sie vielleicht nach dem Museum, bitte?“

Kaum hatte ich das gesagt, so hätte ich es zurückziehen mögen, denn ich war noch nicht ernst genug gewesen, um zu verstehen, daß sie mir etwas sehr Ernstes mitzuteilen hatte. Ich war nur froh, daß nicht sie, sondern nur ich allein das Frivole dieser Frage begriff. Dafür wurde ich nun aber doppelt ernst und fast feierlich und nahm mir vor, der armen blassen und etwas verstörten jungen Frau nach Kräften zu helfen und zu raten.

„Seit einer Woche ungefähr gehe ich täglich vormittags im Sonnenschein, ehe der Regen beginnt, an Ihrem Hotel ein paarmal auf und ab und konnte mich doch nicht entschließen, so zudringlich zu sein, Sie aufzusuchen. Ich habe aber oft gedacht, wenn Sie oben in Ihrem Zimmer wären, müßten Sie es spüren, wie sehr ich wünschte, daß Sie aus dem Hotel heraustreten möchten. Ich sah Sie immer im Geist mit Hut und Schirm in der Hand aus dem Gewölbe des Hoteltors treten.“

Ich schwieg und sagte nichts davon, daß mich ihr Schatten oben im Zimmer seit acht Tagen täglich aufsuchte. Ich war zu betroffen, und es wäre zu lächerlich gewesen, zu dem ernsten Gesicht der Blonden vom Schatten der Hotelfrau, die ihr Haar trocknete, zu sprechen; darum schwieg ich und ließ sie sich weiter erklären.

Aber schon nach ein paar Sätzen schwieg sie. Mir schien, es wollte etwas Schweres, das sie in sich trug, nicht über ihre Lippen kommen, und sie lenkte das Gespräch auf die Umgebung und damit von sich fort. Ich fragte mich, als wir über die Alameda, den großen Platz vor der Kathedrale, durch die kleinen Wege der grünen Anpflanzungen schritten, wo Indianer auf den Bänken lungerten, Zeitungsverkäufer und Eisverkäufer und Pastetenbäcker umherstanden und laut ihre Waren auskrähten, aber mit melodischen Rufen rhythmisch und einförmig zum Einkauf luden – da fragte sie mich, ob ich wüßte, daß die Indianer zur Aztekenzeit hier rund um diesen Platz ihre Hauptgebäude gehabt hätten. Die Kathedrale sei der Tempel der Sonne gewesen, links davon die Tanzakademie, rechts die Musikakademie und an der vierten Seite der Königspalast. Und es sei damals Sitte gewesen, daß jeder Bürger sein Examen im Spielen irgendeines Musikinstrumentes ablegte, um die Bürgerrechte zu erlangen. Denn die Indianer seien ein sehr musikliebendes Volk gewesen.

Ich weiß nicht, warum ich, seit ich die junge Frau wiedersah, mehr zum Scherzen als zum Ernstsein aufgelegt war. Ich fragte sie:

„Gab es bei den Indianern auch eine solche Apollohymne, wie man sie jetzt ausgegraben hat?“ Das war kaum gesagt, da traf mich ein langer hilfloser Blick aus ihren zartblauen Augen. Sie nahm ihr Taschentuch, schnaubte sich die Nase, und ich sah, daß sie sich heimlich Tränen aus den Augen wischte.

Wir schwiegen dann beide, und sie mußte mich wohl für ganz herzlos halten, daß ich lachte, als wir an Paolo vorübergingen, der am Eingang zum Museum auf dem Pflaster mit seinen drei Armen bettelte. Denn Paolo lachte mich vergnügt an, und ich lachte in Erinnerung an Angela den dreiarmigen Bräutigam ebenfalls vergnügt an. Von meiner Bekanntschaft zu ihm, und daß mich seine Braut ihm vorgestellt hatte, konnte ich der Dame nicht erzählen, und es blieb ein Mißverständnis zwischen uns über mein Gelächter, das sie sich auch nicht erklären konnte, besonders da sie eben erst geweint hatte. So ist es aber meistens auf der Welt: wo zwei sich einander nähern wollen, spielt der Zufall mit Mißverständnissen wie ein Komiker, der Possen reißt und Lachen und Tränen aus den Augen locken muß, wie ein Komiker, der eben erfahren hat, daß ihm sein Kind im Sterben liegt, und der doch, den Leuten zur Unterhaltung, lachen muß.

Wir betraten nicht das Vordergebäude des Museums, darin die Sammlungen und naturwissenschaftlichen Abteilungen mit den Mißgeburten ausgestellt sind. Wir durchschritten den Hof, der von grünen Palmen leuchtet, und betraten den langen roten Saal zu ebener Erde, wo die alten Steinfiguren, die Götter der Indianer, aufgestellt sind; die meisten davon hat man beim Bau der Kathedrale an der Alameda ausgegraben.

Die Figuren sind alle wie Spukgestalten und als ob man sie nach den Bildern der Alpmahren, die einen in schweren Träumen bedrücken und erwürgen, in Stein gemeißelt hätte.

Die meisten haben gar keine menschlichen Körper. Manche Körper sind Bündel und Ornamente von zusammengewickelten Schlangenleibern. Der Kopf scheint nach einem Affenschädel geformt zu sein; irgendwo erscheinen ein paar Hände über den Schlangenbündeln – Hände, die gleichfalls Schlangenköpfen ähneln.

Viele Götzen haben ihr Maul bis zum Nabel aufgerissen und sind aus lauter Vogelfederornamenten zusammengesetzt; manche stehen auf dem Kopf, mit einem Mühlstein als Bauch und die Füße in der Luft; so der Gott des Feuers. Der Gott des Wassers ist eine kleine zwergartige Gestalt, deren Kopf wie zwischen doppelten Schraubstöcken eingepreßt ist; der Gott des Todes hat riesige Kinnbacken und heißt Mictlantenhtli. Vier riesige Schneidezähne starren aus seinem Maul; sein Bauch ist ein Kreis. Er hockt wie ein Frosch und hat keine Stirn; er ist aus einem großen runden Stein, gleich einem Mühlstein, herausgehauen.

Ein ebensolcher Riesenmühlstein, über und über mit eingeritzten Zeichnungen bedeckt, die indianische Krieger darstellten und Schlangen, Köcher Pfeile und Federn, war einst der Altar für Menschenopfer gewesen und zeigte eine breite Rinne, in der jahrhundertelang das Menschenblut abgelaufen war. Diese tiefe Rinne, die sich das Blut durch die Zeichnungen gezogen hatte, entsetzte jeden Beschauer. Rings an den Wänden des blutrot getünchten Saales, der sein Licht nur durch die hohe Tür erhielt, die in den Garten hinausging, standen und hockten die grinsenden und verrenkten Gottheiten einer vergangenen Welt wie steingewordene Gespenster; und noch schauerlicher als alle Mißgeburten der Natur muteten den Europäer hier die Höllengeburten des indianischen Menschenherzens an, die da Stein geworden waren.

Wir hatten kaum den langen menschenleeren Saal, am indianischen Museumsdiener vorübergehend, betreten, da schritt die junge Frau auf die Hauptgötterfigur in der Mitte zu, deutete mit ihrem Schirm auf den Affenschädel, der, aus ein langen Knäuel herausgemeißelt, grauenhaft hohläugig und unheimlich wie ein Schildkrötenkopf unter dem Schlangenwust vorstarrte und sagte: „Dies ist die Welt, in der ich jetzt mein Leben verbringen werde!“

Was meinte sie nur! Ich begriff sie nicht und begriff nicht den hilflosen Blick und die von tiefem Schmerz aufgelöste Geste, mit der sie über alle die Götzenbilder zeigte.

Die Tränen stürzten ihr aus beiden Augen. Sie hielt das Taschentuch davor. Neben ihr stand der Gott aller Krankheiten, der hypnotisierend seine beiden Handflächen von sich streckt. Er ist eine kleine Gestalt mit mumienhaftem, schmalem, hohlwangigem Gesicht und trägt einen Schurz aus Schlangenhäuten um die Hüften. Der Götze ist aus weißem Stein gemeißelt; in den erhobenen Handflächen sollen früher Rubine gesteckt haben, welche mit ihrem roten Glanz die zu dem Gott Aufschauenden hypnotisierten. Ich fand die Blonde so hohlwangig wie diesen Gott.

„Sie sind krank?“ fragte ich teilnehmend.

„Ich weiß nicht. Riechen Sie nicht, daß dies ganze Land nach der Hölle riecht? Überall ist der vulkanische Brandgeruch, der einen verfolgt wie die Klageluft aus einer Brandruine.

Und hier hat sich mein Mann zu bleiben vorgenommen! Und ich kann es ihm nicht ausreden. Ich versuche es auch gar nicht, weil er den Abscheu, den ich gegen dieses unheimlich Land empfinde, nicht mitempfindet. Er denkt nur an seine Sternwarte.“

„Hat er Ihnen keine neue Violine gekauft?“ fragte ich teilnehmend, wie man ein aufgeregtes Kind fragt.

„Ich will hier gar nicht Violine spielen; hierher paßt keine Violine, in diese Gespensterluft; ich will fort! Ich bitte Sie, besuchen Sie meinen Mann und überreden Sie ihn, daß er abreist! Ich werde todkrank hier; ich fühle es: dies Land ist mein Tod.“ Sie weinte schluchzend und sah auf und starrte auf ein tonnengroßes, steingemeißeltes Schlangenhaupt, das nahe am Eingang lag. Das Schlangenhaupt hatte keine Augen, nur ein riesiges Maul, aus dem auf jeder Seite drei Giftzähne, größer als Elefantenzähne, über die Lippen ragten. Statt der Schuppen bogen sich riesige Federn über die Kopfhaut. Der Steinkoloß grinste und lachte, als habe er überall Augen – entsetzliche, höhnische, unsichtbare Schlangenaugen, die nach allen Richtungen Blicke schössen.

„Ich werde Ihren Gemahl besuchen“, sagte ich ernst. „Aber jetzt dürfen Sie nicht mehr weinen. Bedenken Sie doch, daß das alles nur tote Idole sind. Heutzutage ist das Land unter dem Präsidenten der Republik im Aufblühen, und man hat die Seen und Sümpfe um die Hauptstadt trockengelegt, so daß wenig Fieberfälle vorkommen. Sie fürchten vielleicht das gelbe Fieber, und deshalb ist Ihnen unheimlich?“

„Ja, ich habe jeden Abend, wenn die Sonne untergeht, etwas Fieber; aber das geht immer vorüber. Davor fürchte ich mich nicht“, sagte die Weinende und trocknete sich die Augen. „Verzeihen Sie nur, daß ich mich so kindlich benehme. Bitte führen Sie mich jetzt zu einem Wagen! Ich will zu meinem Mann zurückfahren. Sagen Sie ihm aber bitte nichts davon, daß ich Sie bat, ihm vom Hierbleiben abzuraten. Er wollte jetzt jeden Tag um eine Audienz beim Präsidenten bitten, um wegen der Sternwarte eine Eingabe zu machen. Ich konnte ihn bisher immer noch davon abhalten.“

„Seien Sie unbesorgt! Ich werde Ihren Mann aufsuchen und mein möglichstes tun, ihm die Verhältnisse des Landes so zu schildern, daß er nicht daran denken wird, hierzubleiben.“

„Bleiben Sie selbst noch lange in Mexiko?“ fragte sie mich plötzlich und betrachtet mich stark und auffallend forschend.

„Ich weiß noch nicht,“ sagte ich der Wahrheit gemäß „wie lange mich meine Geschäfte noch hier halten werden. Wahrscheinlich bis Weihnachten! Jetzt ist es Juli, also ungefähr noch ein halbes Jahr.“

„Oh, so lange!“ entfuhr es ihr, und dann setzte sie hastig hinzu: „Amüsieren Sie sich gut? Sehen Sie die schöne Mexikanerin öfters?“

Im gleichen Augenblick verließen wir das Museum, und ich winkte einem Kutscher. Da sagte die Blonde: „Nun, Sie grüßen sie gar nicht? Sehen Sie denn nicht? Dort ritt die Mexikanerin eben mit zwei Herren um die Ecke.“

„Ich habe sie nicht gesehen“, sagte ich erstaunt und sah eben noch die Hinterteile von drei Pferden, die in der Nebenstraße schritten. „Ich habe die Mexikanerin nicht gesehen und nicht gesprochen, seit ich hier bin, nicht ein einziges Mal“, versicherte ich. Die blonde Dame wollte eben in die vorfahrende Droschke steigen, doch sah sie sich nochmals nach mir um und sagte: „Dann wissen Sie gar nicht, daß sie jeden Tag mittags hier am Museum vorüberreitet? Das wissen Sie nicht?“ Und sie betrachtet mich ungläubig.

„Bei Gott, ich weiß nichts davon.“

Ich verstand nicht mehr, was sie sagte. Ich grüße und verbeugte mich, und sie fuhr davon. Ich stand allein neben Paolo, der mir mit seinen drei Armen zuwinkte.

Was bedeutete diese Szene? Fragte ich mich. Und laut wende ich mich an die Mißgeburt und fragte: „Paolo, weißt du es?“

Der Indianer, der immer lustig war, grinste und fragte ebenso laut zurück: „Werden Sie auch halb geheiratet, mein Herr?“

Ich wurde sehr ernst, ich gab ihm ein Almosen und lachte nicht mehr; auf dem ganzen Wege blieb ich ernst.

Ich ging die San-Francisco-Straße entlang, wo die mexikanischen Herren in Trupps mit den Rücken an den Schaufenstern lehnten, sich unterhalten und die Wagen beobachten, die mit schönen Frauen vorüberfahren. Diese Straße ist eine große Juwelierstraße, Laden bei Laden voll Goldwaren, Silberwaren und Edelsteinen. Bankhäuser, elegante Restaurants und einige Toilettenläden für die Damenwelt glänzen mit ungeheuren Spiegelscheiben, und man glaubt in der Leipziger Straße in Berlin zu sein oder in der Rue de la Pair in Paris oder in Regent-Street in London.

Vor einem Schaufenster blieb ich stehen. Da lagen, auf schwarzem Samt zu kleinen Hügeln geschichtet, Haufen ovaler Opalsteine, milchig und irisierend. Als schaue man das Licht gebrochen an einem Wintertag durch gefrorene weißmatte Fenster, so lagen die taubweißen Steine da auf dem schwarzen Samt.

Ah ja, dachte ich, ich habe es ganz vergessen: Mexiko ist ja nicht bloß das Land des Goldes, sondern auch das Land der Opale. Der Volksmund nennt den Opal einen Unglücksstein, und der Opal bringt dem, der einen solchen Stein trägt, Tränen, ebenso wie die Perlen. Ich sah die Steine eine Weile an und konnte nicht verstehen, warum sie mich so sehr beschäftigten und anzogen; dann fiel es mir ein: Die Augenäpfel der blonden Frau hatten einen so milchweißen und irisierenden Schein wie die Opale, halb bläulich, halb grünlich und in der Sonne gelbrosa glitzernd. Mir war das besonders aufgefallen, als wir eben im blutroten Göttersaal gestanden und Tränen in den Frauenaugen geschwommen hatten; da sahen sie wie Opale aus.

Ich trat in den Laden und wählte mir einen schönen weißen Stein mit leichten Rosafunken im Milchlicht und steckte ihn in meine Westentasche, um ihn zu Hause zu betrachten; und ich sagte mir dabei: Du kaufst dir vielleicht das Unglück ins Haus. Was tut‘s! Ich finde: es ist besser, Unglück zu fühlen, wenn man nicht Glück fühlt. Jedes Gefühl ist Leben; nur die Einsamkeit und die Gefühlsleere sind tödlich.

Ich versprach mir, am nächsten Morgen bestimmt das Hotel aufzusuchen, in dem der Astronom mit seiner Frau abgestiegen war. Aber am nächsten Morgen, als ich in meinem Hotel unter dem Torgewölbe auf einem der erhöhten Stiefelputzerstühle daß, die da in langer Reihe standen, bedient von zwei Indianerjungen, und als ich die Morgenzeitung aufschlug, fiel mir eine Annonce ins Auge: Ein schönes Pferd, das der Präsident der Republik nur ein paarmal auf der Jagd geritten hätte, stünde im Stall der Reitschule R. L. und wäre dort zu besichtigen und zu verkaufen. – Ein Pferd wollte ich mir längst kaufen; als meine Stiefel blank gewichst waren, machte ich mich darum auf den Weg zur Reitschule und verschob den Besuch beim Astronomen auf den nächsten Tag.

Aber da ich den Besuch unterschlug, rächte sich mein Herz und redete mir unterwegs ohne Ende von der Blonden.

„Sehen Sie doch dieses traurige Land, das so trostlose, häßliche Götter erzeugt hat, und denken Sie dabei an Griechenland, wo nur Schönheit, menschliche Schönheit, in Stein gemeißelt, das Auge erfreut! Hier ist es, als ob die Menschen alles Unglück des Lebens, Gift, Erdbeben und Blutdurst, nicht bloß erleben, sondern auch anbeten müßten. Man betet, glaube ich, hier in Mexiko nur zum Gott des Unglücks und der Trauer und des Todes, und bei uns in Europa zum Gott des Lebens und der Freude und des Glückes.“

Mit einemmal war mir klar, wie recht diese Frau hatte, wie gut sie mit ein paar Worten dieses Land schilderte, das von fortwährenden Erdbeben heimgesucht, das gewöhnt ist, mehr auf das donnernde und grollende Erdinnere zu achten als auf die harmlose Sonne. Dieses Land, das das Gold aus seiner Erdtiefe den Generationen geschenkt und um der Goldklumpen willen seine Freiheit eingebüßt hatte, mußte dieser dämonischen, goldgiererzeugenden und ewig unsicher lebenden Erde mehr Aufmerksamkeit schenken als dem Himmel. Und falsche Schlangen, die bei dem falschen Golde in dem falschen unsicheren Erdinnern wohnten, jagten der Seele fortgesetzte Schrecken ein, so daß der Mensch hier gezwungen war, das Unglück als die Hauptmacht des Lebens anzusehen und anzubeten, da des Menschen Kraft nicht ausreichte, alles Unglück hier niederzutreten.

Während ich dieses dachte, ging ich durch die alkoholdunstigen, nach fauligem Pulquegetränk riechenden engen Straßen eines geschäftigen Stadtteils. Pulque, das Nationalgetränk, wird aus einer saftigen Agavenpflanze mit Stechhebern gewonnen und hält sich nur achtundvierzig Stunden. Es ist ein weißlich milchiger Saft, der stark berauscht und den Betrunkenen blutdürstig und sinnlos rasend machen kann. Jeden Morgen kommen aus den Agavenpflanzungen des Landes lange Extrazüge mit Wagenreihen voll Pulque in der Hauptstadt an; und wenn die frischen Fässer vor den offenen Barhallen der Straßen abgeladen werden, wird der übriggebliebene schlechtgewordene Pulquesaft, der durch zu starke Gärung ungenießbar wurde, auf die Straßendämme und in die Nebenstraßen gegossen. Wo sich die Pulquebarstuben für das Volk in langen Reihen befinden, stinken die Straßen den ganzen Tag nach dem fauligen, gärenden Milchsaft, der in weißlichen Bächen zwischen den Pflastersteinen und in den Gossen hinfließt.

Mit stieren Augen und gedunsenen Gesichtern wankten die trunkenen Indianer an mir vorbei. Ihre Augen waren von den Göttern des Trunkunglückes verdreht. Als ob ihnen eine unsichtbare Schlange um den Hals läge, die ihnen den Hals zuschnürte und das Blut im Hirn stockend machte, so gedunsen und atemringend tasteten sich bei jeder Bar ein paar Betrunkene an den Wänden entlang.

Die Reitschule mit ihren Stallungen lag in einer alten spanischen Klosterkirche; im Innern der runden Kirche war die Reitbahn, und in den früheren Zellen der Mönche standen die Pferde vor den Krippen. Der Besitzer war ein alter Österreicher. Er war ein Offizier jenes unglücklichen Kaisers Maximilian gewesen, den die Mexikaner absetzten und erschießen ließen, als sie die Republik einführten, die Klöster im Lande räumten und alle Mönche verjagten. Man zeigte mir hier einen kleinen, strammen Eisenschimmel, der blaugrau und roströtlich schimmerte, und der dem Präsidenten von einem Haziendabesitzer bei Gelegenheit einer der letzten Jagden geschenkt worden war. Es ist Sitte, bei jeder Jagdeinladung dem Präsidenten ein Pferd zum Geschenk zu machen. Der Präsident kann natürlich nicht alle Geschenke behalten; er reitet die Pferde einige Male und verschenkt sie dann oder läßt sie verkaufen.

Das muntere Pferdchen gefiel mir sehr gut, und ich kaufte es. Ich beeilte mich, am nächsten Morgen im Reitanzug wiederzukommen, um es in der Reitbahn für mich zuzureiten. Darüber vergaß ich ganz und gar, daß ich eigentlich den Astronomen besuchen sollte. Der Reiteifer, der mich in meiner freien Zeit jetzt in Anspruch nahm, ließ mich nicht mehr daran denken. Dazu kam noch, daß ich wichtige Besprechungen, Briefe und Arbeiten daheim im Hotel zu erledigen hatte, so daß meine freie Zeit mir täglich nur zu einer knappen Reitstunde reichte.

Da erhielt ich eines Morgens im Bett einen Brief. Die blonde Dame schrieb, ich möchte nicht mehr mit ihrem Mann von der Abreise sprechen. Sie fühle sich allmählich fähig, sich hier einzuleben. Sie zögen jetzt beide auf das Land, in ein Dorf bei San Juan, wo die Mond- und die Sonnenpyramiden seien; dort hoffe sie friedliches Landleben zu finden. Sie entschuldigte sich nochmals für die Stunden, da sie mich in so weinerlicher Weise in Anspruch habe nehmen müssen. Sie grüßte dann von sich und ihrem Mann, lud mich aber nicht ein, sie in San Juan zu besuchen.

Der Brief schien mir, trotzdem er einfach und sachlich lautete, doch, als wäre er von vergossenen Tränen feucht gewesen; es war in jeder Zeile ein Mollton, der Wehlaut eines wimmernden Weibes, das sich vernachlässigt fühlt von seinem Mann, von allen Freunden und von der übrigen Welt.

Ich werde sie später in San Juan besuchen; jetzt ist die Zeit noch nicht gekommen, sagte ich zu mir, fühlte dabei aber hellseherisch deutlich, daß ich einmal dieser Frau nachreisen würde und sie suchen und finden würde, wie eine Wünschelrute die verborgene Quelle finden kann.

Wohl wußte ich jetzt von der Blonden, daß die schöne Mexikanerin jeden Mittag um zwölf Uhr am Museum vorüberritt, aber ich hatte doch nicht die Lust, meinem Schicksal entgegenzulaufen. Ich ging nie mehr zum Museum. Ich hatte jetzt jeden Tag mein kleines Pferd, das „Stella“ hieß, eine Stunde lang in der Reitbahn zugeritten. Es war eine lustige Stunde in der dämmerigen alten Kapelle, deren Fenster von Spinngeweben grau bepolstert waren, so daß immer Dämmerung dort herrschte, wenn auch draußen auf der Straße grell die Tropensonne brannte. Stundenlang ritt ich im Kreis über den weichen, mit Lohe hochbeschütteten Boden. Der Rittmeister, breitspurig in der Mitte der Bahn stehend, erzählte mir lange Geschichten vom mexikanischen Krieg aus der Zeit, da die Franzosen das Land verließen und den Kaiser Maximilian hilflos den Aufständischen preisgaben. „Es lebt noch eine außerordentlich schöne ältere Dame hier in der Stadt,“ sagte er eines Tages, „die verehrte den Kaiser sehr und versuchte alles, um ihn zu retten. Man sagte sogar, sie habe den Kaiser so geliebt, daß sie sich wie die Jungfrau Maria eines Tages befruchtet fühlte und eine Tochter geboren hätte, ohne von einem Mann berührt worden zu sein. Die Gelehrten sagen alle, es sei wohl möglich, daß eine Selbstbefruchtung stattfinden könne.“

„Ist die Tochter keine Mißgeburt geworden?“ fragte ich scherzend.

„O nein,“ sagte der Rittmeister, „sie ist eine der schönsten und angesehensten jungen Damen der Stadt und eine der besten Reiterinnen von ganz Mexiko.“

Ich dachte sofort an die Schöne Mexikanerin. „Sie ist natürlich sehr fromm, wenn ihre Mutter in solch gewaltige Ekstase geraten konnte, daß sie behauptete, sich selbst befruchtet zu haben. Die Mutter und die Tochter müssen sehr religiös sein?“

„Das sind sie auch; ein Onkel der Tochter, ein Abbé, ein lieber älterer Herr, begleitet die junge Dame immer auf ihren Reisen. Er ist ihr Beichtvater und ist immer um sie. Sie ist jetzt mit dem Polizeipräsidenten verlobt, aber man sagt, die Verlobung soll nicht sehr glücklich sein. Man meint, sie wird die Verlobung wieder auflösen; der Onkel Abbé soll alles anstrengen, um ihr dazu zu helfen. Er ist sehr energisch und wird es durchsetzen.“

„Die Dame ist verlobt? Das wußte ich gar nicht.“

„Kennen Sie sie denn?“ fragte mich plötzlich der Rittmeister verwundert.

Ich konnte nicht antworten, da im gleichen Augenblick mein Sattelriemen platzte und ich beinahe samt dem Sattel vom Pferde geglitten wäre.

Später sprachen wir nicht mehr weiter. Ich war froh, daß ich nicht um zwölf Uhr Aufstellung am Museum genommen hatte, um die schöne Mexikanerin zu grüßen. Denn wenn sie verlobt war, wünschte ich sie nicht zu sehen. –

Der alte Österreicher stellte mir dann am nächsten Morgen einen Reitlehrer vor, der mir die Wege in der Umgebung von Mexiko zeigen sollte.

Es war ein prächtiger, blendender Vormittag. Wir ritten den breiten Weg nach Schloß Chapultepec, eine Triumphpromenade, die mit den bronzenen Standbildern zweier großer Indianerkönige beginnt, dann an unzähligen kleinen Büsten mexikanischer Feldherren, Diplomaten und Helden und am Standbild des Kolumbus vorüberzieht. Immer von hohen Korkbäumen eingesäumt, zieht die Straße auf der Hochebene hin, und diese ist draußen rundum am Horizont von unzähligen Kratern eingefaßt. Wie dunkelblaue Riesentöpfe stehen die Kraterkegel groß am Erdrand.

Nach einer Stunde Ritt erreicht man den Grashüpferhügel, worauf das Schloß Chapultepec liegt. Das Schloß sieht aus wie ein riesiges weißes, flaches Ozeanschiff mit verschiedenen Verdecken übereinander. Die breiten offenen Veranden, die das Gebäude umgeben, wirken wie die weißen Promenaden eines Dampfers. Unten am Schloß, in einem Hain von Korkbäumen, steht noch der Riesenbaum, unter dem einst der Aztekenkönig Montezuma Gericht und Rat hielt.

Da es ringsum wenig Felder, nur Staub und graugrüne Steppenflächen gab, ritten der Rittmeister und ich nicht mehr auf ebenem Weg weiter, sondern querfeldein. Als ob die Erde nur uns und den Pferden gehörte, so jagten wir meilenweit über staubiges Feld und über dürre Weiden. Nirgends war hier der Wollust des Reitens eine Grenze gezogen. Nichts stellte sich zu seiten des Weges auf, nur hie und da Erdhütten der Indianer aus ungebranntem grauem Lehm, gleich Maulwurfbauten, graue Erdwürfel ohne Fenster, nur mit einer Tür und flachem Dach, stehen sie da und zeigen einem ein buntes Gemach. Fast überall an der Türschwelle lauerte ein Weib, das Maisteig zu handgroßen Kuchen klatschte. Und immer hörte man, wenn man an eine Erdhütte kam, von weitem schon das rhythmische Teigklatschen. Kein Singvogel, kein Laut, keine Blume, nur graues, dürftiges Gras Maisfelder oder Agavenpflanzungen, starr wie aus bläulichem Eisenblech, waren am Wege. Manchmal stürzten unsere Pferde bis an den Bauch in schlammige Erdlöcher, wenn die gedörrten Staubschichten durchbrachen, und das schwarze Morastwasser bespritzte uns bis an den Hals.

Als wir unsere Pferde heimwärts lenkten, lag das eisweiße Gebirgsmassiv des Popokatepetel und des Irrtaccihuatl unter dem Mittaghimmel wie ein bleiches Geisterpaar.

Wie getürmte weiße Gewitterwolken und nicht wie Eis und Stein lagerten diese Vulkane am fernen Erdrand, als könnten sie wachsen und verschwinden wie Wolken, je nach Laune. Wir kamen an großen Brandruinen vorbei, die hinter hohen Mauern schwarz in die Luft standen, und der Reitlehrer erzählte mir, daß dieses Haus ein Mädchenpensionat gewesen sei, daß aber vor Wochen sich die Söhne reicher Mexikaner in der Stadt zusammengetan und nachts das Kloster überfallen, die jungen Mädchen geraubt und die Nonnen verjagt hätten. Das verhaßte Schulhaus, das ihnen die jungen Mädchen aus der Stadt und aus ihren Augen entführt hatte, steckten sie noch in der Nacht in Brand. Man hielt zwar über die jungen Leute Gericht; da es aber lauter Söhne angesehener Familien waren, ließ man sie straflos. Doch wurde jeder von ihnen verpflichtet, das Mädchen, das er geraubt hatte, zu heiraten. Nur eine einzige hatte sich nicht rauben lassen. Sie war eine vorzügliche Reiterin, und als die jungen Männer nachts hereinbrachen, sprang sie auf ein Pferd und sprengte allein in die Nacht hinaus und in die Stadt zu ihrer Mutter.

„Ist das vielleicht die, welche jetzt mit dem Polizeipräsidenten verlobt ist?“

„Ja.“ Sagte der Reitlehrer, „kennen Sie die junge Dame?“

Dieses Mal riß mein Sattelriemen nicht, und ich konnte nicht anders, als notgedrungen eine Antwort geben. Ich sagte scherzend und nach der Räubergeschichte zum Humor geneigt: wenn ich jetzt der Dame begegnen würde, so wollte ich gern mit dieser Reitkünstlerin um die Wette reiten.

„Oh, wenn Sie die Dame sehen wollen, ist das sehr leicht. Sie reitet täglich um elf den Paseo hinunter nach Chapultepec hin und zurück.“

„Dann reiten wir jetzt den Paseo zurück,“ sagte ich lachend und im Spaß, „denn es könnte sein, daß der Polizeipräsident neben ihr reitet, und das würde mich wütend machen.“

Der Reitlehrer sah mich einen Moment von der Seite an und sagte dann: „Ach, will die junge Dame Ihretwegen ihre Verlobung mit dem Polizeipräsidenten lösen?“

Er ist doch zu naiv, der junge Herr, dachte ich. Aber ich fand es plötzlich gar nicht unmöglich, daß sich hier in Mexiko Dinge ereignen könnten, von denen ich mir in Europa nichts hätte träumen lassen.

Ich nickte nicht, aber mein Pferd hatte mir im Reiten einen Stoß gegeben, so daß es so aussah, als ob ich zustimmend nickte. Und ich sah aus dem respektvollen Blick des Reitlehrers, daß er mich für denjenigen hielt, den ganz Mexiko beneiden würde, wenn die Verlobung des Polizeipräsidenten gelöst wäre. –

Seit diesem ersten Ausritt wußte ich nun mit Bestimmtheit, daß mir täglich auf dem Paseo oder auf anderen Wegen unter Reitern, die da allmorgendlich ihren Spazierritt machten, auch die schöne Mexikanerin begegnen könnte. Trotzdem ich immer an sie dachten, wenn ich die Hoteltreppe hinunterschritt, und auch noch, wenn ich dem Indianer, der mir das Pferd morgens am Hoteltor vorführte, die Zügel abnahm, so hatte ich sie fast ebenso schnell vergessen, wenn ich einmal im Sattel saß und den Tumult der Marktstraßen und das Morgengewühl hinter mir hatte und in den breiten Promenadenweg des Paseo einritt.

Nach ein paar Tagen merkte ich, daß meine „Stella“ die Gewohnheit hatte, vor Straßenwalzen zu scheuen, ebenso vor Rohren, die man zu Kanalisationszwecken an mancher Wegkreuzung hingelegt hatte. Ach, dachte ich mir, ich sehe schon, wie ich mich blamieren werde. Sicher kommt, wenn ich eben von ferne die Mexikanerin zum erstenmal sehen werde, eine unglückselige Dampfwalze um die Ecke, oder es liegt ein Kanalrohr am Weggraben.

So ähnlich kam es auch, nur noch schlimmer.

Eines Mittags sehe ich in der Ferne, als ich vom Schloß Chapultepec zur Stadt reite, eine Staubwolke. Ich war eben vom Pferd gestiegen, um mir einen Sporn fester zu schnallen, der sich nach dreistündigem Ritt gelockert hatte. Mein Pferd, das ruhig neben mir steht, schnuppert plötzlich in die Luft. Ich höre ein fernes Donnern, als ob ein Eisenbahnzug hinter der nächsten Agavenhecke hervorkäme. Da haut meine Stella ihre Hinterhufe in die Luft und fliegt über den Weg querfeldein davon, und ich sehe nach.

Was ist das? Scheut das Pferd vor einem Eisenbahnzug, den ich nicht sehe, oder ist eine Schlange in der Nähe? Vorhin, als ich an einer Hecke vorbeiritt, hatte sich das Pferd gebäumt und geschnuppert. Es mußte da wahrscheinlich eine große Schlange im Gebüsch gelegen haben. Ich schaue meinem Tiere nach und rufe. Da sprengt die Staubwolke, die ich vorher gesehen hatte, heran. Ich sehe grau in grau einen Reiter und eine Reiterin; das Pferd der Dame ist scheu, und sie selbst hängt nur halb im Sattel. Der Herr bemüht sich vergeblich, die Zügel ihres Pferdes zu fassen, um das Tier zum Stehen zu bringen, und er hängt auch halb aus dem Sattel. Die beiden sind vorüber und lassen mich in einer Wolke blind und grau von Staub zurück.

Als der Dunst um mich sich legt, sehe ich in der Ferne einen Indianer, der von einem Maultier gesprungen ist, mir mein Pferd eingefangen hat und es mir entgegenführt. Eine Stunde später, als ich ins Hotel komme, fragt man mich, ob ich das Erdbeben bemerkt hätte. Alle Hängelampen im Haus hätten geschaukelt, und Bilder wären von den Wänden gefallen; einige Leute wären auch erschrocken auf die Straße gestürzt, andere hätten aber kaum etwas gemerkt. Man war nur ängstlicher als sonst, da vor vier Wochen eine ganze Stadt in einem Augenblick mit Tausenden Menschen eingestürzt war, und da man befürchtete, Ähnliches könne jeden Augenblick der Hauptstadt Mexiko auch drohen.

Ich dachte nochmals zurück an das unterirdische Donnern, das ich draußen auf der Ebene gehört, und das ich für einen Eisenbahnzug gehalten hatte. Ich erinnerte mich wieder, daß mir, ehe das Donnern in der Erde begonnen hatte, und ehe mein Pferd den Hinterleib in die Luft geworfen hatte und querfeldein gestürmt war, die seltsame Totenstille in der Luft unbewußt aufgefallen war.

Der Feuergott Chac Mol und die Erdgöttin Coatlicue, die bei den fernen Kratertöpfen hockten, hätten jemand verflucht, und die Kinnladen der Erdgöttin und die Kinnladen des Feuergottes hätten dabei geknirscht, sagten die Indianer. – Ich saß im Speisesaal des Hotels, wo ich, verspätet und als einzelner Gast, mir das Essen nachservieren ließ. Der Indianerboy glitt eifrig wie eine lautlose Eidechse um meinen Tisch und trug die vierzehn kleinen Gerichte auf, die es täglich auf winzigen Tellern gab, wobei jedes Gericht nur aus einem einzigen Happen bestand, kaum größer als die Taschenuhr in meiner Westentasche: 1. Ein Salatblatt mit einem halben Ei und einer Sardine. 2. Einige braune süße Bohnen, die Lieblingsspeise der Indianer. 3. Einige winzige Eingeweideteile vom Kalb oder Rind. 4. Eine rote Paprikaschote, mit gebackenem Huhn gefüllt. 5. Ein winziges, talergroßes Beefsteak. 6. Gelber Curry und ein kleines Häufchen Reis. 7. Eine halbierte geröstete Tomate. 8. Ein paar Weinbergschnecken. 9. Ein wenig gelber Maisbrei. 10. Ein Stück Hals oder Magen von einer Ente, gedünstet. 11. Geriebene Kokosnuß mit gebranntem Zucker. 12. Ein paar Bananenstreifen, mit Zucker geröstet. 13. Einige frische Mangofrüchte. 14. Getrocknete Trauben mit Mandelkernen.

Das war täglich so ungefähr das Lunchmenü. Das Diner am Abend war etwas reichlicher, da dann Roastbeef und Suppe in einer Tasse und Kaffee und Pudding dazu kamen. Wünschte man keinen Importwein, so trank man destilliertes Wasser aus einem großen messingenen Destillator, der, ähnlich wie der russische Samowar, in der Zimmerecke der Schmuck eines jeden mexikanischen Hauses war.

Essen und Trinken erschienen mir so künstlich wie möglich und weit entfernt von meinen europäischen Gewohnheiten. Der Indianerboy ging wie ein lautloser Jaguar elastisch um mich herum, kam und verschwand mit den winzigen Tellern und sah in seinem weißen Anzug, mit dem grotesk dunkeln Kopf, wie ein weißer Schneemann aus.

Ich hatte eben abgegessen und starrte, während ich mir eine mexikanische Zigarette drehte, in mein Glas mit destilliertem Wasser und wunderte mich, daß ich ein Erdbeben erlebt hatte, ohne es zu wissen. Da schiebt der Indianerboy einen Teller mit einem Brief zwischen mich und das Wasserglas. Ein Diener hatte den Brief abgegeben. Der Reitlehrer, der mich bei dem ersten Ausritt begleitet hatte, schrieb mir:

-...heute morgen kam jene Dame, von welcher wir neulich sprachen, zu uns in den Reitstall und sah sich neue Pferde an. Sie ritt dann einen eben aus Teras eingetroffenen Hengst zur Probe, und ich mußte sie auf dem Ausritt begleiten. Ich wußte, daß sie den Paseo gegen Mittag zurückkommen würden und begleitete die Dame und wollte es so einrichten, daß wir Ihnen begegneten. Aber unsere Pferde, die wahrscheinlich vor dem Erdbeben scheuten, gingen durch, und ich rettete mit Mühe die Dame, deren Pferd ganz toll geworden war. Auf dem Heimweg, als sich unsere Pferde beruhigt hatten, erzählte ich ihr, daß Sie sicher sehr bedauern würden, daß Sie nicht Gelegenheit gehabt hätten, mit ihr um die Wette zu reiten, und nannte dabei Ihren Namen.

Sie fragte mich, ob ich Sie öfters sähe, und ich sagte ihr, daß Sie bei uns ein Pferd gekauft hätten, welches Sie täglich ritten. Sie schien nichts davon zu wissen und bat mich, Ihnen folgendes zu bestellen: Sie möchten heute abend zwischen fünf und sechs Uhr zur Korsozeit nach der Glorieta di Colon kommen und zu ihr in den Wagen steigen, der dort halten wird. Sie wünscht Sie dringend zu sprechen. Die Dame bat mich zugleich, in diesem Brief ihren Namen nicht zu nennen, für den Fall, daß der Brief in falsche Hände gelangen sollte. Sie selbst wissen ja, welche Dame gemeint ist, und wer sie heute abend auf dem Korso erwartet.

Erstaunlich! Die Erde beginnt zu beben und mein Schicksal auch, dachte ich für mich. Ich wollte zuerst den Brief an der Kerze, die mir der Boy zum Zigarrenanzünden reichte, verbrennen, besann mich aber und steckte ihn in meine Brusttasche. Ich war zu bewegt, um eine leichte Zigarette zu rauchen, und hatte mir eine Zigarre aus dem Etui genommen. Im Schaukelstuhl oben auf meinem Zimmer wollte ich mich, beim gewichtigen Blau des Rauches einer echten Havanna, nach der Lektüre dieses überraschenden Briefes sammeln.

Die Erde wurde hier jetzt wirklich heiß unter meinen Füßen. Sie bebte und verführte mich, und bald würde ich keinen Schritt mehr tun können, ohne daß immer Erdbeben um mich wäre, wenn ich einmal den ersten Schritt auf diesem jetzt so heißen Boden hinter mir hätte: die erste Begegnung allein mit der Mexikanerin.


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