Max Dauthendey
Raubmenschen
Max Dauthendey

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Max Dauthendey

Raubmenschen


Rennewart

(Einführung)

Rennewart war ein Mann, der Ende des neunzehnten Jahrhunderts und noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts eine gewichtige Rolle an allen europäischen Fürstenhöfen spielte – man könnte ihn eine europäische Geheimgröße nennen.

Rennewart wurde jahrelang von Hof zu Hof gesandt, von Staatsmann zu Staatsmann, und er hielt das intime Netz der Privatverbindungen höchster Kreise in seiner Hand. Bismarck nennt ihn unter verschiedenen Namen in seinen Memoiren. Mir wurde er zufällig unter dem Pseudonym " Rennewart" bekannt.

Kein schriftstellernder Eruropäer war in die damaligen europäischen Zustände so eingeweiht wie Rennewart, keinem seiner schreibenden Zeitgenossen wurde Europa durch sein Schicksal so von allen Seiten beleuchtet wie ihm.

"Man kann nicht bloß hellsehend, sondern auch hellhörend sein", sagte er, als er in Mexiko weilte und zum erstenmal vom Kontinent Europa durch ein Weltmeer getrennt war und sich dort in eine Mexikanerin verliebte, deren Stimme er reden hörte, auch wenn sie schwieg und ihn küßte. In Mexiko und in der Liebe zu dieser Ausländerin, zu einer Fremden aus einer fremden Rasse und einem fremden Erdteil, entdeckte Rennewart zum erstenmal den Europäer in sich, und er gewann jenseits des Atlant, getrennt von "Mutter Europa", zum erstenmal einen Überblick über den alten Heimatkontinent.

"Raubmenschen", dieser erster seiner Romane handelt von der Zuneigung und Leidenschaft zu drei Frauen, deren Seelen ihm auf der mexikanischen Reise nacheinander vertraut werden.

Rennewart, der die europäischen Höfe gut und gemütlich kannte, wie ein starker Raucher seine verschiedenen Pfeifen, er, der allen Großen und allem Großen seiner Zeit begegnet war und nicht bloß den Ideen, sondern auch allem Lebendigen tief nachgefühlt hatte – dieser Mann war außerhalb der Hofkreise und außerhalb der Kabinette Europas so gut wie gar nicht bekannt. Nie ist er im Volke genannt worden, nie im Volk gesehen oder gefühlt worden. Es reiste in den europäischen und außereuropäischen Ländern wie ein Unsichtbarer, stets darauf bedacht, seine Person unansehnlich und unauffällig zu machen. Es war mir besonders interessant, aus seinen Briefen und seinen Schriften festzustellen, daß von allen Frauen, die ihm nahestanden, nicht eine jemals den wahren Begriff von seinem diplomatischen Beruf erhielt, noch Einblick in seine Geheimnisse bekam.

Die Frauen der Welt hielten ihn für einen Weltbummler, für einen Lebemann. Einigen galt er als fabelhaft reich, andern als Bankrotteur oder Hasardspieler. Den ernstesten unter den Frauen galt er höchstens als ein Privatgelehrter oder als ein künstlerischer Schwärmer.

Er selbst gab sich auf seinen Geheimreisen am liebsten als Mitglied irgendeiner geographischen Gesellschaft aus, der Berliner oder der Londoner, in deren Auftrag er unterwegs zu sein vorgab, was ihm, wie mir scheint, auch blindlings geglaubt wurde. Auch gab er manchmal vor, im Auftrage eines Museums zu reisen, um in irgendeiner Welthauptstadt ein Gemälde zu besichtigen, mit dessen Ankauf sich das betreffende Museum augenblicklich befasse. Rennewart war, wie es die Zeitrichtung damals mit sich brachte, auch künstlerisch vielseitig interessiert und stand in persönlichem Verkehr mit den größten Künstlern seiner Tage.

Es ist erstaunlich, aus den aufgezeichneten Romanen zu ersehen, wieviel Zeit der sehr ernste junge Diplomat neben seinen hohen Tagesaufgaben noch seinen Herzensleidenschaften einräumte. Ähnlich erstaunlich, wie daß der große Maler Rubens, welcher Gesandter und Diplomat war, mit seinem künstlerischen Nachlaß viele Museumssäle anfüllen konnte. Wenn man alles drucken wollte, was Rennewart an vertraulichen Erlebnissen aufgezeichnet hat, könnte man eine kleine Bibliothek füllen.

Von Rennewarts Betrachtungen über Europa, die ab und zu den Farben der romantischen Begebenheiten interessiert unterbrechen, habe ich einige mit in die Romane aufgenommen. Gerade diese Europaüberblicke, sagte ich mir, zeigen ihn, den Völkerkenner, und diese Beobachtungen und Vergleiche sind sozusagen der massive Rahmen um jene romantischen Begegnungen und Abenteuer, mit denen Rennewart von seinem Schicksal so reichlich versorgt wurde.

Ich schrieb diese Einführung, um Rennewart dem Leser vorzustellen, da er sich in seinem Roman nicht selbst vorstellt, sondern dort nur als fertiger Weltbetrachter und Welterleber auftritt.

"Man muß sich von vornherein gegen alles wehren, auch gegen Schwerter, die noch in der Scheide stecken, gegen Kugeln, die noch nicht gegossen sind, und gegen Verräter, die erst noch geboren werden", behauptet Rennewart einmal in einem seiner Romane.

1. Eine Begegnung am Atlant

Den Atlantischen Ozean sah ich zum erstenmal von dem kleinen Bretagnedorf Pouldu.

Ich fuhr von einer unbedeutenden französischen Bahnstation in einem Einspänner auf einer kreideweißen Landstraße nach dem Dorf; es war im Mai. Grüner Roggen und braune gedüngte baumlose Felder lagen am Straßenrand; ich reckte den Hals im Wagen von Minute zu Minute länger und suchte unterm wolkenleeren Himmel im Westen den Atlantischen Ozean.

Die Räder knatterten auf der beschotterten Straße. Platte Felder, wilde Hecken und Gedorn und ein paar kreiselnde Windmühlen waren stundenlang am Weg, aber kein Ozean.

Ich wurde ungeduldig; als hätte mir jemand Geld und Hoffnungen gestohlen, so fühlte ich eine öde Enttäuschung in mein Blut einziehen, öde wie die kalkweiße endlose Landstraße.

"Wo ist das Meer?" hatte ich den Kutscher öfters gefragt. Der hörte mich nicht; die Wagenräder rasselten, und der Wagen knatterte in allen Fugen.

Im Westen mußte das Meer sein, der Atlant, den ich so sehr ersehnte, der große Wassergott Okeanos.

Hinter den Feldern im Westen stieg allmählich eine Helle in den Himmelsraum – die wurde heller als der Tag auf der Landstraße, und die Erdstreifen voll grünem Roggen und Dung schienen sich zu verdunkeln; das Grün des Roggens wurde schwefelgrüner, wie von einem Gewitterstrahl beleuchtet, der Tag aber, der weißer als die Sonne aus der Erdtiefe in die Ferne hinter dem verdunkelten Feldrand heraufschien, strahlte in den Himmel und beleuchtete einige Wolken von unten heller, als es die Sonne von oben tat. Die Erdrinde, voll von Feldern und Hecken, schien zwischen zwei Sonnen wie eine dunkle Kruste gelagert. Eine Sonne der Tiefe schien gegen die Sonne der Höhe einen Lichtkampf aufzunehmen.

Noch flogen im Westen wenig Singvögel aus den Hecken, und eine unheimliche großartige Stille lag dort in den Feldern. Diese Stille schien wie ein luftleerer Riesenraum das Land voll Roggen verschlucken zu wollen.

Die Riesenstille des Atlant und das Abendlicht des Atlant, das in den Wolken spiegelte, Stille und Blendlicht kamen mir vom Wasserkörper des Gottes Okeanos zuerst entgegen, beide ungeheuerlich wie große ungeheuerliche Gesten eines unsichtbaren Giganten.

Dann zackte sich das Erdreich in der Ferne; zwischen einer Bodensenkung in den Feldern schien von einem Felsvorsprung zu einem andern ein dünnes Seil gespannt zu sein, und auf dem Seil balancierte eine riesige weißfeurige Spinne. Sie hing mit weißen erregten Füßen an dem Seil, und dieses schien leicht zu schwanken. "Der Atlant", sagte der Kutscher und wendete sich auf dem Bock nach mir um und deutete mit seiner Zigarre auf das Seil und auf die Riesenspinne.

Dann verschwand das Ganze, und ich begriff: ich hatte für einen Augenblick die Meerlinie als ein Seil und die Wasserspiegelung als eine weiße Spinne und den Atlant gleich einem Gespenst auftauchen und verschwinden sehen.

Dann bekam ich nach einer Weile eine lange ferne Mauer im Westen zu sehen, eine graue, gläserne Mauer.

"Der Atlant", sagte wieder der Kutscher, als ich fragte.

Die Straße ging an einer großen Windmühle vorüber, an eidottergelben blühenden Rapsfeldern, die so nüchtern gelb waren, daß ich meinen nüchternen Reisemagen noch hohler und nüchterner fühlte; ein paar riesige Bäume standen wie schiefgewehte Schilfhalme schräg auf dem horizontalen dunkeln Acker als beuge eine unsichtbare Hand die großen Bäume. Und auch hier fühlte ich an den schiefen Stämmen die Kraft des Atlant, vor dessen Sturmlungen diese Bäume sich ihr Leben lang nicht aufzurichten trauten. Auch wenn der glänzende Gott Okeanos mit glattem Wasserkörper in der Sonne schlief, blieben die Bäume in langen Reihen wie in einer ewigen Flucht, vor der Sturmmacht des Gottes entsetzt, mit fliehender Astbewegung und schief gebeugten Kronen und Stämmen, gleich einem Haufen fortstürzender Riesen. Und es malten sich die Gebärden der gequälten Bäume schreckerregend auch in der Windstille, wie umgeben von unsichtbaren Sturmungeheuern, wie umklammert von den toten Grimassen verschollener wilder Ozeannächte; als hätten erhenkte Riesen, deren Leiber von den schiefen Bäumen später abgeschnitten worden wären, die Bäume im Todeskampf verdreht und zur Erde gebogen.

Die große Windmühle, an der ich zuletzt, ehe ich die ersten Häuser von Pouldu erreichte, vorüberkam, ging ihren Geistergang langsam in der Spätnachmittagluft, langsam, wie ein Rieseninsekt, das sich überschlug. Und gerade unter den kreiselnden Armen der in die Luft fechtenden Mühlenfigur hielt der Kutscher einen Augenblick meinen Wagen an. Er rief ein paar Worte über eine Dornenhecke, dahinter die unglücklichen verstürmten schrägen Baumungeheuer dunkel vor dem Ozeanlicht standen. Das Ozeanlicht, das, weiß am dunkeln Feldrand wie aus einer Versenkung heraus an die Bäume, an die Wolken, und von unten an die Blätter der Rotdornhecken schien, beleuchtete eine Frauengestalt. Die wurde von dem Licht in die Länge gezogen, von dem unheimlichen Licht, das aus den Ackerfurchen aufzustrahlen schien wie das lange Licht eines Scheinwerfers, der aus irgendeiner Erdspalte von unten in den Himmel strahlt.

Die langgezogene weibliche Gestalt rief dem Kutscher eine Antwort zurück. Ihr langer Schatten kam zuerst in meinen offenen Wagen über das Feld zu mir her. Als die Frauengestalt noch weit entfernt im Feld heranlief, eilte ihr Schatten schon, gleich einem der schräggestellten ungeheuern Bäume, weit übers Feld voraus.

Eine junge Dame stand dann nach einer Weile atemlos am Wagen, trat auf das Trittbrett und saß dann neben mir. Der Wagen fuhr mit uns beiden weiter, ohne daß die Dame mich begrüßt hätte; kaum daß sie mit dem Gesicht dem Kutscher zugenickt hatte, ehe sie eingestiegen war.

Ich rückte ebenso weit von ihr weg, wie sie von mir.

Sie lehnte in einer Wagenecke, ich in der andern. Die Räder rasselten wieder ohrenbetäubend, und der Wagen hopste über die Steine.

Ich überlegte indessen, wie das möglich sei, daß eine Dame in Frankreich einen grauen deutschen Lodenmantel tragen könne. Natürlich mußte dies eine deutsche Dame sein; wahrscheinlich eine Malerin aus der Künstlergesellschaft, die sich aus ganz Europa jahraus, jahrein in Pouldu, Concarnot und andern bretonischen Küstendörfern zusammenfindet. Am ersten Bauernhof des Dorfes Pouldu, das efeubewachsen in einer Bodensenkung, tiefer als die Roggenfelder, lag, sollte der Kutscher halten und für die Dame einen Brief, den sie aus dem Lodenmantel zog, in den Dorfbriefkasten werfen. Ich bot mich an, den Brief beim Kutscher auf den Bock zu reichen, wurde aber von zwei mißtrauischen jungen Mädchenaugen leicht dankend abgewiesen und zog mich wieder in meine Wagenecke zurück.

Zwischen Efeumauern der grün eingewickelten Bauerngehöfte, an kleinem Gartengemäuer vorüber, daran sich grunzende Schweine rieben, vorbei an wütend kläffenden Hofhunden, bog der Wagen talabwärts, an einem Acker voll blühender Obstbäume entlang, und hielt vor dem letzten, einzelnstehenden Dorfhaus, dem einzigen Gasthaus von Pouldu.

Ich stieg aus und wollte der Dame im Lodenmantel beim Aussteigen helfen, aber sie sprang auf der anderen Wagenseite ohne Hilfe ab und lief in das Haus, wie eine, die hier bekannt und zu Hause ist.

Das weiß getünchte, einstöckige einsame Gasthaus, an der vom Staub ebenfalls weiß getünchten Landstraße, schien seinen sechs menschenleeren Fenstern und seiner totenstillen Haustür wie in einem Winkel am Ende der Welt zu liegen.

Ah, dachte ich, die Stille des Atlant und der weiße Widerschein des Giganten, der immer noch unsichtbar bleibt, wohnen auch hinter den sechs Fenstern des Gasthofes und sitzen kalkhell an der Landstraße. Und das kleine Gasthaus, das so weiß leuchtete wie vorhin die weiße Spinne an dem Seil, und das keinen Laut von sich gab, gefiel mir gut und lockte mich anheimelnd. Vorhin, als – wie der Anfang eines Romanes – das mystische Mädchen im Lodenmantel in meinen Wagen gestiegen war, hatte ich meine Sehnsucht nach dem Atlant für Augenblicke vergessen; jetzt kam, gleich einer zurückgewichenen Flutwelle, die Sehnsucht, den Atlant zu schauen, groß und mächtig wieder; ich wollte mir gar keine Zeit nehmen, in das Gasthaus zu gehen, und ließ nur mein Gepäck hineintragen.

Unter der Haustür waren zwei Dienstboten erschienen, in Bretonentracht, schwarz gekleidet wie Nonnen, mit weißen, platten, engansitzenden Häubchen auf dem Kopf. Unter den weißen Leinwandkapseln der Hauben verschwanden Haar und Ohren, und jedes Dienstbotengesicht saß eingerahmt wie in einem weißen Joch. Das schwarze Samtmieder reichte den Mädchen wie ein Panzer bis an den Hals. Schwarze Ärmel und schwarze Röcke mit schwarzen, breiten Samtstreifen am Rand verfinsterten die Tracht und die Gesichter, die jung sein sollten; diese Gesichter hatten einen blutleeren Schein, als strahlten sie nur fahle Nüchternheit und fahle Haussorgen aus.

Ich fragte die beiden einfältigen schwarzen Gestalten nach dem Wege zum Meer.

Die beiden Schwarzen standen oben auf den drei Treppenstufen der Haustür und begannen bei meiner Frage mit ihren Armen, wie zwei kleinen Windmühlen, vor dem weißen gekalkten Haus umherzufuchteln. Die eine deutete eifrig nach Westen und Norden, die andere nach Osten und Süden, als wäre das große Meer überall, als wäre es, wie der Himmel, sogar über dem Hausdach, dicht vor uns und hinter allen Dingen. Ich genierte mich, daß beide Frauen das Meer in den Taschen zu haben schienen, und daß sie taten, als schwämmen Haus, Landstraße, Dorf und Hecken mitten im Atlant, indessen ich das ersehnte Wasserungeheuer doch durchaus noch nirgends entdecken konnte. Wenn ich auf die Düne wolle, müsse ich mich über einen kleinen Fluß, quer über der Straße am Ende eines Steinfeldes übersetzen lassen, drüben seien dann Düne und Meer; wolle ich aber an das Felsenufer auf die Klippenküste, so müsse ich den Dorfweg zurück- und zu den alten grotesken Baumstämmen gehen, dann stünde ich hoch über dem Meer auf einer senkrechten Felswand. Soviel begriff ich endlich, als die fuchtelnden Arme der Mägde sich senkten und nur die Worte allein übrigblieben, so daß die Wege ans Meer sich klärten: der Atlant war hier wie ein Gott überall.

Eine der schwarzen Frauen schrie einen Mann herbei; der setzte mich im Kahn über den schmalen Fluß, dessen Wasser flach wie ein breiter Kiesbach zwischen den Dünen stand.

Ich sollte drüben immer am Fluß im Sand entlanggehen, dann käme ich zum Meer.

Ich watete ich dem weißgelben Sande; der war wie ein beweglicher Gummi und hob und senkte sich unter meinen Füßen, so daß ich glaubte, niemals von der Stelle zu kommen. Meine Sehnsucht nach dem Atlant wurde wieder ungeduldig, aber der Sand unter meinen Sohlen war noch ungeduldiger als alle Sehnsucht und erstickte meine Eile und war, als wollte er mich wie ein Brei einfangen. Ich wurde in den Knien müde und wollte mich setzen; da kam ein erstickender Bromgeruch zu mir, der Dunst von faulendem Tang, der urgründige Atem des Meeres. Ein schauerlicher Geruch von Fäulnis und Verwesung verbreitete sich, als käme mit ihm der Schauder aller, die jemals ertrunken sind, über den Lebenden.

Ich hörte das ziehende Waschen und regelmäßige Arbeiten langer Strandwellen. Mir war, als käme ich in die Nähe einer riesigen Uhrwerkes, in dem Räder, Spiralfedern und Hebel arbeiteten, Zahnräder rastlos kreiselten, rastlos sich um Achsen drehten und schnurrten, hasteten, schwirrten. Dann kam ich über die letzten Sandhügel. Da war eben die Sonne im Nebel untergegangen, und vor mir lag ein weites Wasser bis an den fernsten Erdrand wie ein bewegliches Schieferfeld, dunkel, von beweglichen langen, weißen Adern durchzogen, aufblitzenden weißen Adern, die draußen weiße Sprünge rissen und einander verfolgten.

Der Atlant war das nicht; das vor mir war ein einfacher Meeresanblick, wie ich ihn oft erlebt habe – so dachte ich. Der Atlant muß mehr sein, nicht bloß ein Wasserfeld, das zuckt und kriecht und rauscht; der Atlant muß mehr sein.

Ist das seine ganze Arbeit? dachte ich verächtlich und betrachtete den braunen Tangrand, der sich auf Meilen an den grauen Sandhügeln hinzog. Und ich betrachtete die immer wiederkehrenden langen Glasscheiben der an den Tang sich heranschiebenden flachen Ebbewellen und hörte auf das Zerbrechen der Wasserscheiben, die wie knirschender Glassand wurden und weißen Schaum ausschütteten; und ich sah jeder Welle zu, die bis an die Sandhügel in das Land hinein Schaum blies, und ich fand nichts Riesenhaftes an dieser Arbeit.

Ich fühlte mich betrogen. Salzluft, Tang, Sand, Dünenwellen und graues Meer bis an den Horizont hatte ich schon oft gesehen. Wo blieb mein Atlant, den ich ersehnte? Enttäuscht kehrte ich im grauen monotonen Abendlicht dem Wasserfelde den Rücken zu und sah nach Osten in die Sandwelt. Die grauen mannshohen Sandhügel lagen lichtlos, von Abenddämmerung verschleiert, und die Sandwellen waren geheimnisvoll menschenleer und baumleer, wie ein Land, das nie eine Menschenstimme gehört hätte, und das nicht wüßte, was Wachstum und Vergänglichkeit sind. Ewig unvergänglich, grau und zeitlos lag die Sandwelt wie ein Geisterland sanft und lautlos in der Totenstille.

Ich ärgerte mich jetzt nicht mehr, wenn mir der Sandboden unter den Füßen kreiselte und meine Schritte von dem dichten, weichen, samtenen Sand gleichsam zum Niederlegen eingeladen wurden. Ich ging auf dem welligen grauen und beweglichen Samt und hörte eine Lerche am Himmel fiedeln; sie hatte sich aus den Dünen gehoben und jubilierte in den Abend.

Dann wurde plötzlich aus dem Sand heraus laut gelacht. Eine Flötenmelodie begleitete mit kindlichem Getute die Lerche am Himmel; in einer Sandgrube entdeckte ich fünf Bauernkinder, Knaben und Mädchen, die im Kreise zusammengekauert saßen und kicherten und sich wälzten und den kitzelten, der vergebens ernstlich die Flöte spielen wollte.

Ich störte das Kindertreiben kaum mit einem neugierigen Blick.

Aber alle Kinder duckten sich mit einemmal und schrien: "Sie kommt, pft, pft, sie ist es, sie kommt!"

Ich sehe nichts und denke, die Kinder spielen ein Versteckspiel, und ich stapfe vorüber.

Ich wandere weiter durch den beweglichen unruhigen Sand, der mich nicht aufrecht gehen läßt, mich bei jedem Schritt umstoßen möchte. Wie ich von dem unsicheren Boden aufsehe, kommt mir lautlos eine Gestalt entgegen: die junge Dame im Lodenmantel. Sie geht barfuß und trägt ihre Stiefel in der Hand. Ihr Mantel ist offen; ich sehe ihr hellblaues Sommerkleid. Kaum erblickt sie mich, da wickelt sie den Mantel um sich und wendet sich ohne Gruß in die einsamen Sandhügel nach der Seite hin.

Sie scheint barfuß den beweglichen Sand besser zu beherrschen zu können als ich; sie wankt bei keinem Schritt. Ihr Gesicht leuchtet weiß wie Papier in der Abenddämmerung. Sie trägt das weiße Gesicht etwas hochmütig feierlich, wie ein Priester, der am Altar dem Volk die blendend weiße Oblate einer Hostie zeigt.

Hinter dem Mädchen, aus den Dünen, steigt der Vollmond, wie ein zweites weißes Gesicht, das dort begraben gewesen, das sich aufrichtete und dem Mädchen folgte.

Ich weiß nicht, warum ich plötzlich die Dünenhügel traurig wie Gräberreihen eines Kirchhofs fand. Das Mädchen, als vorhin neben mir im Wagen gesessen, hatte mir den Eindruck von Lebensfülle, Kraft und Sicherheit gegeben. Ihr Kopf war von dunklem Haar gekrönt. Ihre Lippen waren von jungem, üppigem Blut belebt. Schultern und Hüfte rund und geschmeidig, als trügen sie gut ein hochpochendes Herz. Nur ihren blaugrauen Augen war ein fliehender Blick eigen. Der war manchmal gequält wie die Haltung der zur Seite gebogenen Bäume an der Küste des Atlant.

Jetzt in der abendstillen Düne, wo die Dämmerung den üppigen Körper des Mädchens grau verflüchtigt zeigte, war es mir, als hätten ihre scheu ausweichenden Augen von ihrem ganzen Körper Besitz genommen, als strebe sie einsamen Selbstgesprächen nach und handle dem Willen ihres üppigen Blutes zuwider und verbreite rings um sich endlose Traurigkeiten.

Ich hörte dann hinter den Sandhaufen wieder die Kinderflöte spielen und wünschte der scheuen jungen Dame, daß sie wenigstens gut Freund mit den Kindern wäre. Dann vergaß ich sie über meinen eigenen Gedanken, kam zum Fluß und zum Kahn zurück, ließ mich zum Gasthaus übersetzen und fand im Eßzimmer meinen Teller und mein Besteck neben die einer englischen Malerin aus London gelegt. Mir gegenüber saßen zwei junge amerikanische Maler, von denen der eine in braunem Manchestersamt, der andere in grauem Manchestersamt gekleidet war. Es wurde lärmend gegessen, lärmend gelacht und gewitzelt, und mit der gleichen lärmenden Energie wurde über Sportballspiele, Baden und Angeln, über Ölfarbenmanieren, Modelle und Kunstausstellungen verhandelt – über alle Themen gleichmäßig heftig, als wäre die Kunst ein Sport und der Sport eine Kunst.

Neben der englischen Malerin war ein Stuhl am Eßtisch freigeblieben und ein Gedeck unbenutzt, und als die Maler und ich unsere Servietten fortlegten und wir vom Tisch aufstanden, sagte einer der Herren: "Die Österreicherin ist nicht zu Tisch gekommen!"

Die Engländerin lachte und meinte: "Die Österreicherin ist ein kurioses Mädchen. Sie geht immer noch abends im Mondschein auf der Düne spazieren und kann nie zur rechten Zeit zu Tisch kommen."

"Sie scheint keinen Hunger zu haben," sagte ich, "denn ich begegnete ihr eben; sie muß sich eben erst zur Düne haben übersetzen lassen."

"Sie ist ein kurioses Mädchen", wiederholte die Londonerin und forderte die beiden Amerikaner und mich zum Ballspiel auf.

In Ermangelung eines Tennisplatzes war ein Ballspiel eigener Art von den Amerikanern erfunden worden, das auf der Landstraße bei zwei Scheunen neben dem Gasthaus gespielt wurde. Der geworfene Ball mußte von einer Scheunenwand zur anderen Scheunenwand klatschen, und die Wucht des Werfens an die Wand war die Hauptsache dieses wenig geistreichen Ballspieles. Sich vor Faulheit zu schützen, sich Bewegung zu machen vor und nach den Mahlzeiten, war der energische Zweck dieses Spieles. Rassen, die nicht das Phantasiespiel des Nachdenkens und des Sichversenkens in die schweigende Welt und in sich selbst als Lebenskunst gelernt haben, dachte ich, fürchten sich vor der Einsamkeit mit ihrem Ich wie vor einem Gespenst.

Ich spielte mit den Ausländern ihr heftiges Ballspiel und wunderte mich über den Aufwand an Energie und Eifer, der ihnen fast die Arme und Beine vom Leibe riß, wenn sie zum Ballwurf ausholten. Manchmal sehnte ich mich aber von den wahnsinnigen amerikanischen und englischen Gliedmaßen und den wichtig aufklatschenden Ball fort, über den kleinen Fluß hinüber auf die sandgraue, wellige Düne, wo der Mond einem Mädchen nachging und Kinder Sandnester gruben und Flöte bliesen und das Abendschweigen alle Gedanken heiligte.

Trotzdem fesselten die schreienden, tobenden Amerikaner und die sich männlich energisch gebärdende Londonerin meine Augen und Ohren wie ein Schauspiel, das durch Lärm alle Sinne hypnotisiert; denn die Menschenstimmen schallten zwischen den Scheunenwänden auf der abendlichen Landstraße doppelt laut; es war, als jage eine Meute Hunde mit Gekläff eine Katze.

Mitten in diesem Lärm hörte ich nach einer Weile, wie über mir im ersten Stock des Gasthauses ein Fenster klirrend geschlossen wurde; und als die Amerikaner sahen, daß ich zu jenem Fenster hinaufschaute, sagten sie wie aus einem Mund:

"Ah die Österreicherin ist von ihrem Mondspaziergang nach Hause gekommen."

Ich weiß dann nicht, warum ich mich beinahe schämte, weiter unter den lärmenden Ballspielern zu bleiben und als ein Lärmer unter den sechs Fenstern auf der Landstraße zu toben.

Auch die Ausländer ließen plötzlich vom Spiel mit der jähen, abbrechenden Art, die nur Engländern und Amerikanern eigen ist. Dann sagten sich die Ballspieler "gute Nacht".

Eine Weile später stand ich oben an meinem Zimmerfenster, und unten lag die grau eingesponnene Landstraße. Der Mond stieg langsam auf die Scheunendächer, und ich wünschte mir, daß die Österreicherin neben mir im Nachbarzimmer schnarchen oder husten oder seufzen möchte, damit ich nach dem bestialischen ausländischen Geschrei wieder etwas primitiv Menschliches meinen Ohren zur Beruhigung geben könnte. Aber kein Laut drang aus dem Nebenzimmer, und meine kalkweißen Zimmerwände sahen mich in der Mondbläue endlos leer an wie Sanduhren.

Doch nicht lange danach, als ich meinen Kopf auf das Bettkissen legte und mein Blut sich vom Ballspiel beruhigt hatte, begann ein fremdartiges Geräusch, wie ein fernes Bienensummen, wie ein surrendes Uhrwerk im Kopfkissen.

Ich richtete mich auf, aber das Geräusch war dann nicht mehr zu spüren. Es war leer und still im Zimmer.

Ich drehte mein Kopfkissen mehrmals um und dachte, die Leinwand sei zu kalt und verursache mir Ohrensausen. Immer, wenn ich mich hinlegte, summte das Kissen, und wenn ich mich aufrichtete, war es still im Zimmer. Da kam ich auf den Einfall, mein Ohr an die gekalkte Wand zu legen. auch die Wand summte. Ich stand auf und legte mein Ohr an den Spiegel, an den Schrank, auf die Tischplatte. Alle Dinge im Zimmer hatten eine Stimme bekommen, als hörte ich ihre Selbstgespräche, sobald mein Ohr sie berührte. Alles Holz, alles Glas, alle Wände und die Leinwand und die Bettfedern in den Kissen, alle sprachen, wenn ich ihnen mit dem Ohr nah kam, als wäre in allen toten Dingen ein Blutkreislauf. – Dann verstand ich plötzlich mit einem wohligen Schauer dieses Geheimnis. Es war, fernher geleitet, die Stimme des Atlant. Die war durch die Erde in alle Erddinge gedrungen; der Atlant telephonierte mir durch die Erdleitung in mein Ohr. Der Atlant, den meine Augen heute noch nicht als Riesen hatten entdecken können, streckte sich mit Stimme und Bewegung riesig durch die Erddecke unter dem Hause fort und wiegte das Blut in meinem Leib und das Ohr auf dem Kopfkissen. Nun wußte ich: der Atlant war so mächtig, daß auch die Augen ihn nicht gleich zum erstenmal, wenn sie vor ihn traten, erfassen konnten; es brauchte Tage und Nächte, bis einem sein ungeheurer Anblick bewußt wurde.

Man stand vor dem Atlant wie vor einem Gott. Man war dicht bei ihm und sah ihn nicht; er kam erst stückweise an, drang ruckweise zur Erkenntnis. Erst teilte er sich den Ohren und dem Blut mit, ehe er sich den Augen hingab. Der Atlant ist wie die Seele eines scheuen Mädchens, ist wie Liebe unfaßbar, auch wenn man Wand an Wand mit ihm wohnt.

Ich begann, von der Stimme der Atlant umsummt, einzuschlafen und hörte halb im Schlaf, wie im Nebenzimmer ein Fenster geöffnet wurde.

Sie sucht wie ich den Atlant, dachte ich einschlafend und sah das blasse Mädchen im Geist, mondweiß wie mein Kopfkissen, und sah sie halb im Traum drüben in ihrem Zimmer am Fenster stehen und das Scheunendach über der mondhellen Landstraße betrachten. Sie sucht wie ich den Atlant. Sie hat eine Stimme auf ihrem Kopfkissen gehört, und sie ist jetzt aufgestanden und sucht wie ich den Atlant.

Sie sucht wie du den Atlant, wiederholte mein summendes Kopfkissen während der ganzen Nacht und summte den Satz durch meinen Schlaf bis zum Morgen. –

Der nächste Morgen rollte wie eine gelbe Goldkugel durch das Fenster, und allen Wänden und allen Dingen schienen gelbe lustige Kanarienvogelfedern zu wachsen. Es war, als könnten die Wände wie Kanarienvögel zwitschern, so froh, gelb glänzend und schallend hub der Tag an.

An diesem Morgen, als ich den Atlant wieder suchte, ging ich nicht über den kleinen Fluß zur Düne hinüber. Ich ging diesseits über den Kies und über Muschelboden am Flußufer entlang, vorbei an einer gewaltigen uralten schwarzblättrigen Eiche und dann auf einem Felsenpfad in die Klippenwelt hinauf. Die war wie aus rotem und braunem Kupfer geschmiedet, als hier eine Welt zu Schlacken zerschmolzen, brandfarben dicht bei einer riesigen blauen Flamme; dieses blaue Feuer schien an den brandbraunen Felsen mit Schmelzglut zu lecken. Jene gasblaue Feuerwelt war der morgendliche Atlant. Feuerblau wie eine geschlängelte Flammenzunge lief der Fluß drunten zwischen der goldsandigen, gelben flachen Düne in das Land. Dieses war im Hintergrund mit blühenden, weiß und rosig getupften Obstbäumen umstellt, und das weiße Gasthaus mit seinen sechs Fenstern glänzte an der weißen Landstraße, und dahinter im tiefsten Land lag ein graublauer Waldsaum, Wald hinter Wald.

Alles, was der Mensch sich landschaftlich Schönes wünschen konnte, war hier versammelt: grüne Roggenfelder auf dem Klippenplateau, lauschige Dorfhäuser, sonnenhelle Dünen, finster abstürzende, von Stürmen geschwärzte Klippenmauern. Und hinter den fernen Dorfhäusern blühten in weißem und rosigem Schaum die Obstbäume und sahen wie Scharen tanzender Mädchen aus, Mädchen in rosigen Ballkleidern auf grünen Feldern. Ach, käme doch einer der Bäume im blühenden Kleid als Mädchen verwandelt zu mir! dachte ich und sah mich einsam in der atlantischen Morgenwelt vor der feuerblauen Meeresflamme stehen und fühlte mein Herz trotzig wie eine Welschnuß und hart und wünschte blühende Frauenwärme herbei, allmächtige Liebeswärme, die vom Himmel auf mich wie der Morgen fallen sollte, und die mich blenden sollte wie der allmächtige, unendliche, rauschende, feuerblaue Wasserriese, der dicht bei der goldgelben Düne turmtief unter der Klippenwand lag.

Ich sah von der Klippe oben das weiße und blau Mosaik der flachen Meereswolken, das sich verschob und ans gelbe Sandland antrieb, das Kommen und Gehen der Dünenbrandung; aber ich konnte das Schäumen der einzelnen Wellen hier oben nicht hören. Ich stand nur mitten in einem unendlichen Stimmenrauschen, das wie ein unterirdisches Getöse aus dem Atlant aufstieg, und das im Himmel widerschallte und vom Land zurückhallte, so daß ich nicht wußte, woher die Stimme kam. Es konnte auch das Sonnenlicht, das runde, am blauen Morgenhimmel sein, das wie ein Riesengong im Weltraum dröhnte. Oder war es die Sehnsucht in meinem Herzen, die an meine Einsamkeit wie an eine Trommel donnernd anschlug. Oder ging irgendwo um mich herum, mitten vor dem blaufeurigen Morgenmeer, vor dem morgengoldigen Dünensand, oder oben auf den Roggenfeldern, auf den grünspangrünen Wiesen, ein Mensch, dessen Schritte vor Traurigkeit auf der Erde und im Himmel widerhallten, und dessen Herz wilder verbrannt war von Leidenschaft als die zerbeulten rostroten und rauchschwarzen Klippenknochen. Diese Morgenwelt schien götterglänzend und irrsinnig zugleich, von blauem, ewigem, mörderischem Feuer und steinernen irdischen Grimassen angefüllt.

Ich ging über das wurzelbraune, alte verdorrte Heidekraut der Klippenrippen und fand nach einer Weile im Sonnenschein die lange sonnenweiße Mauer einer Meerbeobachtungsstation. In der Ferne, tiefer im Land, standen die Reihen der verrenkten Riesenbäume aufgestellt, die ich gestern nachmittag vom Wagen aus bestaunt hatte, und ich entdeckte auf der Wiese einen großen Malerschirm, wie eine weiße Zeltkuppel am Rand eines grünen Roggenfeldes aufgespannt.

Unter dem weißen Schirm konnte entweder einer der Amerikaner oder die Londonerin oder die Österreicherin sitzen. Der Schirm stand schief; ich sah die Füße einer Staffelei und die Ecke einer Rahmenleinwand silberiggrau in der Sonne blitzen.

Ich bückte mich und pflückte ein paar feuerblaue Kornblumen aus dem grünen Roggen. Die sahen aus, als habe der Atlant draußen blaue Tropfen in die Klippenfelder gespritzt, und die Blumen waren so ernst, fast schwarzblau, als ich sie vom grünen Feld trennte und in der Hand trug, als wären sie die Blicke einer tiefen Traurigkeit, die an den Feldern hier vorübergeschritten sei.

Ab und zu Kornblumen pflückend oder einen von der Salzluft des Meeres halbtauben Schmetterling oder Käfer von einer grünen Roggenähre abstreifend, kam ich dem großen weißen Malerschirm immer näher.

Da fuhr ein Windstoß vom Meer auf. Der Schirm bog sich zur Seite und schwankte, als ob er fortfliegen wolle. Ich trat hin und sah, daß der Feldstuhl unter dem Schirm leer, daß die Malleinwand unbenützt und ein Kasten mit Farben und Bleistiften bei dem Windstoß vom Mahlstuhl gefallen war. Der Kasten war aufgegangen; einige Tuben und Pinsel und Bleistifte lagen am Boden verstreut. Ich sammelte die Dinge, legte sie in den Kasten und schloß den Deckel. Dann ging ich weiter und wunderte mich.

Aber ich konnte nicht sehr weit gehen. Ich mußte mich nach fünfzig Schritten auf einen Klippenstein setzen und den Malerschirm, die Staffelei und den Stuhl bewachen, als hätte ich die Pflicht, diese Dinge mit meinem Müßiggang vor dem frischen arbeitenden Wind, vor dem arbeitenden blaßfeurigen Meeresspiegel und vor Himmel und Sonne zu beschützen.

Ich saß, bis es Mittag wurde und die Sonne senkrecht auf meine Knie brannte. Dann trollte ich mich, von Luft und Licht und Warten und Müßiggang erschöpft und unerquickt und verfolgt von Heeren verliebter Wahnvorstellungen, zurück über die Felder, den Fluß entlang zum Gasthof. Ich kam zu spät zu Tisch. Alle Gedecke waren abgeräumt, alle anderen hatten Brot, Fleisch und Wein genossen. Auch der Platz der Österreicherin lag voll Brotkrumen, und Weinflecken auf dem Tischtuch zeigten, daß die junge Dame dagewesen war, indessen ich wie ein totes Ding im Feld über Heidekraut und Klippensteinen bei schlummernden Eidechsen über feuerblauen Wünschen gebrütet hatte, unwirklicher als dumpfe Hitzewolken, die am Himmelsrand liegen.

In den Nachmittagsstunden besuchte ich einen berühmten französischen Maler, der als seltsamer Kauz und Sonderling abseits von der Pariser Malerwelt in Pouldu in einem versteckten Bauernhause wohnt, wo er Bauernmädchen als Madonnen malt und alte Fischer und junge Matrosen als Heilige. Seine Bilder sind meistens nicht größer als der Deckel einer Zigarrenkiste und auf Holz gemalt.

Bei diesem Maler traf ich die junge Österreicherin auf der Treppe. Sie ging auf der schmalen Holzstiege an mir vorbei und grüßte mich zum erstenmal. Ihre Augen schienen ganz vertraut und natürlich geworden und hatten die Weltfluchtunruhe verloren. Auf der dämmerigen Leiterstiege des Bauernhauses, in dem der berühmte Maler V. sich eingenistet hatte, schien sie gut bekannt, denn sie machte mir Platz wie eine, die hier zu Hause wäre und mich als einen Gast bei sich betrachtete. Diese flüchtige Begegnung machte uns plötzlich zu guten Bekannten. Und am nächsten Morgen, als wir uns zufällig auf der morgengelben Sanddüne im blauen Ozeanlicht trafen und auch ich barfuß und mit den Stiefeln im Sand ging, grüßten wir uns wieder und besprachen eingehend den feinen Sand unter den Füßen, und wie notwendig es sei, ohne Stiefel zu gehen. Die junge Dame war im Gesicht wunderbar rosig und weiß zugleich, wie ein Ei, das man vor die Sonne hält. Auch ihre nackten Füße gingen unterm regengrauen Lodenmantel weiß im Sande, leuchtender fast als die weißen Kalkmuscheln, die auf den gelben Sandkristallen blitzend offen lagen.

Dieses Mädchen war im Morgen wie ein Stück vom Morgen selbst, so frisch, lebenverheißend, anmutig und stark, und ihr junger Leib erschien mir wie ein Krug, der am Brunnen überfließt, und der wartet, daß ihn jemand heimhole.

Sie setzte sich auf einen Sandhügel, und ich saß einige Schritte vor ihr; wir hörten die Wellen hundert Meter vor uns poltern, horchten auf dieses Anrennen und Verzischen des Meeres, das sich anhörte, als ob kaltes Wasser auf eine heiße Herdplatte ruckweise ausgegossen würde und ruckweise aufzischte, aufbrauste, stürbe und verdampfte.

Wir saßen still vor dem Gedröhne des Atlant, vor der Ehrlichkeit eines ungeheuren Elementes, das sich einseitig hartnäckig behauptete. In der Nähe des Mädchens, zu zweien, schien mir das Meer kaum wie eine Handvoll Wasser, denn des Mädchens Blut und mein Blut war ein größeres Meer, ein Atlant von Blut, der durchs Weltall zog, und der noch über die Sonne hinaus hoch in dem kupfervitriolblauen Morgenäther vor meinen Augen wogte.

Wir sprachen ein wenig von Gemälden, von dem Maler, den ich gestern besucht hatte, von seinen Madonnen und Heiligen. Und immer zischte in der Nähe die dunkle dampfende Riesenherdplatte des Atlant um unsere Worte wie eine Riesenleidenschaft. Die Morgensonne heizte den flüchtigen, mehligen Dünensand, auf dem wir saßen, und der unter der Hand, die ihn berührte, leicht beweglich fortrieselte wie der Sand einer Sanduhr. Aber unsere Worte waren so unnütz wie die Sandhaufen, wie die nie endenden, verzischenden, meilenlangen Wellengänge des Atlant vor uns; wir blieben beide nicht mit Worten und nicht mit unseren Gedanken aneinander haften. Mir schien: was wir sprachen, sagte jeder von uns zu sich. Es war, als löschte der geschlechtslose ungeheure Wassergott, vor dessen meilengroßem Angesicht wir hier auf der Düne saßen, alle Geschlechtsunterschiede im Blut aus und ließe unirdisch die Seelen zueinander reden, unsinnlich, ohne Erhitzung, ohne Annäherung; gleichmäßig wie der Pulstakt des Wellenschlages, einförmig ohne Erregung wie die Ode des Dünensandes, in der jedes Sandkorn billionenmal das selbe Gesicht zeigt, wie Billionen mal Billionen Wassertropfen des Atlant stets das gleiche Gesicht zeigen.

Vor diesem Riesenmeer, das tagelang gewandert war und dicht bei uns seine Wasserwalzen landete, vor der ungeheuerlichen Geduld, mit der dieses Meer schon Millionen Jahre schon rauschte und echote und sich an den Sand wälzte, erlosch das Ichbewußtsein des Weibes und des Mannes. Und mit dem Schrecken, halb in Trauer und halb in Resignation, ließ ich vom Meer, vom Atlant, meine Augen hypnotisieren, so daß sie bald das junge Weib nicht mehr ansahen, so daß sie wie Fischaugen ausdruckslos wurden, so daß sie hinausschwammen in die unsinnliche Ferne des Meerhorizontes, als wäre ich ein Badender, der von der Strömung widerstandslos in den Atlant gezogen würde, und dem das Ufer verschwände, und dem die Landlinie dünn wie ein Faden würde, den er kaum noch sähe.

Unser gegenseitiges Interesse riß in diesem Augenblick ab. Ich sagte, daß ich mein Skizzenbuch im Hotel holen wolle, und daß ich heute morgen gerne zeichnen würde, aber vergessen hätte, Bleistifte einzukaufen. Sie sagte, daß sie jetzt Briefe schreiben müsse; sie habe Bleistifte bei sich. Und sie empfahl mir eindringlich eine neue Art Kohlenbleistift, Graphitkarbon, und schenkte mir ein Exemplar dieser neuen Bleistiftsorte. Dann trennten wir uns. Sie ging in die Dünen, ich am Fluß entlang zurück zum Gasthof.

Ich fühlte: sie und ich, wir waren von diesem Augenblick füreinander zu guten Bekannten herabgesunken. Das fesselnde, leidenschaftliche Betrachten, mit dem wir uns einander genähert und gesucht hatten, war vom Atlant verschlungen worden. Sie war für diesen Morgen Briefschreiberin, ich Zeichner geworden. Und wir würden dies jetzt immer bleiben. Sooft wir uns träfen, würde sie daran denken, Briefe schreiben zu müssen, indes ich dann vom Zeichnen reden würde, und wir würden uns beide nur dann einigen können, wenn wir vom Graphitkarbonstift sprächen.

Ich drehte das Geschenk der jungen Dame in meiner Hand hin und her.

Halb schien mir der Bleistift wie ein Clown, der mit schlechtem Witz auf die Düne gekommen wäre, um sich über mich lustig zu machen, über mich und über alle Sehnsucht. Halb erschien mir der Stift wie die junge Dame selbst, die hinter den Sanddünen, barfuß weiterwandernd, verschwunden war. Mir war, als habe sich der junge, lebensvolle Mädchenkörper in einen hageren Bleistift aus Zedernholz und Graphitkarbon verwandelt. Und nie mehr könnte ich dies ändern und nie mehr den Bleistift in ein Mädchen zurückverwandeln – das fühlte ich mit Sicherheit, mit Deutlichkeit, so sicher und deutlich, wie ich jetzt wußte, daß der Atlant alltäglich und unverschiebbar hier Millionen Jahre schon die Menschen verzaubert hatte.

Der Atlant war an allem schuld. Der alte Zauberer – hatte der nicht stets Menschen verheren können? Menschen werden Bestien, wenn der Atlant will, hatte mir gestern die Londonerin erzählt. Vor dreißig Jahren, wenn die große Weinkauffahrteischiffe, von Bordeaux kommend, um nach England zu wandern, hier vor Pouldu vorüberzogen, hatten die Leute nachts einer Kuh eine Laterne unter den Bauch gebunden und diese auf dem Felsenplateau entlang getrieben, so daß die Schiffe sich im Kurs irrten und auf die Klippen auffuhren. Und wenn morgens von den gestrandeten Wracks die Leichen und die Weinfässer herbeischwammen, hatten die Leute nicht erst die Fässer von der Düne heimgerollt, sondern gleich neben den Leichen den Fässern den Boden durchgeschlagen und kopfüber die Fässer ausgesoffen. Am Abend hatte dann die ganze Dorfbevölkerung, Männer, Weiber und Kinder, in Rotweinpfützen und im Rausche schwimmend, auf den Dünen steif und starr betrunken gelegen.

Heute hatte mir der Zauberer Atlant ein junges Mädchen in einen Bleistift verwandelt. Aber ich wußte nicht, daß er mich selbst am nächsten Tag in ein Käuzchen verwandeln würde, in eine Eule, die nicht ins Licht sehen kann, nur abends lebendig wird.

Als ich ins Gasthaus zum Mittagessen kam, erschien niemand beim Essen.

Die Londonerin und der eine Amerikaner waren, weil es morgen Sonntag war, nach Concarneau zum Besuch anderer Künstler gefahren. Beim Gasthof im Baumgarten hing heute an einem Seil ein nasser, frischgewaschener grauer Manchesteranzug. Und die Kellnerin sagte, der andere Amerikaner würde nicht zu Tisch kommen, da sein einziger Anzug gewaschen worden sei und am Seil in der Sonne trocknen müsse; der Herr liege deshalb zu Bett und warte auf seinen Anzug und müsse im Bett essen.

Ich saß also allein bei Tisch. Die Österreicherin kam auch nicht. Vielleicht hatte sie den berühmten Maler wieder besucht, der am Dorfende in einem Bauernhof wohnte, oder sie war auf der Düne geblieben, die sie so liebte. Ich fragte die Kellnerin, was es am Sonntag im Lande festliches gebe, und sie erzählte mir, daß im Wald ein ländliches Vogelfest stattfinden würde. Aus vielen Ortschaften brächten morgen die Bauern gefangene junge Amseln, Meisen, junge Raben und Eulen in Käfigen auf einen Waldplatz. Die Vögel würden dort verkauft, damit man sie dann fliegen lassen könne. – Dies Vogelfest war ein alter Bretonenbrauch; ich beschloß, am nächsten Mittag vom Atlant fort in den Wald zu fahren.

Am nächsten Nachmittag, als ich in den Wagen stieg, ließ ich durch das Dienstmädchen im Zimmer der Österreicherin anfragen, ob die junge Dame die Lust hätte, mit mir zum Waldfest zu fahren.

Sie erschien am Fenster und sagte, sie habe noch rasch einen Brief zu beenden; aber wenn ich warten könnte, würde sie mitkommen.

Sie kam dann, und ich glaubte, da es schönes Wetter war würde sie heute ohne Lodenmantel im hellen Kleid erscheinen. Aber sie war wie immer im Lodenmantel und schien sich um meinetwillen keine Mühe wegen ihrer Kleidung machen zu wollen. Ich dachte: vielleicht hat sie, wie der Amerikaner, nur ein Kleid und will es durch den Lodenmantel schonen.

"Es ist so staubig hier auf den Landstraßen", sagte sie, als sie am Wagen erschien. "Ich hoffe, es stört sie nicht, daß ich immer im Mantel bin, aber ich lege ihn nicht gern ab." Und sie wurde leicht rot, wie von den roten Polstern des Wagens beschienen.

Ich sagte ihr, ich hätte den Lodenmantel gern, weil er mich an meine bayerische Heimat erinnere.

Dann fuhren wir; und unterwegs am Dorfende stieg sie einen Augenblick aus und warf ihren Brief in den Kasten.

Es war, als habe sie mit diesem Brief eine Last von sich abgeworfen. Sie atmete auf und war gesprächig, wurde munter und aufmerksam für alle Dinge am Wege. Sie winkte mit dem Taschentuch zu den Fenstern des berühmten Malers hinauf, als wir an seinem grün eingehegten Bauernhaus vorbeifuhren. Sie erzählte mir von Landpartien in Österreich und von Münchener Malschulen und lebte besonders fröhlich auf, als wir den frischen, grün bewimpelten Maienwald unter Buchen und Eichen kamen und an lauschigen Waldplätzen vorbeifuhren.

Bald glaubte sie unter den Bauerngesichtern, die wir überholten, und die alle zum Vogelfest wanderten, bekannte Gesichter aus Deutschland zu erkennen, und manchmal lachte sie und meinte eine ihrer kleinen Schwestern unter den Bauernkindern zu sehen. Des Waldes grüne Säle, die sich aneinanderreihten, wurden ihr zu einem deutschen Familienhaus. Und als wir ganz tief zu den grünen Gewölben des Waldinnern hinkamen und die Erinnerung an den Atlant weit zurückblieb und die lauschige Waldenge voll Farnkraut, voll Maiglockenblätter, voll blauer Waldglockenblumen den Blick an die nächste Nähe fesselte und nicht ins Unbegrenzte hinausschleuderte, wie der Atlant es täglich tat, da wurde des Mädchens Stimme immer inniger. Ihre Gedanken wurden zu warmen Blicken, mit denen sie alles teilnehmend und bewundernd betrachtete; und es schien, als wolle sie ein paar Augenblicke später im Wagen den grauen Lodenmantel, der ihr von den Schultern rutschte, ablegen und ganz uneingewickelt ohne Mantel und ohne Überlegung der Waldwelt gehören.

Da hielt der Wagen. Unter fernen Büschen sah man viele Schultern, Köpfe und Beine von schwarz gekleidetem Bauernvolk, und auf der Waldstraße vor uns reihte sich, mit Laubwerk geschmückt, Wagen an Wagen, die aus umliegenden Bezirksstädten die Honoratioren hergefahren hatten. Viel Pferdegestampf und Kutscherstimmen und dazwischen Mädchengelächter und das Gezwitscher von hunderten eingesperrter Waldvögel drängte sich aus dem Waldinnern und auf der Waldstraße zu einem sonntäglichen Festgeräusch zusammen. Der ganze Wald schien zu wandern und sich zu drehen, denn viele Schatten von Menschen bewegten sich hinter den sonnenhellen Buchenzweigen und hinter den grauen Buchenstämmen. Und besonders wurde das Gezwitscher und Gekrächze und Gepiepse von tausend Vogelstimmen immer lauter, als wir an die Waldlichtung kamen, wo gleich kleinen Holzgitterwänden tausend einfache Rohrkäfige übereinandergestellt waren, darinnen das Gehüpf und Gezeter von grauen und schwarzen kleinen Vögeln eine ungeduldige Unruhe hervorbrachte, als wäre der Wald hier an dieser Stelle, im Kreise dieser Rohrkäfigmauer, irrsinnig, geschwätzig und todesängstlich geworden. Die Füße der flatternden scheuen Vögel, ihre Schnäbel und ihr Gefieder schlugen an die Rohrgitter der kleinen engen Käfige, und es war eine Qual, die Fluchtversuche zu sehen, das verzweifelte Rütteln an den Rohrstäben, daran die Schnäbel sich blutig hackten und die Flügel sich die Federn zerschlugen. Viele kleine Vögel saßen völlig erschöpft da, zerzaust, eingeschüchtert, den Kopf in eine Ecke des Käfigs versteckt und im Angstfieber unausgesetzt zitternd; und ihre Augen, die kleinen schwarzen Stecknadelköpfe, waren von der Lichthaut bläulich verschlossen, als hätten sie sich aus Scheu vor den Menschenungeheuern freiwillig in die Nacht des Nichts begeben und erwarteten hungernd und vor Schreck gelähmt den Tod. Es roch nach Vogelfedern und Vogelmist, und das Gezeter der aufgescheuchten gefangenen Vögel nahm kein Ende.

Die junge Dame an meiner Seite zog den Lodenmantel enger um ihre Schultern; sie wurde plötzlich von all den wilden kleinen Gefangenen totenstill. Sie sagte lange Zeit kein Wort. Sie ging nur ernst von Käfig zu Käfig und schien als Malerin die Stellungen der ängstlich zusammengekauerten Vögel zu beobachten und schien keinen Sinn für das Leid der Tiere zu haben.

Als ich endlich vorschlug, ich wollte ein paar Vögel kaufen und sie fliegen lassen, sagte sie ruhig: "Kaufen ja, aber nicht fliegen lassen. Wozu sollen die Vögel frei sein! Solange die Tiere leben, sind sie sowenig frei wie wir Menschen. Man müßte die Vögel alle töten – das wäre Freiheit! Die einzige wahre Freiheit ist der Tod. Finden Sie das nicht auch?"

Ich schaute verwundert die plötzlich bläulichen Lippen der Dame an und das von den Buchenblättern grün beschiene Gesicht. Und ich dachte nicht nach über das, was sie gesagt hatte; ich mußte nur denken: Die Dame sieht so totenbleich und grasgrün im Gesicht aus, als wäre der Wald ein grünes Aquariumwasser, auf dessen Grunde sie und ich hier gehen. – Und die Buchenstämme erschienen mir wie große Schlauchstengel von ungeheuren Meerblumen. Ich mußte an den Atlant und an viele Ertrunkene denken und an Wracks, die auf dem Meeresgrund lagen, und daran, daß ich heute im Hof des Gasthauses in Pouldu in der Hofecke, wo geschichtetes Brennholz lag, viele Schiffstüren und Schiffsplanken, auf denen Nummern und Namen standen, betrachtet hatte – Reste gestrandeter Dampfer. Es war kaum zwei Stunden her, daß ich das im Gasthof gesehen hatte, und ich war über die Wrackreste gar nicht erstaunt gewesen. Jetzt erst, zwei Stunden später, kam der Schreck über den Anblick des Strandgutes in mein Bewußtsein. Mitten im Wald, im Grünen und im Waldgeruch und Waldgeblüh mußte ich an die Schrecken des Atlants denken, an die Ungeheuerlichkeiten der Todesängste von strandenden Menschen, die das Meer nachts in den Stürmen scheu, irrsinnig und gelähmt, halb hoffend, halb verzweifelt, in den Gittern feiner Wellen gefangen hält – das Meer, das mit den Todesgeängstigten spielt wie der Mensch mit den gefangenen und zu Tode verzweifelten kleinen Vögeln.

"Überall hier ist der Atlant. Sogar in den Wäldern rollt er hinter einem her mit seinen Erinnerungen", sagte ich zu der jungen Dame. "Ich bin müde von dem Riesen; ich liebe diese Gegend nicht; ich sehne mich nach dem Innern des Landes, wo der Atlant nicht nachkommen kann, der unheimliche Quäler und der ungebändigte Barbar."

"Ich verstehe Sie nicht," sagte die junge Dame, "wie kann ein Mann so mitleidig mit den Tieren und den Menschen sein; Männer sind doch eigentlich niemals mitleidig. Sie sind der erste Mann, von dem ich höre, daß er den Atlant nicht mag. Es ist seltsam: wenn ich aufrichtig bin, so mag ich den Atlant auch nicht. Ich fühle mich drinnen in den Ländern, hinter Wäldern, Äckern und Gärten wohler. Aber daß ein Mann dasselbe fühlt, hätte ich nicht gedacht. Ich dachte, Sie müßten als einer aus dem starken, tyrannischen Geschlecht, den Kampf mit Riesen aufnehmen und herausfordern."

Ich kaufte, ohne daran zu denken, was ich kaufte, einen kleinen, groben, plump aussehenden Vogel; der war von der Größe einer Wachtel und hatte einen Schnabel wie ein Falke. Und ich überlegte dabei, warum die junge Dame das Meer aufgesucht hätte, wenn sie Gärten mehr liebte als den Atlant.

"Ich fühle mich dem Leben gegenüber nicht wohl als Tyrann", antwortete ich ihr, indem ich noch überlegte. "Tyrannen sind Unglück- und Unheilstifter, glaube ich; die Tyrannen haben sich überlebt. Die Männer unserer Zeit genießen nicht mehr gern ihren Eigenwillen des Eigenwillens halber. Das taten die Männer der alten Zeiten. Der heutige Mann erkennt den Weltallwillen als seinen Willen an. Und wenn die Frau dasselbe tut, so finden sich Mann und Frau ohne Tyrannei in gutem Einvernehmen zusammen."

Die junge Dame wurde plötzlich bleich wie das fahle Wintergras, das vom Vorjahr noch stellenweise welk um die bleichgrünen Maiglockenblätter am Waldboden hing. Sie verlangte zum Wagen zurück. Sie sprach nichts mehr. Wir setzten uns wieder in den Wagen, und ich betrachtete den kleinen Vogel, den ich im Käfig auf meinen Knien hielt. Der Vogel hatte die Augen fest geschlossen, und sein Kopf war ein Wust von grauen Federn. Man sah nicht einmal die Augendeckel; es war, als ob der junge Vogel ein runder Wollknäuel wäre. Er saß tot, zusammengekauert wie eine Kugel und teilnahmslos in einem Winkel des winzigen Rohrkäfigs.

Die Festmusik spielte jetzt einen altmodischen Bretonentanz, und wie schwarze Kreisel drehten sich die nonnenhaft düster gekleideten Bauernpaare auf dem Waldplatz; es war, als tanze man zu einem Begräbnis. Wie eine Schar rotbäckiger Nonnen standen die zuschauenden Bauernmädchen unter den Waldbäumen und verdüsterten mit ihren schwarzen Klostertrachten das Sonnenlicht am Waldboden; und mit ihren weißen Krankenwärterinnenhauben gingen sie neben den schwarz gekleideten Burschen her wie Heiligenköpfe auf mittelalterlichen Holzschnitten. Ich fühlte, wie das Meer hier Frauen und Männer um Jahrhunderte zurückhielt, und wie das Meersalz die Gedanken zäh, eigensinnig und starrköpfig machte, den Frauen und den Männern im Land keine Freiheit gab, sondern ihnen eine ewige tyrannische Grenze setzte. Es war, als stünde der Atlant gleich einer unübersteigbaren Mauer vor den Stirnen hier am Land und machte alle Menschen zeitlebens zu Gefangenen, die in einem Gefägnishof in täglichem Kreisgang gehen, und die allmählich die Welt da draußen aus ihrem Bewußtsein verlieren und beim Anblick der ewig hohen Mauer verdüstert und verblödet werden.

Dann trabte das Pferd mit uns fort, und die Wagenräder rollten von dem Waldfest weg, das keinem Fest, sondern einer Folterkammer glich, in der die besten Geister der Luft, die kleinen Vögel des Himmels, tausend Ängste ausstanden. Wir fuhren nach Westen durch den Wald hinaus, und der Schein des Meeres kam uns schon tief im Wald glänzend unter den Bäumen entgegen, als führen wir auf eine lichterzuckende Kristallwelt zu, als bauten sich draußen durchsichtige Gebirge von Gläsern und Prismen auf. Auf viele Meilen sichtbar, schossen aus dem Atlant hohe Lichtbündel. Als der Wagen aus dem Wald auf die Landstraße rollte, wurde unser Pferd am Wagen winziger als eine braune Ameise, verkleinert von den hochgeschwungenen, blendenden Riesenfackeln, die der Atlant hoch in den Äther schleuderte. Es war, als sei das ganze Meer zu einer weißen explodierenden Sonne geworden, deren gezackte Korona mit weißglühenden Strahlenhörnern auf Meilen hinaus in die Himmelshöhe stieß. Das Licht hatte die Wassermauer verschlungen. Es schien, als wäre am Rande der Erde eine feurige Jenseitswelt gelandet, die eine Steigerung alles irdischen Lebens mit sich brächte. Und der Enthusiasmus, der allem Licht eigen ist, kam unserem Wagen vom Meer her entgegen wie ein großer Riesengott, der die Herzen aufregte mit grundloser Tätigkeit. Kein Mißtrauen, keine alten Vorurteile hielten stand vor dem blendenden Enthusiasmus des zu Feuer gewordenen abendlichen Ozeans. Und auch dem Pferd am Wagen, so schien es mir, waren unter der Weißglut des Lichtes die Hufe weggeschmolzen, und es wollte sich wieder wild und ungebändigt fühlen wie einst seine Ahnen auf den Steppen.

Berückt und hypnotisiert vom Meereslicht und erschreckt von den Sprüngen des Wagenpferdes, fragte mich die junge Dame, ob wir nicht aussteigen und, statt auf der Landstraße zu fahren, den Wiesenweg durch die Roggenfelder gehen wollten. Mir war es sehr recht. Ich ging gern dem lockenden Riesenfeuer des Atlant entgegen. Geblendet wie von großen zuckenden Scheinwerfern, gingen wir dann nebeneinander mit gesenktem Kopf und gesenkten Blicken auf einem engen Felsweg zwischen Rotdornhecken und kamen zu den grotesken, alten schiefgestellten Baumungeheuern. Bald aber war es uns nicht mehr möglich, an den riesigen Blendspiegel des Meeres auf diesem Wege näher heranzugehen.

Es war, als sollten uns die Augen getötet werden von den langen Lichtnadeln, die auch noch durch die Rotdornhecken schossen.

So setzten wir uns auf eine Rasenböschung in der Nähe der wunderlichen Bäume, von denen jeder aussah, als hätte er vielgestaltige Abenteuer erlebt.

Wir wußten erst nicht, was wir reden sollten, denn die Lichtmassen hatten unsere Gedanken nach allen Richtungen auseinandergesprengt.

"Ach, wenn die Welt doch nicht so schön wäre!" sagte plötzlich unvermittelt der rote junge Mund des Mädchens. Und ihre beiden Hände fuhren streichelnd über die kleinen weißen Sternblumen und über die blauen Glockenblumen im Grase.

Als sie das sagte, war eben mit einem Ruck der letzte Schein der Sonne im Meer hinter uns untergegangen. Die grüne Welt stand im Schatten, und der Abend floß gleichsam in dunkeln, feuchten Flecken aus den Hecken über das Roggenfeld vor uns. Vom Tag war nur noch eine Wolke von Wärme übrig. Die war wie ein lüsterner Geist, der umging und sich einen Leib suchte, in den er hineinfahren wollte. Und der Taudunst, der plötzlich aus den Rotdornhecken kam, roch gleich einem alkoholischen Getränk, als gärten jetzt die Wurzeln in der Humuserde stärker als die Blüten in der Luft.

Unwillkürlich dämpfte ich meine Stimme, weil alles im Abend so unterirdisch wurde, und weil es war, als müßten auch die Menschen mit den Farben im Erddunkel versinken.

"Würden Sie sich vor dem Sterben fürchten?" fragte plötzlich noch unvermittelter die junge Dame. "O nein," sagte sie weiter, "ich weiß: euch Männern ist alles so einfach. Leben und Sterben ist euch wie Zeitunglesen und Geldausgeben."

Sie lachte gereizt, und ihr Gesicht wurde abenteuerlich. Sie hatte die eine Schulter hochgezogen und den Kopf darauf gelegt, als lehnte sie sich an einen fremden Menschen.

Für ein paar Sekunden blieb ihre Haltung etwas verwildert und grotesk wie die verrenkten Bäume vor uns am Heckenweg. Ein paar Haarsträhnen hatten sich beim Fahren im Wagen hinter ihrem Ohr gelöst und hingen auf ihren Rücken herab, ohne daß sie es wußte.

"Mit wem sprechen Sie?" fragte ich teilnehmend. "Sie sprechen im Geist mit jemand, der nicht anwesend ist."

Sie biß sich plötzlich auf die Lippen und antwortete nicht, nach einer Weile schüttelte sie heftig den Kopf, als habe sich ihr jemand aus den dunklen Hecken unsichtbar genähert, und sie müsse ihn abweisen.

Bei dem Kopfschütteln glitt eine ihrer Schildpatthaarnadeln auf ihre Schulter und fiel ins Gras. Mit unheimlicher Ruhe wendete sie den Kopf nach der hingefallenen Nadel. Sie betrachtete die Nadel, ohne die Hand zu rühren, und ihr Mund wurde verächtlich, und sie sah auf die Nadel herab, als wollte sie sagen: Ich trotze jetzt auch aller Unordnung. Ich habe alles verloren, ich habe nichts mehr zu verlieren.

Ich erschrak beinahe vor der Aufrichtigkeit dieses Mädchens, das hier am Abend mit sich selbst Abrechnung zu halten schien. Sie starrte immer noch auf die Haarnadel im Gras wie in einen Abgrund. Sie war in einem jener unheimlichen Seelenzustände, darin die kleinsten Dinge sich in Gespenster zu verwandeln scheinen und die Seele dem Irrsinn nahe ist. Jetzt seufzte sie ein paarmal, und plötzlich griffen ihre beiden Hände in das Gras und rissen Grasbüschel aus, als ob diese kleinen schmalen Hände die große Erde schütteln wollten. Und es wurde mir klar: dieses Mädchen neben mir war das Opfer einer gigantischen Verzweiflung. Ich versuchte ihre eine Hand zu fassen und sie zu streicheln. Die Hand war wie die Kralle eines kleinen Vogels, war plötzlich wie vom Schrecken abgemagert und fühlte sich knöcherner an, als ich es mir vorgestellt hatte.

"Sprechen Sie sich aus! Sie haben ein großes Leid. Reden Sie sich das Herz frei!" bat ich sie.

"Ich kann nicht, ich kann nicht!" rief sie. Und sie entzog mir die Hand und vergrub das Gesicht in ihre beiden Hände. Und dann sagte sie dumpf: "Mir kann keine Aussprache mehr helfen."

Und das Mädchen sprach aus der Dämmerung zu mir mit der Stimme eines reifen Weibes, das auf ein ausgelebtes Leben zurückschaut. Eine Weile war es dann still. Der Ozean rollte und hämmerte in der Ferne, als wäre ein lautarbeitendes Eisenwerk in der Nähe, wo Stahlhämmer dröhnten; und das klang vernichtend und donnernd, als ob da am Untergang der Erde geschmiedet würde und am Untergang alles Fleisches.

"Jetzt ist es genug", sagte sie plötzlich mit einem raschen Entschluß. Und ich sah, wie ihre dunkle Silhouette nach der Nadel im dunklen Gras griff. Sie steckte ihr Haar zurecht, erhob sich, zog den Lodenmantel enger um die Schultern, und mit wiedergewonnener Würde sagte sie: "Der Atlant macht irrsinnig; es ist, als ob er einem Tiefen einreden wollte, die die Alltagswelt gar nicht hat. Vorhin war er wie ein Feuerfest und prahlte mit Herrlichkeit und war nur ein Blendwerk; jetzt ist der Atlant ein Schatten geworden. Hören Sie nur! Er tobt wie eine Hölle, die einer im Herzen getragen und von sich geworfen hat."

Jetzt sprach in der Dunkelheit nicht mehr ein Mädchen, keine reife Frau, kein Mensch mehr zu mir. Es war ein Atom des alles durchdringenden Weltgeistes, das hier neben dem Atlant eine Stimme bekommen hatte, ein Wesen, das wie der Geist einer Toten aus dem Abenddunkel redete.

"Wie kann ein junges Mädchen, das jung, schön und gesund ist, die Welt und die Zukunft so argwöhnisch betrachten", sagte ich und versuchte ein wenig zu scherzen. Ich war aufgestanden und sah mich neben ihr, die zu einem Schatten geworden war, und die mir bei den zu Schatten gewordenen Hecken und Baumstämmen wie ein Stück der Feldbäume oder der schwarzen Hecke vorkam. Als wäre sie im Felde gewachsen und lebte wie ein schwarzer Ast Tag und Nacht unter freiem Himmel, so frei hatte sie sich von allen irdischen Grenzen fortgeredet. Mir schien, ihre Traurigkeit wäre schwarz übers Land geflossen und ihr Leid hätte eine Nacht vor meinen Augen über das Roggenfeld und über den Himmel gelegt. Und in ihr grenzenloses Leid hinein glänzten nur ganz von ferne die Sternbilder der Fixsterne.

Ich wollte meinen Arm um sie legen, so wie das Dunkel alle Gegenstände zu Geschwistern macht und Arm in Arm mit Bäumen, Menschen und Feldern geht. Aber ich fand sie im Dunkeln nicht. Ich tastete an eine Baumrinde und stach mir einen Dorn der Hecke unter den Nagel meines Zeigefingers. Der blitzartige Schmerz, der mich durchzuckte, als die Hecke nach mir gestochen hatte, machte mich plötzlich nüchtern und vertrieb den Scherz, mit dem ich das Unglück des Mädchens von mir hatte fernhalten wollen.

Ich fühlte, daß ein so großes Leid, wie es diese Frau trug, erregend und erschütternd war gleich der Liebe, die sie einem Mann hätte bieten können. Und ich wollte meine ganze Zuneigung diesem Schmerz widmen und mit dem Mädchen der Traurigkeit huldigen, wie ich vorher gern ihrer Tugend und Schönheit gehuldigt hätte.

Ich enthielt mich jeder oberflächlichen Bemerkung und ging an ihrer Seite. Unsere Schritte waren lautlos im abendnassen Gras und mehligen Wegsand, und manchmal streifte ein Ast voll Blätter unsere Wangen, und die Blätter waren naß, als weinten die Sterne über diesem Mädchen in das Gras und die Heckenblätter, weil das Mädchen selbst nicht weinte.

Während ich einem tiefhängenden Ast auswich, streifte mein Gesicht in der Dunkelheit ihr Ohr; und nach dieser Berührung verhüllte sich meine Besinnung wieder. Ich begann zu zittern und sehnte mich, dieses jugendliche traurige Geschöpf an mich zu ziehen und ihm und mir den Schmerzbrand, den seine Seele vorbereitete, mit Küssen zu ersticken. Es wäre dann alles so einfach gewesen, dachte ich mir. Fühlt sie sich verlassen, ist sie einsam und sehnen wir uns beide nach Liebe, nach dem feuerhellen Atlant der Liebe, wie er uns heute aus dem Wagen in die Felder gelockt hat, dann sollten wir jetzt nicht in der verfinsterten Nachtwelt gehen und uns an Trauer und Dornen stechen. Wir sollten uns die lichterhelle Liebe erschaffen, sollten uns einander in die Arme nehmen und unsere jungen Glieder Feuer fangen lassen am entzündeten und verliebten Blut.

Dann würde die Nacht von einem Horizont zum andern aufbrennen und uns verbrennen mit Glut und Genuß, und aus Leid würde Seligkeit wachsen, Lebensfreude, die mit donnernden Füßen ankommen würde, wie jetzt der nahe, laut aufstampfende Atlant.

Die unreifen Roggenähren rochen nach kräftigem Erdsaft, die Rotdornheckenblüten dunsteten wie Wein, der verschüttet am Wege strömte; und aus Bauerngehöften, die irgendwo in Efeu eingewickelt hinter fernen Hecken lagen, kam der warme Geruch von Tieren und Herdfeuern. Wie der inbrünstige Atem alles Irdischen strich er durch die kühlen Blätter der Hecke, an der wir entlang gingen.

Da wimmerte nicht weit von uns aus einem Bauerngehöft hinter einer Hecke eine winzige Kinderstimme. Die winselte wie ein kleines gequältes Kätzchen und näselte wie ein jammernder dünnstimmiger Greis und war nicht zu beruhigen. Und man hörte am Laut, daß das Kind gewiegt und geschaukelt wurde, und daß es wahrscheinlich im Arm einer Mutter lag und vielleicht die Brust haben wollte, aber fassungslos quälte und alle Lebensnot in seine Stimme legte.

"Ein Kind", sagte das junge Mädchen neben mir, und ich fühlte im Dunkel, daß es stehenblieb und horchte.

"Oh, ich bin so froh, daß Sie wieder reden", entfuhr es mir. "Ich bin wie erlöst von Ihrer Stimme, als ob es wieder hell würde", sagte ich aufrichtig.

"Ja, ich bin auch erlöst", sagte sie, "ich habe meine Traurigkeit überwunden. Die Kinderstimme ist mir wie liebliche Musik. Alle Verzweiflung schweigt, wenn ich bedenke, daß ich bald Mutter werde – ehe das Jahr vergeht." Sie sprach wie zu sich selbst, als hätte sie sich den Satz nachts im Dunkeln an Ihrem Schlafzimmerfenster, wenn der Atlant donnerte, hundertmal wiederholt. Und sie hörte den Satz jetzt kaum, als sie ihn zu mir sagte.

Aber ich wurde wie verwandelt von dieser Aufklärung. Ich weiß nicht mehr, was ich antwortete. Ich glaube, ich sagte, daß ich das ganz selbstverständlich fände, daß sie ein Kind erwarte.

Dann bot ich ihr meinen Arm an, um die junge Mutter im Dunkeln zu stützen, damit sie nicht stolperte und sich und ihre Leibesfrucht verletze. Eine Madonnenheiligkeit umgab plötzlich dies junge Weib an meiner Seite. – Sie legte ihre Hand in meinen Arm und ließ sich führen, als ob ich der Vater ihres Kindes wäre.

Der Mond ging wie eine Lampenglocke aus Milchglas über dem Schornstein eines niederen Bauerngehöftes auf und beleuchtete jede Strohspitze des mit trockenem Dünengras bedeckten Daches. Feierlichkeit und Friede strahlten von dem Mond dort oben am strohgepolsterten Hausdach auf uns herab. Es war, als liege das Gestirn behäbig, gütig und sanft, wie der verkörperte freundliche Familiensinn, aus dem Schornstein der Bauernhütte. Dickbackig sah mich der Nachtkamerad an, wie das gutgenährte Gesicht eines Wickelkindes in weißen Kissen.

"Ich brauche Sie wohl nicht zu bitten, daß Sie mein Geheimnis keinem verraten. Ich bin, um mit meinem Geheimnis allein zu sein, von Paris an den Atlant gereist. Hier lebe ich in selbstgewählter Verbannung. Aber bitte, vergessen Sie es, wenn Sie noch länger hier bleiben und wenn wir uns morgen wieder sprechen. Vergessen Sie es, wie ich heute erst irrsinnig verzweifelt war und dann irrsinnig aufrichtig wurde."

Sie reichte mir die kleine, kühle Knochenhand, die mich wieder durch ihre Fleischlosigkeit erstaunte, die immer so rund und voll aussah und sich doch wie die Hand einer Gestorbenen wächsern und knöchern anfaßte. Dann trennten wir uns im Hausgang des Gasthofes. Sie ging in ihr Zimmer, und ich suchte mein Zimmer auf. Und als die Tür schloß, war mir, als schließe ich einen Donner von Ereignissen hinaus, eine Reihenfolge von gewitterwolkigen Augenblicken, die ich in den Ohren noch wie ein Dröhnen fühlte; als wäre ich an diesem Nachmittag über den ganzen Atlant hin und zurück und kreuz und quer zwischen lautsprechenden Brandungen gereist.

Mein mondhelles Zimmer umgab mich so licht, als ob es mit dem Phosphor aller schwülen Gedanken angefüllt wäre, als leuchte von der Decke und von den kalkweißen leeren Wänden blauglimmendes nächtliches Meerleuchten. Ich setzte mich auf einen Stuhl mitten im Mondschein und ließ das Zimmer wie ein Schiff schaukeln; und mein Kopf schwamm mir wie eine Nuß auf und ab auf den Ereignissen des Nachmittags und des Abends. Ein raschelndes Geräusch am runden Tische in der Zimmermitte weckte meine abwesenden Augen. Ich erkannte die Umrisse des kleinen Vogelkäfigs, den ich dem Kutscher anvertraut hatte, als das junge Mädchen und ich auf der Heimfahrt von dem Waldfest draußen vor Pouldu den Wagen verlassen hatten. Die kleine junge Eule war wach geworden und sehnte sich nun in der Nacht nach Freiheit.

Manche Menschen werden wie die Eulen nur im Dunkeln wach und aufrichtig, sagte ich zu mir und zündete ein Streichholz an und beleuchtete den Vogelbauer. Mit mächtigen schwarzen Kugelaugen sah sich der dicke Eulenkopf nach mir um. Die Eule spitzte ihre Federohren wie eine Katze und sah mich an und sperrte hungrig den Schnabel auf. Ich nahm rohes Fleisch, das man mir auf einen Teller neben dem Käfig gestellt hatte, und fütterte dann, als das Streichholz erlosch, im Mondschein die Eule wie ein Kind.

Mutter, hat sie gesagt, wird sie, ehe das Jahr vergeht. Mutter, überlegte ich. Und warum hatte sie das Gras ausgerissen und verzweifelt den Erdboden mit ihren schmalen Händen geschüttelt? Ein Mann, an den sie täglich Briefe schreibt, die sie draußen in dem Briefkasten am Dorfende in den Kasten wirft, kann nicht schuld an ihrer Verzweiflung sein. Denn dann würde sie nicht täglich schreiben, wenn er sie verlassen hätte. Wahrscheinlich ist die Furcht vor den Eltern, vor den Anstandsgesetzen, vor der Heimat der Grund dieser Verzweiflung; die Furcht vor Nahrungssorgen vielleicht auch. Diese kleine Eule hier im Käfig müßte jetzt ja auch verhungern, weil man sie von ihrer Mutter aus dem Nest genommen hat. Sie kann sich kein Fressen suchen. Wenn ich sie jetzt im Mond fliegen lasse, muß sie verhungern und wird von den Katzen auf dem Scheunendach geholt.

Das arme Mädchen mußte sich freiwillig hier an den Atlant in die Verbannung geben, mußte fliehen vor den grausamen Vorurteilen widernatürlicher Gesellschaftsgesetze! Wer darf einem Menschenherzen, wenn es liebt, ein Gesetz zur Hemmung der Liebe entgegensetzen? Wer darf so frevelnd sein, den Göttern der Liebe Geduld zu predigen – Geduld, bis Heiratsscheine, Verlobungsanzeigen und Standesamtbewilligung, Aussteuer, Möbel und Wohnung angeschafft sind. Darf die Liebe nicht aufblühen über Nacht wie Roggen und Rotdornhecken im Mai? Darf die Liebe nicht eines Abend über zwei Menschen kommen wie ein Sonnenuntergangsfeuer über den Atlant? Wie die Wärmewolke, die im Abenddunkel alle Wollust vom Tag in die Nacht hinüberträgt? Muß ich da erst Kreisregierungsstempel, Stempelmarken und Zeugenunterschriften abwarten? Aller Triumph der Gottheit Liebe wird gebrochen, wenn die Liebe nicht heimlich, göttlich überraschend und nicht selig unerwartet zwei Menschen hinter Maienhecken und im Abendtau überraschen darf. Ahnt die Menschheit nicht, daß sie die besten Menschen aus ihrer Gesellschaft verstößt, wenn sie impulsive, göttlich feurige Menschen zu kühlen Lebensrechnern umwandeln will? Wenn die Menschheit die Impulse nicht als Naturwillen und Gotteswillen betrachtet, wird aus dem freien, herrlichen Menschengeschlecht ein unfreies, berechnendes Ameisenhaufengeschlecht erwachsen, Ameisen – denen die Regelung der Ameiseneierschutzfrage höher steht als die freie impulsive Zuchtwahlfrage der liebesheiligen Augenblicke. –

Ich zündete ein Streichholz an: da saß die kleine Eule satt und zufrieden im Käfig auf meinem Schoß. Ich hatte sie ebenso gut gefüttert und hütete sie vielleicht noch besser als ihr Eulenvater und ihre Eulenmutter, die sie nicht genügend vor den Nesträubern geschützt hatten. Ohne Vater und Mutter könnte man zur Not weiterleben und aufwachen; ob man auch ohne die Liebe der Geliebten satt und zufrieden leben kann – das wissen wenige kurz und bündig zu beantworten. Das muß sich jeder selbst und nur für sich beantworten; und keiner darf Richter sein über seine impulsiven Nachbarn.

Als ich den Eulenkäfig auf den Tisch stellte und endlich eine Kerze anzündete, da fand ich einen Brief und ein Telegramm auf dem Tisch, die ich vorher nicht bemerkt hatte. Der Brief war eine längst ersehnte Antwort und das Telegramm gleichfalls: ich sollte als Abgesandter einer geographischen Gesellschaft eine Reise nach Mexiko antreten; mein Schiffsplatz auf einem Dampfer der Bremer Norddeutschen Lloydlinie war schon bestellt, ich durfte diesen Dampfer, der Southampton anlief, in den nächsten Tagen schon erwarten und mußte schleunigst zu diesem Zweck über St. Malo über den Kanal nach England reisen.

Also, der Atlant sollte mich aufnehmen! Wäre ich heute Abend in ewigem Feuer aufgegangen, so hätte mich das ewige Wasser nicht forttragen dürfen, dachte ich. So aber würde es ganz gut sein, auf die unendlichen Wassermeilen hinauszuziehen – besser, als hier am Ufer einer Begegnung nachzuhängen, die mich mehr erschütterte, mehr als es wahrscheinlich alle atlantischen Sturmmächte würden fertigbringen können. –

Am nächsten Tag hing ein wasserreicher Himmel draußen vor den Fenstern. Ich wanderte, ehe es zu regnen begann, noch einmal ans Meer; der Himmel hatte wie ein graues Löschpapier die Atlantgrenze in sich aufgezogen, und nur die weißen Schaumränder unten an den Klippenrändern zeigten in ihrer Beleuchtung, daß der Nebelhimmel einen großen lebenden Meerkörper einhüllte, der an den Rändern der Ufer zuckte und sich unter dem Nebel kommend und gehend krampfte.

Dann schossen die Wasser vom Himmel, als wären Wasserfälle in den Wolken, die senkrecht über die Landschaft stürzten. Die Zimmer im Gasthof wurden dunkel, und der Sturzregen spülte an den Scheiben wie der Wellenschlag eines Meeres herab. –

Bei Tisch erschienen alle, selbst die Österreicherin aß nicht auf ihrem Zimmer. Sie saß beim Essen im Lodenmantel und mit dem Strandhut auf dem Kopf und fragte mich über den Bleistift aus, ob ich gut mit dem Karbonbleistift zeichnen könnte; und ihre Augen waren lebhaft erregt, wie das schallende Regenwasser, das draußen rund um das Haus tanzte und hallte.

Bei dem Wassergebraus mußten alle sich lebhafter zuschreien und die Wolkendunkelheit im Zimmer gab den Menschen ein unerwartetes Zusammengehörigkeitsgefühl. Denn die Regenfinsternis, die immer dunkler vom Atlant her über die überschwemmte Landstraße heraufzog, war wie der Anfang einer drohenden Katastrophe, aufregend und machte alle Zungen geschwätzig.

Man erzählte von Hochfluten, die so plötzlich hereingebrochen wären, daß in knapp einer Stunde das Wasser vom Meer her in den Fluß ins Dorf getrieben hätte und im Gasthaus alle Zimmer unten hätten geräumt werden müssen. Und man zeigte sich im Eßzimmer die dunkeln Wasserflecken an den gekalkten Wänden, die angaben, wie hoch das Wasser beim letzten Unwetter gestiegen war – so hoch, daß die Seefische zu den Fenstern aus und ein geschwommen waren und sich in Eßtischhöhe im Zimmer getummelt hatten.

Ich erzählte darauf, daß ich am nächsten Morgen abreisen wollte: nach England, und dann über den Atlant nach New York und Mexiko. Und ich scherzte und meinte, der Atlant würde hoffentlich nicht vor meiner Abreise ins Haus hereinbrechen; ich wollte ihm ja gern schleunigst entgegenreisen, damit er nicht Lust bekäme, mich hier im Hause persönlich abzuholen.

Nun begann ein großes Hallo unter den amerikanischen Malern darüber, daß ich nach den Vereinigten Staaten reisen wollte. Und die Engländerin war erfreut, daß ich zuerst nach ihrer Inselheimat fahren würde. Die Österreicherin war eine Weile still. Dann sah sie satt und scheinbar zufrieden vom Essen und von ihrem Teller auf, und ich mußte an die verlassene kleine Eule denken, die auf meinem Zimmer stand. Wir sahen uns einen Augenblick durchdringend und abschiednehmend an.

Da fragte sie mich schon: "Und wenn Sie abreisen, darf ich Ihre kleine junge Eule in mein Zimmer nehmen und sie füttern?"

Sie hat mehr Mutterinstinkt als Liebesinstinkt, dachte ich beruhigt und gab ihr mit Freuden die verlassene Eule. –

Am nächsten Morgen, als noch alles schlief und auch der Regen ruhte, sollte ich in dem Wagen, der mich vor drei Tagen auf dem Windmühlenweg an den Atlant gebracht hatte, nach Pouldu fahren.

Als ich mein Zimmer in der Morgendämmerung verließ, fand ich außen an meiner Tür mit Kreide große Buchstaben angeschrieben, die sagten: "Lebewohl und glückliche Reise über den Atlant nach Mexiko!" Und die Engländerin und die Amerikaner hatten auf dem Türbrett großzügig unterschrieben.

Daß ich unter den langen weißen Kreidebuchstaben auf dem braunen Türbrett den Namen der Österreicherin nicht fand, stimmte mich etwas kopfhängerisch. Während in der alten dunkeln Bretagneküche unten im Haus ein Reisigfeuer pfauchte, das meinen Morgenkaffee kochen sollte, ging ich im weiß getünchten Korridor auf und ab und betrachtete mit Wehmut den europäischen Gasthof, den ich jetzt mit mexikanischen Hotels vertauschen mußte. Das ganze Haus war weiß getüncht und alle Treppen voll weißer Tünchflecken, da das Gasthaus sich für die Sommerzeit zum Empfang der Badegäste vorbereitete. Im Hof besah ich mir nochmals die aufgestapelten Planken, Türen und Türrahmen – Überreste untergegangener Dampfer, die, als Strandgut angeschwemmt, hier aufgespeichert lagen wie Brocken, die dem alles zerkauenden Meer aus dem Maul gefallen wären. Ich sah im Geist die Klippen draußen, das Felsenufer des Atlant, das wie ein Riesenkiefer aufgesperrt lag, und sah die Wellenfläche wie einen gähnenden glänzenden Schlund, der stündlich bereit lag, Weltteile und jeden Abend die Sonne zu verschlingen.

So verschlang mich jetzt das Leben draußen und trieb mich von der dreitägigen Begegnung am Atlant, von dem jungen Weib für immer fort. Und wir würden vielleicht kaum jemals eine Nachricht voneinander empfangen und weniger von den Schicksalen des anderen erfahren, als man von untergegangenen Schiffen erfährt.

Ich stieg in meinen Wagen, der mit mir auf die Flußfähre fuhr, um überzusetzen, da ich diesmal eine andere Bahnstation als die, an der ich angekommen war, erreichen mußte, um mich nach St. Malo zu finden.

Die Morgendämmerung machte den sonst feuerblauen kleinen Fluß grau, und Wolken hingen einförmig wie dumpfe Matratzen am Himmel und sperrten die Welt ein; die lange Düne lag wie ein Haufen Spinnweben in den Morgendünsten.

Ich sah mich auf dem Fluß nochmals nach dem Gasthaus um, das stand wie ein weißer Dominostein mit seinen sechs schwarzen Fensteraugen an der Landstraße. An einem der Fenster aber winkte ein kleiner weißer Fleck. Es war eine Hand mit einem Taschentuch, die da winkte, aber das Gesicht konnte ich nicht erkennen; es war von der Zimmerdämmerung beschattet.

Ich winkte mit meinem Taschentuch zurück. Dann rollte der Wagen mit mir in den Wald. Fluß, Gasthaus und dahinter die Küstenplateaus verschwanden.

Gewöhnlich, simpel und unsagbar dürftig empfand ich Wald, Felder und das Innere des Landes, als ich mich von der Gewalt des atlantischen Riesen und von der Gewalt der anziehenden Begegnung getrennt sah.

Viele Monate später, als mich in Mexiko nur noch der Graphitkarbonstift an die junge Dame am Atlant erinnerte und mich eine Wasserflut von tausenden Seemeilen von Europa und der Küste der Bretagne trennte, erhielt ich eines Tages von der Londonerin einen kurzen Brief, worin sie mir mitteilte, daß die Österreicherin sich in Paris erschossen habe.

Ich hatte mich also getäuscht, dachte ich, als ich mich vom Schrecken dieser Nachricht etwas erholt hatte. Ich täuschte mich, als ich bei dem lebensvollen jungen Weibe mehr Mutterinstinkt als Liebesinstinkt voraussetzte. Denn die Londonerin schrieb, sie habe gehört, ein junger Pole, der in Paris der Geliebte der Österreicherin gewesen, habe die Dame aus Furcht vor dem Skandal verlassen, und sie selbst habe aus Sehnsucht nach dem Geliebten und aus Angst vor der Schande den Tod gesucht. Der Mutterinstinkt hatte sich nicht am Leben erhalten können, und sie hatte sich selbst getäuscht, als sie an jenem Mondscheinabend bei dem Bauernhaus, in dem das Kind wimmerte, zu mir sagte: "Alle Verzweiflung schweigt, wenn ich bedenke, daß ich Mutter werde, ehe dies Jahr vergeht."

Nun war sie eine Tote geworden, ehe das Jahr vergangen war; und ich hatte das Gefühl, als ob sie von der Küste fort, stehenden Fußes auf den Atlant hinausgewandert sei, ruhelos suchend nach der großen unvergänglichen Liebe, die unter allen Meeren der Welt das endloseste und tiefste sein soll – so wie sie gläubig am Atlant auf den Dünen es sich geträumt hatte, als die Kinderflöte im Sand mit der Lerche im Abend um die Wette musizierte und der Vollmond ihr nachging, der so weiß war wie ihr bleicher Anbeter jetzt – der Tod.

2. Raubmenschen

Der Dampfer "Prinzregent" vom Norddeutschen Lloyd war auf dem Wege nach New York.

Nun endliche hatte ich den langersehnten Atlant am Tage unter meinen Stiefelsohlen und nacht unter meinen schmalen Kabinenkopfkissen. Die ungeheuere graue schwankende Wasserlinie hob und senkte sich draußen vor den Kabinenfenstern, als wäre rundherum ein unermeßliches unterirdisches Wasserbeben, das nie endete. Und der große Lloyddampfer erschien mir wie ein wanderndes Riesenschneckenhaus, das viele hunderte Menschen forttrug.

Immer fand ich: nirgends vergißt man die Vergangenheit schneller als auf dem sich fortwährend verwandelnden Meer, und nirgends träumt es sich angenehmer von der Zukunft als auf einem vorwärts stampfenden Lloyddampfer. So vergaß ich auch schnell die Begegnung am Atlant, die unauslöschlich ins Gedächtnis und ins Gefühl geprägt erschienen war, noch in Southampton, ehe ich mich auf dem Amerikaboot einschiffte. Das Gesicht der jungen Dame im Lodenmantel zerschmolz wie gewärmtes Wachs in meiner Vorstellung, und ich konnte es auf dem Atlant nicht mehr fest in seine sicheren Züge prägen. Alles, was ich zuletzt erlebt hatte, verließ mich wie der gewaltige Rauch aus den Schloten des Dampfers, der sich unförmig ballte, tief sank und als undurchsichtiger Kohlennebel hinter dem Schiff zurückblieb.

Mit dieser Begegnung am Atlant ist für mich natürlich keine große Leidenschaft verbunden gewesen, sagte ich mir, sonst würde das Erinnerungsgefühl in mir größer als der Atlant sein, sonst würde das Meer meiner Sinne und meine Seele nicht berauschen, sonst würde ich taub sein gegen Wasser, Luft und Wanderluft, gegen Zukunft und Gegenwart und würde den Atlant als den grauen Lodenmantel der jungen Künstlerin ansehen, die Abendsonne als den runden Kopf der Dame und den Abendhimmel als den großen Malerschirm, unter dem sie immer auf den Klippen von Pouldu gesessen und gemalt hatte.

Mir war aber bald alle Rückerinnerung auf der schwankenden Wassermasse verloren. Das quallenweiche Meer und der breiige Wolkenhimmel darüber erschienen mir an grauen Regentagen zusammen wie der immense Magensack eines vorweltlichen Tieres, und das Schiff schwamm wie ein Happen zwischen den schlappen und knetenden Wolken und Wellen. Der Atlant fesselte alle meine Aufmerksamkeit; er gab meinen Sinnen festlich gruselnde Vorstellungen.

Am Schiffsgeländer, wenn die Wellen wie grüne Glasgehäuse sich aufbliesen und zerplatzten, mußte ich mir sagen, daß ich Tausende von Metern hoch über einem Abgrund wanderte wie ein Seiltänzer auf einem Drahtseil, das zwischen dem Gletscher der Jungfrau und dem Montblanc gespannt wäre, und daß unter mir das Tal , das unendlich tiefe Tal des Atlant läge. So tief war der Abgrund, daß die Sonne durch das glashelle Wasser nicht mehr hinunterscheinen konnte und dort unten Fische ohne Augen in ewiger Blindheit lebten. Der Atlant beschäftigt den Neuling unausgesetzt.

Mit Verwunderung staunte man immer wieder und erwartete zuerst fast in jeder Stunde einmal, daß das schwere massive Schiff, das mit arbeitenden Eisenmaschinen angefüllt ist, senkrecht untersinken und der Luft unterzutauchen nachgeben würde, und man beobachtete fast ungläubig, daß es wie ein korrekter Schwimmer ewig auf der Oberfläche des Meeres blieb, ohne Laune, ohne Ausruhen, und daß es scheinbar ohne Schwergewicht auf den Wellenwalzen fortrannte.

An der Tafel im Speisesaal saß ich neben dem Schiffsarzt, der ein Münchener war, und der es sich, ebenso wie die Schiffsoffiziere und der Kapitän, angelegen sein ließ, die Herren und Damen bei guter Reiselaune zu halten und die Gesundheit der Seereisen zu loben; er wiederholte immer, daß die Reise über den Atlant als eine Nervenkur angesehen werden müßte – etwas, was ich gar nicht verstehen konnte. Denn es gibt für schwache Nerven wohl nichts Aufregenderes als das Bewußtsein, unbezähmbaren Elementen auf Gnade und Ungnade für Tage und Nächte preisgegeben zu sein. Was hilft da die gute Luft, die man preist, und mag sie auch noch so bazillenfrei sein, wenn einen die Seeangst einmal packt- die Angst vor dem ewig sich hin und her wälzenden Atlant und die Angst vor dem Hohlraum darüber, vor dem Ozeanloch, zu dem der Himmel jeden Augenblick werden kann, wenn er sich wie ein spitzer Trichter über dem Schiff oder am Horizont hin verengt, verdunkelt von Wolkenqualm, daraus der Sturm wie eine gigantische Bestie aus einer Höhle heraus heult, so daß das Schiff mit allen Tauen und Rahen zu winseln beginnt wie ein getretener Hund!

Auch die Seetüchtigen, die Engländer und Amerikaner wurden, wenn ein Sturm zu lange tobte, ein wenig gelb im Gesicht, als wäre gelber Senf statt Blut in ihren Adern. Und nun erst die Deutschen! Die waren bald alle gelbgrün. Keine Dame erschien mehr an der Tafel, als der Sturm drei Tage dauerte. Nur eine amerikanische Journalistin, eine vielgereiste und kaltblütige, fesche Dame, blieb an der lückenhaften langen Tafel als einzige Frau neben dem Kapitän sitzen, und sie ließ sich bei jeder Mahlzeit von allen Herren wegen ihrer Standhaftigkeit beloben und erschien auch stets in einer anderen Toilette, in der sie leuchtete, nagelneu und in der Ferne wirkend. Trotz Sturmgepolter, trotz Salzregen und Wellenstürzen, die das Dekc wuschen, ging diese einzige Gesunde nach Tisch mit uns auf die Deckpromenaden und lachte alle Gelächter jener andern Damen, die unten in den Kabinen krank lagen, und redete alle Gespräche, die die andern Damen nicht reden durften, so daß sie zuletzt auch den seetüchtigen Männern schlimmer erschien als der Sturmanfall und unbequemer den Gesunden als die Seekrankheit den Kranken.

"Immer gibt es so eine auf allen Meeren", sagte der Kapitän zu mir, "und sie werfen immer triumphierende Blicke umher, daß einem bei ihren Blicken ist, als flöge ein lästiger Kohlenstaub ins Auge. Und wenn sie sich einem Mann anschließen, sind sie so lustig und kühl ins Leere strebend wie ein Kinderluftballon, den man sich im Knopfloch festbindet, und der gar nichts mit der Erde zu schaffen hat."

Neben meiner Kabine war die Kabine eines Ehepaares, junger Leute, die in der Schiffsliste als "aus Paris" kommen eingeschrieben waren und als Beruf "artistes" in dem Schiffsbuch angegeben hatten.

"Artistes", sagte der Erste Offizier, "das können Zirkusleute, Varietéleute oder Jahrmarktsleute sein. Die Dame und der Herr sehen aber gar nicht danach aus."

"O ja," meinte der Münchener Arzt, "die Dame hat ihr Haar gefärbt, das sieht man auf eine Meile."

"Solche gelben Haare habe ich oft bei Engländerinnen gesehen", behauptete der Schiffsoffizier. "Sehen Sie sich nur die Wimpern und die Schläfenhaare der Dame an, die sind ebenso auffallend blond und nicht gefärbt."

"Fragen wir doch den Ehegemahl", schlug ich scherzend vor, "oder die Dame selbst, ob ihre Haare gefärbt sind."

"Wenn Sie die Dame zu fragen wagen, ob ihr Haar gefärbt ist, spendiere ich drei Flaschen Champagner", sagte der Kapitän, der eben auf dem Deck an uns vorbeiging und dem Rest des Gespräches zugehört hatte.

"Oh, das ist alles gar nicht nötig", rief die nie ausbleibende amerikanische Journalistin durch das runde Kabinenfenster des Rauchsalons. "Ich habe die Dame bereits gestern interviewt. Sie färbt ihr Haar, sie hat es mir eingestanden. Sie kommt deshalb bei Regenwetter nicht auf Deck, weil dann die Farbe abgeht."

Und wieder sandte die übergesunde Amerikanerin ihre Triumphblicke auf uns alle, denn ihr amerikanisches Haar war echt und färbte nicht ab; sonst wäre sie nicht im Unwetter täglich auf Deck gekommen. Dies riefen ihre Augen in allen Sprachen durch den Sturmlärm.

Nach diesem Gespräch vergaß ich die blonde Artistin nicht mehr und suchte sie an sturmfreien Tagen überall auf dem Deck. Ihren Mann, einen zarten, kleinen, jungen Mann, beachtete ich erst gar nicht. Ich fand nur, seinem Aussehen nach hätte er gar nichts in Amerika zu suchen, denn er schaute viel zu verträumt und langweilig vor sich hin. Wie hätte ich ahnen können, daß diese beiden später in meinem Leben einen Platz einnehmen würden, noch viel wichtiger als der, den in diesem Augenblick der Atlant in mir eingenommen hatte.

Wie vorher in meinem Leben hatte ich Europa verlassen und ich wußte nicht, ob ich etwas verlieren oder vermissen würde, wenn ich die Kontinente wechselte. Vorläufig fühlte ich nur eine Neugier vor dem großen Unbekannten, vor Amerika, und vor den neuen Schicksalen, die mich dort erwarten würden.

Ich hatte mir niemals klargemacht, daß ich Europäer war; bisher, wenn ich in Europa nach Rußland, Italien, Norwegen oder Frankreich und England gereist war, hatte ich nur gewußt und überall empfunden, daß ich geborener Deutscher war – aber als Europäer hatte ich mich nur gefühlt, wenn ich zufällig einmal in Berlin oder Paris einen Amerikaner sprach, oder wenn ich einen Atlas aufschlug und die Erdteile mit dem Zeigefinger bereiste. Nun aber, je näher wir mit dem "Prinzregent" ans Ziel kamen, desto unsicherer wurde ich vor dem großen Kontinent, der mich erwartete; und um dem Riesenerdteil ein Gleichgewicht na Selbstbewußtsein entgegenzusetzen, genügte es nicht mehr, daß man sich im stillen einen Deutschen nannte. Man mußte zu größeren Überblicken greifen und sich als Europäer fühlen – nur so konnte man vor dem unermeßlichen Einheitsland noch einiges Persönlichkeitsgefühl bewahren. Sonst würde man sich verschluckt gefühlt haben wie eine verlorene Boje im Atlant, sagte ich mir.

Einen Tag vor New York fühlten wir eisige Luft; und da es Mitte Juni war, fürchtete der Kapitän, wir würden schwimmenden Eisfeldern begegnen, die sich um diese Jahreszeit in den nördlichen Eismeeren loslösen und mit der Strömung südwärts der amerikanischen Küste entlang treiben.

Die Gefahr ist dann die, daß ein Schiff von solchen Eisflächen weit südwärts geschleppt werden kann und seinen Kurs aufgeben muß.

Das Wort "Eisberge" brachte alle Passagiere auf Deck; und da der Sturm sich gelegt hatte und nur ein feiner Nebel fiel, erschienen alle Damen wieder. Auch die Dame mit dem gefärbten gelben Haar erschien an der Seite ihres Mannes, der noch kleiner und unscheinbarer neben der schönen, großen, elastischen Gestalt einherging.

Ich verwünschte im stillen die Journalistin, die mit verraten hatte, daß das Haar der schönen jungen Frau gefärbt sei. Denn ohne diesen Verrat hätte man dies seidige, feuergelbe Haar recht gut für echtes Blond halten können, wenn es auch als ein sehr seltenes, kostbares Goldblond jedem sofort glücklich auffallen mußte. So aber, da die blonde Dame es der interviewenden Amerikanerin selber eingestanden hatte, daß sie sich das Gold mit Pariser Tinktur ins Haar färbte, hatte dies Goldblond, wenn es auch noch so natürlich schien, keinen nachhaltigen Reiz für meine Bewunderung. Denn ich mußte dabei immer die triumphierenden Augen der Amerikanerin sehen, die ihren Spottblick öffentlich vor allen Herren hinter dem Rücken der Dame über jenes Haar gleiten ließ.

Es regnete fein; und die Reisemützen tief in die Stirn gezogen, die Kragenmäntel aufgeschlagen, standen überall auf Deck Herren mit Feldstechern umher und suchten den Horizont nach Eisbergen ab.

Man erwartete bei jeder Kopfwendung, daß einer rufen würde: "Eisberg in Sicht!"

"Und dieses nennen Sie eine nervenberuhigende Fahrt, Herr Doktor?" hörte ich den kleinen Mann der blondgefärbten Dame auf Deutsch zum Schiffsarzt sagen. "Erst Sturm, dann jeden Morgen, Mittag und Abend die gräßlich nervenerschütternden Trompetensignale des Stewards auf den Schiffspromenaden! Meine Frau bekommt immer einen Nervenschock, wenn der Trompeter mit seinem schmetternden Blechinstrument am Kabinenfenster vorbeigeht. Und nun, da der Sturm vorbei ist, stehen uns noch Eisberge zur Nervenglättung bevor?"

Der Münchener Arzt wußte nicht, was er sagen sollte. Er lachte und berief sich fortgesetzt auf Sauerstoff und Bazillenreinheit und auf das gute Essen, das wie in einem Hotel allererster Klasse wäre! Dann lief er davon und ließ den kopfschüttelnden jungen Mann stehen.

Der junge Artist und ich, wir sahen einander einen Augenblick an. Er schaute dann verächtlich lächelnd dem eiligen Doktor nach, und ich lachte auch. Damit war eine leichte Anknüpfung zwischen uns entstanden, ohne daß wir dies beabsichtigt hatten. Die junge Artistenfrau aber sah in Meer, geradeaus; ihr Blick blieb eisig unberührt. Sie stand da, als reise sie als einziger Passagier ganz allein auf dem großen Schiff über den großen Atlant in das große Amerika, und ihr starrer Blick war so frostig, als könne er Eisberge erschaffen, wenn er wollte. Wie kann nur so eine hünenhafte und sichtbar großzügig und heroisch angelegte Frau an solch kleinliches Mittel wie das Färben ihres jungen Haares denken? mußte ich mich wieder fragen. – Ja, wäre sie älter und schon etwas grau gewesen, dann hätte ich diese weibliche Schwäche verstanden; aber so schien es mir lächerlich. Und trotzdem, je länger ich sie auf die Haarfarbe hin ansah, desto weniger konnte ich mir denken, daß sie mit einer andern, weniger goldenen Farbe so schön gewesen wäre. So heroisch, wie sie jetzt aussah – dazu paßte das auffallende Goldblond, das im grauen Nebel immer noch leuchtete, als wäre es von Hochsommersonne durchtränkt, und das einem mitten auf dem Atlant, sogar mitten in der Regenstimmung, die Freude irdischer Erntetage, den Juli mit goldenem Roggen und senkrechter Sonne und den Oktober mit Rheinwein in schweren Humpen kräftig und großzügig vor die fünf Sinne hinstellte.

"Ich glaube, daß die Blonde eine große Opernsängerin ist", sagte der Kapitän zu mir, als ich ihn etwas später auf der Kommandobrücke besuchte und er meinen Augen folgte, die überall dem goldenen Heldinnenkopf der Artistin nachsahen. "Sie ist jedenfalls nicht alltäglich", meinte der erste Steuermann. Auch der Mann der das Rad zwischen seinen Fäusten drehte, strich sich einen Augenblick den Schnurrbartzipfel und rückte seine Schultern männlich zurecht, als er der Dame drunten auf dem Deck nachsah, die ihren Kopf leuchtend wie einen goldenen Helm trug.

"Und ihr Mann zählt gar nicht mit", meinte der derbe Steuermann lachend, über die Schulter, zum Kapitän. Und ich fand das auch.

Wenn es eine Frau fertigbringt, die Aufmerksamkeit eines gesamten Ozeandampfers vom Kapitän und von den Passagieren an bis zur Mannschaft zu erwecken, dann geht das doch nicht ganz mit natürlichen Dingen zu, dachte ich bei mir; und diese auffallende Frau fing an, mir ein wenig unheimlich zu werden. Aber ich hatte nicht lange Zeit, mich eingehender mit den beiden Artisten zu beschäftigen. Am nächsten Mittag sollten wir schon in New York einlaufen. Beim üblichen Kapitänessen und dem darauffolgenden Abschiedsball am Vorabend der Ankunft blieben die Artisten unsichtbar. Sie erschienen erst wieder am nächsten Morgen, als draußen bei Coney Island der Lotse und der Hafenarzt auf den Dampfer kamen und ein paar Zeitungsjungen mit auf Deck kletterten, die den Passagieren riesige New-Yorker Tageblätter verkauften.

Dies war der erste amerikanische Willkommensgruß: Zeitungen!

Fünf Minuten später gab es von den Passagieren nicht einen, der nicht hinter dem New York Herald, der Morning Post, der Brooklyn Times, dem Philadelphia Speaker und so weiter verschwunden gewesen wäre, mit Ausnahme des Artistenpaares, das am Geländer stand und dort streitend eine Sprache sprach, die mir holländisch oder Böhmisch zu sein schien. Ich stand mit dem Rücken gegen sie; plötzlich schwiegen beide auffallend schnell, so daß ich unwillkürlich meinen Kopf nach dem Paar umwenden mußte – und da sah ich, daß die blonde Dame weinte, daß die Tränen von ihren Wangen rollten, und daß der junge Mann mit seiner krampfhaft geballten, auffallend kleinen Männerhand dem Schiffsgeländer einen leichten Stoß gab, als wolle er damit das Schiff rascher vorwärts und aus einer peinlichen Situation forttreiben.

Das ist vielleicht ein Mädchenverkäufer, dachte ich – irgend so ein schwarzhaariger Rumäne, Bulgare, Kroate oder Serbe, dieser junge schmalschulterige und unsichere Mann. Er war zu ungeduldig und zu verschwiegen zugleich und zu hitzig, um bloß ein Deutscher zu sein. Will er gar die Blonde in New York verkaufen, weil sie weint und aussieht, als würde sie von einem tragischen Schicksal über den Atlant geschleppt? Und ich lachte innerlich über diesen meinen plumpen Gedanken.

Die beiden Leutchen wurden mir immer interessanter. In demselben Augenblick schmetterte das Trompetensignal, das zum letzten Mittagessen rief. Alle Zeitungen raschelten, und alle Köpfe der Passagiere erschienen wieder auf dem Schiff, mit Gesichtern, teils vom Lesen abwesend gemacht, teils erregt und gesprächig, als ob alle vom Lande auf Schiff zurückkehrten.

Man setzte sich zu Tisch, die Damen waren vollzählig du schon in Straßentoiletten und Sommerhüten auf den Köpfen. Nur die blonde Artistin hatte noch immer ihr warmes haselnußfarbenes Reisekleid aus Manchestersamt an und hatte keine Promenadentoilette für New York angelegt.

"Die wird es aber warm kriegen im Samtkleid auf dem New-Yorker siedendheißen Sommerpflaster", flüsterte mir der Münchener Arzt bei Tisch ins Ohr, mit einem spöttischen Blick auf die Blonde, die uns gegenüber neben dem Ersten Offizier saß.

Sie sah noch etwas verweint aus; aber der junge Ehemann war kaltblütig wie immer und beachtete es nicht, daß die Hand seiner Frau zitterte, wenn sie das Glas hob. "Der Kerl ist empörend kaltblütig, der Mann von der Blonden", sagte ich leise zum Doktor. "Ich halte ihn für einen Mädchenhändler."

"Um Gottes willen, sagen Sie das nicht laut!" flüsterte der Doktor und klapperte heftig mit Messer und Gabel. "Dieser Mensch hört und sieht alles. Er ist mir unheimlich, wenn ich ihn auch nicht gerade für einen Mädchenhändler halten möchte."

Ehe man noch das Dessert auftrug und die siebzehn Mann starke Hauskapelle des Dampfers Abschiesstücke im Vorsaal des Speisesaals spielte, erhoben sich viele Passagiere, um die Einfahrt in den Hudsonriver zu sehen und das gigantische New York.

Der Doktor begleitet mich auf Deck und erklärte mir die Lage der Weltstadt.

Wir passierten eben die eiserne Freiheitsstatue, dahinter mit bläulichem Ton das Meer und die Küstensilhouette, in silberblauem Metallglanz des Mittaglichtes uns blendete.

Die Riesenstatue sah ich wie eine kleine Bleifigur mitten in den Riesenlinien von Meerfläche und Küstenflächen aus. Wie eine Rippfigur auf einer bronzenen Tischplatte. Der Doktor erklärte mir: "Millionen Vögel schlagen sich jedes Jahr die Köpfe an der elektrischen Laterne der Freiheitsstatue entzwei, hunderte liegen jeden Morgen am Sockel unten tot."

Ich stand noch und staunte und beklagte im Geiste die armen Vögel.

"Wissen Sie, was ich eben erlebt habe?" hörte ich plötzlich neben mir den Ersten Offizier zum Doktor sagen. "Die Blonde bekam, als sie aufgestanden waren, einen Weinkrampf, und ihr Mann mußte sie vom Tisch fort in die Kabine begleiten. Er blieb aber nicht lange vom Tisch fort, sondern kam bald zurück und war durch diesen Zwischenfall wie verwandelt. Er begann gesprächig zu erzählen, daß seine Frau Amerika und New York hasse und es nicht erwarten könne, bis sie nach Mexiko kämen. Als sie hörte, daß wie jetzt nach New York kommen, wollte sie gar nicht in die Stadt, sondern sofort aufs nächste Schiff und nach Mexiko weiter, und ihr Mann konnte sie kaum beruhigen und kaum überzeugen, daß sie drei Tage bleiben müßten, da das nächste Schiff nach Vera Cruz erst am Donnerstag von New York abgehe."

"Ach, da bekommen Sie ja weitere blonde Reisegesellschaft bis Mexiko," rief mich der Doktor an. Aber ich hatte jetzt keine Zeit und hörte nur halb hin – ich mußte New York erwarten. Und das Leiden der amerikahassenden Europäerin interessierte mich augenblicklich gar nicht. Der Erste Offizier sprach weiter: "Es ist ganz unmöglich, daß die beiden rätselhaften Menschen Artisten sind. Als ich ihn danach fragte, lächelte der junge Mann hochmütig, als wollte er sagen: Sie verstehen ja auf diesem Schiff doch nicht, was ich bin."

Der Offizier wurde jetzt gerufen und lief fort. Der Doktor sagte zu mir: "Am Ende ist er Arzt wie ich und will das gelbe Fieber in Mexiko studieren. Er könnte gut ein Arzt sein. Er hat neulich ausgezeichnete Sachen über Therapie gesagt."

Ich sah mit dem Fernglas über den Meerarm und hörte nur mit einem Ohr die Neuigkeiten über die beiden Artisten an.

Unregelmäßig hoch in die Luft geschossen, erschienen in der Ferne Reihen von seltsamen viereckigen hohen Schornsteinen, wie ich sie in solcher Breite und Höhe vorher nirgends auf der Welt gesehen hatte.

"Was ist das?" fragte ich ahnungslos den Doktor. Er lachte. "Die Wolkenkratzer", rief er dann. "Wer das noch nie gesehen hat, glaubt nicht, daß New York einen solchen Eindruck machen kann. Sieht es nicht verrückt aus, dieses New York?"

Ich konnte nicht antworten. Ich schüttelte nur staunend den Kopf. Meine gewaltigen Vorstellungen von der Wolkenkratzerstadt waren hier überboten.

Diese Bauten dort in der Ferne waren wie ein regelmäßiger vorweltlicher Wald, der senkrecht in die Luft ragte. Dann, als die Fensterreihen erschienen, die nicht in die Breite, aber wie an Leiterspießen in die Höhe gereiht waren, da wurde mir, als käme ich nach Babylon, aber ein Babylon, wo nicht nur ein Turmbau, sondern hunderte von Turmbauten in den Himmel wollten. Im Mittagsdunst glitzerten, noch viel höher als die höchsten Turmbauten im blauen Sommertagbrodem in der Ferne, in blaugrauer Höhe ein paar Drähte.

"Was Sie dort im Himmel zwischen den zwei gelblichen Hitzwolken für Drähte halten," sagte der Doktor, "das ist das massiv eiserne Gerüst der riesigen Brooklybrücke, die über den Meerarm geht. Darüber laufen Eisenbahnzüge, Lastwagen und Passagiere in drei Etagen übereinander."

"Es sieht ja nur wie ein paar Drähte aus, hoch in der Luft", konnte ich nur staunend stottern und war sprachlos und hatte vor den ungeheuren Massen, die einem beim Eingang nach New York auf die Nerven fielen, nur den Ausruf übrig: "Doktor, und eine Reise zwischen Bremen und New York nennen Sie eine Nervenkur?" Kein Europäer, der nicht hier war, hat eine Ahnung davon, wieviel Nervenkraft er sich allein für den Anblick von New York mitnehmen muß. Schwache Nerven halten diesen Anblick von New York gar nicht aus und beginnen vor dem alles Menschliche und alles Europäische überbietenden und fast gruseligen Anblick dieser Gigantenstadt zu verzagen.

London, Paris, Petersburg, Rom, Berlin und Wien sehen ja wie das künstliche Hirtendörflein Trianon der Marie Antoinette daneben aus. Nirgends in Europa stehen einem die Haare so vor Staunen und Schrecken zu Berg wie hier vor dem unheimlich riesenhaften New York.

Über diesem Staunen, erfüllt von den unerwarteten und nie erlebten Einbrüchen, vergaß ich im Trubel der Landung sogar, dem plötzlich vielbeschäftigten Doktor Lebewohl zu sagen. Auch das Artistenpaar hatte ich vor dem Koloß New York, ebenso wie den Atlant und wie die ganze Seefahrt, im Handumdrehen aus dem Gesicht verloren. Als ich dann den Fuß von der Landungsbrücke setzte und im Zollhaus des Docks von Hoboken die neue Welt, den gewaltigen und selbstbewußten Kontinent, betrat, war ich sofort willig mehr Amerikaner als Europäer geworden.

Drei Tage hatte ich Zeit, mir Wolkenkratzer, Brooklynbrücke, Zentralpark und Hudsonriver in der Nähe anzusehen. Innen in der Stadt hatten die Straßen, die, eingefaßt von den himmelhohen Häusern , wie enge Gassen wirkten, etwas sehr Gemütliches, und das Gigantische, das die Silhouette New Yorks vom Meer aus einflößte, war im Stadtinnern nicht mehr beklemmend. Die neuzeitliche, eilige, fast lautlose Verkehrsart, die nirgends durch altmodische Einrichtungen und nirgends von schwerfälligen Traditionen gehemmt war, gab dem Neuling den Eindruck großer intelligenter Leichtigkeit, Zweckmäßigkeit und materieller Gediegenheit. Überall eilten, wie schnelle Schatten, Eisenbahnzüge durch die Luft, elektrische Tramcards gingen fast ohne Geräusch und Autos mit Gummireifen wie auf Teppichen. Pferde sah man kaum noch in dem Zentralpark, nirgends Hunde oder Sperlinge oder gar Kanarienvögel wie im guten Dorf Europa, da drüben über dem Wasser.

Sehr überlegen dachte und sprach ich schon am ersten Abend zu mir über Europa, als ob ich ein Stockamerikaner von Geburt wäre, und als ob ich mich schämen müßte, ein bäuerischer Europäer zu sein.

Ich hatte eine verheiratete Schwester in Philadelphia, die ich am nächsten Tag auf ein paar Stunden besuchte. Als ich eine ihrer Töchter, die Griechisch und Latein wie ein Junge studierte, fragte: "Willst Du mich nicht mal nächstes Jahr in Europa besuchen?", da antwortete mir die junge Amerikanerin: "Ach, Onkel, komm doch lieber dann wieder zu uns herüber. Was soll ich denn da drüben in dem altmodischen Europa! Bei uns ist doch alles viel neuer."

Das altmodische Europa da drüben...!

Als ich am Abend wieder von Philadelphia nach New York zurückfuhr, riefen die Eisenbahnräder unausgesetzt im Takt: " Das altmodische Europa da drüben! Das altmodische Europa da drüben!"...

Aber am dritten Tag atmete ich doch bei dem Gedanken angenehm auf, jetzt einen Dampfer nach Havanna und Vera Cruz besteigen zu können und nach dem heißen Asphaltpflaster und nach der Strenge der künstlichen Millionenstadt das natürliche Meer wieder sehen zu dürfen und Meerluft einatmen zu können, glücklich wie eine freie Wolke.

Vor allem jagte mich der Zahlenspuk aus New York. Fortwährend wurde man von Zahlen tyrannisiert; und daran, daß ich mich nicht an das Behalten von hunderterlei Zahlen gewöhnen konnte, erkannte ich mich doch immer wieder als unbeholfenen Europäer dem zahlenliebenden Amerikaner gegenüber.

Fragte ich nach einer Schiffsagentur, nach einem Magazin, nach einer Firma, so hieß es immer ungefähr so: 164. Straße, 52. Block, Hausnummer 3978, Telephon 71-63-29, Lift 16, in der 34. Etage. Wehe, wenn eine Ziffer einer Nummer dir entfiel! Fragtest du zum zweitenmal, wurden dir von neuem wieder alle acht Zahlen heruntergeschnurrt mit einer Schnelligkeit, als ob ein Blitzzug mit einer Reihe glitzernder Fenster dir vor der Nase davonführte.

Ich verließ also, zur Weiterfahrt nach Mexiko gerüstet, New York aufatmend wie ein Bauer, der sich ein paar Stadttage geleistet hat und jetzt zum Misthaufen heimkehren darf. Und dabei war ich seit Jahren in Berlin, Paris und London zu Hause wie ein Stallhase in seinem Stall. Aber Amerika und die amerikanische Milliardärstadt New York waren mir so neu, als ob ich ein einfältiger Hinterwäldler wäre, der vorher nie seinen Dachstuhl verlassen hätte.

Ich war im "Hollandhouse" in der Fifth Avenue abgestiegen. Diese Straße, die auch die Millionärstraße benannt ist, war mitten in New York immer noch eine der verhältnismäßig stillsten Straßen, da dort nur Autos und keine Hochbahnen rannten. Ich verließ am dritten Tag nach dem Lunch das Hotel, um noch einen Spaziergang auf dem Broadway zu machen, denn ich mußte erst am Spätnachmittag am Hafen sein, wo mein Schiff nach Mexiko abging.

Der Straßenasphalt brannte mich durch meine Stiefelsohlen, so heiß war er; und wie die gespannte Atmosphäre in einem Hochofen stand strahlende Junihitze zwischen den Häuserblöcken. Ich hatte in den Zeitungen eben erst gelesen, daß hier täglich hunderte von Person am Hitzschlag starben, und daß Hunderte von Menschen nachts vor Hitze nicht in ihren Wohnungen, sondern auf den Dächern, auf den Hudsonflußdampfern und auf den Bänken in den Squares schlafen mußten. Die Hitze strahlte jetzt auf mich, um zwei Uhr nachmittags, von vier Seiten: von dem Sonnenbrodem am Himmel herunter, senkrecht herauf vom gespannt heißen Asphalt und links und rechts aus den riesigen Steinprismen der an zwanzig und dreißig Stockwerke hohen, glühendheißen Mauermassen.

Man fühlte sich von jedem Haus heiß angehaucht, als wäre es mit flüssigem, weißglühenden Stahl angefüllt, und als könnten sich die Glutmassen durch die Myriaden von weißblendenden Fenstern jeden Augenblick über einen ergießen. Ich konnte kaum atmen: die Luft brannte mir in den Lungen wie der Asphalt unter den Stiefeln.

Ich hatte den Broadway noch nicht erreicht, da schien es mir, als schlösse man droben über den dreißig Stockwerken den Himmel mit schwarzen Eisendeckeln zu, mit Deckeltüren, wuchtig wie an eisernen Tresoren.

Es waren Gewitterwolken, die sich so tief in die Straßen senkten, daß die obersten Stockwerke in dem dämonisch dunklen Qualm aussahen, als sollten alle Menschen, die dort oben wohnen, vom Himmel erstickt werden.

Ich erreichte dann beklommen den Broadway und stand einen Augenblick vor der Office des New York Herald und sah den hinter mächtigen Glasscheiben arbeitenden Riesenrotationspressen zu, die mächtiger Bänderrollen von Papier zu verschlingen schienen, und die ihrem Papierhunger wie fressende eiserne Ungeheuer mit kauenden Metallzähnen hinter den Spiegelscheiben der Schaufenster Meilen von breiten Papierstreifen unausgesetzt in sich hineinschluckten.

Zugleich flog über mir im Dunkel des Himmels ein blauer Blitz nach dem andern durch die Wolken und beleuchtete kraß die Schnellpressen vor mir, so daß die Stahlräder und Stahlzylinder der Maschinen aussahen, als ob sie beim Papierkauen Funken spien.

Es regnete nicht, es donnerte auch noch nicht; um so heißer war es jetzt in den Straßen, deren Luftlücken droben von Elektrizitätsmassen wie verstopft schienen.

Ich überlegte eben, daß ich, wenn ich nicht auch einem Hitzschlag erliegen wollte wie Tausende täglich in Amerika, wohl besser täte, ein Automobil zu nehmen und nach dem Hafen zu fahren, damit ich aus den Hochglutspannungen der Dreißigstockhäuser in einer leichtere Atmosphäre käme.

Da wurde mir im Rücken heiß, als wenn mir mein Rock am lebendigen Leib hell aufbrannte. Ich sehe zugleich alle Maschinen hinter dem Spiegelglas weiß werden, als würden sie zu Aluminium, und waren doch eben noch dunkler Stahl gewesen. Ich habe keine Zeit, mich umzuwenden. Die Spiegelscheibe zerplatzt mit einem Klang, als zerspringe ein Instrument, dem alle Saiten platzen, und das von Schellengerassel begleitet wurde. Ich fühle: es geschieht etwas Grauenhaftes. Den Kopf über die Schulter zurückgewandt, sehe ich hinter mir große weiße Flammen fortfegen, verstehe aber nicht gleich, woher die Flammen kommen, die wie wogende Reihen weißer Fahnen durch die Luft jagen.

Da packt mich ein Arm, und es zieht mich mit einem Ruck ein Mensch zu sich.

Ach, die blonde Dame! riefen plötzlich meine Augen meinem Herzen zu. Die blonde Dame stand neben mir. Aber ihr Gesicht entsetzte mich, als ich es dicht in der Nähe sah: es war blaurot wie die Kropfhaut eines Truthahnes. Ich hörte Männer, die riefen: "Kurzschluß! Die Hochbahn brennt!" –

Dann weiß ich nicht mehr, wie alle Ereignisse der Reihe nach folgten; und oft habe ich mich seitdem besonnen, um mir den Gang der Erlebnisse klarzumachen. Ich höre immer nur Hilfegeschrei, Hilferufe aus der Höhe, von der Seite, aus der Tiefe, und sehe die Augen der Blonden, die sich mit beiden Händen, während ihre Augen wie zwei Kreisel vor mir tanzen, an meinem Spazierstock krampfhaft festhält, so daß ich nicht weitergehen kann, ohne meinen Stock in ihren Händen zu lassen. Menschen in Arbeitskitteln und nach Druckerschwärze riechend, Metall- und Maschinengeruch, vermischt mit einem ätzenden Schwefelgestank, waren plötzlich rings um mich und die blonde Dame, die an meinem Stock zerrte; dabei klingelte es fortwährend in den Lüften. Ich begriff nicht gleich, daß tausend Fensterscheiben platzten, sondern glaubte einen Augenblick, es klingelten mit Schellen behangene Zirkuspferde, oder Schlittengeklingel würde irgendwo als Reklame nachgeahmt. Ich dachte und verstand nur, daß entweder ich oder die ganze Stadt um mich plötzlich vor Hitze wahnsinnig geworden sei.

Die Blonde erzählte mir später oft, wenn wir diesen Schreckensausgenblick besprachen, daß ich immer gerufen hätte: "Davon wird es nicht besser! Lassen Sie doch meinen Stock los! Davon wird es nicht besser!"

Ich weiß nicht, ob ich das sagte. Ich weiß nur, daß ich plötzlich begriff, daß ein mächtiger Kurzschlußbrand entlang der ganzen elektrischen Hochbahn, deren Damm auf der anderen Seite der Straße lag, entstanden war. Elektrische Stichflammen von der Größe riesiger Geisire fuhren wie blendende Strudel dort oben vom Bahndamm in die Lüfte. Zugleich sah ich einen brennenden, menschengefüllten Zug in der Ferne stillstehen; sah die Waggons, aus denene rote und gelbe Brandfeuer und Rauch quollen und Menschen wie Akrobaten sprangen – springende Menschen, die aus der Ferne anzusehen waren wie Rudel von dressierten Flöhen, die vom haushohen weißlohenden Bahnkörper in die Straße hüpften, um wie kleine schwarze Kleiderbündel auf dem Asphalt liegenzubleiben.

Dann weiß ich nur noch, wie ich zu den leblosen Kleiderbündeln eilen wollte, daß aber die Blonde rief: "Sehen Sie denn nicht? Der Asphalt beginnt zu rauchen! Alles brennt! Ach, wenn ich doch bei meinem Mann wäre! Ach, mein Herr, ich will nicht ohne meinen Mann sterben! Ich will nicht – ich will nicht sterben!"

Das erweichte meinen Willen, der durchaus zu den regungslosen Menschenkörpern wollte. Ich begriff, daß hier keine Zeit zum Helfen war. Ich sah, daß das brennende Metall der Bahnschienen schmelzend von dem Bahndamm in weißdampfenden Bächen auf die Straßen rieselte und den Asphalt in Brand setzte, der sich plötzlich schwarzqualmend wie die Haut eines lebenden Tieres in der Hitze zu krümmen begann und zu prasseln.

Ein, zwei, zehn Menschen, blutüberströmte Gesichter, eine Frau in Trauer, deren schwarzer Trauerschleier gelbes Feuer gefangen hatte, stürzten heulend wie Irrsinnige in die nächsten Häuser. Und immer noch sah ich in der Ferne Gestalten vom Fahrdamm hüpfen. Immer, wenn der Rauch sich zur Seite bog, sah ich mit hochgehobenen Armen hüpfende, die sich in der Luft überschlugen.

Ich hatte von der plötzlich todstummen Blonden kein Wort mehr gehört. Um uns klingelten Glasscherben. Ich ließ ihr meinen Stock, den sie festhielt, und riß sie am Handgelenk vorwärts. Dabei mußte ich deutlich an ein Bild aus der Doréschen Bibel denken: die Flucht Loths aus dem brennendem Sodom. Die wahnwitzig weißen Flammenfächer fuhren droben auf der Hochbahn immer noch wie weiße Serpentinentänzerinnen unheimlich vorbei, und die tausend Glasscherben, die aus den Häusern oben herabstürzten, von den elektrischen Flammen wie zu Staub und Mosaiksteinchen zermalmt, überschütteten uns beide auf unserer Flucht, aber der Schreck hatte uns wie immun gegen jede Verletzung gemacht. Ich lief vom Bahndamm mit der Blonden im Arm in eine Seitenstraße, wo Reihen von Autos eingepfercht standen und Tausende von Menschenkröpfen, durch weiße Feuer beleuchtet, uns Platz machten.

Kaum waren wir gerettet, kaum saßen wir in einem Auto, so fiel die Blonde bleich in die Lederkissen zurück, schloß die Augen und sagte: "Ich habe ja nie nach New York gewollt. Habe ich es nicht immer gesagt: ich hasse diese gräßliche Elektrizität, diese unnatürlichen, gräßlichen Maschinen. Aber du willst es ja nicht glauben, du wolltest es mir ja nie glauben, wenn ich's immer sagte, daß mir dies Maschinenleben heutzutage unheimlich ist. Oh, wären wir doch nie in dieser furchtbaren Stadt an Land gestiegen!"

Dann öffnete sie die Augen, sah mich groß an, schloß die Augen wieder und murmelte wie eine Betrunkene: "Bringen Sie mich zu meinem Mann! Ich will nicht ohne meinen Mann sterben. Ich will zu meinem Mann!"

Dann wurde sie still. Ich weiß nicht: wurde sie ohnmächtig, oder war sie eingeschlafen vor Erschöpfung – das konnte ich nicht erkennen, denn ich hatte in meinem Leben noch nie eine ohnmächtige Frau gesehen.

Ich verhielt mich still, als ob ich nicht existierte, mußte nur mitten im Schreck einen Augenblick lächeln, weil die Dame meinen Stock immer noch krampfhaft in beiden Händen hielt.

Ich hatte das Auto nach dem Hafen beordert, zu jenem Dock, von dem mein Dampfer nach Mexiko abfuhr; denn ich erinnerte mich plötzlich wieder, daß der Doktor gesagt hatte, das Artistenpaar würde am dritten Tag nach Mexiko reisen. Also käme der Mann, wenn er nicht auf der Hochbahn verunglückt wäre, sicher dorthin aufs Schiff, da es nur noch ein paar Stunden bis zur Abfahrt waren und es meines Wissens keinen anderen Dampfer gab, der heute nach Mexiko fuhr.

Aber wenn der Mann der Dame auf einem anderen Dampfer wäre – was dann? fragte ich mich und betrachtete die geschlossenen Augen der halbtoten Dame, wie um sie mit meinen Blicken zu kräftigen. In Angst, daß sie am Ende irrsinnig würde und mir während der Fahrt aus dem laufenden Auto spränge, behielt ich die Regungslose in strenger Beobachtung und dachte dabei: Das alles kann ebensogut ein Alpdruck, ein Traum sein. Vielleicht wache ich auf, vielleicht bin ich durch einen Hitzschlag ohnmächtig umgefallen und sehe eine gigantische Fieberphantasie für Wirklichkeit an, während ich doch auf einer Unfallstation liege. Auf der langen Fahrt zum Hafen wurden uns bereits Extrablätter von Zeitungsjungen ins Auto geworfen. Wo die so schnell herkamen, weiß der Himmel. Ich las die großen Lettern: "DIE HOCHBAHN BRENNT AUF MEILEN, ZEHN ZÜGE STEHEN IN FLAMMEN. URSACHE: KURZSCHLUSS. ENORME FLAMMEN EILEN AUF DEM HOCHDAMM DEM BAHNKÖRPER ENTLANG UND SCHMELZEN DIE SCHIENEN. VIELE LEUTE STÜRZTEN SICH AUS DEN HOCHBAHNZÜGEN AUF DIE STRASSEN HINUNTER. HUNDERTE TOTE UND VERWUNDETE." Da hatte ich es gedruckt, schwarz auf weiß vor meinen Augen. In ein paar nüchternen Sätzen hintelegraphiert und gedruckt – das gigantische Ereignis, dessen Zeuge ich eben gewesen war. Ein anderes Auto jagte uns in der Hafenstraße entgegen und hätte uns beinahe angerannt. Drinnen erblickte ich den Mann der blonden Dame, der auch schon ein Extrablatt in den Händen hielt und wahrscheinlich ein Auto genommen hatte, um seine Frau zu suchen.

Er erkannte sofort den hellblonden Kopf seiner Frau. Ich ließ halten. Er nickte mir nur zu; er verstand gleich alles, wir drückten uns kaum die Hände. Er stieg zu seiner Frau ein, und ich hörte nur, wie es das Dock und das Schiff nannte, das nach Mexiko gehen sollte, und das auch mein Schiff war. Dann sausten beide davon.

Ich nahm sein Auto, um zum "Hollandhouse" zurückzueilen und meine Koffer zu holen. Ich stellte mir im Geist das Bild der Ohnmächtige noch einmal vor. Die Dame hatte fast verständnislos nur die Augenwimpern etwas geöffnet. Sie lächelte nur ein wenig, als sie ihren Mann sprechen hörte. Ich hatte nicht gewagt, sie aufzuwecken. Denn sie schien ganz schwach und einer Ohnmacht nahe zu sein.

Als ich zum Hotel fuhr, bemerkte ich unterwegs, daß ich der blonden Dame meinen Spazierstock gelassen hatte. Und ich mußte lächeln und nochmals das Extrablatt durchlesen, um mir zu bestätigen, daß ich nicht nur von diesen Schrecken träumte. – – –

Am nächsten Morgen, als ich auf dem Dampfer "Florida" in meinem Kabinenbett aufwachte und zu dem runden Fenster hinaussah, waren wir längst viele hundert Seemeilen von New York entfernt und gingen draußen im Meer südwärts und sahen sie amerikanische Küste nur noch wie einen dunkelblauen Faden im Westen über dem Wasserraum.

Ich hatte am Abend vorher, als ich mich auf der "Florida" einschiffte, keine Lust gehabt, nach dem Nachmittagsschrecken Menschen zu sehen; ich dachte mir auch, daß wahrscheinlich das Artistenpaar ebenso wie ich der Ruhe bedürftig sein würde. Ich legte mich in meine Kabine und erwachte morgens in den Kleidern auf meinem Bett. So tief hatte mich die Erschöpfung und Ermattung in einen schweren Schlaf taub hingeworfen, daß ich weder das Lichten der Anker noch das Glockenzeichen zum Abendessen gehört hatte und auch nachts nichts von mir wußte und erstaunt war, mich des Morgens angekleidet im Bett zu finden.

Ich erinnerte mich beim Erwachen zuerst nur noch an die vielen Ambulanzautos der Rote-Kreuz-Vereine, die mir bei der Rückfahrt zum Hollandhouse in allen Straßen in langen Zügen begegnet waren, und die in mir den Eindruck hinterlassen hatten, als sei in New York plötzlich binnen einer Stunde eine Epidemie ausgebrochen. Mein Auto hatte zur Rückfahrt in die Stadt die doppelte Zeit gebraucht, da es wegen der vielen Krankenwagen, die uns begegneten, nicht schnell fahren durfte. Und der Karbolgeruch, der sich in kurzer Zeit durch die New-Yorker Straßen verbreitete, haftete jetzt, am nächsten Morgen, noch an meinen Kleidern wie ein letztes Anhängsel von jenen Schreckensminuten, das mich weit hinaus auf die See begleitete.

Neun Tage sollte die Seefahrt dauern. Am siebenten Tag sollten wir Havanna anlaufen, am achten Progreso in Yucatan und am neunten Tag Vera Cruz in Mexiko.

Jetzt lagen also sieben Seetage ohne Haltestation vor mir – so rechnete ich eben aus.

Da klopfte es an meiner Kabinentür. Ein Negerkopf mit einer Stewartmütze schob sich durch die Türspalte und grinste und blähte die Nasenlöcher. Er sah aus wie der Kopf eines jungen Rhinozeros, das mich anblinzelte.

"Haben Master ausgeschlafen?"

"Bringen Sie mir Tee!"

"O Master, es ist sieben Uhr nachmittag und bald Dinerzeit!"

Ich betrachtete verblüfft meine Uhr, welche stillstand und auf acht zeigte – was ich für acht Uhr morgens gehalten hatte.

"Alle Leute sind heute spät aufgestanden, viele sind krank vom Schrecken gestern in New York; der Master wissen doch. Ich wollte nur sehen, ob der Master auch krank ist", sagte der einsichtsvolle Schwarze.

Ich hatte also fast vierundzwanzig Stunden hintereinander in den Kleidern geschlafen, ohne es zu wissen, und sah mich noch immer von Schreckensbildern umgeben, sobald ich die Lider einen Augenblick schloß. Der erste Seetag war also ohne Bewußtsein für mich vergangen, und ich hatte nur noch sechs Tage Fahrt, bis wir den Hafen von Havanna anlaufen würden, und keine sieben Tage mehr, wie ich eben, ehe der Negerboy kam, ausgerechnet hatte.

Die sechs Tage bis Havanna vergingen mir beinah ebenso unbewußt wie dieser erste Tag, den ich im Schlaf zugebracht hatte.

Das Artistenpaar hielt sich seltsamerweise, beinahe wie verschämt, von mir fern. Nur bei den Mahlzeiten sah ich die beiden am entgegengesetzten Ende des Tisches.

Die Dame trug jetzt nicht mehr ihr eng anliegendes Manchestersamtkleid, sondern ein faltenreiches, maigrünes Kleid, das durchaus nicht nach der herrschenden Damenmode zugeschnitten war; es fiel wie ein Bahnkleid ohne Taille lose an den Hüften herab und war wie ein Kleid aus der Zeit der Königin Luise von einer grünen Seidenschärpe hoch unter der Brust zusammengehalten.

Wie ich es fertigbrachte, dem Ehepaar beinahe fünf Tage lang auf dem schmalen und nicht sehr großen Dampfer nicht zu begegnen, blieb mir täglich ein Rätsel. Ich begriff nur, daß die Dame sich wahrscheinlich wegen des Schrecks in New York und der grotesken Situation dabei nachträglich schämte, und daß beide mir heimlich auswichen, ohne daß ich es bemerkte; denn ich wich ihnen niemals aus. Aber auch ich suchte sie nicht auf, nachdem beide sich rasch vom Tisch erhoben hatten, als ich mich ihnen bei meiner ersten Mahlzeit nach dem Dessert genähert hatte, um mich nach dem Befinden der schönen Blonden zu erkundigen.

Wenn ich auf meinem Deckstuhl lag und las oder träumte, sah ich beide immer nur weit in der Ferne am entgegengesetzten Ende des Bootes auftauchen und verschwinden. Auch sagte mir der Negerboy, der Mann der Dame hätte seinen und seiner Frau Tischplatz am Tafelende gewählt, nachdem er vorher die Passagiernamen, die in einzelnen geschriebenen Karten bei jedem Kuvert lagen, sorgfältig durchgelesen hätte.

Der Mann ist eifersüchtig, oder er hat ein Geheimnis, dachte ich mir oft; aber ich kümmerte mich nicht länger um die beiden, bis ein neuer Zufall mir die blonde Dame, ähnlich wie das erstemal, noch vor Havanna und auf diesem Schiff in die Arme trieb.

Aber ehe das geschah, begab sich eine Weile vorher eine Einleitung. Die wurde hervorgerufen durch die auffallende Gesellschaft von Passagieren erster Kajüte auf diesem Dampfer, in deren Mitte ich mir hier täglich vorkam wie ein Detektiv unter Gaunern. Denn das Schiff mit dieser niegesehenen Welt, die da nach Mexiko reiste, erschien mir bald wie eine wandernde Hochstaplerburg.

Am zweiten Tag auf See begann bereits die Wärme des Südens sich über das Wasser zu breiten, und man konnte glauben, das Meer sei eine unendliche Herdplatte, die unterirdisch sanft und langsam angeheizt würde, und alle Kleider am Leib wurden einem unbequem.

Beim Lunch sagte der Kapitän, neben dem ich während der ganzen Reise saß, zu mir: "Donnerwetter, die verfluchten Kerle können nicht mal, wenn sie sich zu Tisch setzen, einen Kragen anziehen; wenn solche Leute erste Klasse reisen, sollten sie sich auch erstklassig benehmen können." Und dann fügte er verächtlich hinzu: "Spanische Schweine!" Das wurde von dem ehrlichen Amerikaner so laut gesagt, daß jeder bis ans Tischende den ganzen Satz gut verstehen konnte. Und ich war erstaunt, daß keiner der indirekt Angeredeten aufsprang und den Kapitän aus seinem eigenen Eßsaal hinauswarf.

Ich betrachtete da zum erstenmal die Reisewelt um mich näher und kam mir vor, als ob man mich, im Vergleich zu den Passagieren des strammen, tadellosen Norddeutschen Lloyddampfers, aus einem Offizierskasino auf einen Kehrichthaufen befördert hätte.

Nicht der Dampfer, nicht der kleine, schmale Eßsaal oder die Bedienung gaben mir diese Empfindung, sondern das höchst unklare Reisepublikum, das diesen Dampfer anfüllte wie ein Haufen unangenehmer Bettinsekten und sich dazu halb frech, halb räuberisch, halb zuchthäuslerisch, halb verwildert und halb komisch ernst benahm.

Der Kapitän hielt sich zu mir und ich mich zu ihm, da er aus der Schiffsliste wußte, daß ich aus Deutschland kam, also kein "Spanisches Schweine" war, und weil er außerdem sah, daß ich bei Tisch einen Kragen trug, und schließlich, weil er mit diesen Goldschmugglerbanden und offenkundigen Straßenräubern nichts zu tun haben wollte.

Das Wort "Raubmenschen" tauchte mir gleich nach dem Mittagessen auf, als ich mich in den schmalen und mit Bambusstrohbänken ausgestatteten Rauchsalon setzte, ein Buch in der Hand hielt und lesen oder schlafen wollte. Ich saß noch keine zehn Sekunden in meiner Ecke und schaute durch das Fenster und in den Rauch meiner Zigarre, da tauchten drei Typen vor mir auf, die vorher mit zwei anderen halbleise verhandelt hatten. Jeder von ihnen hielt ein Paket Spielkarten in den Händen, dessen Blätter er zwischen den Fingern geräuschvoll schnurren ließ. Jeder einzelne ging mit den Karten in der Hand an mir noch einmal vorbei, pfiff oder summte eine Melodie, spuckte durch die offene Rauchsalontür schallend aufs Deck hinaus, ging dann an den Tisch zu den zwei anderen, machte ihnen Zeichen und kam nervös wieder, um mich von neuem zu umkreisen wie eine Brummfliege, die sich niedersetzen möchte, aber noch nicht sicher ist, ob man nicht vielleicht nach ihr schlägt.

Endlich kommt ein großer, langer Mensch, schon grauköpfig, mit einem blauen Pincenez im Gesicht, das schlaff auf seinem vertrunkenem Nasenzipfel saß, vom Deck draußen herein, blättert in einer alten Zeitung, sieht mich über die Zeitung einen Augenblick an und tritt direkt auf mich zu. Den Hut im Nacken, ohne zu grüßen, ohne sich vorzustellen, fragt er, über die Zeitung schauend: "Sie sind Spanier? Sprechen sie Englisch? – Die Herren dort lassen fragen, ob Sie mit ihnen Karten spielen wollen?"

Ich sagte, daß ich nicht Karten spielte, und rührte mich nicht hinter meiner Zigarre, doch fügte ich unvorsichtigerweise hinzu: "Ich kenne die Herren nicht."

Sofort, wie auf einen Signalpfiff, standen die drei andern, die nicht mehr mit den Kartenspielen lärmten – als wenn sie alle lautlos auf meine Antwort gewartet hätten –, neben dem langen Grauen; ihre Augen glänzten wie Wolfsaugen hinter Menageriegittern, als warteten sie nur auf ein neues Signal, um mich ganz zu umzingeln.

"O well, Sie können das Spiel schnell lernen! Die drei Herren machen sich ein Vergnügen daraus, es Sie zu lehren. Sie tun ja doch nichts. Man muß sich auf der Seereise unterhalten, sonst wird man seekrank. Sie sehen übrigens sehr gelangweilt aus. Also, hopp, kommen Sie und spielen Sie. Man spielt, wenn Sie wollen, zuerst nicht zu hoch; dann später wird man sehen! Sie können Ihr ganzes Reisegeld von Europa nach Mexiko in einem Nachmittag zurückgewinnen. Come along, lassen Sie die Herren, die sich für Ihr Vergnügen interessieren, nicht herumstehen! Sie wußten nicht, ob sie vielleicht nur Spanisch sprechen oder nur Deutsch, wir haben gedacht, dem Äußeren nach, daß sie ein Spanier sind. Aber an Ihrem Akzent verstehe ich jetzt, Sie sind kein Spanier und auch kein Amerikaner..."

Als ich mich immer noch nicht rührte, und da der Mensch mir ansah, daß ich eine Abweisung auf den Lippen bereit hatte, sobald er in seinem Wortschwall aussetzen würde, schwätzt er unverfroren, unverschämt weiter, indessen er mit langen Armen sich einen Klappstuhl herbeilangt, ohne mich mit den Blicken hinter seinem wackeligen blauen Pincenez aus den Augen zu lassen, und immer sprechend, dirigiert er mit den langen Beinen zwei von den Kartenwölfen auf meine Bank hinter meinen Tisch. Der dritte holt sich gleichfalls mit dem stummen, gelenklockeren Handgriff eines begabten Taschendiebes einen Stuhl, die zwei neben mir ließen sofort wieder die Karten laut und ungeduldig durch ihre Finger schnurren – und nun sitzen plötzlich drei Kerle um mich, und ich in meiner Ecke an der Wand bin eingeschlossen, so daß ich meinen Weg entweder über den Tisch oder unter dem Tisch durch nehmen muß, sobald ich meine Absicht kundgegeben habe, daß ich nichts mit der Aufdringlichkeit dieser Herrschaften zu tun haben will.

"Was tun Sie oder wollen sie eigentlich in Mexiko?" schwätzt der graue Lange mit gelenkiger Zunge weiter, gelenkiger noch als die unangenehm geschmeidigen Hände der andern, denen man ansah, daß sie den Bauernfang mit den Karten als jahrelangen Beruf gewandt und begierig trieben.

"Sie reisen natürlich, weil Sie Geld haben?" fuhr es ihm ungeschickt eilfertig und geläufig aus dem Mund, aber er schickte flugs ein paar Sätze hinterher, um die unkluge Direktheit der Frage zu verwischen. "Ich meine, weil es keinen Europäer gibt, der ohne Geld über den Atlant kommen darf, denn wir Amerikaner lassen jetzt keinen mehr zu uns, der nicht nachweisen kann, daß er sich erhalten kann."

Nun fing der Vorsitzende des Kartenkollegiums, der mich so offenkundig plump und naiv und großsprecherisch mit Beschlag belegt hatte, an, mich zu belustigen. Ich sagte mir auch, es wäre besser, scheinbar gute Mine zu dem infamen Spiel der abgefeimten Kartenräuber zu machen, denn auf diesem Schiff könnte ich dieser Gesellschaft, die alle untereinander wie durch unterirdische Gänge verbunden schienen, bis zur Ankunft in Mexiko kaum mehr ausweichen. Auch hatte ich beobachtet, wie noch einige grinsende Typen draußen am Fenster des Rauchsalons gleich Wachtposten auf und ab gingen.

Die Kleider aller dieser Gentlemen waren abgenützt, das Schuhwerk schlecht, die Wäsche besudelt und der Hals natürlich in der Hitze kragenlos; einige waren mehrere Tage nicht rasiert. – Ich fragte mich: Wie kommt diese Menschenklasse dazu, das teure Billet nach Mexiko erster Klasse bezahlen zu können! Alle diese Beobachtungen blitzten mir wie Wetterleuchten durch das dunkle, ungemütliche Gefühl, das ich in der Umgebung dieser Individuen empfand.

"Was tun Sie eigentlich alle in Mexiko?" fragte ich scheinbar harmlos zurück, ohne mich in meiner Ecke zu rühren und ohne irgendeine Frage des Bandenführers beantwortet zu haben.

"O wir!" grinsten alle zusammen.

"Business! Verstehen Sie: Geschäft! Geschäft!" riefen sie mir alle zugleich entgegen. Nur der blaubebrillte Häuptling schwieg und benützte die Sekunden, wo die andern schrien, um sich über die Absicht meiner Frage in seinem verblüfften Gehirn zu orientieren.

Er begriff, daß ich nach dieser Umkehrung des Fragespießes eigentlich in unbequemer Weise gewandter und strategischer war, als er mir zugetraut hätte. Er hielt auch den Überfall für heute für genügend und wollte sich keine offene Abweisung holen; darum war er dankbar, daß er meine Frage jetzt vorteilhaft von seiner Seite als eine Anknüpfung auffassen konnte. Er erhob sich plötzlich und sagte ganz unvermittelt zu den anderen Herren: "Seht ihr denn nicht, daß der Herr ein Buch neben sich liegen hat! Es scheint mir ein gelehrter Herr zu sein, alle Deutsche sind gelehrte Herren!"

Da mußte ich unmerklich hinter meiner Zigarre lachen. "Damit Sie sehen, daß wir Amerikaner aber ebenso guterzogene Gentlemen sind, wie die Herren Europäer, wollen wir Sie heute nicht weiter stören. Wenn Sie lesen wollen, hätten Sie das sofort sagen müssen; wir Amerikaner würden das gleich gesagt haben. Kommt, Boys!" rief er den anderen kommandierend zu. Und ohne den Hut zu rücken, grußlos, wie die Gesellschaft gekommen war, drehte sie sich plötzlich nach der Tür. Als wollten sie mir die Aussicht dorthin verbarrikadieren, standen sie breitrückig unter der Türöffnung.

Ich hatte aber genug gesehen, um zu wissen, was draußen vorging. Die Wachtpatrouille der Hochstapler draußen hatte nämlich inzwischen auch einen Raubzug auf dem Deck in Szene gesetzt; und sie hatten einen harmloseren Menschen als mich auch richtig fest unter den Arm genommen und wollten ihn eben halb überredend, halb gewaltsam zum Kartenspiel in den Rauchsalon schleppen.

Es war ein junger, lebenslustiger Holländer, der mit seiner Mutter nach Mexiko fuhr, um eine Erbschaft anzutreten. Er hatte eine Zuckerfabrik von einem Verwandten geerbt – dies hörte ich später von der Mutter selbst. Noch ehe wir in Vera Cruz ankamen, stürzte sich dann der junge Mann ins Meer. Die Raubmenschen hatten ihm im Kartenspiel eine Geldsumme, die er zum Unterhalt für seine Mutter und als Betriebskapital der Zuckerfabrik auf der Brust verwahrte, in raschen Raten abgenommen. Nachdem sie ihn erst ein paar Tage scheinbar Glück haben und in kleinen Einsätzen hatten Gewinner sein lassen, steigerten sie am letzten Tag die Einsätze aufs höchste und nahmen ihm das ganze Geld seiner Mutter ab.

Sie schenkten ihm während des Spiels Whisky in Massen ein, so daß das Gehirn des jungen Mannes erhitzt, überreizt und nach jedem Verlust noch gieriger und verstandloser wurde, bis er eines Nachts aufsprang und sich, da ihn auch niemand zurückhielt, über das Schiffsgeländer stürzte.

Gesehen hatte es niemand, daß er freiwillig den Tod gesucht hatte. Die Bande behauptete es, aber der Kapitän vermutete sogar, daß die Räubergesellschaft den jungen Mann im trunkenen Zustand, nachdem er von den Falschspielern geplündert war, über Bord geworfen hätte.

Im Augenblick wo mich die Kerle verließen und, wie auf ein neues Signal hin, die Tür des Rauchsalons verstellten, begriff ich, daß sie mit den Kollegen draußen einen Augenblick überlegen wollten, ob es gut sei, die Ausplünderung des Holländers hier vor mir im Salon zu beginnen, oder ob es besser sei, nach einem unauffälligeren Platz auf dem Schiffsdeck zu suchen.

Die draußen aber, die sich wahrscheinlich durch Gespräche mit dem jungen Mann gründlich vergewissert hatten, daß er ein guter Fang war, schoben, in der Aussicht auf glänzenden Gewinn, ihr geködertes Opfer durch die Reihe der Kollegen; und ziemlich rücksichtslos und gleichgültig, ob sie mich dadurch verjagten oder nicht, ließen sich alle lärmend und sich mit Witzen anstachelnd und gar keine Notiz mehr von mir nehmend, mit dem jungen Holländer, drei Tische von mir entfernt, zum Spiel nieder.

Ich öffnete das Buch vor mir, stellte mich lesend, bis die Gesellschaft am Kartentisch lautlos wurde und so vertieft in ihrem Spiel, daß ich wagen konnte, unauffällig den Rauchraum zu verlassen.

Ich sprach noch vor dem Diner den Kapitän und befragte ihn über diese Menschen. Er zuckte die Schultern. "Ja", sagte er, "die meisten von ihnen schmuggeln Goldstaub, eingenäht in ihre Kleider, von Mexiko nach New York und reisen mehrmals im Jahr diesen Weg. Wenn sie sich auf dem Dampfer mit nichts anderm als nur mit Falschspielen befassen, kann man nichts machen; eine Schiffspolizei gibt es nicht, die das Spielen beaufsichtigt, und diese Leute spielen meist so verschmitzt, und es sind so viele, die da zusammenstecken, daß man ein ganzes Stadtviertel in New York und in der Hauptstadt Mexiko in die Luft sprengen müßte, um ein wenig unter dieser Sippe aufzuräumen. Sie plündern die Reisenden mit dem Kartenspiel, die als reiche Leute Mexiko verlassen und mit Vermögen in den Taschen heimkehren, und rupfen die Gimpel, die mit dem Rest ihres Vermögens nach Mexiko reisen, und die sich dort aufs Abenteuern verlegen wollen; sie schonen keinen, der sich mit ihnen ins Kartenspielen einläßt."

"Ja, und das dürfen diese Banden so offen auf ihrem Schiff, Kapitän? Falschspielen?!"

"Bedenken Sie, mein Herr, wir sind nicht im schnüffelnden Polizeihundland Europa. Sie sind hier auf diesem Schiff in den waghalsig freien Vereinigten Staaten; und wenn einer hier seinen Kabinenplatz bezahlt hat, dann habe ich ihm nicht in die Karten zu gucken. Das Schiff ist nicht mein Schiff. Ich bin von einer Schiffsgesellschaft als Kapitän angestellt und habe nichts anderes zu tun, als meine Passagiere und meinen Kargo sicher von Hafen zu Hafen zu befördern.

Sie sind alle erwachsene Menschen und können sich selber helfen. Jeder achtet in Amerika auf seine Haut; und wer es nicht tut, der ist ein Esel, und dem gebührt, daß ihm die andern die Haut nicht schonen, wenn ihm nichts an sich selber liegt."

Natürlich, ganz recht...! Ich hatte ja vergessen, daß ich unter Republikanern war, seit ich den Atlant gekreuzt hatte, sozusagen am Urquell der Republik. Ich zuckte meinerseits auch die Schultern und ließ den Kapitän stehen.

Nach einer Weile, wahrscheinlich um mich diesen überseeischen Zuständen wohlgesinnter zu stimmen, kam der Kapitän an meinen Deckstuhl, auf dem ich lag und las, und brachte mir in der Hand einen schönen lebenden silberblanken Fisch, der feine seltsame lange bläuliche Flossen hatte, die den Flügeln einer Schwalbe ähnelten.

"Ein fliegender Fisch", rief er mir zu. "Eben flog ein ganzes Rudel über das Schiff, und einer ist auf Deck gefallen. Haben Sie schon einmal einen solchen Fische gesehen? – Nicht? – Ich schicke den Fisch zum Koch hinunter, und heute abend sollen Sie ihn kosten, er schmeckt ausgezeichnet." Der Kapitän lachte und trollte sich wieder auf seine Kommandobrücke zurück.

Von diesem Nachmittag an hielt ich mich meist in meinem Deckstuhl ausgestreckt, und wenn einer der Spielerfürsten an mir vorüber wanderte, schloß ich wie schlafend die Augen. Anders konnte ich diese Gewalttätigen nicht von mir halten. Oft hätte ich gern gewußt, ob das Artistenpaar auch in irgendeiner Beziehung zu diesen Raubmenschen stünden. Ich fragte einmal den Kapitän, ob er die blonde Dame und ihren Mann schon öfters nach Mexiko gefahren habe, aber er kannte sie beide nicht. Er tarierte sie für Vergnügungsreisende. Aber das konnte ich nicht glauben.

Am Nachmittag, der dem Tag der Ankunft in Havanna vorausging, saß ich wieder in meiner schattigen Ecke hinter den Kabinen und fächelte mir mit einem Buch Luft zu, denn es war schon tropisch heiß.

Da höre ich ein seltsames Pfeifen, zugleich das Läuten einer Schiffsglocke und das Tuten von kleinen Signaltrompeten.

Ein paar Matrosen, die eben über meinem Kopf eine Segelleinwand festknüpften, und ein paar andere, die das messingne Schiffsgeländer für die Ankunft in Havanna blank putzten und in meiner Nähe hantierten, fuhren mit den Köpfen herum, wurden blaß und ließen alles liegen und rannten fort, dem Signal nach.

Ein paar Matrosen, die unten an der äußeren Schiffswand das Schiff mit Ölfarbe weißten, kamen auf Deck geklettert und fragten mich, ob ich das Feuersignal gehört hätte. Dann, ehe ich antworten konnte, waren beide verschwunden.

"Feuer!" hörte ich noch ein paar Stimmen rufen. Zugleich sah ich die Köpfe der vielen Kartenspieler, die sich unter der Rauchzimmertür zeigten und lachten; dann winkte mir der lange Graue vertraulich aus der Ferne zu, so, als ob wir stündlich im Gespräch miteinander stünden, und rief: "Feueralarm, aber blinder Alarm. Es ist nur eine Übung der Mannschaft!"

Ich nickte und setzte mich beruhigt wieder auf meinen Stuhl.

Ich sah nach einer Weile die Matrosen mit blauen Messinghelmen auf dem Kopf, als Feuerwehrmänner gekleidet, an langen Wasserschläuchen zerren, die sie rund um das Deck schleiften.

Auf der Brücke kommandierte der Erste Steuermann, lebhaft gestikulierend und immer mit der Alarmpfeife in der Hand, und an den verschiedenen Schiffsenden antworteten ihm die Signaltuten der behelmten Matrosen; an einer Pumpe, deren Hebelarme sechs Mann auf und nieder stießen, war die Hauptmannschaft versammelt.

Da kommt eilig um die Kabinenecke die blonde Dame. Sie bemerkt die Schläuche, die quer über dem Deck liegen, nicht. Ich springe auf, da ich sehe, daß sie stolpert, und ich fange sie mit beiden Armen, so daß sie im Fallen mit ihren Händen an meiner Uhrkette einen Halt sucht und nun vor mir in die Knie sinkt. Aber sie hatte sich doch den Fuß beim Fall etwas verstaucht; und als ich ihr aufhalf, mußte sie sich auf meinen Deckstuhl setzen: sie konnte nicht sofort mit dem schmerzenden Fuß auftreten.

"Oh, brennt es wirklich?" fragte sie, und dabei mußte sie diesmal etwas lachen, weil es nun zum zweitenmal war, daß uns die Furcht vor einer Katastrophe einander in die Arme geführt hatte.

Ich beruhigte sie, und sie erzählte, daß ihr Mann unten in der Kabine Briefe schreibe, und daß sie der Feuerlärm und die fürchterlich frechen Gesichter der Leute im Spielzimmer aus ihrem Deckstuhl aufgescheucht hätten. Und dann beeilte sie sich und stand auf und hinkte leicht, duldete es aber nicht, daß ich sie zur Schiffstreppe führte.

Sie sagte mir keinen Dank für die Rettung in New York, auch jetzt keinen Dank dafür, daß ich sie aufgefangen hatte. Sie hatte es nur eilig, von mir fortzukommen, als wäre ihr verboten, mit einem anderen Menschen, als mit ihrem kleinen Gemahl zu sprechen.

Sie ist wie ein fliegender Fisch, dachte ich, unbeholfen, wenn ihre etwas zustößt, und allgeschwind, wenn sie wieder fortschnellen kann, und sie ist sicher auch so wohlschmeckend wie ein fliegender Fisch, wenn man sie sieden machen könnte!

Seit ich ihre Hände an meiner Uhrkette gefühlt hatte, konnte ich an diesem Nachmittag stundenlang mit meiner Uhrkette spielen, ohne an etwas Bestimmtes zu denken. Es war mir dann nur, als ob ich nicht mit der Goldkette spielte, sondern mit ein Paar Frauenhänden.

Ich erwachte aus meinem Halbschlummer und wußte, daß ich lebhaft von der Blonden geträumt hatte, aber den Traum selbst konnte ich in meiner Erinnerung nicht festhalten. Ich fühlte nur, daß ich mich langsam verlieben würde. Welcher Unsinn, sagte ich zu mir! Sie ist glücklich verheiratet. Es ist ein Unsinn, sich in das Glück anderer zu mischen; es ist infam, gemein, unsittlich, unverständig, hinterlistig, eines Mannes von Charakter unwürdig. Es bringt nur Unruhe, bringt nur schlechte Träume, macht ungesundes Blut, stört den Magen, die Nieren, das Herz und macht, daß die beste Zigarre nicht mehr schmeckt. Aber es schien, als ob die schwimmende Hochstaplerburg mich auch zum Hochstapler umwandeln wollte.

Ich konnte nicht anders: ich mußte meine Schritte noch am selben Abend mehrmals nach dem andern Ende des Schiffes lenken, mußte die blonde Dame umkreisen, wie mich die Falschspieler ein paar Tage umkreist hatten. Ich stand schon nahe bei ihr am Geländer des Schiffes, ausgerüstet mit aller Frechheit, die einen Ungeduldigen, einen von erwachender Leidenschaft ruhlos gewordenen Menschen unheimlich und teuflisch und komisch machen kann. Da trat jemand neben mich und sagte: "Guten Abend!" Es war der junge Mann der Blonden. Er hielt mir seinen Spazierstock hin und sagte: "Entschuldigen Sie, meine Frau trug mir schon lange auf, Ihnen Ihren Stock zurückzugeben. Ich fand noch keine Gelegenheit: Sie lasen immer, und ich muß sagen, ich bin etwas eingeschüchtert durch Ihre Kameraden hier, so daß ich es von Tag zu Tag verschob, mich bei Ihnen für die Hilfe, die Sie meiner Frau in New York gaben, zu bedanken."

"Oh, oh, oh", konnte ich nur sagen, dann mußte ich über das Wort "Kameraden" nachdenken. Der Mann, dessen Frau ich eben im Geist wie ein Seeräuber raubte, war kein gewöhnlicher Mensch, er war etwas befremdlich Neues, Unerklärliches für mich. Er hatte sanfte, unendlich ruhige Augen, und jetzt, wo ich mich im Geist vor ihm wegen der beabsichtigten Entführung seiner blonden Frau schuldig fühlte, sah ich ihn ganz anders als auf dem Atlantdampfer "Prinzregent". Wahrscheinlich waren meine Augen durch die Erlebnisse der letzten Tage, durch den Todesschreck in New York, durch den Ekel vor den Falschspielern tiefsehend und ernster geworden, vielleicht auch ernster durch die Leidenschaft, die eben in mir für die Frau des kleinen Mannes aufkeimte, und ernster durch ein wenig Schuldbewußtsein, das ich dem Mann gegenüber empfand, weil ich meine Uhrkette in Gedanken stundenlang wie die Hände seiner blonden Gattin gestreichelt hatte.

Der Mann hielt dann plötzlich seinen Feldstecher vor die Augen und betrachtete die ferne dunkle Linie am abendlichen Horizont, die die Küste von Nordamerika war, an welcher wir nun fünf Tage schon entlang reisten.

"Präriebrand, Präriebrände", sagte er und gab mir das Glas zum Hineinsehen.

Rotfeurige gelbe Striche, darüber sich schwarze Linien streckten, wahrscheinlich die Rauchlinien in der Luft und Feuerlinien im Gras, standen auf Meilen dort an der Küste von Norden nach Süden.

Während ich noch durch den Feldstecher sah, sagte mein Gehirn zu mir unaufhörlich: "Ihre Kameraden", und ich fragte mich: sollten damit die Kerle gemeint sein, diese Falschspieler, die Raubmenschen?

Ich wurde bei diesem Gedanken an solche "Kameraden" in die beste Laune versetzt, gab den Feldstecher lachend zurück und sagte dem kleinen Herrn geradeheraus: "Haben Sie sich deshalb von mir ferngehalten, weil Sie die Räuber dort im Rauchsalon für meine Kameraden hielten? Ich nehme Ihnen das übrigens gar nicht übel; denn da Sie sich so entfernt von mir hielten, glaubte ich wiederum, daß Sie selbst zu diesen Leuten gehörten."

Wir lachten beide herzlich. Und nun war Freundschaft geschlossen, besonders, als sich mir die mystischen Artisten noch im Laufe dieses Abends beim Zusammensitzen unter dem Sternenhimmel als zwei europamüde studierte junge vorstellten. Er war ein junger Astronom. Sie war eine junge Holländerin, hatte in Paris Musik studiert und den jungen Deutschen, der zu Besuch bei Flammarion in Paris weilte, im Hause dieses Astronomen kennengelernt. Die beiden waren jetzt eben erst neu in England getraut und wollten über Mexiko nach Texas reisen, um dort die großen amerikanischen Sternwarten zu besuchen. Sie hatten nebenbei den kühnen Gedanken, wenn es ihnen in Mexiko gefallen würde, dort aus eigenen Mitteln eine Sternwarte zu bauen. In Mexiko, begünstigt von dem ewig klaren Himmel der Tropenzone, versprach sich der junge Astronom im jugendlichen Enthusiasmus, mit einer jungen schönen Frau an der Seite alle Einsamkeiten und Unbilden des fremden Kontinents leicht zu ertragen und sein ganzes Leben bei der Himmelsbeobachtung auf einer einsamen, selbst gebauten Sternwarte im Innern von Mexiko verbringen zu können.

Mir war, als wären die Sterne alle über dem wandernden Schiff jetzt auf einmal zu hübschen unschuldigen Kindergesichtern geworden. Wie ich dem jungen Ehepaar auf Deck in der Nacht gegenübersaß und mich wieder in der Nähe anständiger und wohlerzogener Menschen fühlte, schien mir das schwüle Schiffsdeck wie von einer frischen Brise reingefegt; Mexiko, vor dem mir schon gegraut hatte, wurde mir wieder lieb, und ich sah es wie mit den Augen der beiden träumenden Menschen an und sah die alten edlen Kulturen der Tolteken und der Azteken vor mir aufsteigen. Mir war, als verwandle die Gegenwart dieser ernst Strebsamen eine Räuberhöhle in einen Tempel.

Auch am nächsten Tag, als ich mit der blonden Dame sprach, fühlte ich mich von ihrer Wohlerzogenheit nur als ein wohlerzogener Kamerad ihrer Gedanken, und nicht als ein brünstig und heimlich Begehrender. – Und wer hat das fertiggebracht, fragte ich mich, wer konnte die heimliche Sinnenlust in offene Seelenlust verwandeln? Nur die Raubmenschen sind daran schuld, mußte ich mir antworten.

"Ihre Kameraden", hatte der junge Mann zu mir gesagt, als er mir meinen Stock reichte, und er hatte dies instinktiv richtig gesagt; denn ich war in derselben Sekunde, da er mich anredete, in meiner Seele und in meinem Herzen ein Raubmensch gewesen, wenn auch nur für Sekunden – ein Raubmensch oder Raubtier, so wie die Haifische da unten, die jetzt in der Nähe von Havanna in dunklen Umrissen unter dem Wasser unser Schiff umkreisten, und von denen man erzählt, daß sie Reisenden oder rudernden Matrosen beim Ausschiffen einen unvorsichtig über den Bootsrand ausgestreckten Arm abgebissen hätten, indem sich einer der Ungeheuer unversehens über die Oberfläche des Wassers aufschnellen ließ. Wie dieses gruselige Bild, so stand im Rückblick meine eigene Begierde vor mir, die Raubgier in mir, die um die junge Frau gekreist war, und die sich gerade angeschickt hatte, über die Oberfläche aufzuschnellen, um ein Stück von der Ahnungslosen an sich zu reißen.

"Ihre Kameraden." Dieses Wort war ein Spiegel, in den ich plötzlich hineinsah, und in dem ich meine Raubmenschenhaltung gewahrte, weil das Wort unschuldig ahnungslos und unbewußt in der Abenddämmerung aus dem Munde des Mannes klang, des glücklichen jungen Mannes, dem mein Raubanfall gegolten hatte.

"Aber wie kommt es," hatte ich das junge Ehepaar noch an jenem Abend gefragt, "daß Sie sich als Artisten in das Schiffsbuch des 'Prinzregent' eingeschrieben hatten, so daß die Offiziere und der Doktor Sie zum Varieté oder Zirkus gehörig betrachteten?"

Mit seiner eigentümlich melancholischen und verträumten Stimme sagte da der junge Astronom und streifte dabei mit einem lächelnden Blick seine Frau:

"Wir haben es wohl bemerkt, daß alle Leute auf dem 'Prinzregent' uns mit forschendem Blick beargwöhnten, konnten aber nicht verstehen, was diese Blicke hinter uns suchten. Da mir meine Pläne mit der Sternwarte heilig sind und ich sie vor der Ausführung nicht jedem Nächstbesten vertrauen wollte, und da wir uns nicht gerne unterwegs über den Zweck unserer Reise nach Mexiko ausforschen lassen wollten, habe ich es vermieden, mich als Astronom einzuschreiben. Weil nun meine Frau Musikerin ist und wir eben aus Paris kamen, wo das Wort Artist auf den Künstler im echtesten Sinn angewendet wird, schrieb ich ganz harmlos das Wort Artist hinter unseren Namen, um uns als Vergnügungsreisende, vielleicht als ein Malerpaar, welches Studienreisen machen will, auszugeben. Ich habe bei meinem langen Aufenthalt in Paris ganz vergessen, daß das Wort Artist in Deutschland eine Zweideutigkeit enthält und sowohl Künstler ernster als auch leichter Art bezeichnet."

Nach dieser Erklärung des jungen Astronomen hat nächst dem Wort "Kamerad" und jetzt das Wort "Artist" in den letzten Reisetagen zwischen Havanna und Vera Cruz viel Stoff zum Lachen gegeben. Und wir wurden besonders durch das Spielen mit diesen Worten immer vertrauter miteinander.

Auch den Raubmenschen, die uns noch immer auf diesem Schiff umgaben, habe ich es noch fortgesetzt zu verdanken, daß meine Freundschaft mit dem Ehepaar herzlich und dauernd wurde, weil uns jene abenteuerliche Umgebung enger zueinander drängte.

Einmal, zwei Tage ehe wir nach Mexiko kamen, als wir draußen vor Yukatan bei Progreso Anker geworfen hatten und die junge blonde Frau neben mir am Schiffsgeländer lehnte und ins Wasser hinunter sah und neben uns ein paar Matrosen sich den Spaß machten, die Haifische, die unser Schiff umkreisten, mit leeren Sardinenbüchsen zu füttern, da mußte ich plötzlich wieder das starkgoldene Haar der Holländerin bewundern. Es hob sich wie getriebenes buckeliges Gold von der dumpfgrünen Meeresfläche ab und war auf den von weißen Segeltüchern und weiß getünchten Wänden kreidig hellen Schiffsverdeck von so auffallender gelber Gegenwart, daß ich nicht umhin konnte, auszurufen:

"Ihr Haar, gnädige Frau, ist goldrot wie die Orangenschalen, die da unten im grünen Meer schwimmen!" Zugleich fiel mit schreckhaft ein, daß das Haar gefärbt sei, was ja damals die amerikanische Journalistin auf dem "Prinzregent" behauptet hatte. Aber es war zu spät. Ich konnte das Gespräch nicht mehr von dem heikeln und mir peinlichen Thema ablenken.

Schon sah die blonde Dame mich schnell an. Ich fühlte, was mir selten in meinem Leben passiert, daß das Blut mir in den Kopf schoß, und wußte, daß ich jetzt auf dem Schiffsdeck unter meinem weißen Segeltuchhut mit feuerrotem Gesicht vor ihr stand.

"Sie werden ja so rot," rief sie lachend, "als ob Sie etwas anderes hätten sagen wollen? Meinen Sie nicht auch, daß meine Haare gefärbt sind? O bitte, fragen Sie nur ruhig! Ich bin es schon so gewohnt, immer gefragt zu werden, mit welcher Tinktur ich mein Haar färbe. Auf dem letzten Dampfer, dem 'Prinzregent', kam sogar eine Amerikanerin, eine Journalistin, in meine Kabine, um mich über mein Haar zu interviewen. Ich habe mir das Vergnügen gemacht, die Dame etwas an der Nase zu führen und habe ihr, als sie mit Notizblock und Füllfeder vor mir saß, die unglaublichsten Pariser Tinkturen diktiert, die ich täglich vom Morgen bis zum Abend anwenden müßte, um mein Haar bei Farbe zu erhalten. Als Dreingabe zu ihrer Zudringlichkeit machte jene Amerikanerin am Schluß des Interviews noch die Bemerkung: 'Die Europäerinnen müssen viel Zeit haben, wenn sie dafür Sorge tragen müssen, daß sie nicht abfärben.'

Ich antwortete ihr daraufhin noch etwas boshafter: 'Ich finde, die Amerikanerinnen müssen noch mehr Zeit haben, wenn sie alle Geheimmittel Europas kennenlernen wollen und alle Menschen, um sich selbst zu verschönen, erst interviewen müssen.' Sie ging von mir in dem festen Glauben, daß ich gefärbtes Haar habe, und verstand gar nicht, daß ich mich im Geheimen gründlich über sie belustigt hatte. Ich bin aber sicher: sie ist sofort auf dem ganzen Schiff herumgegangen und hat es allen Herren und auch Ihnen erzählt, daß ich mein Haar färbe."

"Ja, das ist wahr, das tat sie," mußte ich bestätigen, "aber niemand hat es geglaubt, daß ihr Haar, gnädige Frau, nicht natürlich wäre. Denn ihr Gesichtsausdruck ist immer viel zu wahr, als daß Sie Ihr Haar lügen lassen könnten."

"Oh," fuhr sie erbittert fort, "ich hasse Amerika. Wenn mich auch das Gespräch mit der Amerikanerin belustigte, während ich sprach, war ich doch hinterher sehr aufgeregt über die inquisitorische Art jener Dame, die aus einem Lande kam, wo man immer mit dem Wort Freiheit protzt, und wo kein Privatleben geschont wird, keine Intimität, die jedem Gebildeten doch die höchste Freiheit bedeutet. Ich habe an demselben Tag noch krampfhaft weinen müssen; und an dem Tag, wo wir in New York landeten, wollte ich gar nicht an Land gehen, so nervös war ich gemacht von der Zudringlichkeit der Journalistin. Dieses Land, scheint mir, erzeugt nur Raubmenschen, wie Sie die Spieler hier nennen, die das Schiff unsicher machen während der ganzen Fahrt. Und ist nicht das Riesenunglück in New York, die brennende Hochbahn, wie ein gigantisches Raubtier über uns hergefallen? Oh, mein Herr, ich glaube, nur hier im Süden läßt sich Amerika ertragen, wo die versöhnlichere Sonne wärmere Menschen erzeugt." Und dann fuhr sie eifrig fort: "Ich freue mich so unendlich, wenn mein Mann und ich erst in einem stillen Land auf einer Berganhöhe bei unserer Sternwarte wohnen werden und ich das ganze Maschinendasein Europas und Amerikas über dem paradiesischen Dasein vergessen darf. Ich werde meine Violine spielen; und wenn mein Mann ruhig arbeiten kann, wird uns in Mexiko nichts mehr fehlen. Und wir werden dann glücklich sein in der selbstgewählten Einsamkeit, so glücklich, wie es einst die ersten Menschen waren."

Ich antwortete nichts, um nicht die schöne Frau in ihrer schönen Schwärmerei zu stören. Ich sah nur hinunter auf das graugrüne Meerwasser, wo hie und da unter der Oberfläche ein dunkler breiter Schatten, der Körper eines sich tummelnden Haifisches, am Schiff entlang glitt.

Raubtiere und Raubmenschen, dachte ich, umgeben uns überall, auch in der Einsamkeit, offenkundige und heimliche.

Als das Schiff am nächsten Nachmittag in Vera Cruz landete, wo wir am Kai durch die Drogengerüche, durch Scharen blau eingepackter Zuckerhüte gingen, vorbei an den Haufen praller Kaffeesäcke und entlang an Wänden aufgestapelter goldbrauner Tabakbündel, und das kleine Hafenstädtchen mit den weißen niederen Häusern hell am Meer lag und aussah, als wäre es aus weißen Stücken Würfelzucker aufgebaut – da wollte ich eben der Dame und ihrem Mann sagen: "Wenn dieses ganze heiße Land, die Tierra caliente, voll so guter Menschen ist wie voll guter süßer Gerüche hier am Hafen, dann kann ich mir schon ein seliges Einsamkeitsleben für Sie beide hier im Innern des Landes vorstellen."

Aber ich mußte mit dem Satz an mich halten, denn die junge Frau war ebenso wie ich vom ersten Schritt in das Land begeistert und fragte mich in einer Gedankenverbindung, die ihre Violine, ihre Einsamkeit und ihr Glück betraf, echt fraulich mitten unter Kaffe, Zucker, Tabak und Drogen:

"Kennen Sie vielleicht die Apollohymne, die man in Delphi ausgegraben hat? Sie ist auf einen Stein gemeißelt, und die Franzosen, die jetzt die Ausgrabungen in Delphi leiten, haben sie eben erst entdeckt. Mein Professor, der mir in Paris Harmonielehre gab, hat mir eine Abschrift davon besorgt und als Abschiedsgeschenk mitgegeben. Er hat mir die Apollohymne vorgespielt. Sie ist wundervoll und im Fünfvierteltakt geschrieben, was sehr selten ist. Wenn Sie uns auf unserer Sternwarte besuchen, werde ich sie bis dahin gelernt haben und sie Ihnen vorspielen."

Während sie noch sprach, waren wir aus dem Hafen um eine Ecke gebogen, und zu gleicher Zeit mußten wir alle drei, ihr Mann, sie und ich, uns die Nase zuhalten, denn ein pestilenzialischer Gestank wehte uns aus den offenen Gossen der holperig gestalteten Straßen entgegen – so scharf, so faulig und so fieberverpestet, daß wir den Atem anhalten mußten und kaum weitergehen konnten.

Und nicht genug damit – wir zögerten plötzlich auch weiterzugehen bei dem überraschenden und ungekannten Anblick von Hunderten von Aasgeiern, die alle Dächer die lange Straße hinauf dunkel schäumten. Erschreckend war der Anblick der kahlen Schädel und nackten Hälse dieser schwarzen Riesenvögel. Einige hopsten in den Gassen und suchten mit ihren hakigen Schnäbeln nach Abfällen. Sie waren groß wie ausgewachsene Adler und schauten ebenso furchtbar drein. Drei, vier zankten sich mitten auf der Straße, beanspruchten die ganze Straßenbreite für sich, schlugen mit den Flügeln um sich und kreischten dazu ohrenbetäubend und gellend. Andere schwangen sich von den Dächern herab, als wollten sie uns hinterrücks überfallen. Andere flatterten, die Luft peitschend, daß es sauste, die lange Straße hinauf, die leer im Mittagslicht lag, nur auf dem Gesimsen der flachen Dächer waren die Straßen belebt von den langen schwarzen Zeilen der menschengroßen Vögel, die unruhig ruckten, sich stießen und aufkrächzten. Es schien, als wäre die weiße Stadt ausgestorben und nur von schwarzen Aasgeiern bevölkert.

Haifische im Meere, Aasgeier in den Lüften und Fiebergestank auf der Erde – ich glaube, in dieser Raubwelt wir sich schwer der Friede zu einer Apollohymne finden, dachte ich. Aber ich sagte nichts, sondern trat hinter das schweigende Ehepaar und schritt auf schmuzigen glitschigen Stufen in ein kleines französisches Hotel hinein; das Haus war uns vom Kapitän empfohlen worden.

An meiner Schulter vorüber flog, ehe ich noch in der Tür war, durch das offene Speisezimmerfenster im Parterre ein Kotelettknochen in die Gassenmitte hinaus, und wie unter einem schwarzen Unwetter verfinsterte sich der Mittagshimmel, um mit höllischem Gekrächz stürzte ein schwarzer Knäuel von ungefähr fünfzig Riesenvögeln auf den armseligen Knochen. Eine wilde Balgerei, bei der die schwarzen Federn vor den weißen Häuserwänden in die Luft stoben, brach hinter mir los. Im Hausgang des kleinen Hotels kam ich mir dann vor, als hätte ich mich aus einer Schlägerei gerettet.

Während die junge Frau vorausging, flüsterte mir der Astronom ins Ohr:

"Es sieht nicht nach Apollohymnen hier aus – Raubwelt überall." – Nach Tisch ließ ich mich in ein Gastzimmer führen, um etwas auszuruhen, und als ich mich im Zimmer umsah, bemerkte ich eine dünne Sandschicht auf der Tischdecke, eine Sandschicht auf den Plüschmöbeln, grauen Sand, fein wie Streusand, überall. Sie schlug das Moskitonetz am Bett zurück, da sah ich auch das weiße Bett von einer grauen Sandschicht bedeckt. Der Zimmerboy erklärte mir, daß am Vormittag ein Sturmwind gewesen sei, und daß der Dünensand bei solchem Sturm durch die geschlossenen Fenster und geschlossenen Türen in alle Häuser in Vera Cruz eindringe.

In demselben Augenblick höre ich im Nebenzimmer, in welches sich das Ehepaar begeben hatte, um auszuruhen, ein leises Lamentieren, und dann kam der junge Astronom an die geschlossene Verbindungstür und rief mir durch das Türbrett zu:

"Denken Sie doch! Als wir eben unser Gepäck bekommen und meine Frau ihren Violinkasten aufmacht, ist der ganze Kasten voll von roten Ameisen. Die haben sich auf der Reise über das Kolophonium hergemacht, habe den ganzen Vorrat von Darmsaiten angenagt, und das dünne Holz der schönen Violine selbst ist in dem heißen Lagerraum auf der Seereise gesprungen. Das Instrument, das teure Instrument, ist unbrauchbar..." Ich hörte die junge Frau drüben leise weinen und sich die Nase schnauben.

Raubwelt überall! Das war der Empfang in der Tierra caliente.

3. Tierra caliente

Der junge Astronom und seine Frau wollten, wie ich, nach der Hauptstadt Mexiko. Um ein Uhr mittags saßen wir an der Station von Vera Cruz in den Waggons, von welchen es zwei Klassen gibt: eine, in der die Indianer reisen, und eine für die Europäer.

Die letzten Abkömmlinge der Azteken gingen auf dem Bahnsteig umher, in weißen Hosen und in einem weißen Hemd, das sie über den Hosen um die Hüften zusammenknoten, so daß der weiße Knoten vorn am Leib sitzt. Sie haben große breitrandige Sombreros auf aus weißem Stroh, in der Form von großen breiten Zuckerhüten, mit breitem Strohrand. Sie tragen die "Zerape", eine Wolldecke, bei kühlem Wetter über den Schultern. Dies ist ein gewebter, meist grellfarbig quergestreifter Teppichstoff oder auch nur eine rote Flanelldecke, in deren Mitte ein Schlitz ist, durch den sie den Kopf stecken, so daß der Stoff als ein Mantel vorn senkrecht wie ein Brett über die Brust und rückwärts senkrecht über den Rücken herabhängt. Alle Indianer gingen barfuß, und ihre Hautfarbe ähnelte dem Erdton von irdenen gebrannten Töpfen.

Diese groteske Welt der Indianer, die mit ihren spitzen hohen Hüten einer Herde altmodischer Zauberer glichen, wirkte befremdend, aber nicht so herausfordernd waghalsig wie im Europäerwaggon die Schar der reisenden Mexikaner, denen aus allen Taschen und aus den Gürteln die plumpen Kolben riesiger, in unserer modernen Zeit lächerlich aussehender Pistolen starrten. Im Nacken tragen sie mächtige Farmerschlapphüte; und so sahen diese Menschengruppen im Waggon wie die Schauspieler in jenem Akt der Oper "Carmen" aus, in dem die bis an die Zähne bewaffneten spanischen Schmuggler auftreten.

Uns, die wir als Neuzeitmenschen eben erst aus Ländern kamen, wo die Schaustellung von Waffen nur dem besoldeten Militär überlassen ist, wir Jüngsten, die wir schon den Spazierstock als ein Rudiment eines vergangenen Jahrhunderts betrachten, die höchstens in einer verborgenen Seitengasse eine kleine Schußwaffe in Westentaschenformat geheim bei uns tragen – wir mußten immer wieder auf die mit Revolverkolben gespickten Lendentaschen und Ledergürtel der mitreisenden Männer schauen und wußten nicht, ob diese Waffenmaskerade nur harmlose Eitelkeit oder pulverstinkenden Ernst bedeutete.

Der Astronom, seine Frau und ich, wir sahen uns an und redeten nur mit den Augen miteinander, indem wir uns mit langen Blicken auf die uns umgebenden Mordinstrumente und ihre Besitzer aufmerksam machten.

Der Zug stieg immer bergan, denn die Hauptstadt Mexiko liegt achttausend Fuß höher als Vera Cruz. Wir sollten am Abend auf halbem Weg in Orizaba ankommen, von wo der Zug in der Nacht nicht weiterging. Alle Reisenden mußten dann dort übernachten und konnten am nächsten Vormittag erst weiter fahren, um abends in der Hauptstadt Mexiko anzukommen.

Draußen vor den Waggonfenstern stand jetzt stundenlang nur Urwald, monotones graugrünes Unterholz, trostlos, farblos. Keine farbigen Blumenmatten, nirgends eine einzige Blüte; nur ein meilenweites, eintöniges graues Blättermeer, hie und da unterbrochen von einem weitarmigen Riesenbaum, der sich über das Unterholz hob und auch keine andere Farbe als das freudlose Graugrün zeigte.

Gedrückt, als läge die Hitze wie ein Ballast sichtbar auf den Blätterschichten, schoben sich die Wälder gleichwie die flachen Strandwellen eines grauen Blätterozeans an den langgedehnten Gebirgslinien hin. Der Zug mußte durch viele Tunnel, und die Bahn geht an Urwaldabgründen entlang, die alle von den regungslosen, starr stillhängenden blaugrauen Blättern und von wüstem Gestrüpp angefüllt sind.

An einer Station mit zwei, drei Häusern, die in zierlichen Kaffeeplantagen und Zuckerrohrfeldern lagen, begann es zu regnen; dicke Tropfen fielen, wie Taubeneier groß. Und sofort dampften die vielen Wälder, als bestände der Boden aus überhitzten Herdplatten, auf denen der Regen sogleich zu Dampf würde. Die treibhauswarmen Nebelschwaden beklemmten unseren Atem. Wir mußten die Waggonfenster schließen und fuhren dann in einer blinkenden Nebelwelt, hörten nur an den Echos der rasselnden Eisenräder, daß wir an Gebirgswänden vorbeidonnerten, an hohlschallenden Abgründen und durch weißen, heißen Dampf, als hätte der Zug die Erde verlassen und führe in einem bodenlosen heißen Luftraum.

"Die Regenzeit hat angefangen. Gestern war der erste Regentag", sagte uns der Schaffner. "Nun wird es ununterbrochen drei Monate regnen, erst täglich eine Stunde, dann zwei, drei, vier, fünf Stunden. In den ersten Monaten der Regenzeit nimmt der Regen stundenweise zu und in den letzten ebenso wieder stundenweise wieder ab. Man weiß täglich ganz genau, wann der Regen beginnt und wann er aufhört. Und wenn sich die Leute in der Hauptstadt Mexiko nachmittags besuchen wollen, fragen sie sich erst am Tag vorher:

'Ist es Ihnen angenehmer, wenn ich eine Stunde vor oder nach dem Regen zu Ihnen komme?'" –

Wieder sahen wir drei uns mit den Augen an und sprachen schweigende Worte. Nur die junge Frau fing plötzlich hellauf zu lachen an und fand, wir Herren machten Gesichter, als wenn wir einem Begräbnis beiwohnten, und nicht unsern Einzug hielten in ein neues Land.

Ich fühlte mich jetzt schon bei den beiden Eheleuten durch die schweigende europäische Zusammengehörigkeit wie ein altangestammtes Familienmitglied, wie ein Bruder oder Schwager. Und als wir so stundenlang hinter den erblindeten Fensterscheiben des Waggons beieinander saßen, nichts sahen und immer nur durch den Tropennebel fuhren, und als wir nacheinander zu gähnen begannen und einander immer wieder mit neuem Gähnen ansteckten, da entfuhr plötzlich dem jungen Astronomen der Ausruf:

"Herrgott, hier in dem tropischen Nebelland werde ich ja nie einen Stern zu sehen bekommen! Ich wünschte, ich wäre wieder auf dem Schiff und führe nach Europa zurück!"

"Ich wünsche das nicht", sagte die junge Frau ein klein wenig trotzig. "Ich bin froh, daß ich nach neuntägiger Seefahrt festes Land fühle. Ich bin lieber wieder in Wäldern als unter Haifischen, und überhaupt ist der Wechsel im Leben schön. Mir gefällt es sehr gut in Mexiko; wenn du mir in der Hauptstadt eine neue Violine kaufst, fehlt mir hier gar nichts; ich liebe diese unheimliche Treibhausluft, die einem das Gefühl gibt, als müßten hinter dem Nebel riesengroße, mächtige Blumenkelche stehen, die sich nicht rühren, und die wie die Götter des Landes sich von den Leuten besuchen lassen und anbeten."

"Mir gefällt es hier nicht", antwortete ihr Mann. "Ich wünschte, ich wäre wieder in Europa; ich glaube, ich sehe Europa nie mehr wieder."

"Ach, warum sagst du das! Ich habe eben noch das Gefühl gehabt, als wäre Europa draußen manchmal da, wenn ich es wünsche und der Treibhausblumen müde bin; und wenn der Tropennebel einen Augenblick verfliegt, dann glaube ich immer: jetzt taucht vielleicht wieder eine europäische Stadt auf."

"Du spielst mit der Wirklichkeit wie mit den Träumen; aber ich sehe immer nur Wirklichkeit, überall Wirklichkeit, die sich berechnen läßt, abmessen und addieren. Ihr Frauen seid glücklicher als wir Männer. Ihr seht einfach nicht, was ihr nicht sehen wollt, und damit basta!"

Ich hatte meine Augen geschlossen und hörte wie aus weiter Ferne das Gespräch der beiden und mischte mich nicht in den Meinungsaustausch der Neuvermählten.

Aber ich mußte im stillen dem jungen Astronomen recht geben. In diesem Tropenland, unter den Revolverträgern und unter den Indianern, die jeden Bahnsteig jeder Station, die wir durchfuhren, anfüllten hatte auch ich das Gefühl, als ob Europa von der Erdkugel abgelöst sei, als ob eine geregelte europäische Welt gar nicht mehr existieren könnte; es ließen sich die beiden Kontinente Amerika und Europa gar nicht mehr miteinander vergleichen, so daß man ängstlich wurde und so wie der Astronom glauben konnte, Europa wäre niemals mehr zu erreichen.

"Jetzt schlafen sie drüben", hörte ich die junge Frau sagen. "Zu denken, daß wir hier immer dann Tag haben, wenn drüben Nacht ist, und daß mein Professor in Paris jetzt immer schläft, wenn ich seine Hymne, die Apollohymne, üben werde!" Da mußte ich die Augen öffnen. Wir sahen uns wieder an und mußten alle drei in ein herzliches Lachen ausbrechen über den Gedanken der jungen Musikerin, die sich grämte, daß Europa samt dem Harmonieprofessor jedesmal schlafen werde, wenn sie die Apollohymne den Geistern der abwesenden Europäer spielen wollte.

"OH!" riefen wir dann alle drei zugleich bewundernd. Denn an der Station, wo eben der Zug hielt, stieg eine vornehme junge Dame ein, ein schöne Spanierin, und mit ihr kam ein älterer, schwarz gekleideter Abbé, der, sehr männlich, stattlich und selbstbewußt wie ein gewandter Kavalier, der Dame bei Einsteigen half und dann bei ihr saß und sich so lebhaft in spanischer Sprache mit ihr unterhielt, daß wir gähnenden drei das lebhafte Paar um seine gute Unterhaltung und Laune beneideten.

"Eine entfernte verwandte des Präsidenten der Republik Mexiko", flüsterte mir der Schaffner im Vorübergehen zu, "und ihr Beichtvater."

Nun hatte ich keine Luft mehr, mit geschlossenen Augen in der Ecke zu lehnen. Das Gesicht dieser Dame leuchtete wie der vornehme Kelch einer Tropenblume, die jetzt aus dem Nebel draußen aufgetaucht wäre, und die Mexikanerin erschien mir wie eine Göttin des Landes, die die Blicke der Leute anbetend zu sich kommen ließe, so, wie es vorhin die junge Astronomenfrau schwärmerisch prophezeit hatte. –

Trotzdem ich wußte, daß ich unhöflich war, mußte ich die große Schönheit immer anstarren. Leider wird es nach sechs Uhr in den Tropen gleich dunkel; und dann konnte ich im schlecht beleuchteten Waggon die schöne Mexikanerin nur noch schwach sehen. Oft mußte ich jetzt im Halbdunkel beim Anblick der großzügigen Augenbrauen, die sich in dem südlichen blassen Gesicht gescheit und hochherzig wie zwei kleine Torbogen wölbten, an die intelligente Österreicherin im Lodenmantel drüben in Europa denken. Es war, als säßen die Augen jener blassen, werdenden jungen Mutter mir auch hier gegenüber. Es war eine ähnliche Sorge, ein ähnlich stark sich zusammenraffender Wille in dem Augenausdruck dieser jungen mexikanischen Dame, ähnlich dem Unglücksausdruck jeder Frau im Lodenmantel, jenseits des Atlant. Vielleicht wären beide Zwillingsschwestern, eine jenseits, die andere diesseits des Meeres, Zwillingsschwestern eines und desselben Unglücks oder einer und derselben verhängnisvollen Zukunft, dachte ich.

Ich konnte aber dabei nicht ahnen, daß ich wenige Monate später hier in Mexiko persönlich Zeuge des hereinbrechenden Unglücks sein sollte, welches diese junge Mexikanerin traf; und daß jenseits des Wassers die Dame im Lodenmantel in demselben Jahr wie diese Mexikanerin untergehen würde.

Wie ich noch über die Ähnlichkeiten, die ich entdeckt hatte, nachdachte, kam ein tiefes Seufzen von den Lippen der blonden Astronomenfrau, ein Seufzen, das klang, als ob ein Schlafender unter einem Traumalp gequält aufseufzen müsse.

Die junge Frau hatte die Augen seit einer Weile geschlossen und schlief, mit dem Kopf an die Schulter ihres Mannes gelehnt. Jetzt aber wachte sie auf, sah sich im Halbdunkel nach mir um und hatte einen weltfernen Ausdruck. "Ist etwas passiert?" fragte sie mich leise, da sie sah, daß auch ihr Mann eingeschlafen war. "Sie machen ein so ernstes Gesicht, und ich habe eben geträumt, wir wären auf einem Schiff, das uns nach Europa zurücktrug, aber mein Mann wollte nicht warten, bis wir ans Ufer kamen, sondern er sprang ins Wasser und lief dem Schiff eilend über das Wasser voraus. Sie und ich standen nebeneinander auf der Schiffsbrücke und riefen ihm nach, er solle aufs Schiff kommen. Aber er hörte nicht und lief von uns fort, so daß ich ganz verzweifelt war. – Oh, ich bin so froh, daß nichts passiert ist, und daß er hier so ruhig schläft. Aber Sie sehen so ernst aus, als ob die Welt untergeht."

Der Zug pfiff jetzt grell, und die Hotelboys aus Orizaba sprangen, als der Zug in die Station einlief, von draußen in die Waggons herein und riefen die Namen ihrer Hotels aus. Es war jetzt eine sternenhelle Tropennacht draußen.

Der Astronom wachte auf und freute sich über die Helle. Wir einigten uns mit einem Hotelboy über Zimmer in seinem Hotel. Erst hinterher fiel es mir ein, daß ich in dem Hotel, wo jene Mexikanerin abstieg, hätte Zimmer nehmen sollen.

"Sie ist bei einem Pferdekauf gewesen", erklärte mir der Schaffner, "sie hat sich auf einer befreundeten Hazienda ein Reitpferd gekauft. In der Hauptstadt ist sie als eine der besten Reiterinnen bekannt."

Bei der Ankunft in Orizaba, als das Astronomenpaar zum Hotel vorausging, blieb ich noch einen Augenblick zurück, um das Reitpferd, ein isabellenfarbenes Prachttier zu sehen, das man aus dem Güterwaggon ausladen sollte. Die Spanierin und ihr Beichtvater standen nur ein paar Schritte von mir entfernt. Während die Arbeiter den Wagen des Pferdes aufschlossen, streichelte die Dame die Nüstern des Tieres, das den Kopf zu ihr herausstreckte.

Das Pferd wieherte. Der Abbé aber sagte rasch zu der Dame ins Ohr und sah nicht, daß ich hinter ihm stand: "Also, es ist bestimmt: wenn wir morgen abend in Mexiko ankommen, dann brechen Sie alle Beziehungen zu ihm ab. Ich werde ihn besuchen und ihm Ihre Absicht mitteilen. Fürchten Sie nichts!"

Der Abbé sprach laut, als ob er noch das Räderrasseln des Zuges in den Ohren hätte.

Nachdem ich so unfreiwillig eine intime Mitteilung gehört hatte, fürchtete ich, indiskret zu sein, wenn ich stehen bliebe, um das Pferd zu erwarten. Ich zog mich hinter dem Rücken der beiden lautlos zurück und eilte nach meinem Hotel, von einem Indianerburschen geführt. Der Indianer lief lautlos wie mein Schatten vor mir her, durch die mondhellen, todstillen Straßen des mitten in hohen Bergen gelegenen Städtchens Orizaba. Ich sah im Mondschein die weiße Zuckerhutspitze des beschneiten Kraters, des Orizaba Peak, und andere Kuppelberge voll Urwald, deren Blätterherden wie blaue Stahlpailletten im Licht glitzerten. Dazu hatte ich in den Ohren das Flügelwetzen der Zikaden, der Milliarden Insekten in den Gärten und Feldern ringsum und um mich das Getrommel und Geschnarre riesiger Posaunenfrösche und das Geschwirr eifriger Käfer, die wie irrsinnig wild über die mondhelle Straße fortstürzten, as kämen sie verzückt von einem Bacchanal, und als wollten sie Menschen und Bäume und Häuser umrennen. Die Luft war angefüllt von den Säuredünsten großer Nachtblüten, und alle Bäume und Blüten mischten ihre Gerüche wie zu einem nervenaufstachelnden, berauschenden Gebräu, das einen jeden überschwemmte, als wäre die Nacht bis hoch an die Sterne ein wollüstiges Rad, zusammengegossen aus elektrischen Blütenessenzen.

Die ersten Schritte in das aufgeregte tropische Nachtleben sind für den Europäer so befremdend, als ob ihm plötzlich alle Hirngespinste einer sonst nur in der Phantasie existierenden Unterwelt entgegenkämen. Es scheint, als hätten sich alle Poren der Erde geöffnet und schickten Liebesseufzer und lüsterne Rufe und bestrickende Versprechungen und hitzige Beschwörungen in die Lüfte. Alle Verbote, alle Fesseln, die das Tageslicht und die Tagessymmetrie erfunden haben, müssen einer Verzückung weichen, die sich in den Tropen sofort mit der Dunkelheit einstellt. Jeden Abend, Sommer und Winter, wenn die Sonne um sechs Uhr untergegangen ist, eröffnet die tropische Nachtwelt ihr Riesenbacchanal, das deine fünf Sinne bestürmt, und das deine Tagesgedanken über den Haufen wirft mit den tausend wollüstigen Düften, mit den riesigen, unruhigen Sternbildern, mit den Myriaden von Leuchtfliegen, die dich umkreisen, mit dem unterirdischen Gelächter, unbekannter Nachtvögel und mit dem langgezogenen Geheul unbekannter Raubtiere, so daß der Verstand deiner fünf Sinne in einen Irrsinn gerät und du dich nach Betäubungen sehnst, die dir am Tage fernliegen.

Dieser mir unbekannte Reichtum der Tropennacht, den ich bisher nur vom Hörensagen her kannte, ließ mich in dieser Nacht im Hotel nicht schlafen. Die Zimmer in den mexikanischen Häusern haben keine Fenster nach der Straße, überhaupt keine Fenster. Sie führen in allen Etagen auf Veranden, die rund um eine Art Gartenhof liegen. Und jedes Zimmer erhält sein Licht nur durch die Tür, die von der Veranda hereinkommt.

Mein Zimmer lag im ersten Stock, und durch die Glastür schien der Mond in das kalkweiße Gemach. Ich hatte die gläsernen Türflügel offen gelassen, und draußen lebte die laute Tropennacht. Mexikanische Nachtigallen, die unten im Hof in Käfigen an den Wänden hingen, trompeteten und pfiffen so laut wie Dampfersirenen und Lokomotivenpfeifen. An einen Schlaf war schon des Lärmes wegen nicht zu denken. Aber hätte ich denken können, daß es für den Europäer überhaupt nur schlaflose Nächte in diesem Lande gibt, und daß ich nicht eher einen ruhigen Schlaf genießen würde, als bis ich wieder in einen Dampfer zurück nach Europa bestiege?

Wir glauben immer, wir Neuzeitmenschen: wir nehmen ein Billet, kommen in ein Land, essen, schlafen, trinken dort und kommen wieder zurück. Aber wir bedenken nicht, daß uns kein Billet, keine Eisenbahn, kein Schiff in ein anderes Land bringen kann. Wir selbst, unser Körper, unsere gewohnte Art zu empfinden, unsere Art zu denken – nichts von uns kommt jemals in einem fremden Land an.

Ich bin später nach dieser mexikanischen Reise auf vielen, vielen Schiffen und vielen, vielen Eisenbahnen nach vielen, vielen Ländern rund um die Erde gereist. Aber immer, wenn ich wieder in die Heimat komme, nach Europa zurück, dann weiß ich, daß ich nirgends war.

Wohl kommen mit unseren Kleidern unsere Knochen, unsere Muskeln, unser äußerlicher Apparat in fremden Ländern an, aber nicht unsere Denkkraft, nicht unsere Herzwelt, nicht die Jahrtausende von heimatlichem Vorleben, die wir im Blute haben.

Jedes neue Land benutzt unseren körperlichen Apparat und beachtet nicht, was wir waren, und nicht, was wir sein wollen. Jedes fremde Land will uns vollständig zu etwas Neuem umwandeln, und es fragt uns nicht, ob wir dabei mittun wollen oder nicht – es verwandelt uns. Es verwandelt das, was von uns an der fremden Küste angekommen ist, zuerst die Kleider, dann die Haut und den Leib, aber niemals die Herzwelt in uns. Jedes Land ist wie ein Theaterstück, das seine eigenen Rollen austeilt; und das Stück, das in der Heimat spielt, ist nicht dasselbe, das in Mexiko gespielt wird. Vieles, wovon ich hier schreibe, sagte ich mir in der Nacht meiner Ankunft, in der ersten Tropennacht meines Lebens. Ein Land hat die Eigentümlichkeit, daß es nur Tragödien spielt, nur tragische Rollen austeilt. Ein anderes Land spielt nur Idyllen, ein anderes liebt das große Pathos, ohne Intimität...

Mexiko ist tragische gestimmt, mit einem Einschlag ins Dämonische, ins Phantastische, und immer mit der Endnote der Grausamkeit. Diese Erfahrung erlebte ich nicht an mir allein, sondern sie lag in der Luft des Landes, auf allen Gesichtern, in seiner Geschichte. Und ich habe niemals, in keinem Land der Welt, wieder ein solch grimmiges Heimweh nach Europa empfunden vom ersten bis zum letzten Tage wie auf dem vulkanischen Boden Mexikos, wo täglich Erdbeben zittern, wo Städte plötzlich in einer Nacht untergehen, von deren Untergang nie die Kunde nach Europa kommt; wo sich gigantische Grausamkeiten abspielen, von denen Europa nichts ahnt und nichts erfährt.

Während meines kurzen Aufenthalts von fünf Monaten war ich hier der Zeuge eines der unheimlichen Dramen, das in engster Beziehung zu jener Verwandten des Präsidenten stand, die ich am ersten Tag in der Eisenbahn getroffen hatte – eines Dramas, das seinen Abschluß vor Gericht fand, wobei vom Richter der Hauptstadt Mexiko zwanzig Todesurteile gesprochen werden mußten. Davon sollen die folgenden Kapitel handeln.

Heiße Erde – Tierra caliente – nennt man den Landstrich, die Hitzezone, die von Vera Cruz bis zur halben Weghöhe nach der Hauptstadt Mexiko hinaufreicht. Aber Tierra caliente mußte ich für mich das ganze Land nennen. Denn nirgends auf der Welt brannte unter meinen Füßen der Boden so von Schrecknissen. Es ist, als hefte sich an jeden Fremdling hier in diesem alten Goldland der Fluch, den das Gold in sich trägt. Es scheint hier, als sei das unschuldig gewordene Blut der Azteken, welche der Goldgier der Europäer erlagen, heute noch nicht genügend gerächt, als verfolgte jeden Europäer hier die Rache des beleidigten uralten Volksgeistes dieses Landes. –

Die mexikanischen Nachtigallen johlten vor meiner Schlafzimmertür unterhalb der Veranda. Es schien mir plötzlich, als wären es nicht die Kehlen liebessehnsüchtiger Singvögel. Es klang, als wären die Vögel hier in diesem Lande zu spottenden Teufeln geworden, die den fremden Eindringling auspfiffen – so höllisch war ihr Signalpfeifen. Und ich bedachte schlaflos, wieviel eingeborenes Leben einst von den europäischen Fremdlingen, den Spaniern, hier niedergemetzelt wurde, um Schiffsladungen von Goldbarren dem Lande zu rauben und nach Europa zu schicken. Darüber schrien heute noch die Nachtvögel.

In den Dschungeln des mexikanischen Urwalds sollen sich noch große verschollene Aztekenstädte versteckt befinden, vom Blättermeer verschlungen; und Täler, in denen noch die reichen Tempel und Schlösser der Landeskönige stehen, sollen von den Indianern zugemauert sein. Die Indianerinnen, die heute an den Stationen erschienen und schweigend auf einem grünen Blatt etwas gehacktes Fleisch oder ein paar dürftige Maiskuchen den Reisenden anboten, sahen verschlossen wie beleidigte Erzengel aus, arm wie darbende Heilige. Ihre blauschwarzen Haare sind in der Mitte des Kopfes glatt gescheitelt wie die Frisuren der italienischen Madonnen. Die blauen Leinwandtücher, in die die Indianerinnen den Körper einwickeln, sind schlicht und einfach und bescheiden. Die Frauen gehen an dem eisenstampfenden Bahnzug entlang, wie von ihrer Einfachheit und ihrer landeseingeborenen Natürlichkeit unsichtbar gemacht, und sind wehrlos adelig in der Haltung.

Aber aus ihrem schwarzen, unergründlichen Auge sieht dich die Trauer eines ganzen Volkes an, eines Naturvolkes, das unter den Fremdlingen, die mit Eisen gegen das Gold kämpften, fremd im eigenen Mutterlande geworden ist. Es tat mir später hier in der Seele weh, die im Boden eingewurzelten Indianervölker zu sehen, die von der Brutalität der Geschäftsgier des Europäers erstickt werden, und die einst ein Reich hatten, wo das Gold der Alltagsschmuck des Landes war; oh, es war schmerzlich, die Schweigenden zu sehen, die jetzt nur geduldet und geduldig neben den Schienengleisen der rasend reisenden Fremden leben, und die einst nichts Böses taten, als daß sie zufrieden lebten und die Europäer vor Hunderten von Jahren vertrauend und liebenswürdig empfingen.

Mir wurde unheimlich vor mir selbst. Ich schämte mich fast, daß ich einem Kontinent angehörte, aus dem alles Unglück und alle Ungerechtigkeit über das Land Mexiko und sein Volk gekommen war. Mir war vom ersten Tag bis zum letzten hier vor den alten Göttern des Landes unheimlich zumut, da ich wußte, daß sie alle hassen mußten, die aus Europa zu ihnen kamen. Und ich fühlte auch, wie mich Schrecken und Gefahren hier stündlich zu vernichten suchten, als ob Tag und Nacht die mexikanische Luft von Rachegeistern wimmelte.

Am nächsten Morgen, nach der ersten schlaflosen Nacht in dem schlaflosen Lande Mexiko, ehe die "messingblonde Frau" (wie ich im Geist die Astronomenfrau immer nennen mußte) mit ihrem Mann und mir den Zug zur Hauptstadt Mexiko am Bahnhof von Orizaba bestieg, gab es noch eine aufregende Bahnhofsszene, in der die schöne Mexikanerin uns allen das Leben rettete.

Der Zug stand dampfend auf dem Schienengleise am Bahnsteig, wo viele Reisende sich mit ihrem Handgepäck drängten. Plötzlich entsteht ein Gemurmel. Ein paar gestikulierende Beamte rufen, ein paar Männer stoßen sich durch die drängenden Reisenden. Ich bemerke, daß die stillstehende Lokomotive auffallend viel Geräusch macht, und daß aus allen Fugen und Nieten sich Dampf herauspreßt; aber ich werde erst durch die blassen Menschen, die alle vom Zug fortdrängten, aufmerksam, daß Gefahr im Anzug ist.

Die junge Mexikanerin und der Abbé traten im gleichen Augenblick aus dem Wartesaal auf den Bahnsteig. Es hatte sich ein großer freier Raum vor dem Zug gebildet. Die Leute deuteten nur von fern auf die Lokomotive, die jetzt wie ein lebendes Wesen mit ihrem mächtigen Eisenleib zu zittern begann, als würde sie geschüttelt. Der Lokomotivführer war nirgends zu sehen, und das Bahnpersonal war fortgestürzt, um Heizer und Lokomotivführer zu suchen, die sich wahrscheinlich in irgendeiner nahegelegenen Indianerkneipe betranken. Ich sehe, wie die Mexikanerin die Lokomotive betrachtet und einen Augenblick später dem Abbé ihre Handtasche und ihren Bambusfächer reicht; dann geht sie ruhig, mit den festen Augen einer Tierbändigerin, zu der heftig zitternden Maschine hin. Sie klettert hinauf, und – ich weiß nicht, welcher Schreckensruf mir plötzlich entfuhr. Ich rufe irgend etwas und springe zu ihr, um sie von der Lokomotive zu reißen, die jeden Augenblick explodieren kann, und deren Vorderteil ab und zu bereits so heftig wie ein sich schüttelndes Tier auf den Schienen krampfhaft einige Zoll in die Höhe springt und dröhnend wieder niederfällt. Der Lärm des Dampfes war dabei ohrenbetäubend, und die Hitze des Maschineneisens und die Dampfschwaden, die wie weiße Gebläsestrahlen nach allen Richtungen schossen, waren so heftig, daß ich nicht begreife, wie die junge Mexikanerin und ich nicht beide über und über verbrüht wurden.

Sie hatte aber, ehe ich sie noch faßte, die Ventile geöffnet, und aus dem überheizten Kessel stürzten befreit die Dampfsäulen. Ein paar Sekunden später klatschte der ganze Bahnhofsaal, der voll von flüchtenden Reisenden war, stürmisch Beifall.

"Wie konnten Sie das?" fuhr ich sie mitten im Beifall an; und sie sah mich erstaunt an wie eine Dame, die von einem scheuen Reitpferd springt und gar nichts von Furcht empfunden hat.

„Ich habe als junges Mädchen auf der Hazienda meines Vaters öfters die kleine Strecke der Lokalbahn mit dem Lokomotivführer zusammen auf der Maschine zurückgelegt.“ Sie lachte mich an, als hätte sie plötzlich entdeckt, daß es lustig wäre, mit mir zu plaudern. „Was war denn jetzt dabei? Das war gar nichts, das da; es war nur nötig, daß man die Ventile verstellte – jetzt ist der Dampf draußen. Komisch war es, wie die Maschine hopfte“, so plauderte sie immer lachend, als wären wir alte Bekannte.

Dann saßen wir bald alle im Zug, und natürlich reisten wir bis zum Abend im gleichen Kupee, und ich hatte das Vergnügen, nach dem Schrecken mit der jungen Mexikanerin zusammenzusitzen und weiterplaudern zu dürfen. Nur die beiden alten Bekannten von mir, der Astronom und seine Frau, hatten sich etwas abseits gesetzt, und die messingblonde Frau schien mir immer ernster zu werden, je mehr wir uns der Hauptstadt Mexiko näherten, indessen ihr junger Gatte nervös und schweigsam in seinem Reiseführer durch Mexiko stundenlang blätterte, ohne viel zu lesen.

Noch ein kleiner Zwischenfall am Nachmittag beschloß die Kette der Überraschungen, die mir so reichlich vor der Ankunft in der Hauptstadt zuteil wurden, die aber nur erst das Präludium zu einem großen Konzert von aufregenden Zeiten für mich bedeuteten.

An einer Station, wo Mittag gegessen wurde, hatten sich einige Herren aus anderen Wagenabteilen zusammengetan, und ein paar kamen mit großen Sträußen aus Tropenblumen, weißen Tuberosen und rosa Gartenrosen zu der mutigen Mexikanerin, um ihr eigens den Dank einiger Reisenden mit echt spanischer Grandezza, wie ich dachte, auszudrücken. Diese Ovation war hier in Mexiko übrigens nicht so auffallend, wie es klingen mag, wenn man es in Europa wiedererzählt; denn diese Station, an welcher Mittag gehalten wurde, war dafür bekannt, daß sich in der Nähe große Blumenplantagen befanden. Auch die anderen Reisenden kauften radgroße weiße und rosa Tropensträuße, die man an den Decken der Waggons befestigte, und die während der Nachmittagsfahrt dann wie lebende Blumenbaldachine über den Köpfen der Damen schaukelten.

Während die Herren mit den Blumensträußen der Mexikanerin ihre Aufwartung machten, stand ich auf und schlenderte mit dem Abbé draußen auf dem Bahnsteig ein paarmal auf und ab; auf einmal fiel mir auf, daß unter jenen Herren einer jener „Raubmenschen“, einer jener Kartenspieler, gewesen war, den ich nicht gleich wiedererkannt hatte. Der Abbé war wieder eingestiegen; und von einer plötzlichen bangen Ahnung erfaßt, stand ich im Begriff ebenfalls wieder einzusteigen, als der Abbé schon seinen erschrockenen Kopf aus dem Kupeefenster zu mir herausstreckte und rief: „Die Handtasche der Dame ist verschwunden!“ Ich weiß nicht mehr, warum ich instinktiv ans andere Ende des Waggons eilte und einen andern Weg zum Einsteigen wählte; mir war, als könnte ich den Dieb packen. Da ich sehr groß bin, konnte ich im Entlangeilen am Waggon in die Fenster schauen und bemerkte nun auch das Gesicht jenes verdächtigen Bekannten vom Schiff, der zugleich auch mich sah. Er steht drinnen im Mittelgang des Wagens. Wie ich eintrete, macht er mir Platz, grüßt plötzlich geschmeidig höflich und gleitet an mir vorüber hinaus. Da kommt auch schon der Abbé mir entgegen und deutet auf die Bank, welche jener Herr eben verlassen hat. Da stand dicht am Kupeeausgang die Tasche der Mexikanerin auf der Bank. Jener Mensch hatte sich wahrscheinlich von mir beobachtet gesehen und war geflohen, da es ihm nicht mehr möglich war, die Tasche weiterzutragen. Als er den Abbé von der einen und mich von der andern Seite suchend eintreten sah, ließ er die Tasche stehen, als wenn sie ihn nichts anginge, und verließ den Wagen. Er war dann auch auf der Weiterfahrt nicht mehr zu entdecken.

„Die ganze Komödie mit der Überreichung des Buketts war nur eine abgekartete Diebesgeschichte jener Gauner“, sagte sofort der Abbé. „Man wollte die Aufmerksamkeit der Dame von ihrer Handtasche ablenken, da man uns wahrscheinlich auf der Wechselbank in Drizaba beobachtet hat, wo wir Geld erhoben. Das ist Mexiko!“ Und ahnungsvoll fügte der alte, erfahrene Kirchenherr hinzu: „Wenn Sie lange hier sind, werden Sie vielleicht noch ganz andere Dinge erleben.“

Ich konnte aber freilich nicht ahnen – und er wahrscheinlich auch nicht, als er dies sagte –, daß derselbe freundliche Abbé bei diesen „ganz anderen Dingen“ wenige Monate später sein Leben einbüßen würde. –

Es war früher ein alter, hartnäckiger Charakterzug bei mir, der sich jetzt aber mit dem Alter verloren hat, daß ich mich, wenn Frauen leidend aussahen, in meinem Herzen verpflichtet fühlte, mich ihnen zu nähern und sie zu lieben, ob ich wollte oder nicht – und wenn ich damit auch einer anderen lachenden Dame, der ich eben noch großes Interesse gezeigt hatte, weh tat und sie vernachlässigte. So geschah es noch an diesem Nachmittag, daß ich mich wieder zu der messingblonden jungen Frau hinsetzen mußte, die so trübselig und totenstill in der Waggonecke saß und in die öde Hochebenenlandschaft starrte – in diese Landschaft, die draußen ohne Bäume und ohne Wälder, nahe der Hauptstadt Mexiko nur mit steifstacheligen Agavenpflanzungen besetzt, vorüberflog. Die Agaven, die so starrsinnig in die leere Luft stachen wie Reihen von kaltbläulichen Eisblumen, die fleischige Körper bekommen hätten und regungslos mit den kalten, ungeschlachten Körpern nichts anzufangen wüßten. Die arme Blonde sah aus, als wäre ihr europäisches Herz von dem neuen, fremden Land so zerbrochen und von Ameisen zernagt wie ihre arme europäische Violine im Geigenkasten, der bei ihrem Handgepäck eben im Netz des Waggons lag. Welch ein Kontrast, sagte ich mir: alle diese Kerle, die da um uns mit dickklobigen Pistolen im Gürtel reisen, und diese Europäerin, die eine Violine mit herüber in das Räuberland bringt, und die sich sehnt, eine Apollohymne zu erlernen! Europa ist so wunderbar sentimental, dachte ich. Alle anderen Erdteile, so schien es mir, müßten uns verlachen, weil bei uns das Leben zu einer zweitausendjährigen Apollohymne zurückkehren kann, zu einer ausgegrabenen Melodie, die unser Leben heute nicht hervorbringen kann, wegen der wir deshalb unser Leben, das diese Melodie nicht fertigbringt, beinah verachten können, auswandern und ruhelos werden und uns um zweitausend Jahre zurücksehnen können.

Es muß also etwas nicht richtig an unserer gegenwärtigen europäischen Völkermaschine sein, weil wir uns immer nach alten Kulturen zurücksehnen. Kommt dieses Leiden vielleicht davon, daß wir staatliche Institute haben, die Gymnasien, welche es sich hauptsächlich zur Aufgabe machen, uns mit dem Seelenleben dieser alten heidnischen Kulturen bekannt zu machen? Was erlaubt sich da der Staat eigentlich für seltsame widerspruchsvolle Gewaltakte an unserer Jugend? Einerseits befürwortet er die Religion des Christen als das Staatsideal, andererseits zugleich das Seelen- und Geistesleben der vergangenen Heiden als Staatsideal! Wie kann denn da ein junger Mensch wissen, was Staat und Menschheit von ihm wollen, wenn er zwei einander ganz entgegengesetzten Idealen huldigen soll, dem christlichen und dem heidnischen zugleich? Denn sobald der Mensch das eine von den beiden Idealen, das Christusideal oder das Apolloideal, ernst nimmt, muß er dem andern Ideal vor den Kopf stoßen.

So ist es jetzt mir hier gegangen mit den beiden Damen. Die eine, die Schwärmerin für alte Kulturen, die Apolloidealistin, mußte ich beleidigen, wenn ich plötzlich die vom Abbé begleitete Mexikanerin, die eine gründliche Katholikin war, bevorzugte. So trieb ich für mich eine Art von Weltphilosophie und vermischte sie unklar mit meinen Liebesgefühlen.

Die Reiseermüdung tat außerdem ihr übriges bei den Damen und mir; und als der Zug am Abend in Mexiko einlief, war ich gleich den Damen in eine abgespannte und gegen die andern erkältete Stimmung geraten, so daß ein rasches, lautes, schallendes Abschiednehmen das augenblickliche Ende dieser Reiseromantik war, eine Romantik, die aber trotzdem hier auf dem Weg nur ihren Anfang, aber noch lange nicht ihr Ende für alle Beteiligten gefunden hatte. Ich tröstete mich einstweilen mit dem Betrachten der mexikanischen Indianer, die mich jetzt bei der Ankunft in der Stadt sehr unterhielten. Die Bevölkerung der Stadt bestand damals aus hunderttausend Europäern und dreihunderttausend Indianern.

„Wer lange lebt, lebt kurz“, hatte unterwegs der Abbé zu mir gesagt, und ich mußte in Mexiko jetzt täglich denken, daß das gar nicht auf mich paßte, denn es schien mir gleich am nächsten Morgen, als ich aufstand, eine Ewigkeit vergangen zu sein, seit ich in Mexiko war. Viel beschäftigten mich im Geist die drei verschiedenen Frauen, die ich in diesen letzten Tagen in mein Herz geschlossen hatte, und die mich abwechselnd an sich erinnerten. Es war, als ob eine weiblich Schildwache die andere in der Nacht an meinem Bett ablöse – so kam in jeder zweiten Stunde für eine Stunde eine andere der drei heimlichen Geliebten meines Herzens zu mir; bald war es die Österreicherin im Lodenmantel mit dem Graphitkarbon in der Hand, dann die Messingblonde mit der Violine und der Apollohymne und dann die Mexikanerin, halb zu Pferd und halb auf der dampfenden, erhitzten Lokomotive.

Die dreihunderttausend Indianer haben es doch nicht fertiggebracht, mich sofort über die drei entschwundenen Frauen zu trösten, dachte ich eines Morgens, als es klopfte und ich die Glastür zur Veranda öffnete, wo vor mir eine junge Indianerin in blauem Leinenrock und schwarzem Kopfschal stand, auf dem Kopf einen großen flachen Strohkorb, bedeckt mit gelben Orangen und Bananen und rübenfarbenen Mangofrüchten.

Wie ein Öltropfen lautlos sank die Erscheinung vor mir auf dem Boden ins Knie und lächelte unter ihrem flachem Fruchtkorb wie unter einem flachen Hut, der mit goldgelben Früchten garniert wäre.

„Wie heißt du?“ fragte ich sie freundlich auf spanisch, ohne zu bedeuten, daß sie nicht sich, sondern ihre Früchte anbot.

„Angela“, kam es an mein Ohr, als ob mich eine Hand streichele – so dicht und nah ging mir diese Mädchenstimme über die Haut.

„Angelika?“ fragte ich sie.

„Angela“, so streichelte sie mich nochmals mit der Stimme und hob jetzt ihren Fruchttellerkorb vom Kopf, um ihn vor sich aufs Knie zu legen, wo sie ihn wie eine kleine Tischplatte vor meine Knie hielt.

„Ich esse keine Früchte, Angela“, sagte ich und wappnete mich zum Widerstand gegen diese Stimme, die mit dem Wort „Angela“ das ganze Haus für mich schwankend wie ein wiegendes Palmblatt machen konnte.

Ich war sehr einsam, und es kam mir der Gedanke, mir einen fröhlichen Tag zu machen und mit Angela, wenn sie wollte, Freundschaft zu schließen, vielleicht bis die Sonne unterginge, vielleicht noch länger.

„Angela, deine Früchte riechen sehr gut“, fuhr ich fort. „Wenn ich sie auch nicht esse, so rieche ich sie doch sehr gern; stelle also den Korb mit den Früchten auf meinen Tisch.“

Angela hatte einzelne Mangos mit der Hand gestreichelt, als ob sie ihre Vorzüglichkeit andeuten wollte.

Daß ich die Früchte wollte, verstand sie, daß ich aber auch den Korb kaufen wollte, begriff sie nicht.

„Angela, willst du mit mir spazierengehen?“ fragte ich die schöne vierzehnjährige, vollständig ausgewachsene und jungfräulich reife Indianerin.

Ich erwartete, daß sie verlegen lachen würde; aber ohne jede falsche Scham fragte mich Angela: „Wohin wünschen der Herr zu fahren?“

Das wußte ich wirklich noch nicht; ich hatte diese Antwort nicht im entferntesten erwartet. Aber ohne mein Erstaunen zu verraten, sagte ich und bedachte, daß ich ihr als einer frommen spanischen Katholikin wahrscheinlich eine große Freude bereiten würde (denn alle Indianer sind sehr fromm und sehr katholisch): „Fahren wir nach dem Wohlfahrtsort Guadelupe, wo das steinerne Schiff steht und die Kirche zur heiligen Quelle ist.“

Angela nickte, lächelte und schwieg. Sie schien etwas nachdenklich und etwas kühler zu empfinden, aber ich begriff erst später, weshalb.

Ich ließ einen Wagen holen. Angela zog ihr großes, dünnes, schwarzes Tuch über den Kopf und sah wie eine kleine Matrone mit braunem Gesicht aus dem schwarzen Schal. Sie stieg in den Wagen, war aber nicht zu bewegen, an meiner Seite Platz zu nehmen; sie setzte sich wie ein Dienstbote auf den schmalen Rücksitz und ließ mich allein den Platz im breiteren Wagenfond einnehmen. – Das ist gar nicht gemütlich, dachte ich, es sieht zwar besser aus, solange wir durch die belebten Straßen fahren, aber es ist zuviel Unterschied zwischen ihr und mir markiert, und das war nicht meine Absicht.

Kaum hatte sich der Wagen vom Gartenhotel aus in Bewegung gesetzt, so mußte er zwischen Trambahnen, Reitern, Lastkarren, Mauleseln an einer Straßenbiegung warten.

Da legte Angela ihre Hand vorsichtig auf mein Knie und sagte: „Nach dem Museum!“ Ich hörte wohl, daß sie sagte: „Nach dem Museum!“ Aber wie hätte ich denn das sofort begreifen können, daß eine junge Indianerdame statt zur heiligen Jungfrau nach Guadelupe in ein Mißgeburtenkabinett gefahren zu werden wünscht.

Später habe ich allerdings erfahren, daß das naturwissenschaftliche Museum, wo Kälber mit zwei Köpfen, Hunde mit acht Beinen, Schweine mit einem Widderhorn an der Stirn und zusammengewachsene Kaninchen zu sehen sind, ein Ort schwärmerischer Verehrung für viele Indianer ist.

Wir fuhren also zum Museum. Angela saß im Wagen wie eine junge Dame, die zeitlebens gewöhnt ist, ihren Tageslauf in verschiedenen Wagenfahrten einzuteilen; man konnte nicht denken, daß sie die Tochter eines Gärtnergehilfen aus dem La-Viga-Kanal war, wo sich die schwimmenden Gärten der Stadt Mexiko befinden, und wo man mit den Booten ganze Tage zwischen Blumen- und Fruchtgärten fahren kann. Weil sie aber tägliche Bootsfahrten gewöhnt war, behielt sie auch ihre Ruhe beim Wagenfahren und wurde richtig unruhig, als wir zwischen Pferdeköpfen und Wagen auf der lebhaften Calle de San Fransisko, der Hauptstraße der Stadt, dahinfuhren. Angela lächelte mich von Zeit zu Zeit an, wie eine, die ein Geheimnis hat, das sie aber erst später verraten will. Als wir beim Museum ausstiegen, lächelte sie wieder so eigen. Da saß ein junger Indianer am Tor, der hatte an dem einen halb abgestorbenen Arm, den er nackt zeigte, noch einen kleinen angewachsenen Arm hängen, der ganz tot und verrunzelt war, so daß der junge Mann drei Arme besaß; aber nur einen Arm von den dreien war gesund, und mit diesem gesunden Arm hielt er abwechselnd bald den einen, bald den anderen der beiden welken nackten Mißgeburtenarme den Vorübergehenden hin, damit man ihm ein Almosen gebe. Angela hat kaum den Wagen verlassen, so steht sie bei dem Indianer, und ich sehe, wie sie ihm die Silberdollar, die ich ihr für die Früchte gegeben hatte, einen nach dem andern in die beiden welken toten Hände zählt. Damit aber nicht genug. Sie umschlang den abgemagerten Körper vor meinen Augen und sagte: „Mein lieber Paolo! Sieh, der Herr hier will uns noch viel mehr Geld geben, so daß wir sicher bald heiraten können.“

„Ja, das will ich“, sagte ich rasch entschlossen, zog meine Brieftasche, reichte den beiden höflich einen Geldschein, schüttelte Angela freundlich die Hand, sprang in meinen Wagen, ließ die Indianerin hochbeglückt bei ihrem Bräutigam und fuhr schleunigst nach dem Schloß Chapultepec, da mir einfiel, daß ich heute dort noch einen Brief beim Präsidenten abholen könnte.

So ist Mexiko täglich, sagte ich mir auf der Heimfahrt. Es ist für den Europäer wie das Blendwerk eines Teufels; es leuchtet, strahlt, und jedes Gefühl verwandelt sich unter den Händen der Mißgeburten, wenn du es fassen willst.

Noch zwei Tage erschien Angela morgens an meiner Glastür; am ersten Morgen verkaufte sie mir rosa Rosen, denen ich zwar gleich ansah, daß sie künstlich gefärbt waren, die ich ihr aber doch abkaufte.

„Wem bringst du jetzt das Geld“, fragte ich sie, „Paolo?“

Sie nickte sanft und etwas melancholisch. Ich weiß nicht, ob sie wieder eine Wagenfahrt ersehnte, oder ob ich nicht freundlich genug war. Am Abend war das Wasser im Wasserglas, in das ich die seltsam leuchtenden gelbrosa Rosen gestellt hatte, rosa, und die Rosen waren schneeweiß; das Wasser hatte die künstliche Farbe der gefärbten Rosen ausgesogen.

Am nächsten Morgen erschien Angela mit einem kleinen Käfig, darin ein feuerblauer Vogel flatterte.

Sie war schon etwas vertraulicher und sagte: „Sehr teuer“, und sie ging, zufrieden, aber wiederum nachdenklich.

An demselben Abend hatte der Vogel sich in einem Wassernapf gebadet, und das Wasser war blau und der Vogel unscheinbar schwarz. Da er auch nicht sang, ließ ich ihn fliegen.

Gefärbte Rosen, gefärbte Vögel und Mißgeburten hatte Angela mir vor Augen geführt – jene Angela, die mir mit ihrer Stimme im ersten Augenblick das Haus schwankend gemacht hatte wie ein Palmblatt.

Ich zog dann aus dem internationalen vornehmen Gartenhotel fort, weil es mir zu belebt wurde; es kamen zuviel amerikanische Reisegesellschaften dorthin; und in dem spanischen Hotel, in das ich übersiedelte, erschien Angela nicht mehr. Dafür begannen hier aber die tiefgehenden Verwicklungen, die mein Herz in Wallung bringen sollten. Es wäre mir ein leichtes gewesen, Wohnung und Gewohnheiten der Mexikanerin zu erforschen, um mich mit ihr vielleicht in eine neue Beziehung zu setzen. Ebenso wäre das Auffinden des Astronomenehepaares mir in der Stadt Mexiko nicht schwer gefallen. Aber gerade, daß ich es in meiner Macht hatte, mich jeden Tag durch die Beziehungen, die mir hier zur Hand waren, den beiden romantischen Reisebekanntschaften wieder zu nähern, legte meine Abenteuerlust etwas lahm, und ich sagte mir (was ich mir zeitlebens immer wiederholte): was nicht zu mir kommt, vom Schicksal eingebrockt, das macht mir keinen Spaß. Ich ließ es also auf mein gutes Glück ankommen und erwartete das Schicksal. Wenn ich auch in den freien Stunden, die mir neben meinen wissenschaftlichen Arbeiten, die ich für die geographische Gesellschaft auszuführen, an Einsamkeit litt, so rührte ich doch keinen Finger, um den beiden Frauen, die noch immer meine Phantasie beschäftigten, ein Lebenszeichen zu geben. Denn ich konnte ja mit Bestimmtheit annehmen, daß die Mexikanerin sowohl wie das Astronomenehepaar vollauf mit ihren persönlichen Angelegenheiten beschäftigt wären, und daß man dort gar nicht mehr an mich dächte und es wahrscheinlich sehr überflüssig finden würde, wenn ich von mir hören ließe.

Aber wenn man eifrige Empfindungen zu übersehen sucht, sind sie wie Quecksilber, das man in einen Sack steckt, und das doch überall einen Ausweg findet. Weshalb begann ich mich plötzlich für Pferde zu interessieren? Ich weiß es nicht; ich tat es, ohne etwas Besonderes dabei zu wollen. Wahrscheinlich aber mit dem Untergrundgedanken, daß auch die schöne Mexikanerin für Pferde schwärmte. Offenkundig machte ich mir das aber gar nicht klar; das fiel mir erst ein, als ich durch dieses erwachte Pferdeinteresse wirklich mit jener Dame zusammengeführt wurde. Dann erst sah ich klar, ertappte ich mich auf einem Selbstbetrug und schämte mich vor meinem Unterbewußtsein, das mich heuchlerischen Gedanken auslieferte, die mich umgarnten, und die, ohne daß mein Bewußtsein eine Ahnung davon hatte, mich bestimmte Wege gehen ließen, die mich versteckter und unterdrückter Leidenschaft wehrlos preisgaben.

Ich hatte als Wohnung mit Absicht ein kleines spanisches Hotel in der Nähe der Hauptstraße, der Calle de San Francisco, gewählt und nahm meine Mahlzeiten teils dort, teils im Restaurant Français in derselben Straße ein. Die Hotelbesitzerin hatte die Gewohnheit, mehrmals in der Woche, wenn sie ihr Haar gewaschen hatte, auf der Veranda, die im ersten Stock innen im Hof des Hotels entlang lief, auf und ab zu gehen und ihr offenes nußbraunes Haar zu sonnen. Sie trug dann eine weiße Serviette auf dem Rücken und hatte ihr gebürstetes und frischgekämmtes Haar auf dieser Serviette liegen, damit das noch feuchte Haar ihr Kleid nicht am Rücken berühre. Mit südländischer Unbehindertheit ging sie so vor der Glastür meiner Zimmer, die gerade auf diese Veranda führten, auf und ab und dirigierte den Hausstand, die Boys, die im Eßsaal decken sollten, und die Mädchen, die nebenan die anderen Fremdenzimmer in Ordnung brachten. Vom Vormittag bis gegen vier Uhr mittags hin war es jetzt täglich immer noch sehr schönes Wetter; der Regen begann erst gegen halb fünf Uhr und endete gegen halb sechs Uhr. Immer kam und ging an bestimmten Tagen der Schatten dieser Frau, die ihr offenes Haar draußen sonnte, stundenlang durch meine Zimmertür, glitt über mich hin und verschwand; und dieser Schatten, der in dem weißen hellen Zimmer das einzige Lebewesen neben mir war, wurde mir vertraut, wie einem, der sich einen Hund oder Papagei gezähmt hat, die Bewegungen des Tieres im stillen Zimmer vertraut werden.

Saß ich am Schreibtisch, so lief der Schatten über mein Schreibpapier und schrieb eine Geste über den Schreibtisch wie ein Arm, der mir das Papier wegschöbe und mich auf anderes als auf Schreiben aufmerksam machen wollte; ebenso schien mir, wenn ich im Schaukelstuhl lag und las, der weibliche Schatten das Buch von den Knien fortzuschieben; wenn ich auf dem Sofa oder im Bett lag und die Decke des Zimmers anstarrte, lief der Schatten über mich hin und zog mich aus dem Bett. – Das geht nicht länger, dachte ich eines Morgens. Die Frau draußen ist es nicht, die mich stört, ihr Schatten ist das auch nicht. Aber in ihrem Schatten müssen noch andere Frauenschatten sozusagen inkarniert sein, die sich verbündet haben, um mich aus diesem Haus in irgendeine Richtung zu ziehen. Just immer dann, wenn ich mit Schreiben und Lesen fertig bin und freie Zeit habe, kommt dieser weibliche Schatten herein, als wolle er mich abholen, irgendwohin, wenn ich nur wüßte, wohin? –

Eines Tages ließ ich mich auch wirklich emporscheuchen und sah auf und dachte: nun stehe ich auf. Es ist irgend jemand da in der Nähe, der mir den Schatten dieser Frau so herausfordernd hereinsendet. Ich setzte meinen Panamahut auf und nahm zur Vorsicht einen Schirm mit, da man ja nie weiß, wie lange man sich draußen auf der Straße aufhält, wenn man sich von einem weiblichen Schatten aufstöbern läßt. Ich ging aber nicht direkt auf die Straße; ich ging die Veranda entlang auf das flache Dach des Haustores, das ein langes Gewölbe bildete und ein flaches Dach mit einer Brüstung oben hatte, von wo man auf die Straße hinunterschauen konnte.

Ich setzte mich oben mit einem Bein auf die Brüstung und schaute vorsichtig auf die Straße hinunter, wie einer, der eine Begegnung erwartet und sich nicht gleich zeigen will.

Unten rannten die weiß gekleideten Indianer in Hemd und weißgrauer Hose mit weißen hohen Sombreros auf den Köpfen. Gerade wurden Maultiere, mit Säcken beladen, in langen Reihen vorübergeführt. Es gab viel Geschrei von den Treibern, und die Straße wogte unter mir von den weißen Säcken und von weißen Hüten. Das alles sah von oben aus wie ein weißer gequetschter Brei, der sich durch die schmale Gasse in weißen Klumpen langsam fortschöbe. Mitten in diesem klumpigen Weiß sehe ich drüben zwischen Maultieren eine Dame eingeklemmt, die sich nach einem Schirm bückt, der ihr in dem Gewühl entfallen ist. Die Dame zeigt mir, während sie sich beugt, ihr messingfarbenes Haar.

Die Frau des Astronomen!

Anstatt hinunterzulaufen, zog ich mich wie erschrocken vom Geländer des flachen Daches zurück. Ich blieb sitzen. Ganz still sah ich die Blumentöpfe mit ziegelroten Geranien an, die vor mir auf dem flachen Dach unordentlich in Gruppen standen, und ich rührte mich nicht. Es war nicht der gewöhnliche Schreck, der fröhliche, eines Wiedersehens; es war nicht der feige Schreck einer unangenehmen Überraschung. Es war ein unheimlicher Schreck, ein Schicksalsschuß, als würde eine Kanone von der Erde in den blauen Himmel abgeschossen, und die Bläue hallte nicht, war auch nicht verwundet, nicht verwundert, aber irgendwo angeschossen, irgendwo getroffen. Der Himmel weiß es nur selbst nicht, an welchem Fleck er getroffen ist, aber er spürt den Schuß durch und durch wie ein mächtiges Signal, das sagt, der Himmel müsse auf die Erde stürzen, es gebe keinen Abstand, keine Trennung zwischen Materie und Raum, beides habe sich vermischt und sei eins.

Ich saß und rührte mich nicht.

Und in mir dröhnte mein Blut und gab sich nicht zur Ruhe.

Nach einer Weile, wie ich noch gar nichts anderes dachte, als daß unten immer noch die weißen Säcke auf den Maultieren vorüberziehen müßten und die weiß gekleideten Indianerscharen, und daß die Messingblonde sich vielleicht immer wieder bücken und ihren Schirm im Gedränge aufheben würde, da kam ein Schatten. Derselbe Schatten, der mich aus dem Zimmer getrieben hatte, ging über das flache Dach und die Geranien. In der Ferne stand auf dem Dach die Hotelbesitzerin und rief meinen Namen und sagte, eine Dame wünsche mich zu sprechen; und sie hob dabei eine Visitenkarte in die Luft, wie zum Zeichen, daß ich von der Brüstung zu ihr auf die Veranda kommen müßte.

„Ich komme“, sagte ich nur. „Ich weiß.“

„Oh, Sie wissen es schon!“ sagte die Hotelfrau erstaunt, und dann fügte sie verstehend hinzu: „Ah, Sie haben die Dame kommen sehen.“

Ich sprang von der Brüstung über den Schatten der Hotelfrau, als dürfe ich nicht auf ihn treten, auf den lebendigen Boten der Messingblonden – deshalb machte ich einen breiten Luftsprung.

Die Hotelfrau lächelte ein wenig, als wollte sie sagen: Ich kann mir denken, daß die blonde Dame einen Mann so lebendig macht, daß er Luftsprünge versucht. – Ein paar Minuten später ging ich neben der Astronomenfrau auf der Straße. Sie hatte mich gebeten, ihr einen Rat zu geben, aber sie hatte nicht in mein Zimmer treten wollen und hatte es auch im Sprechzimmer des Hotels, wo Gäste waren, nicht ruhig genug gefunden. Sie bat mich, mit ihr einen Spaziergang irgendwohin zu machen.

Als ob mir ein Kobold die Stimme nähme und für mich spräche, so entfuhr mir das Wort: „Wollen Sie vielleicht nach dem Museum, bitte?“

Kaum hatte ich das gesagt, so hätte ich es zurückziehen mögen, denn ich war noch nicht ernst genug gewesen, um zu verstehen, daß sie mir etwas sehr Ernstes mitzuteilen hatte. Ich war nur froh, daß nicht sie, sondern nur ich allein das Frivole dieser Frage begriff. Dafür wurde ich nun aber doppelt ernst und fast feierlich und nahm mir vor, der armen blassen und etwas verstörten jungen Frau nach Kräften zu helfen und zu raten.

„Seit einer Woche ungefähr gehe ich täglich vormittags im Sonnenschein, ehe der Regen beginnt, an Ihrem Hotel ein paarmal auf und ab und konnte mich doch nicht entschließen, so zudringlich zu sein, Sie aufzusuchen. Ich habe aber oft gedacht, wenn Sie oben in Ihrem Zimmer wären, müßten Sie es spüren, wie sehr ich wünschte, daß Sie aus dem Hotel heraustreten möchten. Ich sah Sie immer im Geist mit Hut und Schirm in der Hand aus dem Gewölbe des Hoteltors treten.“

Ich schwieg und sagte nichts davon, daß mich ihr Schatten oben im Zimmer seit acht Tagen täglich aufsuchte. Ich war zu betroffen, und es wäre zu lächerlich gewesen, zu dem ernsten Gesicht der Blonden vom Schatten der Hotelfrau, die ihr Haar trocknete, zu sprechen; darum schwieg ich und ließ sie sich weiter erklären.

Aber schon nach ein paar Sätzen schwieg sie. Mir schien, es wollte etwas Schweres, das sie in sich trug, nicht über ihre Lippen kommen, und sie lenkte das Gespräch auf die Umgebung und damit von sich fort. Ich fragte mich, als wir über die Alameda, den großen Platz vor der Kathedrale, durch die kleinen Wege der grünen Anpflanzungen schritten, wo Indianer auf den Bänken lungerten, Zeitungsverkäufer und Eisverkäufer und Pastetenbäcker umherstanden und laut ihre Waren auskrähten, aber mit melodischen Rufen rhythmisch und einförmig zum Einkauf luden – da fragte sie mich, ob ich wüßte, daß die Indianer zur Aztekenzeit hier rund um diesen Platz ihre Hauptgebäude gehabt hätten. Die Kathedrale sei der Tempel der Sonne gewesen, links davon die Tanzakademie, rechts die Musikakademie und an der vierten Seite der Königspalast. Und es sei damals Sitte gewesen, daß jeder Bürger sein Examen im Spielen irgendeines Musikinstrumentes ablegte, um die Bürgerrechte zu erlangen. Denn die Indianer seien ein sehr musikliebendes Volk gewesen.

Ich weiß nicht, warum ich, seit ich die junge Frau wiedersah, mehr zum Scherzen als zum Ernstsein aufgelegt war. Ich fragte sie:

„Gab es bei den Indianern auch eine solche Apollohymne, wie man sie jetzt ausgegraben hat?“ Das war kaum gesagt, da traf mich ein langer hilfloser Blick aus ihren zartblauen Augen. Sie nahm ihr Taschentuch, schnaubte sich die Nase, und ich sah, daß sie sich heimlich Tränen aus den Augen wischte.

Wir schwiegen dann beide, und sie mußte mich wohl für ganz herzlos halten, daß ich lachte, als wir an Paolo vorübergingen, der am Eingang zum Museum auf dem Pflaster mit seinen drei Armen bettelte. Denn Paolo lachte mich vergnügt an, und ich lachte in Erinnerung an Angela den dreiarmigen Bräutigam ebenfalls vergnügt an. Von meiner Bekanntschaft zu ihm, und daß mich seine Braut ihm vorgestellt hatte, konnte ich der Dame nicht erzählen, und es blieb ein Mißverständnis zwischen uns über mein Gelächter, das sie sich auch nicht erklären konnte, besonders da sie eben erst geweint hatte. So ist es aber meistens auf der Welt: wo zwei sich einander nähern wollen, spielt der Zufall mit Mißverständnissen wie ein Komiker, der Possen reißt und Lachen und Tränen aus den Augen locken muß, wie ein Komiker, der eben erfahren hat, daß ihm sein Kind im Sterben liegt, und der doch, den Leuten zur Unterhaltung, lachen muß.

Wir betraten nicht das Vordergebäude des Museums, darin die Sammlungen und naturwissenschaftlichen Abteilungen mit den Mißgeburten ausgestellt sind. Wir durchschritten den Hof, der von grünen Palmen leuchtet, und betraten den langen roten Saal zu ebener Erde, wo die alten Steinfiguren, die Götter der Indianer, aufgestellt sind; die meisten davon hat man beim Bau der Kathedrale an der Alameda ausgegraben.

Die Figuren sind alle wie Spukgestalten und als ob man sie nach den Bildern der Alpmahren, die einen in schweren Träumen bedrücken und erwürgen, in Stein gemeißelt hätte.

Die meisten haben gar keine menschlichen Körper. Manche Körper sind Bündel und Ornamente von zusammengewickelten Schlangenleibern. Der Kopf scheint nach einem Affenschädel geformt zu sein; irgendwo erscheinen ein paar Hände über den Schlangenbündeln – Hände, die gleichfalls Schlangenköpfen ähneln.

Viele Götzen haben ihr Maul bis zum Nabel aufgerissen und sind aus lauter Vogelfederornamenten zusammengesetzt; manche stehen auf dem Kopf, mit einem Mühlstein als Bauch und die Füße in der Luft; so der Gott des Feuers. Der Gott des Wassers ist eine kleine zwergartige Gestalt, deren Kopf wie zwischen doppelten Schraubstöcken eingepreßt ist; der Gott des Todes hat riesige Kinnbacken und heißt Mictlantenhtli. Vier riesige Schneidezähne starren aus seinem Maul; sein Bauch ist ein Kreis. Er hockt wie ein Frosch und hat keine Stirn; er ist aus einem großen runden Stein, gleich einem Mühlstein, herausgehauen.

Ein ebensolcher Riesenmühlstein, über und über mit eingeritzten Zeichnungen bedeckt, die indianische Krieger darstellten und Schlangen, Köcher Pfeile und Federn, war einst der Altar für Menschenopfer gewesen und zeigte eine breite Rinne, in der jahrhundertelang das Menschenblut abgelaufen war. Diese tiefe Rinne, die sich das Blut durch die Zeichnungen gezogen hatte, entsetzte jeden Beschauer. Rings an den Wänden des blutrot getünchten Saales, der sein Licht nur durch die hohe Tür erhielt, die in den Garten hinausging, standen und hockten die grinsenden und verrenkten Gottheiten einer vergangenen Welt wie steingewordene Gespenster; und noch schauerlicher als alle Mißgeburten der Natur muteten den Europäer hier die Höllengeburten des indianischen Menschenherzens an, die da Stein geworden waren.

Wir hatten kaum den langen menschenleeren Saal, am indianischen Museumsdiener vorübergehend, betreten, da schritt die junge Frau auf die Hauptgötterfigur in der Mitte zu, deutete mit ihrem Schirm auf den Affenschädel, der, aus ein langen Knäuel herausgemeißelt, grauenhaft hohläugig und unheimlich wie ein Schildkrötenkopf unter dem Schlangenwust vorstarrte und sagte: „Dies ist die Welt, in der ich jetzt mein Leben verbringen werde!“

Was meinte sie nur! Ich begriff sie nicht und begriff nicht den hilflosen Blick und die von tiefem Schmerz aufgelöste Geste, mit der sie über alle die Götzenbilder zeigte.

Die Tränen stürzten ihr aus beiden Augen. Sie hielt das Taschentuch davor. Neben ihr stand der Gott aller Krankheiten, der hypnotisierend seine beiden Handflächen von sich streckt. Er ist eine kleine Gestalt mit mumienhaftem, schmalem, hohlwangigem Gesicht und trägt einen Schurz aus Schlangenhäuten um die Hüften. Der Götze ist aus weißem Stein gemeißelt; in den erhobenen Handflächen sollen früher Rubine gesteckt haben, welche mit ihrem roten Glanz die zu dem Gott Aufschauenden hypnotisierten. Ich fand die Blonde so hohlwangig wie diesen Gott.

„Sie sind krank?“ fragte ich teilnehmend.

„Ich weiß nicht. Riechen Sie nicht, daß dies ganze Land nach der Hölle riecht? Überall ist der vulkanische Brandgeruch, der einen verfolgt wie die Klageluft aus einer Brandruine.

Und hier hat sich mein Mann zu bleiben vorgenommen! Und ich kann es ihm nicht ausreden. Ich versuche es auch gar nicht, weil er den Abscheu, den ich gegen dieses unheimlich Land empfinde, nicht mitempfindet. Er denkt nur an seine Sternwarte.“

„Hat er Ihnen keine neue Violine gekauft?“ fragte ich teilnehmend, wie man ein aufgeregtes Kind fragt.

„Ich will hier gar nicht Violine spielen; hierher paßt keine Violine, in diese Gespensterluft; ich will fort! Ich bitte Sie, besuchen Sie meinen Mann und überreden Sie ihn, daß er abreist! Ich werde todkrank hier; ich fühle es: dies Land ist mein Tod.“ Sie weinte schluchzend und sah auf und starrte auf ein tonnengroßes, steingemeißeltes Schlangenhaupt, das nahe am Eingang lag. Das Schlangenhaupt hatte keine Augen, nur ein riesiges Maul, aus dem auf jeder Seite drei Giftzähne, größer als Elefantenzähne, über die Lippen ragten. Statt der Schuppen bogen sich riesige Federn über die Kopfhaut. Der Steinkoloß grinste und lachte, als habe er überall Augen – entsetzliche, höhnische, unsichtbare Schlangenaugen, die nach allen Richtungen Blicke schössen.

„Ich werde Ihren Gemahl besuchen“, sagte ich ernst. „Aber jetzt dürfen Sie nicht mehr weinen. Bedenken Sie doch, daß das alles nur tote Idole sind. Heutzutage ist das Land unter dem Präsidenten der Republik im Aufblühen, und man hat die Seen und Sümpfe um die Hauptstadt trockengelegt, so daß wenig Fieberfälle vorkommen. Sie fürchten vielleicht das gelbe Fieber, und deshalb ist Ihnen unheimlich?“

„Ja, ich habe jeden Abend, wenn die Sonne untergeht, etwas Fieber; aber das geht immer vorüber. Davor fürchte ich mich nicht“, sagte die Weinende und trocknete sich die Augen. „Verzeihen Sie nur, daß ich mich so kindlich benehme. Bitte führen Sie mich jetzt zu einem Wagen! Ich will zu meinem Mann zurückfahren. Sagen Sie ihm aber bitte nichts davon, daß ich Sie bat, ihm vom Hierbleiben abzuraten. Er wollte jetzt jeden Tag um eine Audienz beim Präsidenten bitten, um wegen der Sternwarte eine Eingabe zu machen. Ich konnte ihn bisher immer noch davon abhalten.“

„Seien Sie unbesorgt! Ich werde Ihren Mann aufsuchen und mein möglichstes tun, ihm die Verhältnisse des Landes so zu schildern, daß er nicht daran denken wird, hierzubleiben.“

„Bleiben Sie selbst noch lange in Mexiko?“ fragte sie mich plötzlich und betrachtet mich stark und auffallend forschend.

„Ich weiß noch nicht,“ sagte ich der Wahrheit gemäß „wie lange mich meine Geschäfte noch hier halten werden. Wahrscheinlich bis Weihnachten! Jetzt ist es Juli, also ungefähr noch ein halbes Jahr.“

„Oh, so lange!“ entfuhr es ihr, und dann setzte sie hastig hinzu: „Amüsieren Sie sich gut? Sehen Sie die schöne Mexikanerin öfters?“

Im gleichen Augenblick verließen wir das Museum, und ich winkte einem Kutscher. Da sagte die Blonde: „Nun, Sie grüßen sie gar nicht? Sehen Sie denn nicht? Dort ritt die Mexikanerin eben mit zwei Herren um die Ecke.“

„Ich habe sie nicht gesehen“, sagte ich erstaunt und sah eben noch die Hinterteile von drei Pferden, die in der Nebenstraße schritten. „Ich habe die Mexikanerin nicht gesehen und nicht gesprochen, seit ich hier bin, nicht ein einziges Mal“, versicherte ich. Die blonde Dame wollte eben in die vorfahrende Droschke steigen, doch sah sie sich nochmals nach mir um und sagte: „Dann wissen Sie gar nicht, daß sie jeden Tag mittags hier am Museum vorüberreitet? Das wissen Sie nicht?“ Und sie betrachtet mich ungläubig.

„Bei Gott, ich weiß nichts davon.“

Ich verstand nicht mehr, was sie sagte. Ich grüße und verbeugte mich, und sie fuhr davon. Ich stand allein neben Paolo, der mir mit seinen drei Armen zuwinkte.

Was bedeutete diese Szene? Fragte ich mich. Und laut wende ich mich an die Mißgeburt und fragte: „Paolo, weißt du es?“

Der Indianer, der immer lustig war, grinste und fragte ebenso laut zurück: „Werden Sie auch halb geheiratet, mein Herr?“

Ich wurde sehr ernst, ich gab ihm ein Almosen und lachte nicht mehr; auf dem ganzen Wege blieb ich ernst.

Ich ging die San-Francisco-Straße entlang, wo die mexikanischen Herren in Trupps mit den Rücken an den Schaufenstern lehnten, sich unterhalten und die Wagen beobachten, die mit schönen Frauen vorüberfahren. Diese Straße ist eine große Juwelierstraße, Laden bei Laden voll Goldwaren, Silberwaren und Edelsteinen. Bankhäuser, elegante Restaurants und einige Toilettenläden für die Damenwelt glänzen mit ungeheuren Spiegelscheiben, und man glaubt in der Leipziger Straße in Berlin zu sein oder in der Rue de la Pair in Paris oder in Regent-Street in London.

Vor einem Schaufenster blieb ich stehen. Da lagen, auf schwarzem Samt zu kleinen Hügeln geschichtet, Haufen ovaler Opalsteine, milchig und irisierend. Als schaue man das Licht gebrochen an einem Wintertag durch gefrorene weißmatte Fenster, so lagen die taubweißen Steine da auf dem schwarzen Samt.

Ah ja, dachte ich, ich habe es ganz vergessen: Mexiko ist ja nicht bloß das Land des Goldes, sondern auch das Land der Opale. Der Volksmund nennt den Opal einen Unglücksstein, und der Opal bringt dem, der einen solchen Stein trägt, Tränen, ebenso wie die Perlen. Ich sah die Steine eine Weile an und konnte nicht verstehen, warum sie mich so sehr beschäftigten und anzogen; dann fiel es mir ein: Die Augenäpfel der blonden Frau hatten einen so milchweißen und irisierenden Schein wie die Opale, halb bläulich, halb grünlich und in der Sonne gelbrosa glitzernd. Mir war das besonders aufgefallen, als wir eben im blutroten Göttersaal gestanden und Tränen in den Frauenaugen geschwommen hatten; da sahen sie wie Opale aus.

Ich trat in den Laden und wählte mir einen schönen weißen Stein mit leichten Rosafunken im Milchlicht und steckte ihn in meine Westentasche, um ihn zu Hause zu betrachten; und ich sagte mir dabei: Du kaufst dir vielleicht das Unglück ins Haus. Was tut‘s! Ich finde: es ist besser, Unglück zu fühlen, wenn man nicht Glück fühlt. Jedes Gefühl ist Leben; nur die Einsamkeit und die Gefühlsleere sind tödlich.

Ich versprach mir, am nächsten Morgen bestimmt das Hotel aufzusuchen, in dem der Astronom mit seiner Frau abgestiegen war. Aber am nächsten Morgen, als ich in meinem Hotel unter dem Torgewölbe auf einem der erhöhten Stiefelputzerstühle daß, die da in langer Reihe standen, bedient von zwei Indianerjungen, und als ich die Morgenzeitung aufschlug, fiel mir eine Annonce ins Auge: Ein schönes Pferd, das der Präsident der Republik nur ein paarmal auf der Jagd geritten hätte, stünde im Stall der Reitschule R. L. und wäre dort zu besichtigen und zu verkaufen. – Ein Pferd wollte ich mir längst kaufen; als meine Stiefel blank gewichst waren, machte ich mich darum auf den Weg zur Reitschule und verschob den Besuch beim Astronomen auf den nächsten Tag.

Aber da ich den Besuch unterschlug, rächte sich mein Herz und redete mir unterwegs ohne Ende von der Blonden.

„Sehen Sie doch dieses traurige Land, das so trostlose, häßliche Götter erzeugt hat, und denken Sie dabei an Griechenland, wo nur Schönheit, menschliche Schönheit, in Stein gemeißelt, das Auge erfreut! Hier ist es, als ob die Menschen alles Unglück des Lebens, Gift, Erdbeben und Blutdurst, nicht bloß erleben, sondern auch anbeten müßten. Man betet, glaube ich, hier in Mexiko nur zum Gott des Unglücks und der Trauer und des Todes, und bei uns in Europa zum Gott des Lebens und der Freude und des Glückes.“

Mit einemmal war mir klar, wie recht diese Frau hatte, wie gut sie mit ein paar Worten dieses Land schilderte, das von fortwährenden Erdbeben heimgesucht, das gewöhnt ist, mehr auf das donnernde und grollende Erdinnere zu achten als auf die harmlose Sonne. Dieses Land, das das Gold aus seiner Erdtiefe den Generationen geschenkt und um der Goldklumpen willen seine Freiheit eingebüßt hatte, mußte dieser dämonischen, goldgiererzeugenden und ewig unsicher lebenden Erde mehr Aufmerksamkeit schenken als dem Himmel. Und falsche Schlangen, die bei dem falschen Golde in dem falschen unsicheren Erdinnern wohnten, jagten der Seele fortgesetzte Schrecken ein, so daß der Mensch hier gezwungen war, das Unglück als die Hauptmacht des Lebens anzusehen und anzubeten, da des Menschen Kraft nicht ausreichte, alles Unglück hier niederzutreten.

Während ich dieses dachte, ging ich durch die alkoholdunstigen, nach fauligem Pulquegetränk riechenden engen Straßen eines geschäftigen Stadtteils. Pulque, das Nationalgetränk, wird aus einer saftigen Agavenpflanze mit Stechhebern gewonnen und hält sich nur achtundvierzig Stunden. Es ist ein weißlich milchiger Saft, der stark berauscht und den Betrunkenen blutdürstig und sinnlos rasend machen kann. Jeden Morgen kommen aus den Agavenpflanzungen des Landes lange Extrazüge mit Wagenreihen voll Pulque in der Hauptstadt an; und wenn die frischen Fässer vor den offenen Barhallen der Straßen abgeladen werden, wird der übriggebliebene schlechtgewordene Pulquesaft, der durch zu starke Gärung ungenießbar wurde, auf die Straßendämme und in die Nebenstraßen gegossen. Wo sich die Pulquebarstuben für das Volk in langen Reihen befinden, stinken die Straßen den ganzen Tag nach dem fauligen, gärenden Milchsaft, der in weißlichen Bächen zwischen den Pflastersteinen und in den Gossen hinfließt.

Mit stieren Augen und gedunsenen Gesichtern wankten die trunkenen Indianer an mir vorbei. Ihre Augen waren von den Göttern des Trunkunglückes verdreht. Als ob ihnen eine unsichtbare Schlange um den Hals läge, die ihnen den Hals zuschnürte und das Blut im Hirn stockend machte, so gedunsen und atemringend tasteten sich bei jeder Bar ein paar Betrunkene an den Wänden entlang.

Die Reitschule mit ihren Stallungen lag in einer alten spanischen Klosterkirche; im Innern der runden Kirche war die Reitbahn, und in den früheren Zellen der Mönche standen die Pferde vor den Krippen. Der Besitzer war ein alter Österreicher. Er war ein Offizier jenes unglücklichen Kaisers Maximilian gewesen, den die Mexikaner absetzten und erschießen ließen, als sie die Republik einführten, die Klöster im Lande räumten und alle Mönche verjagten. Man zeigte mir hier einen kleinen, strammen Eisenschimmel, der blaugrau und roströtlich schimmerte, und der dem Präsidenten von einem Haziendabesitzer bei Gelegenheit einer der letzten Jagden geschenkt worden war. Es ist Sitte, bei jeder Jagdeinladung dem Präsidenten ein Pferd zum Geschenk zu machen. Der Präsident kann natürlich nicht alle Geschenke behalten; er reitet die Pferde einige Male und verschenkt sie dann oder läßt sie verkaufen.

Das muntere Pferdchen gefiel mir sehr gut, und ich kaufte es. Ich beeilte mich, am nächsten Morgen im Reitanzug wiederzukommen, um es in der Reitbahn für mich zuzureiten. Darüber vergaß ich ganz und gar, daß ich eigentlich den Astronomen besuchen sollte. Der Reiteifer, der mich in meiner freien Zeit jetzt in Anspruch nahm, ließ mich nicht mehr daran denken. Dazu kam noch, daß ich wichtige Besprechungen, Briefe und Arbeiten daheim im Hotel zu erledigen hatte, so daß meine freie Zeit mir täglich nur zu einer knappen Reitstunde reichte.

Da erhielt ich eines Morgens im Bett einen Brief. Die blonde Dame schrieb, ich möchte nicht mehr mit ihrem Mann von der Abreise sprechen. Sie fühle sich allmählich fähig, sich hier einzuleben. Sie zögen jetzt beide auf das Land, in ein Dorf bei San Juan, wo die Mond- und die Sonnenpyramiden seien; dort hoffe sie friedliches Landleben zu finden. Sie entschuldigte sich nochmals für die Stunden, da sie mich in so weinerlicher Weise in Anspruch habe nehmen müssen. Sie grüßte dann von sich und ihrem Mann, lud mich aber nicht ein, sie in San Juan zu besuchen.

Der Brief schien mir, trotzdem er einfach und sachlich lautete, doch, als wäre er von vergossenen Tränen feucht gewesen; es war in jeder Zeile ein Mollton, der Wehlaut eines wimmernden Weibes, das sich vernachlässigt fühlt von seinem Mann, von allen Freunden und von der übrigen Welt.

Ich werde sie später in San Juan besuchen; jetzt ist die Zeit noch nicht gekommen, sagte ich zu mir, fühlte dabei aber hellseherisch deutlich, daß ich einmal dieser Frau nachreisen würde und sie suchen und finden würde, wie eine Wünschelrute die verborgene Quelle finden kann.

Wohl wußte ich jetzt von der Blonden, daß die schöne Mexikanerin jeden Mittag um zwölf Uhr am Museum vorüberritt, aber ich hatte doch nicht die Lust, meinem Schicksal entgegenzulaufen. Ich ging nie mehr zum Museum. Ich hatte jetzt jeden Tag mein kleines Pferd, das „Stella“ hieß, eine Stunde lang in der Reitbahn zugeritten. Es war eine lustige Stunde in der dämmerigen alten Kapelle, deren Fenster von Spinngeweben grau bepolstert waren, so daß immer Dämmerung dort herrschte, wenn auch draußen auf der Straße grell die Tropensonne brannte. Stundenlang ritt ich im Kreis über den weichen, mit Lohe hochbeschütteten Boden. Der Rittmeister, breitspurig in der Mitte der Bahn stehend, erzählte mir lange Geschichten vom mexikanischen Krieg aus der Zeit, da die Franzosen das Land verließen und den Kaiser Maximilian hilflos den Aufständischen preisgaben. „Es lebt noch eine außerordentlich schöne ältere Dame hier in der Stadt,“ sagte er eines Tages, „die verehrte den Kaiser sehr und versuchte alles, um ihn zu retten. Man sagte sogar, sie habe den Kaiser so geliebt, daß sie sich wie die Jungfrau Maria eines Tages befruchtet fühlte und eine Tochter geboren hätte, ohne von einem Mann berührt worden zu sein. Die Gelehrten sagen alle, es sei wohl möglich, daß eine Selbstbefruchtung stattfinden könne.“

„Ist die Tochter keine Mißgeburt geworden?“ fragte ich scherzend.

„O nein,“ sagte der Rittmeister, „sie ist eine der schönsten und angesehensten jungen Damen der Stadt und eine der besten Reiterinnen von ganz Mexiko.“

Ich dachte sofort an die Schöne Mexikanerin. „Sie ist natürlich sehr fromm, wenn ihre Mutter in solch gewaltige Ekstase geraten konnte, daß sie behauptete, sich selbst befruchtet zu haben. Die Mutter und die Tochter müssen sehr religiös sein?“

„Das sind sie auch; ein Onkel der Tochter, ein Abbé, ein lieber älterer Herr, begleitet die junge Dame immer auf ihren Reisen. Er ist ihr Beichtvater und ist immer um sie. Sie ist jetzt mit dem Polizeipräsidenten verlobt, aber man sagt, die Verlobung soll nicht sehr glücklich sein. Man meint, sie wird die Verlobung wieder auflösen; der Onkel Abbé soll alles anstrengen, um ihr dazu zu helfen. Er ist sehr energisch und wird es durchsetzen.“

„Die Dame ist verlobt? Das wußte ich gar nicht.“

„Kennen Sie sie denn?“ fragte mich plötzlich der Rittmeister verwundert.

Ich konnte nicht antworten, da im gleichen Augenblick mein Sattelriemen platzte und ich beinahe samt dem Sattel vom Pferde geglitten wäre.

Später sprachen wir nicht mehr weiter. Ich war froh, daß ich nicht um zwölf Uhr Aufstellung am Museum genommen hatte, um die schöne Mexikanerin zu grüßen. Denn wenn sie verlobt war, wünschte ich sie nicht zu sehen. –

Der alte Österreicher stellte mir dann am nächsten Morgen einen Reitlehrer vor, der mir die Wege in der Umgebung von Mexiko zeigen sollte.

Es war ein prächtiger, blendender Vormittag. Wir ritten den breiten Weg nach Schloß Chapultepec, eine Triumphpromenade, die mit den bronzenen Standbildern zweier großer Indianerkönige beginnt, dann an unzähligen kleinen Büsten mexikanischer Feldherren, Diplomaten und Helden und am Standbild des Kolumbus vorüberzieht. Immer von hohen Korkbäumen eingesäumt, zieht die Straße auf der Hochebene hin, und diese ist draußen rundum am Horizont von unzähligen Kratern eingefaßt. Wie dunkelblaue Riesentöpfe stehen die Kraterkegel groß am Erdrand.

Nach einer Stunde Ritt erreicht man den Grashüpferhügel, worauf das Schloß Chapultepec liegt. Das Schloß sieht aus wie ein riesiges weißes, flaches Ozeanschiff mit verschiedenen Verdecken übereinander. Die breiten offenen Veranden, die das Gebäude umgeben, wirken wie die weißen Promenaden eines Dampfers. Unten am Schloß, in einem Hain von Korkbäumen, steht noch der Riesenbaum, unter dem einst der Aztekenkönig Montezuma Gericht und Rat hielt.

Da es ringsum wenig Felder, nur Staub und graugrüne Steppenflächen gab, ritten der Rittmeister und ich nicht mehr auf ebenem Weg weiter, sondern querfeldein. Als ob die Erde nur uns und den Pferden gehörte, so jagten wir meilenweit über staubiges Feld und über dürre Weiden. Nirgends war hier der Wollust des Reitens eine Grenze gezogen. Nichts stellte sich zu seiten des Weges auf, nur hie und da Erdhütten der Indianer aus ungebranntem grauem Lehm, gleich Maulwurfbauten, graue Erdwürfel ohne Fenster, nur mit einer Tür und flachem Dach, stehen sie da und zeigen einem ein buntes Gemach. Fast überall an der Türschwelle lauerte ein Weib, das Maisteig zu handgroßen Kuchen klatschte. Und immer hörte man, wenn man an eine Erdhütte kam, von weitem schon das rhythmische Teigklatschen. Kein Singvogel, kein Laut, keine Blume, nur graues, dürftiges Gras Maisfelder oder Agavenpflanzungen, starr wie aus bläulichem Eisenblech, waren am Wege. Manchmal stürzten unsere Pferde bis an den Bauch in schlammige Erdlöcher, wenn die gedörrten Staubschichten durchbrachen, und das schwarze Morastwasser bespritzte uns bis an den Hals.

Als wir unsere Pferde heimwärts lenkten, lag das eisweiße Gebirgsmassiv des Popokatepetel und des Irrtaccihuatl unter dem Mittaghimmel wie ein bleiches Geisterpaar.

Wie getürmte weiße Gewitterwolken und nicht wie Eis und Stein lagerten diese Vulkane am fernen Erdrand, als könnten sie wachsen und verschwinden wie Wolken, je nach Laune. Wir kamen an großen Brandruinen vorbei, die hinter hohen Mauern schwarz in die Luft standen, und der Reitlehrer erzählte mir, daß dieses Haus ein Mädchenpensionat gewesen sei, daß aber vor Wochen sich die Söhne reicher Mexikaner in der Stadt zusammengetan und nachts das Kloster überfallen, die jungen Mädchen geraubt und die Nonnen verjagt hätten. Das verhaßte Schulhaus, das ihnen die jungen Mädchen aus der Stadt und aus ihren Augen entführt hatte, steckten sie noch in der Nacht in Brand. Man hielt zwar über die jungen Leute Gericht; da es aber lauter Söhne angesehener Familien waren, ließ man sie straflos. Doch wurde jeder von ihnen verpflichtet, das Mädchen, das er geraubt hatte, zu heiraten. Nur eine einzige hatte sich nicht rauben lassen. Sie war eine vorzügliche Reiterin, und als die jungen Männer nachts hereinbrachen, sprang sie auf ein Pferd und sprengte allein in die Nacht hinaus und in die Stadt zu ihrer Mutter.

„Ist das vielleicht die, welche jetzt mit dem Polizeipräsidenten verlobt ist?“

„Ja.“ Sagte der Reitlehrer, „kennen Sie die junge Dame?“

Dieses Mal riß mein Sattelriemen nicht, und ich konnte nicht anders, als notgedrungen eine Antwort geben. Ich sagte scherzend und nach der Räubergeschichte zum Humor geneigt: wenn ich jetzt der Dame begegnen würde, so wollte ich gern mit dieser Reitkünstlerin um die Wette reiten.

„Oh, wenn Sie die Dame sehen wollen, ist das sehr leicht. Sie reitet täglich um elf den Paseo hinunter nach Chapultepec hin und zurück.“

„Dann reiten wir jetzt den Paseo zurück,“ sagte ich lachend und im Spaß, „denn es könnte sein, daß der Polizeipräsident neben ihr reitet, und das würde mich wütend machen.“

Der Reitlehrer sah mich einen Moment von der Seite an und sagte dann: „Ach, will die junge Dame Ihretwegen ihre Verlobung mit dem Polizeipräsidenten lösen?“

Er ist doch zu naiv, der junge Herr, dachte ich. Aber ich fand es plötzlich gar nicht unmöglich, daß sich hier in Mexiko Dinge ereignen könnten, von denen ich mir in Europa nichts hätte träumen lassen.

Ich nickte nicht, aber mein Pferd hatte mir im Reiten einen Stoß gegeben, so daß es so aussah, als ob ich zustimmend nickte. Und ich sah aus dem respektvollen Blick des Reitlehrers, daß er mich für denjenigen hielt, den ganz Mexiko beneiden würde, wenn die Verlobung des Polizeipräsidenten gelöst wäre. –

Seit diesem ersten Ausritt wußte ich nun mit Bestimmtheit, daß mir täglich auf dem Paseo oder auf anderen Wegen unter Reitern, die da allmorgendlich ihren Spazierritt machten, auch die schöne Mexikanerin begegnen könnte. Trotzdem ich immer an sie dachten, wenn ich die Hoteltreppe hinunterschritt, und auch noch, wenn ich dem Indianer, der mir das Pferd morgens am Hoteltor vorführte, die Zügel abnahm, so hatte ich sie fast ebenso schnell vergessen, wenn ich einmal im Sattel saß und den Tumult der Marktstraßen und das Morgengewühl hinter mir hatte und in den breiten Promenadenweg des Paseo einritt.

Nach ein paar Tagen merkte ich, daß meine „Stella“ die Gewohnheit hatte, vor Straßenwalzen zu scheuen, ebenso vor Rohren, die man zu Kanalisationszwecken an mancher Wegkreuzung hingelegt hatte. Ach, dachte ich mir, ich sehe schon, wie ich mich blamieren werde. Sicher kommt, wenn ich eben von ferne die Mexikanerin zum erstenmal sehen werde, eine unglückselige Dampfwalze um die Ecke, oder es liegt ein Kanalrohr am Weggraben.

So ähnlich kam es auch, nur noch schlimmer.

Eines Mittags sehe ich in der Ferne, als ich vom Schloß Chapultepec zur Stadt reite, eine Staubwolke. Ich war eben vom Pferd gestiegen, um mir einen Sporn fester zu schnallen, der sich nach dreistündigem Ritt gelockert hatte. Mein Pferd, das ruhig neben mir steht, schnuppert plötzlich in die Luft. Ich höre ein fernes Donnern, als ob ein Eisenbahnzug hinter der nächsten Agavenhecke hervorkäme. Da haut meine Stella ihre Hinterhufe in die Luft und fliegt über den Weg querfeldein davon, und ich sehe nach.

Was ist das? Scheut das Pferd vor einem Eisenbahnzug, den ich nicht sehe, oder ist eine Schlange in der Nähe? Vorhin, als ich an einer Hecke vorbeiritt, hatte sich das Pferd gebäumt und geschnuppert. Es mußte da wahrscheinlich eine große Schlange im Gebüsch gelegen haben. Ich schaue meinem Tiere nach und rufe. Da sprengt die Staubwolke, die ich vorher gesehen hatte, heran. Ich sehe grau in grau einen Reiter und eine Reiterin; das Pferd der Dame ist scheu, und sie selbst hängt nur halb im Sattel. Der Herr bemüht sich vergeblich, die Zügel ihres Pferdes zu fassen, um das Tier zum Stehen zu bringen, und er hängt auch halb aus dem Sattel. Die beiden sind vorüber und lassen mich in einer Wolke blind und grau von Staub zurück.

Als der Dunst um mich sich legt, sehe ich in der Ferne einen Indianer, der von einem Maultier gesprungen ist, mir mein Pferd eingefangen hat und es mir entgegenführt. Eine Stunde später, als ich ins Hotel komme, fragt man mich, ob ich das Erdbeben bemerkt hätte. Alle Hängelampen im Haus hätten geschaukelt, und Bilder wären von den Wänden gefallen; einige Leute wären auch erschrocken auf die Straße gestürzt, andere hätten aber kaum etwas gemerkt. Man war nur ängstlicher als sonst, da vor vier Wochen eine ganze Stadt in einem Augenblick mit Tausenden Menschen eingestürzt war, und da man befürchtete, Ähnliches könne jeden Augenblick der Hauptstadt Mexiko auch drohen.

Ich dachte nochmals zurück an das unterirdische Donnern, das ich draußen auf der Ebene gehört, und das ich für einen Eisenbahnzug gehalten hatte. Ich erinnerte mich wieder, daß mir, ehe das Donnern in der Erde begonnen hatte, und ehe mein Pferd den Hinterleib in die Luft geworfen hatte und querfeldein gestürmt war, die seltsame Totenstille in der Luft unbewußt aufgefallen war.

Der Feuergott Chac Mol und die Erdgöttin Coatlicue, die bei den fernen Kratertöpfen hockten, hätten jemand verflucht, und die Kinnladen der Erdgöttin und die Kinnladen des Feuergottes hätten dabei geknirscht, sagten die Indianer. – Ich saß im Speisesaal des Hotels, wo ich, verspätet und als einzelner Gast, mir das Essen nachservieren ließ. Der Indianerboy glitt eifrig wie eine lautlose Eidechse um meinen Tisch und trug die vierzehn kleinen Gerichte auf, die es täglich auf winzigen Tellern gab, wobei jedes Gericht nur aus einem einzigen Happen bestand, kaum größer als die Taschenuhr in meiner Westentasche: 1. Ein Salatblatt mit einem halben Ei und einer Sardine. 2. Einige braune süße Bohnen, die Lieblingsspeise der Indianer. 3. Einige winzige Eingeweideteile vom Kalb oder Rind. 4. Eine rote Paprikaschote, mit gebackenem Huhn gefüllt. 5. Ein winziges, talergroßes Beefsteak. 6. Gelber Curry und ein kleines Häufchen Reis. 7. Eine halbierte geröstete Tomate. 8. Ein paar Weinbergschnecken. 9. Ein wenig gelber Maisbrei. 10. Ein Stück Hals oder Magen von einer Ente, gedünstet. 11. Geriebene Kokosnuß mit gebranntem Zucker. 12. Ein paar Bananenstreifen, mit Zucker geröstet. 13. Einige frische Mangofrüchte. 14. Getrocknete Trauben mit Mandelkernen.

Das war täglich so ungefähr das Lunchmenü. Das Diner am Abend war etwas reichlicher, da dann Roastbeef und Suppe in einer Tasse und Kaffee und Pudding dazu kamen. Wünschte man keinen Importwein, so trank man destilliertes Wasser aus einem großen messingenen Destillator, der, ähnlich wie der russische Samowar, in der Zimmerecke der Schmuck eines jeden mexikanischen Hauses war.

Essen und Trinken erschienen mir so künstlich wie möglich und weit entfernt von meinen europäischen Gewohnheiten. Der Indianerboy ging wie ein lautloser Jaguar elastisch um mich herum, kam und verschwand mit den winzigen Tellern und sah in seinem weißen Anzug, mit dem grotesk dunkeln Kopf, wie ein weißer Schneemann aus.

Ich hatte eben abgegessen und starrte, während ich mir eine mexikanische Zigarette drehte, in mein Glas mit destilliertem Wasser und wunderte mich, daß ich ein Erdbeben erlebt hatte, ohne es zu wissen. Da schiebt der Indianerboy einen Teller mit einem Brief zwischen mich und das Wasserglas. Ein Diener hatte den Brief abgegeben. Der Reitlehrer, der mich bei dem ersten Ausritt begleitet hatte, schrieb mir:

-...heute morgen kam jene Dame, von welcher wir neulich sprachen, zu uns in den Reitstall und sah sich neue Pferde an. Sie ritt dann einen eben aus Teras eingetroffenen Hengst zur Probe, und ich mußte sie auf dem Ausritt begleiten. Ich wußte, daß sie den Paseo gegen Mittag zurückkommen würden und begleitete die Dame und wollte es so einrichten, daß wir Ihnen begegneten. Aber unsere Pferde, die wahrscheinlich vor dem Erdbeben scheuten, gingen durch, und ich rettete mit Mühe die Dame, deren Pferd ganz toll geworden war. Auf dem Heimweg, als sich unsere Pferde beruhigt hatten, erzählte ich ihr, daß Sie sicher sehr bedauern würden, daß Sie nicht Gelegenheit gehabt hätten, mit ihr um die Wette zu reiten, und nannte dabei Ihren Namen.

Sie fragte mich, ob ich Sie öfters sähe, und ich sagte ihr, daß Sie bei uns ein Pferd gekauft hätten, welches Sie täglich ritten. Sie schien nichts davon zu wissen und bat mich, Ihnen folgendes zu bestellen: Sie möchten heute abend zwischen fünf und sechs Uhr zur Korsozeit nach der Glorieta di Colon kommen und zu ihr in den Wagen steigen, der dort halten wird. Sie wünscht Sie dringend zu sprechen. Die Dame bat mich zugleich, in diesem Brief ihren Namen nicht zu nennen, für den Fall, daß der Brief in falsche Hände gelangen sollte. Sie selbst wissen ja, welche Dame gemeint ist, und wer sie heute abend auf dem Korso erwartet.

Erstaunlich! Die Erde beginnt zu beben und mein Schicksal auch, dachte ich für mich. Ich wollte zuerst den Brief an der Kerze, die mir der Boy zum Zigarrenanzünden reichte, verbrennen, besann mich aber und steckte ihn in meine Brusttasche. Ich war zu bewegt, um eine leichte Zigarette zu rauchen, und hatte mir eine Zigarre aus dem Etui genommen. Im Schaukelstuhl oben auf meinem Zimmer wollte ich mich, beim gewichtigen Blau des Rauches einer echten Havanna, nach der Lektüre dieses überraschenden Briefes sammeln.

Die Erde wurde hier jetzt wirklich heiß unter meinen Füßen. Sie bebte und verführte mich, und bald würde ich keinen Schritt mehr tun können, ohne daß immer Erdbeben um mich wäre, wenn ich einmal den ersten Schritt auf diesem jetzt so heißen Boden hinter mir hätte: die erste Begegnung allein mit der Mexikanerin.

4. Der Totenpfad

Oben auf meinem Zimmer fand ich europäische Post vor, und unter andern Briefen einen aus London, von einer Dame geschrieben. Es war die Engländerin, die ich in Pouldu kennengelernt hatte, und die mir für einen Gruß dankte, den ich ihr vor Wochen gesandt hatte, und in dem ich mich nebenbei nach den andern Bekannten, nach den amerikanischen Malern und nach der Österreicherin, erkundigt hatte.

"...und außerdem habe ich Ihnen noch eine recht traurige Nachricht mitzuteilen", so schloß der Brief. "Die Österreicherin, die uns allen so rätselhaft erschien, ist nicht mehr unter den Lebenden. Sie hat sich in Paris in ihrem Atelier erschossen. Man sagt, sie habe einen Polen kennengelernt, den sie liebte, der sie vor kurzem verlassen hat, und den sie nicht vergessen konnte. – Die Liebe will ihre Opfer haben wie der Atlant", fügte die Engländerin hinzu. –

Ich saß am Schreibtisch. Meine Zigarre war ausgegangen. Ich hatte den Brief zu mir gesteckt. In der linken Brusttasche trug ich die Einladung zur Mexikanerin, in der rechten Brusttasche die Todesnachricht der Österreicherin, und beide Briefe kämpften jetzt in mir wie zwei Farben, die mich beschienen. So wie das Gesicht eines Menschen, der in ein rotes flammendes Kaminfeuer schaut und zugleich noch von einem weißen Fenster und dem weißen Wintertag dahinter beleuchtet wird, so rot lebensvoll und schneeweiß tödlich blaß war mir mein Blut von beiden Briefen in der Brust beleuchtet. Die Liebe will ihre Opfer. Wie Wasser, Feuer, Luft und Erde ist sie ein wildes Element, die Liebe; ein Element, das, weise genommen, beglückt und selig macht und den Himmel zur Erde bringt. Aber töricht genommen ist sie eine Hölle, ein Krater, der Menschen und Schicksale verschlingt und Menschen ausrotten kann, daß nicht von ihnen bleibt. Doch wo ist der Gott, der der Liebesleidenschaft jemals Weisheit lehrt! Nichts, nichts blieb mir von jener warmen Begegnung am Atlant als in meinem Koffer der verfluchte Graphitkarbonstift, der damals an einem Morgen voll aufkeimender Annäherung zwischen zwei Menschen die Fühlung ausgestrichen hatte. – So sprach ich mit mir.

Der Tropenregen stürzte draußen von der Verandatür in den Hofschacht des Hotels hinunter. Von drunten hörte ich das Wolkenwasser wie Kieselsteine auf das Pflaster prasseln. Ich mußte meine Tür schließen; der Regen spritzte bis an meinen Schreibtisch herein. Er war so heftig, laut und herrisch, als wäre er ein Mensch, der Haus und Erde mit Ruten peitschte. Unmäßig betrunken von Wut, wie ein von Pulque berauschter Indianer, tobte der Wassersturz draußen überall und schlug überall hin und war wie eine tobsüchtige Waffe, die sich auf die Erde stürzte und sich in die Steine und die Erde beißen wollte, sinnlos, atemlos, keuchend und schäumend wie ein Epileptiker, der hinstürzt und schreit, um sich schlägt und den Menschen von Teufeln besessen scheint.

Die Stimme dieses bestialischen Tropenregens draußen war wie das verwilderte Geheul und der Wutausbruch, dem ich hätte verfallen mögen, wäre ich nicht zu Beherrschung, zu Zucht und Maßhalten in allen Leidenschaften durch Erziehung, Umgebung, Beruf und Bluttradition geschult worden. Ruhe behalten und schweigen können in den leidenschaftlichsten und heftigsten Augenblicken des Lebens sind mir aber so zur zweiten Natur geworden, daß ich mich für affektiert und verlogen halten würde, wenn ich mit irgendeinem Ausbruch von Wut und Heftigkeit die Stunde begleiten wollte, in der ich ein Unglück erleiden muß.

So ging ich nun vom Fenster fort, setzte mich in die Sofaecke, hielt die Hände vor die Ohren, um nicht von der Regenheftigkeit aufgeregt zu werden, und stellte mir vor, daß die arme Österreicherin jetzt kalt, steif und einsam in dieser Erde lag. Wahrscheinlich von den Eltern noch in letzter Stunde verstoßen, vom Geliebten verlassen und voll Angst, Mutter eines vaterlosen Kindes zu werden, hatte sie zur Pistole gegriffen. Wenn es jetzt regnete drüben in Europa, fiel der Regen auf ein Grab mehr, das ich dort verlassen hatte. Europa, das mir oft als ein großes Grab erschienen war, ehe ich es verlassen hatte, schien mir aber jetzt heimlicher durch seine Gräber zu werden, weil es mir warm im Herzen wurde, wenn ich an alle die geliebten Toten dachte. Tote wärmen einen in der Fremde bei fremden Menschen oft mehr als die Lebenden...

Ich war über diesen Gedanken in der Sofaecke in einen Halbschlaf verfallen. Das Erdbeben heute morgen, der lange Ritt, die Aufregungen der beiden Briefe hatten mich ermüdet. Ich schlief und verschlief die Korsostunde; und als ich aufwachte, brannten draußen die elektrischen Lampen im Hotelhof und schienen in mein Zimmer. Ich hörte im Hoteltorweg unten die Zeitungsjungen, die die Abendblätter ausriefen, und ihre Rufe: "El Mundo de la mañana!!" – "Continente Americano!!" trompeteten wie aus großen Muschelhörnern hohl in den Hof, unter der Torbogenwölbung durch, in die Hausstille.

Der Regen hatte lange aufgehört, die Wasser waren längst verlaufen; alles kommt und geht hier in der Tropenwelt eilig und heftig – auch die Sonne, die jeden Abend, im Sommer und im Winter, Punkt sechs Uhr verschwindet, Punkt sechs Uhr morgens erscheint, keine Dämmerstunde kennt und schnelle Dunkelheit hinterläßt, wenn sie untergegangen ist. Gleich einer Lampe, die man ausgedreht hat, einfach, sachlich, traumlos, vollständig uneuropäisch benahm sich selbst die Sonne in dieser Zone des amerikanischen Kontinents.

Ich erwachte und wußte sofort, daß ich den Korso versäumt hatte. Aber da mich die Mexikanerin sehen und sprechen wollte, brauchte ich mich nur morgen abend zur Korsostunde einzufinden. Sie würde wahrscheinlich jeden Abend die Wagenfahrt machen wie alle Damen der Gesellschaft; ich hatte nur bis heute noch nicht die Zeit gehabt, an den Abendkorso zu denken, hätte sie auch im Wagengewühl schwerlich gesucht, da ich sie unter den Reiterinnen auf dem Reitweg vermutet hätte.

Ich stand auf und ging auf das Dach des Torgewölbes, von wo ich neulich die Frau des Astronomen auf der Straße unten zwischen der Mauleselherde gesehen hatte.

Die Gesimse der gegenüberliegenden Geschäftshäuser waren mit Reihen aus Hunderten von Glühlampen illuminiert, so wie es bei uns in Europa nur an fürstlichen Geburtstagen Sitte ist. Aber hier in Mexiko illuminiert man alle Häuser jeden Sonntagabend.

Ich sah viel Wagen voll Frauen; diese waren in weiße Spitzenmantillen, geschmückt mit Blumen im Haar, in hellen dekolletierten Seidentoiletten, rosa, weiß, blaßgrün, orangefarben, vom Korso zurückkehrend wie von einem Ball.

Die meisten ließen auf der Heimfahrt die Fächer im Schoße ruhen, und ich sah oben von der Brüstung des Daches auf viel schöne graziöse Hände, die auf den Knien in den Wagen ruhten, und sah manche Finger, die ein Taschentuch nervös zerknitterten. Ich sah lässige Hände, die bereits einen Handschuh ausgezogen hatten; sie spielten mit den Ringen an den Fingern der entblößten Hand, der Hand, die sie wahrscheinlich eben beim Abschied, einem Kavalier zum Kuß gereicht hatten. Denn an dem Platz Glorieta di Colon stehen gewöhnlich die Wagen in einem Halbkreis um das große Monument des Kolumbus, der jeden Abend zum Tagesabschied die ersten Schönheiten der mexikanischen Gesellschaft um sich versammelt. Am Wagenschlag plauderten die Herren in Gruppen mit den Damen. Man verabredet ein Wiedersehen im Theater oder in einer Soiree und plaudert angenehm beim letzten silbergrünen und orangegelben Sonnenuntergangslicht, indessen eine Musikbande, eine weiß gekleidete indianische Militärkapelle, die alte Liebesmusik beliebter spanischer Opern und Operetten liebenswürdig und sentimental unter den riesigen Korkbäumen des Platzes geigt, flötet, trommelt und trompetet.

Dies alles stellte ich mir vor, als ich jetzt auf die mit Spitzenmantillen verhüllten Köpfe und Schultern in den Wagen unter mir hinabsah. Und da ich von oben die Gesichter nicht beobachten konnte, unterhielt ich mich mit den vom Korso heimkehrenden Händen der Damen in der langen Wagenreihe.

Da bemerkte ich in einem Wagen zwei sehr erregte Hände in langen schwarzen Handschuhen, die einige weiße Briefe in den Fingern hielten und zerknitterten. Den Kopf der Dame konnte ich unter der schwarzen Spitzenmantille nicht erkennen, aber einige Linien an den Schultern und um die Knie beschrieben mir die junge Mexikanerin. Wenn sie es ist, wird sie vielleicht halten und mich aus dem Hotel an den Wagen rufen lassen! Jetzt war der Wagen gerade senkrecht unter mir. Unter Millionen Fingern hätte ich diese Finger und Handknöchel wiedererkannt, diese Finger, die damals so geschickt die Ventile der Lokomotive am Bahnhof von Orizaba aufgedreht, und deren Bewegungen sich in der Sekunde des allgemeinen Schreckens wie ein Gesichtsausdruck in mein Gedächtnis geschrieben hatten. Aber der Wagen mit den erregten Händen und mit den Briefen in den nervösen Fingern hielt nicht und fuhr vorüber. Ich ärgerte mich jetzt und erwachte wie aus einer Betäubung. Es war ganz elend von mir, daß ich eingeschlafen war, schalt ich mich; es war sicher etwas ganz Wichtiges gewesen, was mir die erregten Finger, die am Korso auf mich gewartet, mir hatten übergeben wollen. – Ich konnte den nächsten Abend kaum erwarten. Lange, ehe der Korso begann, setzte ich mich in das dem Korso nahegelegene Café an einen der weißen Onyxtische, die draußen auf der Terrasse stehen, und musterte die Wagen unter den Bäumen des Paseo, die langsam heranfuhren oder stampfend vorbeijagten.

Warten zu können ist eine Kunst, die nicht die meine ist. Ich gestehe diesen Fehler meines Charakters gerne ein. Es war mir, als wären meine Kleider alle zu eng, so unbequem wurde mir das Stillsitzen vor den beweglichen Pferden und Wagen. Hundertmal tauchte das Gesicht der jungen Mexikanerin in der Ferne in einem Wagen auf, um sich beim Näherkommen in ein gleichgültiges, fremdes Gesicht zu verwandeln, dem ich, wenn es näher kam, nicht mehr ansehen konnte, wie ich es für die Erwartete hatte halten können. Ein Spukteufel spielte mit mir. Ich saß bei dem Tisch im Café wie auf einer Folterbank. Heiß und kalt sank das Blut in mir auf und nieder, und der ganze Korso verwandelte sich vor meinen Augen in einen Drehkreisel, auf den tausend junge Mexikanerinnen gemalt waren, die, wenn der Kreisel sich drehte, alle zusammen das Bild einer einzigen erwarteten Dame gaben, die aber, wenn der Kreisel stillstand, tausend gleichgültig fremde Gesichter zeigten. Mitten unter den Damengesichtern sah ich plötzlich den Abbé – den Abbé der Mexikanerin. Er saß allein in einem Wagen. Und – es war kein Spuk – er hielt ebenfalls einige Briefe in der Hand, die er erregt zerknitterte. Er sah geradeaus nach der Plaza de la Reforma und fuhr im Trab vorüber.

Vielleicht kommt sie noch! Vielleicht haben sich der Abbé und die Mexikanerin verabredet, einander hier zu treffen, dachte ich mir. Ich wartete nun etwas ruhiger. Es war, als ob wenigstens der Schatten der Erwarteten bereits auf dem Korso angekommen wäre; sie selbst konnte nicht mehr fern sein. Ich betrachtete jetzt auch die jungen Mexikaner, die in gelben Ledertrachten auf silberbeschlagenen Sätteln saßen; ihre kleinen Pferdchen hatten mächtig wallende Mähnen und einen wallenden Schweif, der wie eine seidige Schleppe fast bis auf das Pflaster reichte. Diese reichen jungen Herren trugen kostbare graue Filzsombreros, reich mit Goldbroderien verziert; und mancher dieser Herrenhüte sollte viele hundert Dollars kosten, hatte man mir erzählt. An der Seite der mit schönen Frauen besetzten Wagen galoppierten oft mehrere Kavaliere in dieser reichen nationalen Reitertracht, aber auch viele Reiter auf gestutzten englischen Rennern begleiteten die Karossen.

Der Wagenstrom eilte auf der sehr breiten belaubten Straße der untergehenden Sonne nach. Es sah aus wie eine Flucht allen Reichtums, der mit der Abendstunde die Häuserstrecken verlassen hätte und zu Pferd und Wagen auf diese breite Promenadenstraße in die Ebene vor die Stadt hinausströmte, und als müßten die Pferde im Wettlauf die verschwindende Sonne einholen. In einem Wagen sehe ich plötzlich auch Angela heranfahren an der Seite eines Subjektes, das einem der Raubmenschen ähnlich sieht. Arme Angela, dachte ich. Du arbeitest mit noch mehr als drei Armen, mehr als dein mißgeborener Bräutigam, um dir ein Hochzeitsgut zu verdienen. Der junge Mann hatten den Arm im Wagenfond hinter Angelas Rücken liegen, er hatte den Hut keck schief sitzen und trug eine feuerrote Nelke im Knopfloch. Er flog mit Angela vorüber, als habe der leibhaftige Teufel Leichtsinn das schöne Indianermädchen im Arm und führe übermütig mit ihr direkt zur Hölle.

Nun hielt es mich nicht mehr in der Ruhe auf der schmalen Kaffeehausterasse; ich mußte mich unter die Figuren des kreiselnden Korsos mischen. Alles lebte hier; das kleinste Indianermädchen jagte seinem durchgehenden Herzen nach. Die Blicke der schönen Frauen reihten sich wie Edelsteinketten in der Luft vor meinen Augen auf; die Fächer schienen alle zu winken. Alle winkten: Eile dich, die Sonne vergeht! Eile dich, jeder Tag endet unter der Erde! Eile dich und lebe!

Ich fand nichts. Ich betrachtete alle Wagen, die beim Musikkiosk in zwei Reihen standen. Ich fand sie nicht. Auch den Abbé konnte ich nicht mehr entdecken.

Jemand ruft meinen Namen. Der junge Reitlehrer aus der Schule des Österreichers reitet zu mir an den Trottoirrand und spricht rasch:

"Die Dame hat sie gestern erwartet. Vorhin war sie bei uns im Stall und erklärte, sie müsse bis nächsten Sonntag verreisen. Sie käme aber nächsten Sonntag zum Stiergefecht, das da stattfindet, in die Stadt zurück."

"Sie hat nichts hinterlassen, daß ich sie dann sehen könnte?"

"Nein, sie sagte nichts mehr von Ihnen. Ich kam nur hierher, weil ich annahm, da Sie sich gestern verfehlten, würden Sie vielleicht heute zum Korso kommen, um die Dame zu suchen. Und ich wollten Ihnen ihre Abreise mitteilen."

Ich dankte dem jungen Mann. Der nickte nur, als wollte er sagen: ich weiß, wie das tut, wenn man wartet. Dann ritt er zur Stadt zurück, und an mir rollte die lebende Mauer der Wagen von neuem vorüber. Aber nun war alles ein unsinniges Gewirr von Pferdehufen und Rädern. Ich blieb noch einen Augenblick an der Reforma stehen und hörte auf einen spanischen Tanz; es war jetzt ganz dämmerig.

In einigen der eleganten Häuser um den Promenadenplatz, die da in Gärten liegen, leuchteten Lampen auf Balkons. Zu Füßen der Kolumbusstatue lag die stillstehende Wagenwelt im Abendschatten. Wie ein weißer Eispalast mit grünlichen und goldenen Toren leuchteten in der Ferne die Kratergletscher des Jxtaccihuatl und des Popocatepetl unter den Korkbäumen durch. Die Welt begann sich eben vom Tag in die Nacht umzukleiden. Die Sonne war verschwunden. Wie ich noch schaue, ging dicht neben mir ein junger Mann vorüber. Der hatte große Augen, unruhige, geistesabwesende Augen, wie einer, der mehr und Schrecklicheres sieht als die andern Leute. Ich schaute ihm nach, da er so wunderbar fortgerückt aussah. Er schien meinen Blick im Rücken zu fühlen. Er wendet sich um, lächelt, kommt zu mir heran, und mit einer Stimme, die sich freut, daß sie reden darf, fragt er mich, ob es schon zehn Minuten nach sechs Uhr sei. Im gleichen Augenblicke sieht er am Hause hinter mir hinauf; er wartet meine Antwort nicht ab. Ich wundere mich ein wenig und gehe weiter. Ich habe eben noch gesehen, wie oben eine weiß gekleidete junge Dame in kurzen Kleidern auf den Balkon trat. Ich gehe im Rhythmus der Musik, die eben die letzten Takte des "Danza" spielt, der immer der Abschluß der Korsomusik ist, weiter. Die Bratschen, die Pauken und die Messinginstrumente spielen rasend wie eine wilde Jagd. Es schien mir, man sah die Notenmasse wie ein berstendes Schlußfeuerwerk in die Lüfte verprasseln, und es war, als könnten nun alle großen Korkbäume sich plötzlich entwurzeln und wie die Besen von Hexen und Teufeln in die Lüfte davontanzen in das finstere Loch der riesigen, plötzlichen Tropennacht.

Mir entgegen sehe ich mit einem Male viele Leute kommen. Ein Tumult entstand. Die Menschen drängen und reden, und einige stolpern und fallen vom Trottoirrande. Die Pferde an den Wagen scheuen, unter den Hufen der erschrockenen Gespanne knattern bläuliche Funken; viele Damen richten sich in den nächsten Wagen auf, und auf den meisten Gesichtern malt sich ein fragender Schrecken und eine geisterhafte Blässe. Einige halten die Fächer vor das Gesicht und schauen fort, blaß, als ob sie einer Ohnmacht nahe wären. Die Musik schweigt. Ich werde vom Menschenstrom an ein Gartengitter gedrückt. Ich sehe Polizistenhelme an mir vorübereilen. Es ist ein Unglück, irgend etwas Unerwartetes in der Luft. Niemand scheint noch Ende und Anfang zu wissen.

Dann schiebt man mich zu einem Menschenknäuel, aber ich kann nicht weiterkommen; ich erfahre nur, daß sich einer erschossen hat. Plötzlich entstehen gellende Schreie, Rufe, oben in demselben Haus, auf demselben Balkon, wo eben das weiß gekleidete Mädchen gestanden hat.

"Ein junges Mädchen und ein junger Mann haben sich Aug‘ in Aug‘ erschossen", hörte ich neben mir einen Polizisten ein paar Damen in einem Wagen zurufen. "Das junge Mädchen erschoß sich oben auf dem Balkon, der junge Mann mitten auf der Straße!"

Warum? – Danach fragte niemand. Alle wußten und fühlten, warum. Die Damen sahen sich mit tränenden Augen an. Die Kutscher schlugen nicht mehr auf die Pferde, um nicht mit den Peitschen laut zu knallen.

"Leise! leise!" hörte ich viele Damen ihren Kutschern zurufen.

Zwei Liebende waren mit der untergehenden Sonne vom Korso fortgegangen und hatten ihre Körper bei den letzten Takten des wilden "Danza" hingelegt.

"Leise – um Gottes willen leise!" Dieses Rufen, diese Furcht, Tote zu stören, nahm ich mit mir; und als ich dann zu Fuß der Stadt zuschritt, an den Lichterketten der Millionärspaläste vorüber, die den Anfang des Paseo säumen, da war mir so schwer ums Herz. Undwie der junge Selbstmörder vorhin meinen Blick im Rücken gefühlt hatte, so fühlte ich jetzt den Blick des Todes hart und drückend in meinem Rücken.

Ich hatte ein Stelldichein mit dem Leben erwartet und war dem Tod begegnet.

Gestern, als mich zum erstenmal wieder das Leben im Brief der Mexikanerin zu sich geladen, da stellte sich sofort auch eine Tote aus Europa daneben und machte mich todmüde. Heute, als ich mich anstrengte, das Leben aufzusuchen, schlaflos, aufgeregt, erhitzt, da begegnete mir einer, der nach der Uhr fragte, nach der Zeit, die ihm seine abgelaufene Zeit verkünden sollte, und statt des Lebens sprach mich einer an, der jetzt in der Nacht bei der toten Geliebten ausruhte, still, kühl, müde. –

Welch ein Doppelgesicht hatte dieses unbarmherzige Land für mich! Ich fürchtete mich früher nie im Dunkeln. Als ich aber im Hotel in mein dunkles Zimmer trat und an den Schreibtisch stieß, wohin ich heute den Bleistift der Österreicherin gelegt hatte, und der Bleistift zu rollen begann und vor meine Füße kollerte und ich mich bückte und den Bleistift aufhob – da durchschauerte es mich, als hätte ich in dem Bleistift die Knöchel von Toten angerührt. –

Ich schloß die Glastür sorgfältig, noch ehe ich Licht angemacht hatte. Das mußte man hier im Tropenland, sonst stürzten in den Lichtschein abends tausend Moskitos herein, tausend winzige Teufel, die spöttisch singend die Luft durchzogen und aus dem Gesicht einen unförmigen Fleischklumpen machen konnten. Sie sogen sich zu Dutzenden an deinen Poren fest, hinter den Ohren, am Hals, in den Augenwinkeln, in deinen Nasenflügeln, auf den Augendeckeln, auf den Wangen und auf der Stirn. Sie rissen dich aus deiner Gefühlswelt, aus jeder Schwärmerei in die blutdürstige Wirklichkeit hinein. Sie sahen dich nicht als ein Mitgeschöpf an, sondern als ihre Nahrung, als ihr Wild, dem sie auf die schlaueste Weise vom Abend bis zum Morgen nachstellten. Am Tag zogen sie in die Sonne hinaus oder schliefen in Möbelritzen oder hinter den Tapeten oder an der Zimmerdecke von ihren nächtlichen Treibjagden aus. Jeden Abend tötete ich hunderte und hunderte, und es gehörte eine Kunst und Gewandtheit dazu, unter das Moskitonetz ins Bett zu gehen, ohne daß dir Trupps der blutlüsternen Teufel nachfolgten. Zweien oder dreien gelang es aber immer, unter den Musselinbaldachin zu schlüpfen, und diese zwei und drei wurden gegen Mitternacht, wenn du sie abgewehrt hattest, zu Wütenden, Verzweifelten, die dich aus den Falten des weißen Betthimmels belauerten und dann sanglos, vorsichtig und bissig den Moment abwarteten, wenn dir nach ewiger Notwehr einen Augenblick die Augen zufielen. Sofort bildeten sich Beulen an den Stellen, wo sie dein Blut anzapften, und sie flogen triumphierend singend davon, wenn du dich von neuem wehrtest. Zuletzt nimmst du ein Buch, drehst das elektrische Licht an und beginnst im Bette sitzend zu lesen und ab und zu mit dem Buch um dich zu schlagen, bis die Sonne morgens um sechs Uhr aufgeht, die die Teufel verschwinden macht.

So habe ich jede Nacht alle die Monate in Mexiko bei Licht bis zum Morgen lesen müssen. An Schlaf war in diesem Moskitoland nicht zu denken, und ich hörte von Europäern erzählen, die bereits seit Jahren dort waren, daß sie seit Jahren nicht mehr geschlafen, sondern nur gelesen hätten. Der ganze Schlaf der so gequälten Europäer besteht aus zwei, drei Schlafstunden nachmittags, nach dem Lunch zur Siestazeit; die Nachtzeit ist mir beim Kampfe gegen die blutdürstigen kleinen Bestien ausgefüllt. An diesem Abend ging ich zwar noch nicht zu Bett; aber nach der Schreckensszene am Korso und nach dem verfehlten Stelldichein mit der Mexikanerin wollte ich ein wenig allein sein, ehe ich in den deutschen Klub zum Essen ging.

"Ein Telegramm!" Der Indianerboy klopfte von außen an meine Glastür, und ein Telegrammbote mit einer Blendlaterne in der Hand stand auf der Veranda. Ich erschrak, als hätte ich jetzt erst den Schuß des Selbstmörders, der mir vorher auf dem Korso bei den letzten lauten Paukenschlägen der Musik entgangen war.

Ich ging, um zu öffnen, und fürchtete etwas Unbestimmtes, als ich draußen die gelbe grelle Blendlaterne sah, die wie ein Zyklopenauge durch die Glasscheieb hereinsah. Ich hatte das Gefühl, als ließe ich jetzt, wenn ich die Tür einmal aufmachte, eine Unzahl von Dämonen und Ungeheuern herein, eine Sintflut von Unglück und Sorgen, einen Berg, der sich aus Schrecken und Finsternissen aufbaute, und als dessen Vorbote mich diese Blendlaterne des Telegraphenboten grinsend und fürchterlich ansah. Und was waren die blutsaugenden Teufel, die Moskitos, gegen diese Schrecken, denen ich jetzt die Tür öffnete! –

Eine halbe Stunde später stieg ich umgekleidet im schwarzen Frack und weißer Weste drunter vor dem Hotel eilig in ein Auto und fuhr zur Kinderoper, wohin mich das Telegramm, das ich jetzt in den Händen hielt und beim elektrischen Glühlicht im Automobil immer wieder las, bestellte. "Bitte, kommen Sie, wenn Sie dieses Telegramm erhalten, zur Kinderoper. Es erwartet sie in Loge 23 eine Dame, die dringend Ihres Rates bedarf, und die Ihnen von der Fahrt nach Mexiko her bekannt ist. Ich ersuche Sie, während eines Aktes (wenn das Theater dunkel ist) in die betreffende Loge zu kommen. Es gilt ein Menschenleben!"

Dieses Telegramm konnte natürlich nur von der Mexikanerin sein. Aber der Rittmeister sagte doch, sie sei heute abgereist und komme erst am Sonntag zum Stiergefecht wieder! Vielleicht war es doch die blonde Astronomenfrau, welche telegraphierte? Ist ihrem Mann etwas zugestoßen? Es ist nicht unmöglich. Vielleicht hat ihr Mann Fieber! Aber warum kommt sie dann nicht in das Hotel? Warum in die Kinderoper? Ich war ratlos. Da lese ich die Aufgabestelle des Telegrammes, die außen unleserlich vermerkt war. Der Ort hieß nicht Mexiko, sondern Ameca-Meca und Hazienda San Isidro. Es war also doch die Astronomin, denn die Mexikanerin konnte nicht zugleich im Theater und auf dem Lande sein. Und ich dachte mir zuletzt, die Astronomenfrau sei vom Land herangereist. Vielleicht haben sie und ihr Mann von Ameca-Meca aus den Popolatepetl besteigen wollen, denn dafür ist Ameca-Meca der gewöhnliche Aufstiegsort. Ihr Mann, der Astronom, wird auf einer Hazienda verunglück liegen, und sie wollte als ehrbare junge Frau einen einzelstehenden Mann wie mich nicht in dem Hotel bei Nacht aufsuchen. Sie kommt eben erst zur nacht in Mexiko an, und sie wählte ein Theater, um mich dort, da ich einige medizinische Kenntnisse besitze, über den Gesundheitszustand ihres Mannes zu befragen und sich Rat zu holen ... Aber nein! Alles das war erst recht unmöglich! "Es gilt ein Menschenleben!" So schloß das geheimnisvolle Telegramm.

Es gilt ein Menschenleben! Wie das schwerwiegend klang. Drei Menschenleben hatte ich in diesen zwei Tagen um mich verschwinden fühlen, eine Bekannte gestern und zwei Fremde heute. Und Schauder rieselte mir durch das Blut. Es war mir, als säße ich vollständig nackt in einem dichten, eisigen Schneefall, so kalt war mir von den eisigen Ereignissen.

Das Theater, das ich erreichen sollte, nannte sich für diese Saison die "Kinderoper", weil dort eine spanische Kindertruppe Opern aufführte. Die kleinen Spanier waren eben erst aus Madrid über das Meer gekommen und spielten zweimal täglich, nachmittags und abends. Mir erschienen solche Aufführungen zu abgeschmackt, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie unreife Kinder mit ihren kleinen strahlenden Stimmen und ohne sonoren Grundton die langen Partien ernster Opern singen sollten. Ich war deshalb noch nicht in diese Oper gegangen und besuchte abends meist das Nationaltheater. Aber ich konnte mir gut denken, daß die indianische Bevölkerung und die mexikanische, die doch auch das Mißgeburtenmuseum und die verzwickten und grauenhaften Götterknäule mit Behagen betrachteten, an dem überreizten Sinnengenuß, den Operndivas von neun und zehn Jahren bieten, Gefallen finden mußten. Nein, das konnte doch nicht die blonde Astronomin sein, die die Kinderoper wählte! Das wäre unmöglich! Das war die Mexikanerin!

Und jetzt mit Bestimmtheit annehmend, daß ich heute abend nicht blondes, sondern schwarzes Haar bewundern dürfte, traf ich mit dem Auto vor dem Theater ein.

Die Oper hatte längst angefangen, und man war beim zweiten Akt von Puccinis Bohème, wie mir die Logenschließerin der Loge 23 sagte, die mir zugleich zuflüsterte, ich würde schon lange von einer Dame erwartet.

Von einer Dame! Während ich mein Gesicht im Spiegel einer Sekunde betrachtete und meine weiße Krawatte ordnete, dachte ich mir: es ist nicht die Mexikanerin! Eine spanische Dame geht niemals allein ins Theater und verläßt überhaupt niemals allein das Haus zur Abendzeit. Es ist eine Europäerin. Es ist die Blonde.

Dann trat ich in die Loge, wo die Schließerin bereits flüsternd meine Ankunft gemeldet hatte. Dann im dämmerigen, beinah dunkeln Logeninnern stand die Mexikanerin vor mir.

In einer Ecke erkannte ich die Umrisse einer zweiten Frau, einer Dienerin, wie mir schien. "Oh, mein Herr", so empfing mich die Stimme, die ich so gut noch von der Eisenbahn her im Ohr hatte, und die ich sofort in der dämmerigen Loge wieder auf die Lokomotive versetzte, von wo sie zuerst zu mir herabgerufen hatte.

In diesem "Oh, mein Herr" lagen alle Worte einer langen Entschuldigung, einer Bitte, einer großen Angst, einer Hoffnungsfreudigkeit; ich brauchte nicht mehr zu hören. Es gibt Menschen, die so suggestiv zu sprechen verstehen, daß man mit drei Worten alles weiß. Ich wußte sofort: es handelte sich nicht im geringsten um meine Person. Das war mir gleich klar, als ich dieses "Oh, mein Herr" hörte, das mich in Distanz halten sollte wie ein leiser, kühler Degenstoß einer eleganten Florettfechterin. Ich war von vornherein durch dieses "Oh, mein Herr" zwar in einen Abstand gestellt, doch zugleich gebeten, zu helfen, zu retten, aber nichts zu erwarten und vorläufig nichts dafür zu fordern.

Ich sollte als Gentleman die Ehre des Vertrauens für genügenden Dank hinnehmen. Und ich sollte dafür den Genuß haben dürfen, einer ratlosen Frau zu helfen, ein Menschenleben aus Gefahr zu retten. Alles dieses lag in dem "Oh, mein Herr!"

Die Mexikanerin händigte mir dann ohne viele Umstände drei Briefe ein, die sehr zerknittert waren und die ich beinahe als alte Bekannte geküßt hätte, wenn das nicht störend gewesen wäre. Es waren dieselben Briefe, die ich gestern abend unter dem Hotelbogen in ihren Händen gesehen hatte. "Um der heiligen Madonna willen, lesen Sie bitte, lesen Sie, mein Herr, und dann sagen Sie selbst, ob das Ernst, Scherz oder müßige Laune eines hysterischen Menschen ist."

Sie deutete mit dem Fächer auf einen Stuhl neben sich, weit von der Logenrampe, und winkte ihrer Dienerin, daß diese an der Brüstung Platz nehmen sollte, um uns zu verdecken. Das Theater war fast dunkel, und nur ein schwacher Schein von der Bühne beleuchtete die Decke. Die Logenbrüstung legte einen hohen Schatten über uns, die wir im Hintergrund der Loge standen wo alle Glühbirnen ausgedreht waren.

Die Mexikanerin holte jetzt aus ihrem Ridikül eine winzige elektrische Taschenlampe, die sie auf die Briefe leuchten ließ.

Die Luft war heiß, die Lampe zitterte in der Hand des jungen Mädchens und beleuchtete bald die Briefe, bald die tief dekolletierte Brust, die sich tiefatmend hob und senkte, indessen die leidenschaftliche Musik der Bohème von drunten herauf aus dem Orchester die Luft liebeslüstern und verführerisch durchzog.

Ich nahm der Dame endlich die Lampe sanft aus der Hand und beleuchtete einen Brief nach dem andern, und als der Lampenstrahl nicht mehr die nackten Brüste des schönen Weibes beschien, wurde ich sachlich und las.

Dreimal stand dasselbe da geschrieben, in jedem Brief das gleiche; nur war die Schrift dreimal verschieden verstellt.

Der Schreiber sagte, daß dem Abbé eine Lebensgefahr drohe, und daß es in des Schreibers Hand liege, diese Gefahr abzuwenden. Wenn die Dame, deren Ergebenheit für den Abbé er kenne, dem alten Herrn das Leben erhalten wolle, müsse sie durch ein Inserat in der Zeitung antworten und eine hohe Summe angeben, die sie dafür zahlen wolle, weil nur dann ein beabsichtigter Mord unterlassen würde.

Die Mexikanerin fuhr mich eifrig an: "Ist das Ernst oder Witz, oder was ist es? Ich frage Sie. Ich weiß niemand, den ich hier fragen könnte. Sie wissen vielleicht, daß wir auf der Reise im Eisenbahnzug nachmittags viel von Handschriften, vom Charakter einer Schrift und vom seelischen Zustand des Schreibenden sprachen, und daß Sie damals versicherten, Sie getrauten sich zu, aus jeder Schrift zu erkennen, ob der Schreiber ernst, leichtsinnig, verlogen oder gewalttätig sei. Vor vier Tagen, als ich den ersten dieser Briefe erhielt, dachte ich sofort an Sie und erkundigte mich überall nach Ihnen. Ich ruhte nicht, bis ich herausfand, daß Sie im Reitstall des alten Österreichers ein Pferd gekauft hatten, und kam dorthin, unter dem Vorwand, mir Pferde anzusehen. Aber ich wünschte Sie zu treffen. Der Reitlehrer fing zufällig von ihnen an zu erzählen, und wir ritten aus. Als er den Weg zum Paseo nahm, war ich sehr froh, weil ich dachte, ich würde Ihnen dort, wo viele Reiter reiten, begegnen. Da kam das Erdbeben; die Pferde scheuten, und später gab ich dem Rittmeister den Auftrag, Sie zu mir auf den Korso zu bitten. Dort wäre eine Zusammenkunft ganz unauffällig gewesen. Wo alle Welt sich trifft, konnten wir leicht ein paar Worte wechseln. Sie kamen nicht.

Als ich dann aufs Lande fuhr, zog mich im Eisenbahnzug meine Angst um den Abbé so stark nach der Stadt zurück, daß ich sogleich am Bahnhof in Ameca-Meca Ihnen telegraphierte und Sie bat, in meine Loge hierher ins Theater zu kommen. Ich nahm den nächsten Zug und fuhr sofort wieder hierher. Dem Abbé habe ich gestern gesagt, daß ich Sie auf dem Korso erwarte. Er weiß noch nichts von jenen Briefen."

Ich wollte eben sagen, daß ich den Abbé heute auf dem Korso gesehen hätte, und daß er ebenfalls Briefe in der Hand gehalten habe – da meldet die Logenschließerin der Mexikanerin, daß ein Herr sie zu sprechen wünsche.

Ich ließ die elektrische Handlampe verlöschen.

Die Mexikanerin war aufgestanden und stellte sich zwischen mich und die Logentür, so daß der Lichtschein vom Korridor nicht auf mich fallen konnte.

"Bleiben Sie," sagte die Mexikanerin leise, "ich werde ihm entgegengehen. Es ist der Abbé. Es muß etwas ganz Besonderes sein, weil er selbst kommt. Ich werde ihn zuerst im Korridor sprechen. Zeigen Sie sich, bitte, noch nicht. Wir dürfen den alten Herrn nicht zu Tode erschrecken."

Nun wurde die kleine Loge für mich so höllisch warm wie ein Hexenkessel.

Als da junge Mädchen die Loge verließ, stand ich auf und sah, ohne mich der Brüstung zu nähern, auf das dunkle Parkett und auf die grellblaue Bühne hinunter, aber ich sah, ohne sehen zu wollen. Da unten standen Knaben von acht und zehn Jahren an der Rampe mit künstlichen schwarzen Wollschnurrbärten. Mit Kohlenstrichen war ihnen das Milchgesicht künstlich faltig gezeichnet worden. Mädchen von zehn und zwölf Jahren mit künstlich gepolsterten Brustkörben und hochfrisierten damenhaften Frisuren sangen quälend.

Diese Kinderschauspieler standen an der Theaterrampe wie eine Schar widerlicher Zwerge mit unwahren alten Gesichtern, und ihre miauenden Katzenstimmen klangen, als ob sie fernher aus den Trichtern kleiner blecherner Phonographen kämen und nicht aus Kehlköpfen von Menschen.

Ein kleiner Knabe von neun Jahren, der als behäbiger Bürger mit künstlichem, rundem Philisterbauch ausstaffiert war, und der mit dicken backen eine unmöglich tiefer Baßstimme zu markieren versuchte, der kaum noch ohne zu stolpern über Teppiche und Parkettboden gehen konnte, ekelte mich vor allem an. Der Held des Stückes war wohl sechzehn Jahre und sang besonders lasterhaft und herausfordernd den Damen in den Proszeniumslogen zu. Wie eine steife Marionette spielte er den Liebhaber, eckig, verlogen und unwahrscheinlich, und sah aus, als ob er immer noch jede Stellung in dem Spiegel vor sich sehe, vor dem er sich die Liebesszene eingeübt hatte. Er grinste, als wäre Liebe etwas schülerhaft Witziges, etwas gassenbubenhaft Unanständiges und etwas kirchlich Sentimentales.

Das Mädchen, das die Heldin sang, war überreif entwickelt, zeigte mit Vorliebe ihre dicken Mädchenwaden und schien überhaupt kein Kind mehr zu sein, sondern eine dicke wohlbeleibte Dame, die sich als Backfisch aufgeputzt hätte; sie sang mit fast männlich sonorer Stimme und trug ihren hohen Brustkasten bis unter das fette Doppelkinn hochgeschnürt.

Eine einzige Mißgeburtengrimasse war das Gesicht dieses ganzen Bühnenbildes da unten. Wie Wachsfigurenkabinett, das lebendig geworden ist, und dessen Wachsfiguren gehen, Arme und Beine bewegen und krähen, piepsen und grunzen können, so unnatürlich sah die geisterhaft beleuchtete Kindergruppe dort unten im Lampenlicht aus, Kinder, die hohläugig, verzerrt und verkrüppelt von der Verkleidung und der Anstrengung erschienen.

Mich ekelte vor diesen Kinderlippen, die aussahen wie künstlich gefärbte indianische Rosen, künstlich gefärbte Vögel und künstlich verrenkte Mißgeburten.

Als ich im Stillen genug gestaunt hatte über das merkwürdige Treiben der zwerghaften Schauspieler unten in der Bühnenhelle, roch ich das Verbenenparfüm der Mexikanerin in der Loge von neuem stärker und nahm an, daß die junge Dame wieder eingetreten sei.

Ich setzte mich auf den Sessel im Hintergrund der Loge. Da kam ihre Stimme vom Vorhang der Tür her zu mir. Sie seufzte und sagte: "Der Himmel allein weiß, wie das enden will!" Dann hörte ich sie, ohne sie zu sehen, hörte ihr Kleid, das nahe bei mir rauschte. Ihr Parfüm wurde noch stärker; es war, als käme sie als dichte Duftwolke näher zu mir. Dem Rauschen der Kleider nach nahm ich an, daß sie sich auf einen Stuhl in meiner Nähe gesetzt hätte.

"Der Abbé hat heute ebenfalls gleich mehrere Drohbriefe bekommen, worin stand, daß man mir bereits geschrieben habe – mit jeder Post einen. Er fürchtete, daß ich mich zu sehr ängstigte, und war in unserer Wohnung in der Stadt gewesen, wo er von der Dienerschaft hörte, daß ich wieder vom Land hereingekommen sei und mich im Theater befinde. Er wollte mich beruhigen und bewegen, morgen wieder zu meiner Mutter aufs Land zu reisen. Meine Mutter hatte ihm telegraphiert, daß ich nicht nach Ameca-Meca gekommen sei, wie ich versprochen hatte. Deshalb suchte er mich jetzt überall, der gute alte Onkel."

Ich hörte zu und hörte auch dazwischen wieder nichts, sondern ließ mich von dem Verbenenduft in warme Phantasien fortlocken. Die Musik unten spielte jetzt mit schwärmerischen Geigen; die Flöten und Geigen lullten mich mehr ein als das Dunkel der Loge und als der Wohlgeruch des Verbenenparfüms. Ich wünschte, es möge auf der Welt nichts mehr geben als Dunkelheit, Blumengeruch, Frauenduft und Geigenmusik.

Die Kinderstimmen hatten einen Augenblick geschwiegen. Jetzt aber quälte der kleine häßliche Kerl wieder, der den philiströsen Bürger spielte, aber seine Stimme war so klein, daß man sie, wenn man den zwerghaften Sänger nicht sah, für die Stimme eines Wickelkindes hätte halten können. Wie aus weiter Nacht her hörte ich diese Wickelkinderstimme greisenhaft, vorwurfsvoll winselnd und gequält, sah plötzlich den dunklen Strohgiebel eines bretonischen Bauernhauses, hinter dessen kurzem Kamin der Vollmond rund wie ein glänzendes Kindergesicht aufging, und hörte die Österreicherin neben mir tief aufseufzen.

Eine Tote war zu uns in die Loge gekommen. Der Verbenengeruch war mir jetzt wie der Geruch verwelkter Grabkränze; die Musik rauschte langgezogen wie ein ferner Atlant, die Dunkelheit war ungeheuerlich, endlos, als wären alle Menschen und ich selbst gestorben, und gestorben die Heimat. Es gab kein Europa mehr; es gab kein Zurückkönnen mehr zu alten traulichen Tagen; es gab nur noch ein Untersinken in Ungeheuerlichkeiten, in Dunkelheiten, in Schrecknissen, Mord, Verwerfung – Untergang ohne Auferstehung.

Dann hörte die Musik des Atlant auf. Hundert Hände klatschen, als ob ein kalter Regen unten ins Parkett prasselte. Ich erhob mich, und als mein Blick die Logenbrüstung streifte, sah ich die Zwergschauspieler unten in langer Reihe vor dem herabgelassenen Vorhang stehen, sich gegen das prasselnde Parkett verbeugen, und sah Hunderte von gelben Orangen und Hunderte von kleinen Blumensträußen, die über die Köpfe der Kindersänger hinflogen, und die den Vorhang tief in der Bühne hinein bauschten. Zwischen der Mexikanerin und mir wurde dann verabredet, daß ich die Briefe zu Hause bei Tag noch einmal ansehen und ihr noch morgen Antwort sagen sollte, ob ich die Briefe für ernste oder kindische Drohungen hielte.

Ich verabschiedete mich eilig, ehe der Zuschauerraum sich noch erleuchtete, und verließ die Loge, da ich der jungen Dame angemerkt hatte, wie peinlich ihr jedes Aufsehen war, und da sie mich im Telegramm besonders darum gebeten hatte, sie während eines Aktes in der dunklen Loge aufzusuchen.

Als ich nach einigen Augenblicken unten an den zur Pause bereits geöffneten Parkettüren vorbeiging und den Theaterraum hell erleuchtet fand, sah ich die Mexikanerin an ihrer Logenrampe sitzen. Sie spielte mit ihren Armbändern und nickte nach mehreren Logen hin, wo sie offenbar Bekannte bemerkte, und ihr Grüßen war harmlos und unangestrengt.

Die Straßenluft, die Schreie der Zeitungsausrufer, das Klingeln der Trambahnen, Rufe der Eisverkäufer und Fruchthändler an den Toren des Theaters empfingen mich wie einen, der lange bei einem Sarge gesessen oder in einer schwülen Laube bei einem weltversunkenen Liebesgespräche geweilt hat. Ich fühlte mich erstaunt, daß die Welt aus lauten, ehrlichen, unerbittlichen Geräuschen bestand und nicht mehr aus Kinderstimmen, aus Totenerscheinungen und aus Wolken von unerreichbaren Düften, und nicht aus Angst und Dunkelheit allein.

Der Tod, der Mord, jeder brutale Verlust ist nicht so alpdrückend als die Angst vor dem Tod und vor dem Mord; die Wirklichkeit ist nie so quälerisch als die Gedankenwelt. So sagte ich zu mir und atmete tief. Und es war, als ob ich alle kristallenen Sterne am Nachthimmel über dem Theatertor mit einem Atemzug ein- und wieder ausatmen könnte, so stark und erlöst kam ich mir vor, seit ich nun endlich die Mexikanerin gesprochen und gehört und gesehen hatte, daß sie Fleisch und Blut war und nicht mehr eine unbegrenzte, unklare und nebelhafte Reiseerinnerung.

Morgen sollte ich sie wiedersehen! Ich hoffte für mich von diesem Besuch morgen gar nichts mehr. Aber ich empfand es als eine gesunde, glückliche Tatsache, daß ich für das schöne energische Mädchen morgen eine Notwendigkeit war, eine Erwartung. Ich zündete mir mit großem Wohlbehagen eine Zigarre an, ging dann zum Café Français und bestellte mir ein gediegenes Souper, wählte Austern und den besten Wein, besprach mit dem französischen Kellner eingehend die Temperatur des Weines und benahm mich, als hätte ich eine Dame an meiner Seite, für die ich in verständiger Genießerweise sorgen und mit dem größten Vergnügen mich aufopfern wollte.

Ich aß zuerst mit heißhungrigem Appetit wie ein Genesender, trank gekühlten Rheinwein, süßen Chablis und gewärmten Burgunder, und zuletzt einige Gläser Champagner. Dann ärgerte ich mich, daß ich nicht nur Champagner bestellt hatte, und sagte mir beim Mokka, daß ich mir morgen eine Absage bei der Mexikanerin holen und dann schleunigst wieder nach Europa reisen wolle.

Europa war wieder auferstanden, als ich vom ersten Glas Rheinwein einen kräftigen Schluck getrunken hatte. Ich stellte es mir herrlich vor: die schöne Mexikanerin wie ein schönes Beutestück aus der Raubwelt von Amerika auf den heimatlichen Kontinent hinüberzubringen.

Ich fühlte einen Durst, als hätte ich den Durst aller Ozeane in mir. Ich trank und trank den eisigen Champagner in schnellen Zügen. Ich sah den Kellner, ob meines Durstes merklich verwundert, mit der Wimper zucken. Ich stand dann nüchtern von diesem einsamen Souper auf, setzte meinen Zylinder etwas in den Nacken, sprang in das bestellte Auto, als führe ich zur Mexikanerin, und ließ mich eine Strecke durch die Nachtluft fahren, den Paseo entlang, vorbei an den grünlichen Bronzestatuen der nackten Indianerkönige, vorbei an der finstern Statue des Christoph Kolumbus auf dem Rundplatz der Glorieta di Colon und hinunter bis zu Statue des Guatemozin. Der stand in dunkeln Umrissen, mit dem Federbusch geschmückt, der ihm wie ein Hahnenkamm über dem Scheitel senkrecht auf das Haupt gepflanzt saß, als sei er stolz mit dieser Adlerkrönung geboren. Ein Relief unten am Sockel der Statue zeigt diesen letzten Aztekenkönig, wie er auf einen Folterstuhl geschnallt ist und seine Füße über ein Becken mit Kohlenglut halten muß.

Cortez und die Spanier stehen dort um ihn. Man will ihn zwingen, den Ort anzugeben, wohin er den Königschatz aus Gold versenken ließ.

Aber der Stolze lächelt nur und sagt: "Meine Füße liegen auf Blumen gebettet."

Und er verriet nichts und ließ seine Füße verkohlen. –

Die Statue dieses eisernen Azteken schwingt mit großer Geste das Kriegsbeil. Er steht aufgerichtet auf dem großen Sockel, und als ich im Auto um den im Sternengewimmel hingestellten todstillen König fuhr, da schien es, als wären die Sterne tausend Funken des Indianerhasses, die aus dem hochgeschwungenen Beil in der Rechten des Königs über die Ebene von Mexiko und über die Europäer in der Hauptstadt hinführen.

Es regnete Haß bei Tag und Nacht in diesem Land, sagte ich mir. Wer mag den alten freundlichen Abbé hier bedrohen? Der Haß der alten gefolterten Könige pflanzt sich auch unter den Europäern fort; selbst die Eingewanderten müssen sich untereinander bedrohen und vernichten.

Die Drohbriefe in meiner Brusttasche, die mir die Mexikanerin mitgegeben hatte, knisterten und erinnerten mich an zu erwartende Unheimlichkeiten. Und bei der schnellen Autofahrt flogen die Riesenbäume des Paseo zu beiden Seiten wie tausend aufgerichtete beilschwingende Aztekenkönige in der Nacht an mir vorüber.

Am Platz des Kolumbus bemerkte ich in später Nacht noch zwei Fenster bei einem Balkon beleuchtet. Es war das Haus, in welchem die Leiche des jungen Mädchens lag, das sich heute auf dem Balkon erschossen hatte. Ich sah einen Augenblick die Reihe der Herzen, die aus den Fenstern glitzerten, und die wahrscheinlich an der Leiche Nachtwache hielten.

Als ich dann in mein Zimmer heim kam und das elektrische Licht aufschraubte, grinste mir von der Glastür meines Zimmers ein Reflex von einer Scheibe zu – der verfolgte mich noch, als ich in der Sofaecke saß und die Drohbriefe untersuchte.

Der Reflex in der Fensterscheibe sah aus wie der Schein jener Blendlaterne des Telegraphenboten, der mir das Telegramm heute abend gebracht hatte – als wäre die Blendlaterne jetzt draußen für immer stehengeblieben und ginge nie mehr von meiner Tür fort und wolle mir noch Nachrichten von vielen Drohungen bringen.

Ich wußte schon nicht mehr, daß ich bei dem Rheinwein in Europa gewesen war. Ich hörte die Moskitos singen, teuflisch einförmig, einförmig hartnäckig ihrem Blutdurst folgend. Dann lag ich noch lange unter dem Moskitonetz wach und las in meinem Buch, das ich mir zur Nachtlektüre regelmäßig mit unter den weißen Mullvorhang zu nehmen gewohnt war. Ich las und schlug mit dem Buch nach den singenden Blutsaugern und bemerkte erst am nächsten Morgen nach stundenlandem Kampf und Ummichschlagen, daß ich die Drohbriefe auf die Bettdecke gelegt hatte, und daß ich eigentümlicherweise gerade diesen Briefen ein paar ruhige Morgenstunden zu verdanken hatte; denn ich hatte einige Stunden geschlafen, ohne es zu wissen. Die Briefe mußten mit einer vergifteten Tinte geschrieben sein; vielleicht war vergifteter Fliegenzucker in der Tinte gewesen, jedenfalls lagen einige Dutzend der Moskitos festgesogen an den Buchstaben des Briefes und krümmten sich dort, ohne daß sie ein Schlag von mir getroffen hätte.

Ich staunte die giftigen Briefe mit verwunderten Augen an und stand auf und wusch meine Hände; denn vielleicht wären die Briefe so vergiftet, daß sie jeden töten konnten, der sie anfaßte, sagte ich mir. Vielleicht – und ich schauderte: ich mochte es nicht ausdenken –, vielleicht war der Abbé schon gestorben, am Gift der Briefe. – Ich konnte kaum die Stunde der Zusammenkunft mit der Mexikanerin abwarten.

Unten saß ich dann im Hoteltoreingang auf einem der hohen Stiefelwichserstühle und reichte einem der gewandten Indianerboys, deren Kleider aussahen wie aneinandergenähte Löcher, die man mit groben Fäden aneinandergereiht hätte, meine Füße, und seine Bürsten fegten leicht und schlangenhaft geschmeidig über das Leder meiner Schuhe. Ich las eine der Morgenzeitungen, las, daß sich gestern abend zur Korsostunde ein junger Mann und eine junge Dame – sie auf dem Balkon, er auf der Straße – Auge in Auge erschossen hatten. Die Eltern hatten den zu jungen Freier am Tage vorher abgewiesen. Die jungen Leute hatten sich heimlich verständigt, daß sie zusammen sterben wollten, wenn der "Danza", das Schlußstück der Korsomusik, zehn Minuten nach sechs Uhr gespielt würde.

Ich blätterte in dieser Zeitung wie in einer Schauerballade; neben dem toten Liebespaar tauchten die Drohbriefe auf, die vergifteten. Ich dachte an die quälende Kinderoper, an Angela, die den Paolo, die Mißgeburt mit den drei Armen, liebte, an Erdbeben und gefärbte Rosen, an gefärbte Vögel und an die Götzenbilder dieses Landes; und es war mir, als wäre ich nicht in einem Land unter irdische Sonne, in ein Land aus Erde und Pflanzen gekommen, sondern in eine künstliche Schreckenskammer, geschmacklos von gemaltem Blut strotzend und grauenhaft aufgeputzt. Niemals hatte ich in den wenigen Wochen in Europa einer solchen Reihe von abenteuerlichen Begebenheiten beigewohnt. Es schien mir zuletzt, es sei nichts mehr ernsthaft zu nehmen. Wie ein Hintertreppenroman schlimmster Sorte mußten sich die Ereignisse für einen stillen, stubenhockenden Europäer ausnehmen, beim New Yorker Hochbahnbrand angefangen und bei den Raubmenschen fortgesetzt und noch gesteigert durch die Bekanntschaft mit der Mexikanerin auf einer nahe vor dem Explodieren stehenden Lokomotive und endlich fortgeführt bis heute, wo ich noch immer die rätselhaften Drohbriefe, die mir sehr ernst schienen, in meiner Brusttasche trug, vorsichtig eingehüllt in Pergamentpapier, um mich vor der Gifttinte zu schützen.

Neben mir raschelten die Zeitungen auf zehn anderen Stiefelwichserstühlen; zehn andere Herren, meist Geschäftsleute, lasen eifrig. Die armseligen Indianerburschen, die sich zum Stiefelputzen über hingehaltenen Füße bückten, waren Abkömmlinge des untergegangenen großen, goldreichen Aztekenvolkes, vielleicht letzte Sprossen alter Adelsgeschlechter. Aus ihren zusammengenähten Lumpenhosen sahen nackte Teile ihrer braunen, geschmeidigen, mageren Glieder durch die Löcher. Ihre Väter mußten ehemals musizieren, komponieren, tanzen gelernt haben, um Bürger zu werden, und sie wischen heute den Eroberern, den Mördern ihrer Väter, den Europäern, den Staub von den Stiefeln, lachen dabei vergnügt und drehen sich, wenn sie mit dem Schuhputzen fertig sind, eine Zigarette.

In ganz Amerika gibt sich kein Diener zum Stiefelputzen her. In Nordamerika sind es die Nigger, die dies Geschäft besorgen, in Mexiko die indianischen Eingeborenen. Kein Weißer will der Schuhputzer des anderen Weißen sein. Furchtbar öde und niedrig gehässig fand ich es von meinen weißen Hautgenossen, daß sie sich im Erwerb von solchen Gradunterschieden leiten ließen. Es war, als trennten viele Atlante und nicht nur einer in diesen kleinlichen Anschauungen Amerika von Europa, da bei uns doch niemand in keiner Arbeit eine Schande sieht und die Dienstboten das Stiefelputzen ebensogut besorgen wie das Kochen und Waschen und andere Arbeit. Nicht bloß äußerlichen abenteuerlichen Begebenheiten war ich hier stündlich und täglich ausgesetzt; auch vielen tiefgehenden, innerlichen fremdabenteuerlichen Anschauungen, die mich von Stunde zu Stunde nach Europa zurücktrieben, und die mich stolz machten, daß ich mich Europäer nennen konnte und nicht Amerikaner war. Die Haupterlebnisse aber, die mich endgültig nach Europa zurücktrieben, sollten jetzt erst einander folgen. Was ich bisher gesehen, war nur das Hors-d‘œuvres der Höllenmahlzeit gewesen.

Ich habe hier noch nicht erwähnt, daß mich meine geschäftlichen Angelegenheiten, Die Geographische Gesellschaft betreffend, des öfteren nach Chapultepec zum Präsidenten der Republik in Privataudienz geführt hatten, und daß mein Name gewöhnlich auf den Listen der Eingeladenen bei offiziellen Gardenpartys und Empfängen in Schloß Chapultepec aufgezeichnet stand. Wenn auch der Präsident wußte, daß ich privat und zurückgezogen meinen Forschungen in der Hauptstadt und in Mexiko obliegen wollte, so verfehlte er doch nie, mir bei Staatsfestlichkeiten seine Einladung zugehen zu lassen.

Die Mexikanerin, die ebenfalls als eine entfernte Verwandte des Präsidenten in Chapultepec verkehrte, hatte dort meinen Namen auf der Einladungsliste zu den Stiergefechten gelesen. An den nächsten drei Sonntagen gab nämlich der Präsident zu Ehren der Unabhängigkeitsgedenktage Festlichkeiten, die teils aus Truppenrevuen, teils aus großen Empfängen im Schloß Chapultepec, teils aus Stiergefechten bestanden. Drei Sonntage lang feierte man das Nationalfest. Die ersten beiden Sonntage galten den Stiergefechten, der letzte und Haupttag der Truppenrevue sowie beim Empfang in Chapultepec und der Abend den großen Feuerwerk und nächtlichen Volksfest auf dem Platz vor der Kathedrale.

"Wie ich neulich aus der Einladungsliste in Chapultepec las," erzählte mir die Mexikanerin, als wir eine Stunde später zusammen den Paseo hinunterritten, "sind Sie nächsten Sonntag zu den Stiergefechten in die Präsidentenloge geladen. Werden Sie dort sein?"

Einen Augenblick stieg eine warme Blutwelle von meinem Herzen in meine Wangen. Das junge Mädchen hatte, als wir uns bei der Statue Heinrichs IV. am Paseo-Eingang wie zufällig trafen und ich mein Pferd an ihre Seite lenkte, nur mit der Reitpeitsche gegrüßt und war mir nach den ersten Begrüßungsfragen beinah lautlos in dem tiefstaubigen Reitweg an der Seite der Promenade immer um eine halbe Pferdelänge vorausgeritten. Wir hatten verabredet, nicht in der Stadt, sondern erst draußen auf der Ebene von den ersten Briefen zu reden.

Nun wandte sie sich mit dieser Frage mitten auf dem schnurgeraden Paseo und im schweigenden Nebeneinandergaloppieren an mich. Ich hatte einen Augenblick Briefe, Abbé und Drohungen vergessen und glaubte, es erwache in ihr einiges Interesse für meine Person, und sie wünsche mich bald wiederzusehen. Wer wünscht, hofft nur zu gern, und wer Leidenschaften zu erleben wünscht, phantasiert zu gern und zu leicht.

"Ich habe eine Einladung wie gewöhnlich, aber ich weiß heute noch nicht, ob ich zu den Stiergefechten gehen werde", sagte ich und beherrschte mich. "Ich habe noch kein Stiergefecht wieder gesehen, seit ich in Spanien war. Und als ich das letzte sah, verstand ich nichts davon, da ich nicht viel hinschaute", fügte ich töricht hinzu. Denn man wird immer töricht, wenn man Hoffnungen verbergen will.

"Ah", lachte die blasse Reiterin und zeigte ein wenig ihre glitzernden Zähne, als habe sie Lust, zu lachen und zu spotten. "Sind Sie auch einer jener europäischen Herren, die sagen, daß die Stiere Männer auf vier Beinen wären, und daß man sie deshalb nicht wie ein Vieh töten dürfe?"

Verblüffung über die Freiheit, die sich die Zunge des jungen Geschöpfes herausnahm gegen alles, was europäisch schien, machte mich still. Ich lächelte ein wenig, aber ich ließ sie nicht erraten, als sie sich vom Pferd nach mir umsah, ob ich zustimmte, oder ob ich sie verurteilte. Denn ich liebte ihre Keckheit und war zugleich verwundert über ihren gereizten Spott.

Wer spottet, macht sich nachhaltiger bemerkbar, als wer eintönig ernst redet, dachte ich bei mir und freute mich, daß wir auf diesem Ritt heute vielleicht unterhaltsamer würden als gestern abend in der Loge.

"Ich hatte damals eine Dame zu beobachten, die mir ausnehmend gefiel. Deshalb vergaß ich im Madrider Stiergefecht, auf den Stier zu achten", gestand ich noch törichter.

"Aha!" lachte die vom Ritt nicht im geringsten sich verändernde blasse Südländerin, deren Hautfarbe trotz der dünnen Puderschicht noch gelber leuchtete als die gelben Maiskolben in den Feldern hinter den Straßenbäumen. "Aha, Sie haben die Kühe bewundert und die Stiere übersehen." Diese Rede gefiel mir wieder gar nicht, und ich hätte gern von etwas anderem gesprochen, nur damit das junge Mädchen durch ihre etwas burschikose Redeweise nicht für mein Gefühl minderwertig werde. Wir ritten jetzt querfeldein, und es war nicht mehr möglich, an ein Gespräch zu denken.

"Haben Sie die Briefe?" hörte ich sie durch den Lärm der Pferdehufe mir zurufen. Ich zog die Briefe mit einer Hand aus der Brusttasche und wollte sie ihr geben.

Sie griff danach. Aber ihr Pferd stolperte im selben Augenblick, und sie ließ die Briefe los, um nicht über den Kopf des Pferdes zu stürzen, so daß die Papiere aus meiner Hand in das Feld flogen. Ich wollte mein Pferd anhalten, um die Briefe aufzulesen. Da fiel mir ein, daß es besser sei, sie flögen in alle Winde, als daß man das Giftpapier noch weiter mit sich trüge. Ich hielt dann die Mexikanerin davon ab, die Briefe zu verlangen, indem ich ihr erzählte, daß ich annähme, die Tinte der Briefe müsse vergiftet gewesen sein, da die Moskitos, die sich an den Buchstaben festgesogen hatten, wie vergiftet hängengeblieben und verendet wären.

Plötzlich wurde das junge Mädchen ohne jede Affektation gefühlvoll, sah mich groß und erschrocken an, ließ das Pferd ruhig gehen und hielt sich dicht an meiner Seite.

Ich sah, daß aus ihren Augen Tränen rollten, die wie Silberfiligran über ihren Wangen glitzerten. Sie zog aus der kleinen Brusttasche ihres Reitkostüms ein kleines Taschentuch und weinte. Sie weinte, und ihre Tränen fielen aus dem kleinen zusammengepreßten Tuch, liefen an dem Lederhandschuh an ihrer Hand herab und fielen senkrecht in die Mähne des Goldfuchses. Es war sonderbar anzusehen: eine weinende Reiterin! Ich wußte keine Situation, bei der mich das Weinen dieser mutigen Frau mehr hätte erschüttern können als diese jetzt auf dem Pferd. Eine Frau so weinen zu sehen, war tief ergreifend. Sie weinte unaufhörlich, laut und lauter. Ich ritt im Schritt neben ihr, jeden Augenblick bereit, ihr Pferd, dessen Zügel sie losgelassen hatte, festzuhalten, wenn es scheuen sollte.

Wir sprachen nichts mehr. Wir ritten einige Minuten langsam im Schritt, als gingen unsere Pferde in einem Trauerzug hinter einem Leichenwagen her.

Ich fühlte, daß sie mir viel zu sagen gehabt hätte, wenn sie sich hätte Luft machen dürfen, aber sie ließ es bei diesen Tränen bewenden und sprach kein Wort. Ich konnte mit keinem Wort diese aufgeregten wilden Tränen beruhigen, das wußte ich, und ich ließ sie weinen. Ich schwieg, und es wunderte mich nur, welche Tränenmassen das Menschenauge aufspeichern kann. Wieviel salzige Bitterkeit, wieviel überquellende Trauer, wieviel unterdrücktes Schluchzen jedes Herz ansammelt, bis es, geladen wie eine Gewitterwolke, in Tropfen und Bächen aus der Höhe auf die Erde stürzt! Eben hatte sie noch so übermütig kaltblütig über "europäische Herren" gespottet, und nun war sie sich nicht bewußt, ob ein Europäer oder ein Mexikaner an ihrer Seite ritte und ihr Pferd hielte und Zeuge ihres Zusammenbruchs wäre, ihrer Tränen, die teils aus Bangigkeit für den alten Abbé, teils aus mir unergründlichen Geheimnissen heraus, teils vielleicht auch aus Schrecken über Ahnungen entstanden, die sie wohl öfters in einsamen Stunden vom kommenden Unglück haben mußte.

Und wie ich so die Zügel ihres goldroten Fuchses führte und den glänzenden und sich rhythmisch wiegenden Hals des schönen edlen Tieres betrachten mußte, da erinnerte ich mich jenen Abends in Orizaba, wo ich einen Augenblick am Bahnhof hinter dem Abbé gestanden hatte, als dieses selbe schöne Tier den blanken Nacken aus dem Waggon streckte, und wo die Mexikanerin die Nüstern des Pferdes geklopft und gestreichelt hatte.

Ich erinnerte mich nicht genau der Worte, die damals der Abbé zu ihr gesagt hatte, nur, daß die Worte die Meinung ausdrückten, als ob die junge Dame sich bei ihrer Rückkunft in der Hauptstadt von jemand, der ihr wahrscheinlich nahegestanden hatte, unbedingt trennen müsse. Ich hatte dann später auch in der Gesellschaft und von dem Reitlehrer gehört, daß sie mit dem Polizeipräsidenten verlobt wäre und ihre Verlobung lösen wollte. Aber warum hatte der Abbé damals in Orizaba zugefügt: "Fürchten Sie nichts!" – War es so gefährlich für sie, wenn sie die Verlobung löste? Oder meinte er, als er sagte: "Ich werde ihn besuchen und ihm Ihre Absicht mitteilen Fürchten Sie nichts!", es könnte für ihn selbst gefährlich werden, wenn er ihr beim Lösen der Verlobung behilflich wäre? Und fügte er deshalb hinzu: "Fürchten Sie nichts!" ? –

"Fürchten Sie nichts!" begann ich jetzt, als das Mädchen ihr Taschentuch in die Brusttasche schob, und ich sagte das, als ob es mir der Abbé diktierte. "Fürchten Sie nichts!"

Ich meinte irgend etwas, aber ich weiß nicht, wie ich es in Worte fassen sollte; ich hätte gute und sichere Hilfe bringen können, hätte ich meinen Gefühlen Luft machen dürfen; hätte sie eine Liebeserklärung von mir angehört oder wenigstens anhören wollen, dann wäre ich befreit gewesen von dem Hochdruck meiner Empfindungen für dieses Weib an meiner Seite. Aber es war nicht möglich, denn in dieser Stimmung wäre mir eine Liebeserklärung wie ein räuberischer Überfall erschienen, als wäre ich ein Wegelagerer, als wollte ich die erstbeste Schwäche einer Frau für meine Zwecke ausnützen. Ich mochte hier nicht rauben, wo Unglück und Kampf zu bestehen waren. Zuerst mußten die Schrecknisse beseitigt sein. Dann könnte ich vielleicht Boden fassen und der Frau meinen Blutlauf, der auf ihr Herz zuströmte, zeigen.

"Fürchten Sie nichts!" wiederholte ich nur immer wieder und erschien mir dabei väterlich und würdevoll wie der alte Abbé. "Fürchten Sie nichts."

Sie sah mich groß an. Sie fragte mich mit den Augen: Aber die Briefe waren doch vergiftet?

"Fürchten Sie nichts! Die Briefe stammen von einem ganz kindischen Menschen, der sicher nichts anders will, als sich ihnen auffällig machen. Vielleicht will er sich ihnen nähern", log ich, ganz entzückt von den großen schwärmerischen Augen, die mich ansahen. "Dem Abbé geschieht nichts. Sie werden ihren Onkel noch lange bei sich behalten."

"Es ist nicht mein Onkel", flüsterte das Mädchen. Und plötzlich von einem plötzlichen Entschluß gepackt, wendete sich ihr Körper energisch zu mir. Sie streckte mir ihre rechte Hand hin und sagte: "Ich muß es Ihnen sagen! Sie sind ein Europäer, Sie sind nur kurz hier, gehen wieder über den Atlant zurück und werden uns hier und alles bald wieder über Ihrer alten Heimat Europa vergessen haben. Der Abbé liebte meine Mutter, als sie jung waren, und ist mein Vater. Sie sind jetzt der einzige auf der Welt, der das außer uns drei Menschen in Mexiko weiß. Aber vergessen Sie es schnell wieder! Ich erzähle es Ihnen, damit Sie mir jetzt die volle Wahrheit sagen. Habe ich etwas für meinen Vater von diesen Drohbriefen zu fürchten? Sagen Sie offen: Wie finden Sie den Charakter des Briefschreibers; ist er ernst zu nehmen?"

Sie schaute mich mit weitgeöffneten Augen an. Dunkel wie ein offenes Grab neben einem anderen offenen Grab, so sahen die schlaflosen, geängstigten und von Angst ermüdeten Augen im Gesicht des blassen Mädchens aus.

Sollte ich in diese zwei dunkeln, graboffenen Augen noch den Ernst und die Sorge meiner Beobachtung hineinlegen? Sollte ich sagen, was ich wußte; daß der Mann, der die Briefe geschrieben, ein mit allen Verbrechen beladener Schuft wäre, der zu allem fähig sei? Konnte ich, durfte ich, weil ich einiges von den Charakteren der verschiedenen Schriftzeichen verstehe, es wagen, diesem jungen Mädchen neue schlaflose Nächte, sorgenvolle Stunden aufzuladen? Sollte ich sie wieder zum Weinen bringen, wenn ich meine ernsten Vermutungen ausspräche?

Ich konnte mich doch aber auch irren und die Ärmste noch schwerer quälen; vielleicht, daß gar keine Sorgen, keine Schrecknisse in den Drohbriefen waren! Vielleicht kamen diese Briefe von einem Witzbold, der sich wirklich auf tölpelhafte Art der jungen Dame nähern wollte, und der später, wenn der Scherz gelänge, uns alle, bis wir ihn ernst nahmen, verlachen würde.

"Fürchten Sie nichts!" entfuhr es mir wieder. Im gleichen Augenblick stutzten wir beide. Unsere Pferde stellten die Ohren hoch. Wir waren, ohne darüber nachzudenken, wohin wir ritten, auf ein ganz unheimliches Terrain geraten. Wir hatten uns dem Seesumpf genähert, der draußen vor Mexiko in der Ebene wie eine bläulichgraue Bleimasse, von Staubufern flach umgeben, unter der Sonne liegt.

Graue Mückenschwärme überfielen unsere Pferde, und diese begannen erschrocken zu galoppieren; aber wir hatten die Richtung verloren. Wir wußten im ersten Erstaunen nicht, stürzten sich die Pferde mit uns in die Sümpfe oder von den Sümpfen fort. Denn kaum, daß die Hufe scharf in den krustigen, gedörrten Steinboden einschlugen, so barsten die getrockneten Schichten, die sich als graue dünne Erddecken über tiefen Hohlräumen an den Sumpfrändern des Sees meilenweit ausbreiteten. In diese geborstenen Erdkrusten und Erdhöhlen brachen unsere Pferde bis an den Bauch ein, und aus den Staubschichten, die von den Pferdehufen wie Rauch in die Luft gewirbelt wurden, stürzten Myriaden von Moskitos hervor, die ebenfalls wie graue fliegende Staubwolken die helle Luft über unseren Köpfen verdunkelten.

Ich wollte rufen, aber die Stechfliegen und der Staub füllten meinen Mund an, meine Augen und meine Nasenlöcher. In meine Ärmel, überallhin fühlte ich die grauenhaften Fliegenschwärme eindringen. Die Pferde bäumten sich, schnaubten und schlugen mit den Hinterfüßen in die Luft, sobald sie mit den Vorderhufen wieder festen Fuß gefaßt hatten. Ich lockerte die Zügel und überließ es dem Instinkt meines Pferdes, sich vor dem vollständigen Versinken aus dem Staubgrab des Sumpfes zu retten. Kein Baum, kein Strauch, kein Gras, nichts Wachsendes war auf den dürren, brechenden Erdkrusten, die wie Schollen einer grauen Eisfläche in langen Rissen zerbarsten, einsanken und sich senkten und hoben, als wäre dieser Ritt eine Jagd über die Aschenkrusten des Höllenbodens selber. Die Wolken von Insekten fielen wie Myriaden von Qualen über Tiere und Menschen her, Staub und Insekten verfinsterten das Licht um mich, so daß ich nur mit geschlossenen Augen, die Stirn dicht auf die Mähne des Pferdes gepreßt, vorwärts kommen konnte, bedeckt von Staub, der aus der Luft auf mich herabfiel, als wollte er mich begraben, indessen die Moskitos uns das Fleisch von Knochen bissen. Ich glaubte, unser Leben ginge zu allen Teufeln. Und ich trauerte bereits um die arme Mexikanerin, die so jung neben mir sterben und in einem ausgedörrten Sumpf begraben liegen sollte. Ich hörte und sah durch die Insektenschwärme und durch den Erdregen nichts mehr von ihr und ihrem Pferd – nur dumpfes Hufschlagen war irgendwo zu vernehmen.

Dann endlich fühlte ich, daß mein Pferd sich verzweifelt auf die Hinterfüße stellte; die Vorderhufe faßten eine Böschung, einen Eisenbahndamm, den Damm der Ingenieure, die hier mit der Austrocknung der gewaltigen Erdfläche begonnen hatten. In zwei Sätzen ist meine "Stella" oben auf der Böschung. Das Pferd prustet mit den Nüstern, haut um sich, und es wird hell um mich; die Moskitoschwärme verziehen sich zum Sumpfterrain zurück. Ich schau auf und sehe auf dem Bahndamm wie einen fortstürzenden Punkt in weiter Ferne die Mexikanerin! Ihr Pferd scheint scheu geworden zu sein und mit ihr durchzugehen! Ich bin erleichtert, als ich sie hochaufgerichtet fortjagen sehe. Sie lebt wenigstens; und als die ausgezeichnete Reiterin, die sie war, würde sie auch keinen Schaden mehr nehmen, wenn auch das Pferd scheute. Ich jagte ihr zwar nach, aber ihr Pferd und die Staubwolke, die sie umgab, wurden immer kleiner, bis sie hinter ein paar Erdwellen verschwand.

Aber ich ließ nicht nach und jagte vom Bahndamm zu einer breiten Landstraße, die nur auf der einen Seite mit weidenartigen, knorrigen grauen Bäumen besetzt war. Zu beiden Seiten der Straße lag braches Land flach wie eine Tafel. Hie und da schoß ich an ein paar einsamen, in graublaue Tücher eingehüllten, alten Indianerweibern vorbei oder an weiß gekleideten Männern, die alle barfuß und wie Katzen lautlos unter der Baumreihe hintereinander einherliefen.

An einer Mauer, die zerfallen von einem alten Gehöft übriggeblieben war, standen ein paar Maultiere zusammengekoppelt, und unter den Bäuchen der Tiere hatte sich der indianische Maultiertreiber zum Schlafen auf die Erde gelegt; dort schlief er, beschattet von seinen Lasttieren, die geduldig den Mauerkalk anstarrten. Überall war Friedlichkeit, beschauliches Dasein. Überall, wo keine Europäer sichtbar sind, überall, wo die indianische Natur mit ihren indianischen Bewohnern allein gelassen ist, scheint der Friede uralter Naturgötter zu walten. Nur der Europäer wird in diesem Lande vom Haß der Erde verfolgt.

Ich hatte diesen Satz noch nicht ausgedacht, da überschlägt sich mein Pferd, und ich fliege wie ein Ball gegen einen Baumstamm. Ich und das Pferd sind für einen tausendstel Augenblick ein chaotisches Gemengsel. Die Hufe und die Steigbügel fliegen um meinen Kopf, und ich fürchte, daß das sich aufraffende Pferd mich erschlägt mit seinen um sich hauenden Füßen. Ich getraue mich nicht, meinen Körper zu rühren; mir ist, als müsse mein Rückgrat gebrochen sein, mein Brustkasten zerquetscht, meine Hüften eingeknickt. Aber ich bin heil, als ich mich betaste, und das Pferd ist aufgestanden, tummelt sich langsam auf der Straße und kommt zu mir zurück. Meine Nase, meine Stirn, mein Kinn bluten und meine Zunge habe ich zerbissen. Das Blut ärgert nicht mehr, als daß es mich erschreckt. Ein Siegelring, ein altes Familienstück, ist mir beim Sturz vom Finger geglitten. Ich suche ihn eine Weile; ich wühle in welken Laubhaufen, die unter den Bäumen liegen, aber mein Ring findet sich nicht mehr.

Ich habe ihn unfreiwillig den Göttern des Landes geopfert, denke ich mir. Sie nehmen uns Europäern jetzt das Gold ab, das vielleicht einst im Mittelalter die Spanier von hier geraubt und in Europa zu Ringen verarbeitet haben. Vielleicht wollte das Gold wieder zu seiner Heimaterde in Mexiko zurück. Und als ich wieder mit etwas schmerzendem Brustkorb weiterritt, sagte ich mir: Oft ist der Wille eines leblosen Dinges stärker als der Menschenwille, wenn es länger als der Mensch unter Menschen lebt. Mein Ringgold, wenn es aus Mexiko war, hat mich vielleicht mehr als mein eigener Wille nach Mexiko getrieben, und ich war nur wie der Maulesel, der Lastträger, der das Jahrhunderte alte Gold an seine Heimatstelle zurücktragen sollte. Vielleicht hat dieses Gold meines Ringes jahrhundertelang in Europa auf die Stunde der Rückkehr nach Mexiko gewartet. –

Nach Stunden kommen ich zu den nach Pulque stinkenden Vorstadtgassen der Stadt Mexiko zurück. In einer Gasse hält mir ein indianischer Losverkäufer eine Reihe Lose unter die Augen. Ich greife vom Pferd herunter nach ein paar Losen, bezahle, und am Nachmittag hatte ich ungefähr dieselbe Summe zurückgewonnen, die mein verlorener Siegelring wert war.

Glück im Spiel ist Unglück, dachte ich – Unglück für den, der sich verliebt glaubt. Ich hatte telephonisch in der Wohnung der Mexikanerin angefragt, ob die junge Dame gut heimgekommen sei. Sie sei schon nach Ameca-Meca auf ihre Hazienda zu ihrer Mutter abgereist, sagte mir der Portier des Hauses, und ich lag danach auf meinem Schaukelstuhl und pflegte meinen zerschlagenen Körper und meinen zerschlagenen Geist und genoß es, daß ich mich todunglücklich fühlte, denn ich war noch in dem jugendlichen Mannesalter, wo man Unglück und Glück gleich belebend empfindet und genießt. Ich war kaum dreißig Jahre alt.

Seltsam, daß sie verschwunden war, ohne ein Lebenszeichen für mich zurückzulassen. Ohne meine Anfragen nach ihrem Befinden zu beantworten, blieb dieses sonderbar eigenwillige Geschöpf verschollen, als wäre ich ihr fremd und unbekannt geworden, als wäre ich tot. Oder wünschte sie vielleicht, seit sie mir den Abbé als ihren Vater verraten hatte – wünschte sie vielleicht, daß ich für sie tot sein solle? Ein grauenhafter Argwohn stieg in mir auf. Hatte sie vielleicht gar meinen Tod gewollt, als sie unseren Ritt in den mir unbekannten ausgetrockneten Sumpf hinlenkte? Hatte ihr Geständnis sie vielleicht gereut, und wollte sie, da ich der einzige war, der außer dem Abbé, außer der Mutter und außer dem jungen Mädchen um das Familiengeheimnis wußte, das ich in einem schwachen Augenblick von ihr erfahren hatte – wollte sie das Geheimnis mit mir in den Staubhöhlen des ausgetrockneten Sumpfes begraben?

In diesem Lande, in diesem Reich aller Ausgeburten einer höllischen Phantasie war es auch möglich, daß ein junges Mädchen Mordgedanken bekam. Oder war mein Gehirn durch die letzten Erlebnisse und durch die aufregenden Geständnisse selbst schon so abenteuerlich und verwildert geworden, daß es Argwohngedanken schuf, die den Mißgeburten im mexikanischen Museum glichen?

Ich stellte mir nochmals das schmale, gelbe und etwas geistesabwesende Gesicht der Reiterin vor, damals, als sie aufhörte zu weinen und zu mir sagte: "Vergessen Sie, was ich Ihnen eben eingestanden habe!"

Wie schnell war sie dann von meiner Seite verschwunden gewesen, als wir in dem Sumpfboden auf die ausgedörrten Erdplatten, in die Staubhöhlen und in die Moskito-schwärme gerieten! Sie verschwand wie eine, die den Weg kannte. War es denn möglich, daß sie in einem Augenblick mir ergeben scheinen, im nächsten den Drachengedanken, mich umzubringen, haben konnte? –

Ich begann an der Sicherheit aller festen Begriffe irre zu werden. Der Erdboden, auf dem ich in der Stadt Mexiko ging, erschien mir unruhiger als der Atlant, auf dem ich hergekommen war. Es war immer ein unsichtbares Erdbeben hier in allen Dingen, in allen Gehirnen, in allen Tagen. Nicht vollzog sich nach geordneter Folge, wie es in Europa der Fall war. Immer zersprangen die Figuren des täglichen Daseins und wurden zu Grimassen ohne Ende.

Wer das nicht miterlebt hätte, der müßte glauben, wenn er davon hörte, ich hätte mir das Leben hier doch geradliniger, feststehender und nüchterner einrichten können. Aber man soll bedenken, daß ich diesen Verhältnissen hier als ein Neuling, als Forscher und Beobachter und Mann der Wissenschaft gegenübertrat, zugleich als empfindender, liebessehnsüchtiger junger Mensch, der noch zu wenig Leben hinter sich hatte, um das Leben vollständig zu beherrschen und die Verhältnisse nach eigenem Willen umzugestalten. Ich war nachgiebig, mitfühlend und aufs Leben hinhorchend, ohne mich mit dreißig Jahren zu getrauen, die Wirklichkeit zu korrigieren, wie man es in späteren Jahren versucht. –

In den nächsten Tagen, da ich nichts mehr von der Mexikanerin gehört hatte, seit ich "Fürchten Sie nichts!" als letztes Wort vor dem Sumpf gesagt, wurde mir klar, daß sie sich nach dem Geständnis, daß der Abbé ihr Vater sei, vor mir schämte und sich deshalb zurückzog. Ich sah als einzige Gelegenheit, sie wiederzusehen, nur den nächsten Sonntag an, an dem sie zum Stiergefecht kommen würde. Vielleicht fände ich sie in der Präsidentenloge, und dann wollte ich nicht mehr abwarten, sondern mich ihr vor der ganzen Welt auffallend nähern. Ob sie ihre Verlobung gelöst hätte, konnte mir im Deutschen Klub, wo man die Mexikanerin wenig kannte, niemand sagen. Man sprach in diesen Tagen in der ganzen Hauptstadt nur vom festlichen Stiergefecht am nächsten Sonntag und erzählte sich erregt und lebhaft, daß zum erstenmal eine Frau als Toreador auftreten würde. Die Dame sei Mexikanerin und werde, da sie ihren Namen nicht nennen wolle, mit einer schwarzen Larve gegen den Stier kämpfen. Es sei zum erstenmal, daß eine Frau zum Stiergefecht zugelassen werde. Auf der Calle San Franzisko sah ich dann in einem großen Schaufenster eines Damenmodegeschäftes die Kostümröcke der Stierfechterin. Es war ein scharlachnes, mit faustdicken Goldborten besticktes Kostüm, das sich in nichts von einem männlichen Kostüm unterschied, außer dem einen, daß die Taille des Beinkleides enger und die Hüften weiter und runder zugeschnitten waren. Ich ging täglich mehrmals durch die San-Franzisko-Straße, und dann sah ich mir immer das verheißungsvolle Kostüm an. Das Schaufenster war immer von dichten Menschengruppen umgeben, und ganz Mexiko sah mit höchster Spannung dem ersten Auftreten einer Frau in der Arena entgegen.

"Kommen Sie nicht am Sonntag in die Loge des Präsidenten zum Stierkampf?" hatte sie, die ich jetzt täglich auf dem Korso und auf allen Reitwegen suchte, zu mir damals gleich bei der Zusammenkunft am Paseo kurz nach der Begrüßung gesagt. Und nun sollte ich Sehnsucht nach ihr bekommen – so bildete ich mir einfältig ein –, deshalb zeigte sie sich nicht: damit ich am Sonntag zu ihr in die Präsidentenloge käme. Daß sie verlobt war und der Polizeipräsident neben ihr sitzen müßte, das fiel mir gar nicht ein. Ich sah mich schon in meinen Gedanken neben ihr, und ich atmete auch das Verbenenparfüm schon wieder ein.

Mochte sie mich haben ermorden wollen oder nicht – es war mir jetzt alles gleich, wenn nur endlich diese leeren Martertage endeten, wenn ich die Mexikanerin nur endlich wieder lebendig und nicht immer als Phantasie anreden dürfte. Von der Stunde an, in der mir klar wurde, daß ich mich auf dem letzten Ritt Hals über Kopf und ernstlich in sie verliebt hatte, daß meine anfängliche Schwärmerei sich jetzt zu einer ernsten unternehmenden Leidenschaft ausgewachsen hatte – von dieser Stunde an erschien ich mir plötzlich alterlos geworden. Bald fühlte ich mich für Augenblicke vom Ernst der Sehnsucht weise, patriarchalisch, menschenliebend und göttlich mitleidig gegen alle menschlichen Schwächen gestimmt; dann wieder wurde ich kindisch, gereizt, launisch, unklug und tölpelhaft unsicher. Aus tiefem, weltfernem und bedächtigem Schweigen verfiel ich in unbedachtes Geschwätz, wurde von einer Lust, mich auszusprechen, beherrscht, die ich sonst an mir für unmännlich und lächerlich erklärt hätte. Aber nun schien mir von meinem Herzen und von meinem, dem Liebesziel zustrebenden Blut alles geheiligt zu sein. Geschwätz und Schweigen, Torheit und Seelenernst – alles schien mir gleichberechtigt seit der Stunde der Erkenntnis, die mir sagte, daß ich eine ernste Leidenschaft in mir trug.

Jetzt glichen sich für mein Gefühl alle Erdteile; was wußte ich noch davon, daß ich mich sonst in diesem fremden und unsicheren Land immer als kultivierter und überlegener Europäer empfunden hatte. Alle Erdteile hingen doch unter den Meeren als die gleiche Erde zusammen, so philosophierte ich jetzt; wie konnten dann Meere und Ozeane Menschenrassen trennen? Wir waren alle auf derselben Erde ein einziger Typus Mensch, alle hatten Blut, alle wollten, daß dieses Blut einem andern Blut zuströme, alle Menschen erlebten dasselbe, in Europa, in Afrika, in Asien, in Australien, in Amerika, alle, die sich Menschen nannten, wurden geboren, wollten lieben, mußten zeugen, gebären und sterben. Europa war jetzt überall und nirgends für mich. Es gab keine Erdteile mehr – es gab nur noch eine einzige Erde; seit ich, der Europäer, die Frau eines anderen Erdteiles gewinnen wollte, verflüchtigte meine Liebesglut selbst den Atlant. Und alle Ozeane waren mir nur Oberflächlichkeiten, sie, die den Europäer vorher für mich von der Fremde innerlich und äußerlich getrennt hatten. –

Ich wollte jetzt nicht mehr in dem spanischen Hotel wohnen bleiben. Ich suchte mir am elegantesten Platz der Hauptstadt, an der Glorieta di Colon, in einem der wenigen Häuser dort, die im Halbrund den Korsoplatz säumen, Wohnung in einer amerikanischen Pension.

Ich fand dort zwei sehr angenehme Zimmer: einen Salon im Erdgeschoß, dessen Glastür auf den Vorgarten sah, und ein Schlafzimmer im ersten Stock, dessen Balkonfenster ebenfalls über den Vorgarten weg auf den Korsoplatz sah. Hier konnte ich jeden Abend von beiden Zimmern hören; und die Wagenreihen, die sich um das Kolumbusdenkmal in der Nähe des Musikkiosks aufstellten, konnte ich genau beobachten; und wenn ich die Mexikanerin nicht selbst jeden Tag am Wagen persönlich begrüßen durfte, so konnte ich wenigstens hinübergrüßen und sie sehen und, solange der Korso währte, der Ersehnten nahe sein. Ich dachte mir auch bereits heimliche Stunden aus; die Geliebte könnte ja leicht auf Augenblicke unten ihren Wagen verlassen, einen Augenblick durch den Vorgarten herein in meinen Salon treten, der nur zwei Stufen höher als der Vorgarten nach dem Korsoplatz hin lag; ich sah voraus, welche kostbaren Augenblicke dieser kleine Salon uns beiden bringen könnte. Ich ließ sogar schon ein Klavier hereinstellen, um Gelegenheit zu haben, ihr neue Kompositionen aus Europa vorzuspielen und von ihr mexikanische Lieder zu hören, denn sie hatte mir einmal gesagt, sie könne nur mexikanische Musik, Danzas und Nationallieder leiden und verstünde wenig von europäischer, sogenannter klassischer Musik. Vielleicht würde ich schon am Sonntag nach dem Stiergefecht eine Möglichkeit finden, sie vom Korso aus zu mir zu bitten, denn sie war umgänglich, wenn sie gut bei Laune war. So viel hatte ich gleich bei ihr bemerkt, daß sie sich, wie als Reiterin, so auch als Dame, leicht über Hindernisse hinwegsetzte, aus dem Gefühl heraus, ein modernes junges Mädchen zu sein.

Am Sonnabend nachmittag ging ich auf die Calle San Franzisko und holte aus einem Juwelierladen dort endlich den Opal ab, den ich in einen Ring hatte fassen lassen. Ich steckte den Ring an meine Hand und dachte: Nun will ich doch sehen, ob der Opal nicht einmal zur Abwechslung statt Tränen Glück bringt. Ich komme, während ich noch mit mir spreche, am Bureau einer mexikanischen Zeitung vorbei, und in der Vorhalle der Redaktion, wo hinter Glasscheiben die letzten Telegramme und Extrablätter angeklebt waren, sehe ich eine Menschenmenge Kopf an Kopf – viele Menschen, die ein Extrablatt lesen.

Ich lese, daß der Abbé * heute morgen an einer Straßenecke umgefallen und plötzlich gestorben wäre. Ehe der Krankenwagen ihn zum Krankenhaus gebracht hätte, sei er unterwegs verschieden. Er sei eben zum Frühstück beim Polizeipräsidenten gewesen, wo er noch bei guter Laune geplaudert hätte; und kaum habe er den Polizeipräsidenten verlassen, so sei er an der nächsten Straßenecke umgefallen und gestorben, wahrscheinlich am Herzschlag. Ich lese das Extrablatt drei-, vier-, fünf-, sechsmal. Ich konnte es fast auswendig, als ich von dem gedruckten Blatt wieder auf die Straße sah, und konnte es trotzdem nicht verstehen.

Der Abbé war eines natürlichen Todes gestorben und nicht ermordet worden. Er war einfach am Herzschlag gestorben. Und die Drohbriefe? Was hatten die dann mit seinem Tod zu tun? Wie war das eigentümlich! Die Drohbriefe künden ihm seine Ermordung an, und er stirbt von selbst, just als man ihm droht, ihn zu ermorden. Ist er aus Angst vor den Mördern oder aus Zufall gestorben? Und meine Ersehnte, meine geliebte angebetete schöne Mexikanerin – sie wüßte es vielleicht noch gar nicht. Oder sie erführe es eben erst telegraphisch in Ameca-Meca. Sie käme natürlich nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters morgen nicht zum Stierkampf, und nicht abends zum Korso, und nicht in meinen Salon, und nicht an mein Klavier.

Ich ging zum Reitstall und ließ mir mein Pferd satteln und wollte ausreiten, um draußen auf den Feldern von Mexiko, auf dem fliegenden Pferd, meine Gedanken in aller Einsamkeit auf diesen jähen, unerwarteten Umschlag aller meiner Erwartungen mit Nüchternheit und Wut zu konzentrieren.

Aber ich kam mit "Stella" heute nicht weit; kaum zwei Straßen entfernt vom Stall, als ich eben in die Hauptstraße einreiten wollte, bemerkte ich, daß das Pferd große Unruhe zeigte. Ich dachte, das grelle Sonnenlicht blende das Pferd, das mehrere Tage im dämmerigen Stall zugebracht hatte, und blieb deshalb im Häuserschatten; eine Weile schien es auch, als beruhige sich "Stella", dann aber mußte ich Lastwagen und Mauleseln ausweichen und auf die Sonnenseite der Straße lenken, und gleich wurde mein Pferd wieder unruhig. Es kaute an der Trense, als wolle es den Stahl im Maul zermalmen; kaum konnte ich die Zügel knapp genug halten: es hätte sich fortgestürzt, wenn ich nicht mit aller Kraft die Zügel kürzer gefaßt hätte; und endlich half auch kein Beruhigen mehr: ich wendete das Pferd, und es spitzte die Ohren, als ahne es Unglück von allen Seiten, und wollte zur Stadt zurück. In solchen Fällen, wenn einem das Leben ganz unverständlich wird, ist es besser, schweigend dem Schicksal zu gehorchen. Ich fühlte, ich sollte heute nicht mehr ausreiten, und lenkte meine Pferd zum Stall zurück. Im Hof der Reitschule begegnete mir der junge Reitlehrer, als ich eben einritt, er sah das unruhige Pferd und untersuchte es sofort; da bemerkte er, daß die Ohren des Tieres voller Zecken saßen, die sich an dem Tier, das einige Tage im Stall stillgestanden, tief in die Ohrengänge festgesetzt hatten und ihm das Blut aussogen. Der Reitlehrer schimpfte auf den Indianer, der das Pferd unter seiner Pflege hatte, und der es so vernachlässigen konnte; mir selbst aber war für heute der Appetit zu einem Ausritt genommen.

Der Reitlehrer erklärte mir dann noch, daß die Zecken im Ohr des Pferdes lebendig würden, sobald das Tier in die Sonne käme, und daß deshalb das Pferd unruhig geworden sei, als ich in den Straßen auf der Sonnenseite ritt.

Ich stand da und hörte das Wort "Zecken" wie ein gutes deutsches Wort und sah dabei alte hölzerne Bauernscheunen, Heufuder und Erntezeit.

Wie weit bin ich doch fort von dem Heimatkontinent! dachte ich: sogar ein Wort, das ein häßliches Insekt bezeichnet, kann mir im Ohr wohltun.

Ich wunderte mich dann, daß der Reitlehrer gar nicht von dem plötzlichen Tode des Abbé sprach. Aber er konnte ja nicht wissen, daß der Abbé der Vater des mexikanischen Reiterin war, und er hatte sicher auch noch nichts von dem Extrablatt erfahren. Aber es wunderte mich doch, daß nicht jedermann vom Abbé und von der Mexikanerin redete; alle Dinge sind doch ein einziger Schöpfungsleib, dachte ich weiter, und alle sollten doch immer alles wissen, auch ohne Extrablätter. Wenn uns ein Mensch gegenübersteht, der eine wichtige schwere Nachricht bei sich trägt, die er uns mitteilen will, müßten wir ihm durch Gedankenübertragung die Nachricht wörtlich aus den Augen und aus der Stimmung lesen können; wenn die Menschen absichtsloser und unbewußter leben würden, könnten alle allwissend sein wie das All. So philosophierte ich vor mich hin. Und ich war, ohne es zu wissen, zu Fuß in der entgegengesetzten Richtung gegangen, und nicht nach meiner neuen Wohnung an der Glorieta, ich ging ganz in Gedanken nach dem alten spanischen Hotel, wo ich bisher gewohnt hatte. Erst unter dem Torbogen, als ich in den Hotelhof eintrat und immer noch keinen festen Gedanken über den Abbé, über die Drohbriefe und über das Mädchen, nach dem ich mich sehnte, fassen konnte – erst im Hotel auf der Treppe, als ich oben auf der Veranda wieder die Hotelbesitzerin mit ihrer Serviette auf dem Rücken und dem offenen frischgewaschenen Haar auf und ab gehen sah, da fiel mir ein, daß ich ja gar nicht mehr in diesem Hotel wohnte, und ich schämte mich eine Sekunde vor der Hotelfrau und vor meiner Zerstreutheit. Ich kehrte um und freute mich, daß mich die Stiefelwichserburschen unter dem Torweg grüßten, und daß es noch Menschen in der Stadt gab, die harmlos und ohne zu schaudern hier in den Tag hineinleben konnten. So hätte ich auch sein mögen wie die Hotelfrau oben, die in der ewigen Pflege ihres Haares alle Lebenslust konzentrierte, und wie die kleinen Indianerburschen, die Stiefelwichserjungen, die jetzt, wo das morgendliche Hauptgeschäft vorbei war, neben ihren Stühlen auf der Erde kauerten und sich dünne Zigaretten drehten und sie rauchten oder an dem grünen Pflanzenstengel von einem Stück Zuckerrohr sogen, das sie sich für einen Pfennig bei der nächsten Fruchtverkäuferin erstanden hatten; sie alle lebten sorglos.

Ich bekam beim Anblick der grünen Zuckerrohrstengel eine Sehnsucht, mit meinen unfertigen Gedanken, mit dem Schrecken der Todesnachricht des Abbés und mit dem Bewußtsein, daß ich nun die Mexikanerin am Sonntag in der Präsidentenloge nicht sehen sollte, allein zu sein und mir alles zurecht zu legen – allein mit mir und grüner Landschaft. Sehnsuchtgedanken und Landschaft lieben einander, sagte ich zu mir.

Ich ging im Reitanzug, wie ich war, zur Trambahn, die eben an der nächsten Straßenecke hielt.

Ich hatte keine Ahnung, wohin diese Trambahn führte, und verlangte vom Schaffner ein Billet bis ans Ende der Fahrstrecke. Irgendwo draußen in einer Vorstadt von Mexiko würde die Bahn endigen, dachte ich mir.

"Nach Irtapalapa?" fragte der Kondukteur. Ich nickte und dachte dabei: Meinetwegen darf mich der Wagen bis auf den Irtaccihuatl und auf den Popocatepetl fahren – ich halte still; ich bin zu sehr zerschlagen von dem Leid, daß ich nun morgen zum Stiergefecht meine Mexikanerin nicht sehen darf.

Jetzt erst, wo ich still auf der Bank des europäischen Trambahnwagens saß, dem ein Indianischer Trambahnwagen "nur für Eingeborene" angehängt war, konnte ich einigermaßen mein Leid übersehen.

Der Abbé, der rüstige, liebe alte Herr, war gestorben. Hingestürzt, tot, Herzschlag...! Wie einfach und unerhört unkompliziert war das Ende eines Lebens, während das Leben solch eine Wirrsal von Unkenntnis und solch eine Flucht vor der Unkenntnis sein konnte. Er hatte geliebt, eine Tochter gehabt, heimlich; und öffentlich durfte er nur der Berater, der Freund seines Kindes sein. Warum? – Weil die Menschen sich ausgedacht hatten, daß es für manche keine anderen Gefühle geben solle als Seelsorgergefühle. Körpergefühle sollten ihnen fremd bleiben!

War diese Erfindung nicht auch eine Mißgeburt? Es gab auch unter den Gedanken lebende Mißgeburten, die man nicht ohne Schauder ansehen konnte, wenn man einfach und natürlich fühlte. War man aber ein Schwärmer, so schwärmte man eben auch für diese Mißgeburtgedanken, so wie der Indianer für die Mißgeburtenkörper im Nationalmuseum schwärmte und Hand in Hand mit seiner ganzen Familie hinkam und dort die vermeintlichen Lebenswunder anstaunte. So bestaunt das europäische Volk, ebenso wie die Indianer, sagte ich mir, seine hirngespinstigen und naturwidrigen Gedankenmißgeburten, indem es aufsieht zu denen, die sich dem Priestergesetz der Lieblosigkeit und der Entsagung unterwerfen können, anstatt Menschenfortpflanzer zu werden – einem unnatürlichen Gesetz, das sehr einer Mißgeburt gleicht.

Ein solcher Gedanke, der die Geschlechtsliebe ausschalten konnte, war viel ungeheuerlicher und grotesker als alle Kälber mit zwei Köpfen, als alle Paolos mit drei Armen.

Der Abbé mußte schlimm und ernstlich für diese Entsagung gelitten haben, die er sich auferlegt hatte. Sein Leben konnte niemals ganz reine Wahrheit gewesen sein – immer ein Zwitterdasein zwischen dem Wunsch, Vater zu sein, und der Unmöglichkeit öffentlich zu bekennen, es mußte diesen Mann stets aufregend und überreizend begleitet haben.

Spätere Jahrhunderte werden unsere Gehirnmißgeburten ebenso schaudernd betrachten, wie wir heute die Indianer verabscheuen, die Mißgeburten verehren.

Der Wagen fuhr um eine Straßenecke, an einem kleinen Platz vorbei, wo ein seltsam verkrüppelter und halbverkohlter Baumstrunk, der Stammrest einer uralten Weide, wurzelte. Rund um diesen Baumriesen war ein Eisengitter gezogen. Ich wußte nun, wo ich war: es war der Baum "Noce triste", der Trauernacht. Hier unter dem vor fünfhundert Jahren wahrscheinlich sehr stattlichen Baum hatte Cortez gesessen, als er am Abend nach dem Kampf gegen die Azteken fast sein ganzes Heer eingebüßt hatte und aus der Stadt flüchten mußte. Hier weinte er, der alle schiffe in Vera Cruz hinter sich verbrannt hatte, ehe er zur Eroberung der Hauptstadt des Goldlandes auszog. Er, der große Europamüde, der nicht mehr umkehren wollte, der Kaiser des Goldes werden wollte, er, der Unersättliche, dem es nicht genug war, daß man ihm Gold in Form massiver Mühlräder zurollte, Klumpengold, das aussah, als wäre es der Sonnen- und Mondscheibe nachgeformt. Er saß hier, weinte in der Nacht Träne um Träne, biß seine Lippen zusammen und wollte nicht von der Stadt seiner Goldwünsche weichen. Mit dem letzten Rest seiner armen, müdegehetzten und doch gierigen Europäer warf er sich am nächsten Morgen noch einmal auf die Stadt und siegte, bezwang, unterjochte alles, folterte den Aztekenkönig, der eingestehen sollte, wo in dem Sumpf draußen in den Staubhöhlen und in dem Wasserpfuhl er die Goldberge versenkt hatte. –

Und heute noch fragte jeder Europäer seit der Noce triste, fragte immer noch ganz Europa durch die Jahrhunderte nach dem Golde der Azteken. Und mit Revolvern und Dolchen und Lederkleidern liefen heute noch die Europäer hier durchs Land, die Goldsucher, die Edelsteinsucher, und wühlten mehr als alle Erdbeben das Land auf, und hatten mehr als alle Erdbeben die Indianer in Massen getötet.

Da draußen unter den weidenartigen Bäumen der Landstraße saßen jetzt an den Stationen indianische Weiber. Eine hatte drei Tomaten vor sich auf ein kleines Tuch gebreitet. Drei rote, wie brennende Kohlen leuchtende Tomaten auf einem einfachen, blauen, gedruckten Leinwandtuch. Daneben hockte eine andere Indianerdirne, die hatte je drei gelbe Mangofrüchte in drei Häufchen vor sich, also nur dreimal drei Stück, nur neun Mangofrüchte. Eine andere hatte eine einzige hellgelbe Melone vor sich liegen; eine vierte nur zwei kleine kurze Stummel von Zuckerrohr; ein fünfte klatschte einen einzigen flachen Maiskuchen zwischen den flachen Händen, den sie rasch auf einer heißen Steinplatte an einem winzigen Holzkohlenfeuer buk, das nur zwischen zwei Pflastersteinen glimmte und nicht mehr als eine Handvoll Glut war. Die Frau zeigte, während ihr Kuchen fertig buk und solange die Trambahn hielt, mit den Augen auf den Stein und lud zum Kaufen ein. Eine junge Dirne hatte eine weiße Rübe so geschält und gespalten, daß sie einer künstlichen Blume glich. Sie tauchte die Rübe in blaue Indigofarbe und bot die blau gefärbte Rübenblume den Trambahngästen als Kuriosität an. Aber keine von den Verkäuferinnen kam und reichte zudringlich ihre Waren; still saßen sie hinter ihren drei Tomaten, hinter ihrer einen Melone, hinter ihren neun Mangofrüchten, hinter ihrem kleinen Maiskuchen, hinter ihrer gefärbten Rübe – alle miteinander saßen lautlos da, das Schicksal abwartend, als wären ihre Früchte ihre Kinder, denen sie nicht mehr helfen könnten, wenn das Leben nicht mithülfe. Ruhig, friedlich, gedankenvoll saßen sie mit ernsten, schönen, einfachen Augen da, träumend und wunschlos und begierdelos wie Waldrehe, die sich niedergekauert haben und die Natur walten lassen.

Ohne wilde Geste, ohne Hastigkeit, ohne Zeitangst, keinen Zeitverlust fürchtend, keine Zukunft erzwingend, saßen diese Verkäuferinnen hier, leiser als dieser Erdboden, der alle Augenblicke unter Erdbeben grollte und donnerte.

Solch einen Frieden, wie ihn die letzten Abkömmlinge der Azteken ausstrahlten aus ihrer dunkelbraunen Haut, hatte ich bei den Südländern von Europa noch nie getroffen.

Wie wenig hat doch jede dieser Indianerfrauen zu verkaufen, kaum daß es der Mühe wert ist, kaum für zwei Cents, und da konnten sie stundenlang und den Tag lang an der Landstraße hocken, regungslos wie Sträucher, die festgewachsen sind. Sie ließen die Trambahnen klingeln, die Europäer jagen und hasten und zanken, sie saßen lautlos und lächelten kaum und rauchten eine selbstgedrehte Zigarette, hatten einen unscheinbaren blauen Rock und eine blaue oder weiße Hemdjacke an und ein schwarzes oder dunkelblaues Leinentuch als Schutz gegen die Tropensonne über den Kopf geschlagen und halb vors Gesicht gezogen wie einen Schleier. Niemand störte sie; blickte ein Europäer die Frauen an, so sahen sie nur auf ihre Ware, jede wie ein Tier, das hinter einem Käfiggitter liegt und sich anstarren läßt und sich nicht wehrt.

Wehrlos ließen sich die Indianer anstarren und behielten ihre eingewurzelte Ruhe und Friedlichkeit, ihren Ernst und ihre ahnungslose Lebensstille. Indianer, die Rudel von Truthähnen in die Stadt trieben, und Esel, mit Lederschläuchen bepackt, die das Pulquegetränk enthielten, und Esel mit Reisigholz, alle abgezehrt, mager, Menschen und Lasttiere gleich bescheiden, gleich arbeitsam, gleich geplagt und gleich zufrieden – eilten als huschende lautlose Silhouetten auf der langen Landstraße unter den schattenlosen Weidenbäumen auf die Stadt zu. Leise, als wären sie unsichtbar, immer nur flüsternd, nur auf den Zehen huschend, lebten so die Massen der dreihunderttausend Indianer in der Hauptstadt Mexiko. Keine ihrer Hantierungen, keines ihrer Geschäfte, keiner ihrer Schritte – nichts machte Lärm. Sie lebten wie die Aschenfiguren eines längst zu Staub und Asche lautlos gewordenen Volksstammes; sie waren mitten unter den hunderttausend Europäern da und doch wieder nicht da, so wenig aus sich machend wie der Erdboden, der unbewußt lebt und träumt, ohne zu sagen: Seht, ich bin! Seht, wer ich bin!

Die Trambahn fuhr und fuhr, der Himmel war blau, die Straße trocken-weiß, die Felder voll Agavenstauden oder Graseinöden oder voll Maiskolben. Nirgends ein trauliches Kornfeld, nirgends eine südliche Palme auf diesem Hochplateau von Mexiko, das nur Ebene neben Ebene hinlegt und am Erdrand die Kraterberge wie Riesentöpfe aufgestellt zeigt. Endlich kam ich weit draußen, stundenweit vor Mexiko, nach dem Indianerdorf Ixtapalapa, das am Fuße eines Hügels und umgeben von Hügelwellenland daliegt.

Ich sah wieder Gras und Gestrüpp, einige Häuser zwischen Gartenmauern, wahrscheinlich mexikanische Sommerhäuser, und ewig graue, würfelförmige fensterlose Erdhütten der Indianer.

Ich ging an eine Wiese hinunter an einen Bach und wanderte drüben jenseits des Baches den Pfad hinauf zu einem Hügel, der von einer unheimlichen Ruhe umgeben war, als müsse droben hinter den Maisfeldern ein indianisches Heiligtum liegen.

Ich wanderte und stieg bergauf, ununterbrochen, und freute mich, als könnte ich hier von meinen traurigen Gedanken fortklettern.

Immer aber ist auch noch in der Nähe grüner Felder ein Geruch von Vulkanerde in ganz Mexiko. Es riecht nach verbranntem Leben; und wenn man großer Welttraurigkeit einen Geruch zusprechen könnte, so müßte sie so wie die Erde in Mexiko riechen, die jeden Wanderer dort mit trostlosem Brand- und unterirdischem welken Aschengeruch belastet. Ich ging unerquickt zwischen den grünen Hügelflächen bergan, belastet von Kummer, als schleppte ich eine Leiche auf dem Rücken durch die sanglose, todstille Landschaft, in der ich der einzige Spaziergänger war und der einzige Mensch überhaupt. Denn die paar europäischen Gartenhäuser vor Ixtapalapa lagen wie furchtsame Klosterbauten hinter himmelhohen Mauerflächen, und kaum die Dächer waren zu sehen, als ob sich auch das europäische Haus vor der indianischen Landschaft verberge.

Ich erkletterte den immer steileren Hügel am Rande eines breiten ausgedörrten Bachbettes, wo sich nichts regte als manchmal eine blitzschnelle graue Eidechse oder eine dünne Schlange, eine Natter oder Viper, die an den weißen sonnenerhitzten Kieselsteinen ihr kaltes Blut wärmte.

Oben am Gipfel lag wie ein Felswürfel ein von Gräsern und Dornen wildbewachsener alter indianischer Götzenschrein.

Ich hatte keine Ahnung, ob es ein guter oder ein böser Gott wäre, der dort hauste und mich erwartete. Ich sah nur durch die offene Tür eine dunkle Höhle ohne Licht und ohne Schmuck. Der Tempel war längst von europäischen Gelehrten geplündert und der Gott daraus vertrieben, und seine Andächtigen waren jetzt, wie alle vier, Katholiken geworden, auf Staatsbefehl. In dem formlosen Steinwürfel wohnten vielleicht nachts Jaguare oder Schlangen, dachte ich mir.

Ich setzte mich auf ein paar Steine, die vom Gesims des Tempels gestürzt waren, und sah auf die unheimliche, ungeheure Kraterlandschaft, die sich von der Hügelhöhe nach Osten hin wie ein Urweltpanorama ausnahm. Höllenkessel bei Höllenkessel bauchte sich, gleich riesigen Näpfen, in den meilengroßen Tälern unten, die im Spätnachmittag jetzt indigoblau wie die Leinentücher von Indianerfrauen gefärbt waren. Wie riesenhafte dunkle Blutegelrüssel, so hoben sich die Kraterberge aus der Erdebene da drunten in dem unermeßlichen Tal. Jeder Kraterberg schien sich an dem Himmel festzusaugen, als wollte die Erde hier sich mästen, dem Himmelslicht und Himmelsfeuer die Kraft aussaugend. Als würde der Erdkörper hier nicht vom Erdfeuer wild und tobte, sondern vom Sonnenfeuer, das er in sich einsog, und das er wieder der Sonne ins Gesicht spie, wenn er genug hatte.

Hier oben bei dem vergewaltigten Götzentempel, den die Europäer geschändet hatten, und der immer noch wie ein verstümmelter Altar in das Kratertal hinuntersah, in die Urwelt verhaltener Feuer und verhaltener Erdbeben, hier oben stand ich mit meiner Trauer, wie überboten vom Triumph urweltlicher Traurigkeiten, überboten von der Trauer eines gestürzten Tempels und seines trauernden Gottes, überboten von der Brandschwärze und der ungeheuren Kohlenlandschaft der lauernden Kraterwelt, die, wenn sie sich rührte, jedesmal Tod und Trauer in Feuer und Rauch und Verwüstung tödlich über die Erde, tödlich in die Atmosphäre und Tod über alle Elemente schickte. Nur das Feuer allein feierte hier mit dem Erdbeben zusammen seine Orgien. Das Feuer und die Erdbeben aber hatten die Götter dieses Landes und ihre Tempel nicht den Betern entfremdet – das hatte der Europäer allein getan. Er, der hier habgieriger und tyrannischer als alle Krater gehaust hatte.

Ich suchte in meinen Taschen nach meinem Notizbuch, und dabei fiel mir der Karbonbleistift in die Hände; ich zeichnete, um meine Gedanken von der Unruhe, die mir der Tod des Abbé einflößte, abzulenken, die Linien der Kraterwelt. Ich skizzierte die Umrisse der Kraterkette und der beiden gewaltigen Bergungeheuer, des Ixtaccihuatl und Popocatepetl. Eine lange Wolke legte sich wie eine Luftinsel von dem einen Bergscheitel zum andern und verband beide Bergkolosse wie eine breite massive Silberspange. Beide Berggottheiten von Mexiko blendeten mit breiten Gipfeln voll Schnee, und die Schneeprofile glänzten gegen den grünlichen Osthimmel wie weiße Marmorbrüche.

Ich zeichnete auch die im Talschatten gelegenen Kraterköpfe und fürchtete nichts und ahnte nicht, daß die Tropennacht mich plötzlich überfallen könnte.

Kaum aber schaute ich von der Zeichnung des dunkeln Tales auf und zu dem Popocatepetl und Ixtaccihuatl zurück, da erschrak ich fast. Die weiße Wolke hatte sich wie eine orangerote Lavaglutmasse entzündet, der Himmel war giftgrün geworden, wie ein Grünspankugel leuchtend, die Schlagschatten im Tal wurden indigoblau, und die Krater unten im Tal standen wie blau eingewickelte Zuckerhüte nebeneinander; die Landschaft hatte ein einziger Augenblick verhext. Auf Tausende von Meilen hin waren Farben, orangerot, giftgrün und indigoblau, aufgetaucht. Im Westen spielte die Sonne als ein dreifach farbiger Scheinwerfer und stieß an den Erdrand des schwarzen Hügelwellenlandes, dahinter sie unaufhaltsam hinsank, so daß die Schatten wie schwarze Strahlen plötzlicher Nacht über mich und die Landschaft fuhren, als würde die Nacht ein zweiter Scheinwerfer, der schwarze Strahlen würfe neben der Sonne. Es bewegten sich um mich alle Hügel, Täler wurden zu finstern Ebenen; die nächste Nähe, selbst das Gras zu meinen Füßen, wurde fremdartig, wurde wie von Abgründen erfüllt; es wuchsen Moore von Finsternissen neben langen scharlachnen Lichtgassen auf der Erde, und die Indigobläue verwandelte sich in lila Nebel; die Krater verschwanden – es war, als wandelten die Berge fort –, und eine eisige Kälte strahlt aus den Grasspitzen zu meinen Füßen auf. Alles ging so eilig, so sichtbar und greifbar vor sich, als wäre das Licht hier eine Pulvermasse, die abbrennte, rauchte, lebte und sich verzehrte, wie eine Materie, die überall hier verschiedenfarbig ausgeschüttet wäre und explosiv aufleuchtete und sich verkröche. Hypnotisiert von diesem hexenhaften Sonnenuntergang, der wie ein chemischer Prozeß sich vor meinen Sinnen zubereitete und zu Ende war, ehe ich wußte, daß es mit dem Nachtwerden Ernst war, saß ich still, unentschlossen, ob ich gehen oder bleiben solle – es war, als müßte alles nochmals beginnen und das Scheinwerferspiel sich mechanisch wiederholen. Ich glaubte es selbst der untergegangenen Tropensonne nicht, daß sie fortbleiben wollte. Dieser Sonnenuntergang hatte sich so benommen, als hätte ich dem Beleuchtungsinspektor in einem Theater hinter den Kulissen zugesehen und befände mich dicht bei den Beleuchtungskörpern selbst, die draußen auf der Szene den Sonnenuntergang vor den Zuschauern arrangieren sollten.

Es war, als stünde jemand dicht hinter mir, der diese Skala von handgreiflichen Effekten in Szene gesetzt hätte.

Unwillkürlich wendete ich mich etwas scheu nach der Tempelhöhle um, deren offen schwarze Türwölbung mich ansah, als müsse ein Götze der Indianer, der Sonnenuntergangsgott, da hineingegangen sein, nachdem er gestikulierend hinter mir gezaubert hätte.

Die Nacht war mir jetzt hoch über den Kopf gewachsen. Ich sah kein Gras mehr zu meinen Füßen; der Himmel über mir war eine blaßgraue Milchglasplatte, und die Erde eine finstere Welt aus Kohlengestein und Kohlengestalten. Den Feldweg konnte ich nicht mehr entdecken. Ich horchte, ob ich keinen Hund bellen hörte, dessen Stimme mir sagen könnte, wo Ixtapalapa lag, und wohin ich absteigen mußte.

In der Kohlenfinsternis vor mir sah ich nur noch das helle ausgetrocknete Bachbett, daß zwischen hohen finsteren Böschungen schnurgerade hinabschoß.

Nur dieser Weg allein war mir noch halbhell offen. Aber dieser Weg lag voll Schlangen, die sich jetzt zur Nacht herabließen und ihre geheimnisvollen Irrfahrten durchs Dunkel antraten.

Ich war auf dem Berg wie gefangen. Die Maiskolben der Felder waren so hoch um mich, daß ich nicht durchkommen konnte, und daß ich mich darinnen verlaufen und mich später in der Finsternis nie vor Sonnenaufgang herausgefunden hätte.

Bis jetzt hatte ich während des Zeichnens und während des ganzen Nachmittags nur immer darüber Leid getragen, daß ich morgen die schöne Mexikanerin nicht zum Sonntag beim Stiergefecht sehen würde, da sie wahrscheinlich bei der Leiche ihres Vaters wäre und mit keinem Gedanken an Festlichkeiten dächte. Und weder dort beim Stiergefecht, noch auf dem Korso, noch auf dem Reitweg, nirgends würde ich sie finden können, nirgends würde ich mich ihr nähern können. Ich durfte sie nicht einmal besuchen, ich durfte ihr nur eine Zeile des Beileids senden und mußte abwarten, ob sie sich nun nach der Beerdigung noch einmal meiner erinnern würde. Das war grausam. Ich hatte die Zähne aufeinandergebissen und haßte meine Übereilung, die sogar schon einen Salon, ein Klavier, einen eleganten Stelldicheinplatz bereit hatte, um die Liebesabenteuer der nächsten Wochen schmeichelnd zu empfangen.

Ich verachtete mich, daß ich nicht dürr, nüchtern, einfach und kaltblütig den Liebessinn ausschalten konnte, der mich schon so oft töricht verhöhnt und enttäuscht hatte, indem er mir Spuk vorspielte, so wie die mexikanische Sonne beim Untergang.

Hatte ich mich nicht beinah ebenso wie jetzt auch bei der Begegnung am Atlant von wahnwitzigen Liebesvorstellungen anfeuern und enttäuschen lassen müssen? Warum war ich hier in Mexiko nicht bei meinen wissenschaftlichen Arbeiten eingeschlossen am Schreibtisch geblieben und rannte statt dessen wie ein geprügelter Jagdhund hinaus auf die Felder? Hätte ich doch lieber eine stille Freundschaft zu der Astronomenfrau gepflegt, die ich ganz aus meinen Gefühlen ausgeschaltet hatte, nur um dem fremdländischen Mädchen, der Mexikanerin, keinen einzigen Gedanken schuldig zu bleiben.

Was sollte ich nun tun, wenn ich heim käme? Es war ganz unmöglich, so enttäuscht wie ich jetzt war, an die Arbeit oder an ernste Gespräche mit ernsten Männern zu denken – ich war zu zerstreut.

So stand ich und dachte und zögerte, weil es ja unmöglich schien, von diesem Hügel fortzukommen, wo ich, von finstern, hohen Maisfeldern abgesperrt, vor der Tiefe dastand und nur immer das weißlich aus der Dunkelheit schimmernde wasserleere Bachbett ansah, dessen gebleichte Kiesel wie Phosphor leuchteten.

Hier auf diesem Stein, auf dem ich eben gesessen, hatte ich um die Mexikanerin getrauert, und nun ich aufgestanden und noch keine zwei Schritte von dem Stein entfernt war, begann ich alle Lebensgefühle Torheit zu nennen. Ich verachtet meinen abenteuerlichen Sehnsuchtssinn. Ich wollte fort von allem, fort von meinem neuen Zimmer mit dem Klavier, fort von der Hauptstadt, fort von Mexiko, zurück über den Atlant, heim in die Grenzen der angeborenen Möglichkeiten, fort aus diesem Kontinent der stürmischen Überraschungen, fort aus dem Lande der gigantischen Unglücke und fort von den rächenden Götzenbildern eines durch Europäer ausgeraubten Landes.

Ich wollte fort – fort über Meilen und über den Atlant, und höhnisch sah mich das Dunkel wie eine schwarze Maske neuer Schreckensgötter an. Ich konnte ja jetzt nicht einen einzigen Schritt vorwärts tun – und wollte über den Atlant!

Bliebe ich bis zum Morgen hier oben, so könnten mich Schlangen und Raubtiere überfallen. Und ich dachte schaudernd an die vielen Leopardenfelle und an die Hyänenfelle und an die unzähligen Schlangenhäute in den Straßen von Mexiko, die da über den Türen jedes Drogenladens hängen – ein Beweis, daß Schlangen und Leoparden und Hyänen zahlreich wie Moskitos draußen in der mexikanischen Landschaft wimmeln.

Ich horchte auf, nichts rührte sich. Rufe ich, so wüßte der Teufel, ob ich jemals gehört würde. Und keinem unten in Ixtapalapa würde es je einfallen, nachts, wo es überall so unsicher von Raubgesindel ist, meinetwegen die hohen Gartenmauern zu verlassen und auf den Berg zu steigen, auch wenn ich ein Feuer anzündete.

Ich sprang also entschlossen in das ausgetrocknete grauweiße Bachbett. Dornen schlugen um meine Knie, Steine rollten mit mir bergab, und es war mir, als müßte ich durch einen Ring von Dantes Fegefeuer wandeln; bei jedem Sprung zweifelte ich, ob ich nicht auf eine ausgestreckte Schlange träte, oder gar auf eine Schlangenbrut, die zusammengeknäult zwischen den Steinen liegen könnte. Ich hob die Füße so hoch wie ein scheues Pferd. Ich versuchte blitzschnell mit den Fußspitzen kaum den Steinboden zu berühren. Ich sprang wie eine Gemse, zuletzt hatte ich das Gefühl, wie es immer dunkler talabwärts in dem Flußbett wurde, ich könnte nicht anders als fliegend aus dieser Finsternis hinauskommen; ich sprach laut mit mir, um die Schlangen zu verscheuchen; ich sah meine Hände kaum noch vor dem Gesicht und fühlte nur an den Steinen unter mir, die rasselnd weiterrollten, daß ich noch in dem Flußbett bergab sprang, aber ich war so voll von eiskaltem Blut, so todesergeben, daß ich mir vorkam, als wäre ich mein eigener Schatten, der dem heißblütigen Körper luftig davongeflogen wäre. Ich glaubte, ich müßte graue Haare bekommen vor Entsetzten, als ich dicht an meiner Seite gegen den helleren Himmel mehrere armlange Schlangenkörper wie Peitschenschnüre aus den Büschen fliegen sah, an denen sie sich mit den Schwanzenden festhielten, und als ich ihr Zischen wie ein Pfeilschwirren in der Luft über meinem Kopfe hörte.

Ich war zuletzt nur noch ein Gedanke, ein elektrischer Funke ohne Körper, der da gefühllos durch die schlangenbelebten Büsche bergab hinunterflog. Und während ich bei jedem Sprung den Karbonstift in meiner Brusttasche festhielt, damit er mir nicht entfalle, betete ich: "Geliebter Karbonstift, rette mich vor den Schlangen! Geleibte Tote, die du mir den Stift schenktest, ich verspreche dir einen herrlichen Kranz auf dein Grab in Paris, wenn du mich lebend nach Europa zurückbringst."

Fast kindisch geworden vor Schauder über das Pendeln und Zischen der langen Schlangengestalten auf den höchsten Astspitzen in manchem Busch, machte ich Gelübde, heiße Versprechungen wie ein Sterbender.

Nach einer halben Stunde, die für mich Jahre umfaßt hatte, kam ich endlich bei den Feldern von Ixtapalapa an und sah kaum noch die Umrisse von ein paar hohen Gartenmauern, die mit der Finsternis eine einzige schwarze Masse bildeten, und an denen ich, immer noch atemlos, endlich mit ruhigerem Schritt entlang gehen konnte. Als ich nach einer weiteren Viertelstunde um die Mauer bog, sah ich in der Ferne, wo ich das Wartehaus der Trambahn im freien Felde vermutete, ein Laternenlicht.

Nun ging ich langsam, allen europäischen Göttern für meine Errettung dankend, auf das einsame Licht zu, nicht wissend, ob noch ein Trambahnwagen aus Mexiko herauskommen würde, und ob ich heute nacht die Stadt erreichen könnte.

Ich liebkoste das ferne Licht nicht bloß mit meinen Augen – alle meine Gedanken lobten das armselige kleine Laternenlicht, das da fern von allen Schlangen des Berges und des Bachbettes im freien Feld so göttlich friedlich leuchtete.

Die Wartehalle der Trambahn war zugleich eine offen Pulquebar, und als ich in den Lichtstrahl trat, der von der Petroleumhängelampe fiel, fühlte ich mich in der Menschennähe wie ein von einer Krankheit Aufgestandener. Ich war noch etwas schwach und leicht taumelig im Kopf von der nächtlichen Flucht und ging an den Bartisch, wo ich vom indianischen Barkeeper hörte, daß der letzte Trambahnwagen gleich ankommen und gleich wieder abfahren werde.

Ich kaufte mir mexikanischen Tabak und Reispapier und drehte mir eine Zigarette. Als ich dann aus dem Lichtschein der breiten Petroleumlampe wieder vor die Wartehalle hinaustrat und ein Streichholz anzündete, sah im plötzlich am Boden rundum kauernde, schweigsame Scharen von Indianern. Männer und Frauen saßen in langen Reihen zu beiden Seiten des Lichtstreifens, der aus dem Wartehaus fiel, auf dem Erdboden.

Vorher, als ich vom Licht geblendet, auf das Haus zuschritt, hatte ich zwar Murmeln gehört, aber nichts gesehen. Jetzt, wo ich das Licht im Rücken hatte, sah ich immer mehr kauernde Menschenfiguren, alte Männer, alte Weiber, junge Burschen, junge Dirnen. Sie wisperten kaum hörbar, und die Zikaden, die jetzt in der vollen Dunkelheit lärmten, waren lauter als das Geflüster der Indianer. Ich war verblüfft darüber, daß ich vorhin durch eine Menschenschar gegangen war, ohne einen Menschen zu sehen, und wunderte mich über die an der Erde kauernden Leute, die, wie ich annahm, mit der Ankunft der letzten Trambahn Angehörige aus der Stadt erwarteten. Da trat ein alter Indianer aus dem Schatten in den Lichtstreifen gerade vor mir, er nahm seinen Hut ab und kniete nieder und küßte den Boden. Ein zweiter alter, grauer Mann tat neben ihm dasselbe. Ein altes Weib schob seinen Kopf in den Lichtschein, und ihre Gesichtsfalten grinsten abenteuerlich und wunderlich, ich wußte nicht, ob sie weinte – das Tränenwasser lief ihr aus den Triefaugen in alle Falten um die Augenwinkel.

Sie begann den Kopf zu wiegen und zu singen. Die alten Männer näselten denselben Sang. Die im Schatten kauernden Gestalten wendeten die Köpfe nicht um und begleiteten rhythmisch singend, monoton wie ein Gebetslied, die drei Alten.

Ich hörte eine Weile zu, verstand aber weder die Worte noch den Sinn. Ich fragte den indianischen Barkeeper, was die Leute mit dem Sang meinten.

"Kommen Sie nicht dort oben vom Berg herunter?" fragte mich der Mann leise und grinste geheimnisvoll. "Sie waren doch der Fremde, der heute nachmittag kurz vor Sonnenuntergang hier ankam?"

"Jawohl", sagte ich, erstaunt darüber, daß man mich bemerkt und beobachtet hatte.

"Es ist nämlich ein dummer Volksglaube hier in Ixtapalapa, der sagt, daß bis heute noch nie ein Weißer abends im Dunkeln zu dem Tempel des alten Götzen dort oben hinauf- oder von ihm heruntergehen konnte. Und als Sie so spät zum Tempel hinaufgingen, kam hier ganz Ixtapalapa an der Pulquebar zusammen, die ganze indianische Bevölkerung aus allen den Hütten sitzt da draußen und erwartete, daß Sie bei Nacht nie mehr herunterkommen könnten. Erstens sind Raubtiere im alten Tempel, die des Nachts herauskommen und Nahrung suchen; zweitens ist der Weg dort hinauf voll Schlangen, die alle in dem alten Bachbett wohnen, und das Volk nennt den Gott dort oben den ‚Menschenfressergott‘, weil auf dem Weg zu jenem Tempel kein Schutz vor Göttern ist. Die Indianer, die dort die Felder bestellen, gehen nie ohne Schlangenbeschwörer, ohne Feuer und ohne Waffen den Weg zur Tempelruine hinauf und gehen immer in großen Gesellschaften, wenn sie die Maisfelder dort bestellen. Denn viele haben schon dort oben beim Tempel ihr Leben verloren."

"Warum hat mich denn niemand von den Indianern gewarnt, als ich hinaufging und man mich bemerkte", fragte ich erstaunt.

"Weiße Herren darf man nicht warnen, die wissen immer alles besser als wir Eingeborenen", sagte der Indianer lächelnd.

"Aber warum singen denn jetzt die Leute?" fragte ich weiter.

"Oh, das versteht kein Europäer, das versteht wieder nur ein Eingeborener", sagte der indianische Barkeeper flüsternd. "Sie, mein Herr, sind nämlich jetzt, seit Sie bei Nacht dort oben waren, ein heiliger Mann, weil sie lebend ohne unsere Hilfe zurückkamen. Eine alte Volkssage erzählt: wenn einstmals ein Weißer aus Europa zu uns kommt und bei Nacht vom Menschenfressertempel heil und gesund nach Ixtapalapa heruntersteigt, dann haben sich die alten und neuen Götter miteinander versöhnt, und dann haben sich auch alle Götter der Welt bald für immer miteinander versöhnt und sind hinter allen Bergen ein einziges Volk geworden, das Frieden hält. Weil Sie jetzt heilig sind, darf Sie niemand von den Leuten ansprechen, aber ansingen dürfen alle Leute den ersten Weißen, mit dem der Menschenfressergott sich in Ixtapalapa versöhnt hat."

Die Trambahn aus der Stadt kam in diesem Augenblick mit Geklingel und mit elektrisch beleuchteten Fenstern auf der Landstraße angerasselt. Ich konnte mich nicht gleich in die Würde meiner Heiligsprechung finden. Und fürchtend, die Trambahn könnte ohne mich gleich wieder umkehren und nach der Stadt zurückfahren, beeilte ich mich und ging rasch an den noch immer halblaut betenden und singenden Indianergreisen und Matronen vorüber, die alle zu beiden Seiten des Lichtstreifen knieten und mir diesen Lichtstreifen als hellen Weg bis zur Trambahn frei ließen.

Der Trambahnwagen kehrte auch gleich um, und als er sich in Bewegung setzte, dachte ich schon kaum mehr an meine Heiligsprechung und war froh, wieder dem europäischen, weißen Gesicht des Trambahnkutschers, der ein Spanier oder wenigstens von spanischer Abkunft war, gegenüberzustehen.

Da rief der Wagenführer dem Kondukteur zu, er könne nicht fahren, das Gleis liege voll von Indianern, die sich alle dem Wagen entgegenstellten.

Der Schaffner, der mir eben mein Billett gab, rief zurück, der Wagenführer solle mit seinem Revolver drohen, damit die Leute das Gleis frei gäben. "Gauner und Gesindel," fügte der Schaffner hinzu, "mir haben sie neulich den Hat vom Kopf gestohlen. Es ist eine richtige Räubergegend hier. Sind Sie nicht der Herr, der mich heute nachmittag beim Aussteigen hier in Ixtapalapa fragte, ob es schöne Spaziergänge gäbe? Jawohl, Sie sind es; aber wie mich das wundert, das Ihnen hier in der Nacht nichts passiert ist, wenn Sie bis jetzt, bis zur Abfahrt des letzten Wagens hier im Dunkel spazierengingen. Ich bin erstaunt, daß Sie nicht irgendwo im Feld ermordet und ausgeraubt liegen?" – Der Wagenführer feuerte in diesem Augenblick zwei Schüsse in die Nacht.

"Oh, er schießt nur in die Luft," lachte der Schaffner, "um das Gesindel zu erschrecken, das nicht vom Gleis fort will. Übrigens, heute muß ein geheimer indianischer Götzentag sein, weil so viel Volk da herumsteht und nicht heimgeht; sie beten und singen sogar. Das habe ich noch nie erlebt. Sonst sind sie meistens vom Pulque berauscht und liegen betrunken umher."

Man hörte jetzt aus allen Feldern ein Singen. Gruppen von Indianern, die sich hinter Bäume und in den Maisfeldern hinter den grünen Maispflanzen aufgestellt hatten, leuchteten in ihren hellen Leinwandhosen und Leinwandhemden weiß hervor, wenn die hellen Wagenfenster im Vorbeifahren ihren Schein in die hohen Felder und ihr Licht hinter die Chausseebäume warfen. Hohe spitze, weiße Strohhüte schauten aus den schwankenden Maisblättern, und der Gesang wurde in der Ferne immer lauter, je weiter sich der Wagen von Ixtapalapa entfernte. Man hörte, wie die Massen der Indianer, die allmählich zurückblieben, sich anstrengten, so laut als möglich zu singen, um von der Trambahn, die der Stadt schnurgerade zueilte, so lange als möglich noch gehört zu werden.

"Ich möchte wissen, welchen heimlichen Indianerheiligen die da heute nacht mit ihrem Gesang so laut verehren", sagte kopfschüttelnd der Schaffner auf der Plattform neben mir und ahnte nicht, daß der Indianerheilige neben ihm stand.

"Ruhig, Gesindel!" schrie dann der Europäer nervös zum Wagen hinaus. Aber es war unnötig, daß er schrie, die Indianer hörten ihn längst nicht mehr; der Gesang kam ab und zu noch aus der Ferne, wenn der Wagen um eine Wegbiegung fuhr und der Nachtwind uns die Stimmen nachtrieb.

"So verrückt habe ich die Ixtapalaper noch nie gesehen", rief jetzt auch der Führer dem Schaffner durch den leeren Wagen zu.

"Ich auch nicht," meinte der Schaffner, "man könnte glauben, sie feiern ein indianisches Nationalfest."

Ich lächelte und schwieg und vermied es, den beiden Trambahnangestellten von dem Heiligen zu erzählen, den der Menschenfressergott heute den Indianern wohlbehalten trotz Schlangen und Raubtieren, hatte zukommen lassen.

In der Stadt dann, wo alle Läden erleuchtet waren und die Eingänge der Theater voll Equipagen standen und die Restaurants in der Nacht glänzten, mit elektrischen, beweglichen Reklameschriften und Scheinwerfern, und ich an den Menschenmengen vorbeiging und an das Dorf Ixtapalapa, an das Bachbett und an die Schlangen, an den Tempel, an das Kraterpanorama und an den behexten Sonnenuntergang, an die kleine Petroleumlampe in der Trambahnbar und an die geheimnisvoll im Dunkel hockenden Indianerleute zurückdachte, da glaubte ich, daß mein Hirn mir Spukgestalten vorgelogen hatte. Draußen vor der Stadt war ich ein Heiliger gewesen, und hier in der Stadt war ich ein einsamer, einzelner, verschwindender Mensch, der nicht einmal die Kraft hatte, die Frau, nach der er sich sehnte, zu erringen.

Ich stand einen Augenblick vor dem Schaufenster, wo die scharlach- und goldgestickten Toreadokostümstücke ausgestellt waren, die morgen jene Frau, die niemand kannte, und von der ganz Mexiko sprach, beim Stierkampf tragen sollte.

Ich ging dann seufzend fort. Da bemerkte ich plötzlich, daß ich den Opalring, den ich heute mittag an meinen Finger gesteckt, nicht mehr trug, und ich fand, daß ich ihn ganz in Gedanken abgezogen und in die Westentasche gesteckt hatte. Brachte der Ring Glück oder Unglück? Daß er Trauer gebracht hatte, wußte ich; denn kaum hatte ich ihn zum erstenmal am Finger gehabt, da las ich die Todesnachricht des Abbés vor dem Zeitungsbureau, auf derselben Straße, keine hundert Schritte von dem Juwelierladen entfernt.

Ich ließ den Ring in der Westentasche und zog ihn nicht mehr an, aus der abergläubischen Furchte heraus, die dieses geheimnisvolle Land mich lehrte. Dann ging ich nach Hause, um meinen Reitanzug abzulegen und dann Abendessen in dem "Deutschen Klub" einzunehmen.

Niemals aber ist das Schicksal verwickelter, als wenn man glaubt, alles sei glatt abgewickelt und klargelegt. Der höchste Lebenskünstler, der über dem Menschen steht, ist das Leben selbst, das erfuhr ich jetzt wieder, wie so oft vorher im Dasein. Das Leben erfindet die unglaublichsten geschicktesten und unausdenkbaren Situationen, und nur dadurch hat sich ein ewiges Neubeleben bilden können. Die logischsten Schlüsse, die scharfsinnigsten Voraussetzungen lassen das Schicksal gleichgültig, es folgert nichts und setzt nichts voraus, es zaubert fortwährend aus nichts alles und verzaubert wieder alles in nichts; es will nicht zweckdienlich und befriedigend, sondern erschütternd, aufrüttelnd und neubelebend sein, und dazu kann es keine Logik, keine Gedankengänge, sondern nur Wunder aus Glück und Unglück brauchen. Vom Leben haben die Jesuiten niemals den Satz gelernt: Der Zweck heiligt die Mittel. Das Leben ist noch viel gigantisch ungeheuerlicher in seinen Sätzen, es spricht jedem, der es am Leibe erlebt, und den es mit Gefühl und Verwunderung und Unermüdlichkeit erfüllt, es spricht zu ihm: "Die Zwecklosigkeit ist mein Zweck, und kein Mittel ist mir heilig!"

Das Leben tötet, reißt Lebende auseinander, raubt Eltern die Kinder, Kindern die Ernährer, vernichtet im Kriege und beim Erdbeben mit jedem Tag Tausende von Gefühlsbanden und fügt oft zusammen nach Laune und Lust, was ihm nicht einmal gut dünkt. Das Leben ist grenzenlos leichtsinnig. Nur der Lebende hat zu alle dem Leichtsinn kein Recht. Er muß gefühlsecht, logisch, scharfsinnig und fromm auf das Leben sehen, wenn ihn auch das Leben gefühlswidrig, unlogisch, leichtsinnig und unfromm behandelt. Das Ganze ist ein Versteckspiel des Lebens mit dem Lebenden; und dieses Spiel soll beiden eine Freude sein, wie jedes Spiel.

Man muß erst älter werden, bis man versteht, daß das Leben als Riese mit uns spielen will, wie die Katze mit der Maus, ehe sie sie frißt. Als ich jung und ein Kind war, fühlte ich das Leben schon spielend und anfeuernd: und dies Gefühl soll einem nie abhanden kommen. Sonst muß man lange warten, bis einem das Leben wieder als Gefühl angewöhnt wird, bis es ein Fest, ein Spiel, zwecklose Belebung sein will, die aber der Mitspielende, wie jedes Spiel, wie jedes Fest, ernst zu nehmen hat. "Denn Belebung will ich," sagt das Leben, "belebendes Unglück, belebendes Glück – beide sind des Lebens Mittel, und das Ganze sei ein Wunderwerk –, keine Logik." Und die Liebesleidenschaft, die tiefer als der Hunger greift, belebt mit Unglück und Glück den Lebenden am stärksten. Sie ist des Lebens höchstes Mittel zur Belebung. Wer dieses verkennt und den Magenhunger stärker fühlen kann als den Hunger seines Blutes, der ist noch nicht belebt genug und ist erst in den Vorhof zum Unheiligtum des Lebens eingetreten.

So sprachen meine mexikanischen Gedanken in den nächsten Tagen, welche diesem Abend folgten, diesen Abendstunden, in denen ich eine Glücksbelebung kosten sollte, die mir unvergeßlicher bleibt, als wenn man mich damals nicht nur in Ixtapalapa, sondern über ganz Mexiko hin heiliggesprochen hätte.

An dem Platz Glorieta di Colon angekommen, bemerkte ich, daß in dem Salon, den ich mir unten im Erdgeschoß gemietet hatte, Licht war. Ich wußte nicht, wer in meinem Zimmer am Abend etwas zu suchen hätte; es konnten nur Einbrecher sein, denn von allen meinen Bekannten hatte ich mit Absicht noch keinem meine neue Adresse angegeben, sondern ließ mir meine Briefe immer noch nach dem spanischen Hotel zuschicken.

Ich trat in den Vorgarten und ging auf den Zehen an den dunklen Parterrefenstern entlang, bis ich zu der hellen Glastür meines Zimmers kam. Die Tüllvorhänge waren zugezogen und ein weißes Rouleaux herabgefallen.

Ich horchte. Nichts rührte sich drinnen. Eben erst war ich den Schlangen von Ixtapalapa entkommen – sollte ich jetzt in Räuberhände fallen? Es ist wirklich ein grausam aufregendes Land, dieses Mexiko, dachte ich. Da hörte ich, wie der Schaukelstuhl sich drinnen rhythmisch bewegte. Also saß jemand auf dem Stuhle, wiegte sich und – erwartete mich. Sollte es die Mexikanerin sein? Sie allein hier, in meinem Zimmer – das war möglich und unmöglich. Heute, wo sie erst den Schreck des Todesfalles erlebt hatte, konnte ihr Herz sehr leicht zu mir wollen, sich auszusprechen. Ich war doch außer ihrer Mutter der einzige, der wußte, daß ihr Vater gestorben war, und nicht bloß ein befreundeter Abbé. Ich unter allen Freunden stand ihr jetzt durch dieses Geheimnis, das wir teilten, so nah wie kein Mann wieder auf der Erde. Denn ihr Bräutigam, der Polizeipräsident, wußte nicht, daß der Abbé ihr vater war – das hatte sie mir damals bei dem Ritt eingestanden. – Jetzt steht jemand drinnen auf, Schritte gehen zum Klavier. Es ist der leichte Tritt eines jungen Weibes. Nun schlägt sie den Klavierdeckel auf. Wird sie spielen? Vielleicht, um die Leute im Hause zu täuschen, daß man ihr die allzu große Trauer nicht anmerkt.

Sie spielt mit einer Hand einen Straßensang! Ich erkenne das Ausruferlied einer Verkäuferin, die jeden Morgen und jeden Abend hier vor dem Vorgarten vorbeigeht und Süßigkeiten, Obst usw. verkauft.

Sie singt die Worte der Ausruferin, als übte sie den Ton ein. Was bedeutet das alles?

Ich stolpere und stoße mit der Stirn an das Glas der Tür. –

Ihr Schatten fällt jetzt auf den Türvorhang. Sie beseitigt ihre Kämme im Haar, ich sehe es sehr deutlich am Schatten: sie ist es, sie ist ohne Hut, nur in der Spitzenmantille, in der sie abends zum Korso fährt.

Jener einsame Wagen, der da drüben eben langsam um das Denkmal des Christoph Kolumbus fährt und einmal schon die Runde gemacht hat, seit ich hier stehe, es ist ihr Wagen, der auf sie wartet. Ich erkenne die Pferde, dieselben, die sie damals abholten, am ersten Tag, als wir von Orizaba ankamen und uns vor dem Bahnhof in Mexiko trennten.

Ich klopfte an die Glasscheibe meiner Tür, ohne mich länger zu besinnen.

Ihr Schatten drinnen tritt von der Tür zurück.

Der weiße Türvorhang hinter den Glasscheiben sieht mich jetzt leer an.

Ich rufe halblaut: "Ich bin es" – und erwarte, daß sie meine Stimme erkennt.

Da lischt das Licht aus.

Jetzt ist der Vorhang nur von der Straßenlaterne matt beschienen, und das Fensterkreuz der Türverglasung legt seinen Schatten auf den regungslosen Vorhang.

Das weiße Fenster sieht sehr geheimnisvoll auf mich nieder. – Ist sie fortgegangen? Holt sie oben aus der Pension ein Dienstmädchen? Dann hätte sie aber doch nicht das Licht auslöschen müssen. Ich verstehe nichts und weiß nicht, ob ich mich vielleicht doch in dem Frauenschatten getäuscht habe, ob es nicht doch ein Männerschatten war, ein Einbrecher! Ich suche den Wagen, der Wagen ist fort. Jetzt wird der Vorhang zur Seite geschoben. Ich sehe dabei nur zwei von der Straßenlaterne beleuchtete Finger. Ihre Fingerspitzen! Ich hätte die Finger, die damals die Ventile der Lokomotive so mutig ergriffen, und die nachher so aufgeregt im Wagen bei der Korsofahrt mit den Drohbriefen gespielt hatten, in der Nacht unter Millionen Fingern erkannt. Nicht an der Form, sondern nur an der Bewegung, wie sie zart und energisch zufassen konnten, wenn sie die Pferdezügel ordneten oder den Reitrock faßten.

Sie war es; ich sah ihr Gesicht halb beschattet; sie eilte sich, vorsichtig und behutsam die Glastür zu öffnen.

Dann gab sie mir die Hand. Ich sah sie selbst nur im Zimmerdunkel, von der Laterne der Straße ein wenig erhellt.

Ich küßte ihre Hand, die mir im Druck ihre zitternde Erregung mitteilte, ihre Trauer über den Tod ihres Vaters, ihren Schrecken und die Unruhe dieses ganzen Tages, dessen Ernst ich erst jetzt richtig fühlte, als ich diese Hand küßte, die reden wollte, ehe der Mund reden durfte.

"Bitte, begleiten Sie mich zu meinem Wagen", hörte ich dann die eilige Mädchenstimme halblaut sagen, als ob sie sich schäme, hier im Dunkel zu sprechen – "Sie haben sicher schon aus den Zeitungen alles gehört. Ich mußte Sie heute noch sprechen. Ich habe die Lampe ausgelöscht, weil ich nicht wußte, ob nicht vielleicht einer ihrer Freunde draußen an die Glastür klopfte, um Sie zu besuchen, weil er Licht sah. Dann erblickte ich sie durch den Vorhang und bin froh, daß Sie da sind. Ich habe Ihnen zwei Botschaften durch eine Straßenverkäuferin gesendet, denn ich konnte von unseren Dienstboten niemanden schicken. Bitte, kommen Sie in meinen Wagen; da können wir ungestört sprechen."

"Sagen Sie mir, bitte, nur das eine," fragte ich rasch, ehe wir unter die Glastür traten, "ist Ihr Vater eines natürlichen Todes gestorben oder...?"

"Man hat mir gesagt, er sei am Herzschlag gestorben; aber ich bin sicher, er ist keines natürlichen Todes gestorben. Er war heute ganz gesund. Er war zum Frühstück bei meinem früheren Bräutigam eingeladen. Sie wissen vielleicht nicht, daß ich vorgestern meine Verlobung mit dem Polizeipräsidenten gelöst habe; und mein Vater war in meinem Interesse noch einmal hingegangen und war dieser Einladung gefolgt, um eine eingehende Rücksprache mit dem Polizeipräsidenten zu nehmen. Denn neulich, als ich Ihnen sagte, nur Sie, meine Mutter und ich wüßten, daß der Abbé mein Vater ist, ahnte ich noch nicht, daß dies inzwischen auch der Polizeipräsident in Erfahrung gebracht hatte. Mein früherer Bräutigam, der Polizeipräsident, hatte während der Abwesenheit meines Vaters unter dem Vorwand, daß der Abbé Mitglied einer regierungs- und republikfeindlichen Gesellschaft sei, in meines Vaters Hause Haussuchung halten lassen und dabei Briefe an sich gebracht, die ihm das Verhältnis des Abbés zu meiner Mutter verrieten. Diese Haussuchung hat sich vorgestern abgespielt, und ich wußte nichts davon. Heute hatte nun mein Vater, der Abbé, von dem Polizeipräsidenten eine Einladung zum Frühstück erhalten, worin sich der schreckliche Mensch den Anschein gab, als wolle er sich wegen der Haussuchung entschuldigen; er schrieb gestern in der Einladung, das Ganze sei ein Irrtum seiner Beamten gewesen, die wegen einer Namensverwechslung beim Abbé Haussuchung gehalten hätten, wo sie gar nichts zu suchen gehabt hätten. Er entschuldigte sich vielmals und bat den Abbé heute zum Frühstück, um, wie er sagte, nochmals von mir und unserer Verlobung mit ihm, meinem Beichtvater und väterlichen Freund, zu verhandeln. Mein Vater wollte zunächst nichts von der Einladung wissen, aber meine Mutter bat ihn dringend, hinzugehen; sie hoffte, der Polizeipräsident würde ihm bei dem Besuch auch die kompromittierenden Briefe meiner Mutter aushändigen, die man bei meinem Vater beschlagnahmt hatte. Ich fürchte mich jetzt, ich fürchte stündlich für alle, die mit meinem Geheimnis bekannt sind – deshalb kam ich bei Nacht zu Ihnen. Ich fürchte jetzt meinen früheren Bräutigam wie den Teufel selbst. Ich fürchte, er könnte uns allen schaden wollen, weil er sich an mir wegen der gelösten Verlobung furchtbar rächen will. Er hat einmal in einem jähzornigen Augenblick bei einem Besuch in Ameca-Meca vor meiner Mutter laut geschworen, er würde uns alle und sich selbst ins Verderben bringen, wenn ich diese Verlobung mit ihm rückgängig machen sollte."

"Und ich glaube, der Polizeipräsident hat sich bereits heute an Ihrem Vater gerächt", sagte ich rasch und drängte das Mädchen in das Zimmer zurück, dessen Tür ich offen ließ, so daß der Laternenschein, der von der Straße her das Zimmer über die halbe Diele hin mattgelb beleuchtete, nicht mehr auf uns fiel und wir im Schatten standen und von keinem Vorübergehenden gesehen werden konnten.

"Ich weiß nicht", sagte die Mädchenstimme im Dunkeln. "Ich weiß nicht, ob er an meines Vaters Tode schuld sein kann."

"Die Drohbriefe könnten nicht von ihm diktiert worden sein?"

"Nein, unmöglich, denn er erfuhr erst vorgestern, daß ich endgültig die Verlobung mit ihm aufhob. Und ich hielt damals schon zwei Tage die Drohbriefe in Händen. Diese Briefe sind von einem andern, mir wildfremden Menschen, der meinen Vater vielleicht haßte, aus einem mir unbekannten Grunde geschrieben worden."

Wir schwiegen beide. Sie hatte sich in den Schaukelstuhl gesetzt, ich stand an der Tür und horchte auf den Platz hinaus, der menschenleer war; nur in der Ferne hörte ich einen Wagen auf dem Sand der Paseo-Promenade knirschen; wahrscheinlich war es der Wagen der Mexikanerin.

Die Zeit schien stillzustehen. Es wunderte mich, daß das Mädchen nicht schluchzte, nicht weinte, wie es andere Frauen getan hätten, wenn ihnen so viele Schrecken an einem Tage begegnet wären.

"Es ist besser, wir besprechen hier im Dunkeln, was zu tun ist; ich fürchte, im Wagen, der draußen fährt, können wir leichter von Spionen des Polizeipräsidenten beobachtet werden, leichter als hier", sagte ich.

"Ich möchte wissen, ob mein Vater am Herzschlag gestorben ist, oder ob – ich möchte es nicht ausdenken –, ob der Polizeipräsident meinen Vater beim Frühstück hat vergiften lassen." Und trocken und hart ohne Tränen in der Stimme sprach das Dunkel, in dem das Mädchen saß, zu mir weiter: "Dann würde ich den Mörder meinem Vater nachschicken, damit er ihm drüben im Tod Abbitte tut."

Der weiße Vorhang der aufgeschlagenen Glastür klatschte im Nachtwind an die Wand.

Ich mußte unwillkürlich erschrocken auf den gespenstigen weißen Vorhang starren, der so laut klatschte, als stünde dort in der Ecke des Mädchens Vater, der seinen Beifall kundgäbe.

Große langstielige Tuberosen, die draußen im Vorgarten in weißen Reihen am Straßengitter standen, dufteten so stark wie der Geruch von Totenkränzen – Totengeruch, der leidend und schmachtend und aufdringlich den Geruch des Lebens übertäuben wollte.

Ich beobachtete auch eine Weile Hunderte von Insekten um die Straßenlaterne draußen, die einen wahnwitzigen Tanz um das Laternenglas vollführten und aufgeregt und todeslüstern auf das Licht losfuhren und todeserschreckt zurückprallten und sich von neuem über das Licht warfen, schwindlig vor Lichtluft und Todesluft.

Von meinem Besuch sah ich nur die blitzenden Spitzen der Lackschuhe, die in die Helle der Diele reichten, während der Körper des Mädchens in dem schwarzen Seidenkleid und der schwarzen Spitzenmantille vollständig im finstern Zimmer verschwand.

Ich betrachtete die Lackschuhe, die auf den großen Agraffen ein feines bläuliches Glanzlicht zeigten. Und in den spiegelnden dunklen Agraffen sah ich vornübergebeugt einen blitzenden bläulichen Punkt, der immer heller wurde, als wenn die Fußspitze der jungen Dame mir näher käme, als ob sich von den Füßen, die da in mein dunkles Zimmer gekommen waren, eine bläuliche Helle gespenstig über das ganze Zimmer verbreitete.

Das Zimmer wurde helldämmerig, und die junge Frauengestalt erschien wie vom Licht der heller werdenden Wände getragen zu werden. Ihr Gesicht, ihre Hände tauchten bläulich aus der Dunkelheit, und sie war plötzlich aus dem Dunkel wie auferstanden und verklärt von den weißen Zimmerwänden beschienen. Ich sah in der feierlichen Helle die elegante, jugendliche Erscheinung näher als am Tag, intimer, mir zugehörig und nahe wie ein Gedankenbild, das man in der Nacht in Träumen erlebt, und das mit dem Träumenden eine Welt bildet, die intimer als die wache Welt des Tages ist.

Der Mond war draußen bei der Kolumbusstatue langsam über das Dach eines fernen Gartenhauses gestiegen, und der Mond malte mir jetzt das junge Geschöpf in mein Zimmer mit seinen behutsamen, einfachen bläulichen und grauen Farben, die in atemlosen Augenblicken dem sehnsüchtigen Menschenauge oft mehr Zutraulichkeit geben können als die siebenfarbige Sonne.

Wie seltsam, daß sie nicht eine Träne weint, dachte ich wieder und bewunderte die blanken, großen, schwarzen Augen des Mädchens, die beinahe so hell wie die schwarzen Steinagraffen ihrer schmalen Lackschuhe in den Mond sahen. Für sie ist ihr Vater noch nicht tot; sie weiß es nur, kann es aber noch nicht erleben. Das "Empfinden des Todes" will wie jedes Empfinden seine Zeit haben; es ergießt sich langsam über den Trauernden. Wie alles Geschehen hat auch die Trauer ihr Wachstum, ihren Gipfel und ihr Absterben. Nichts ist da, alles kommt, ist und geht – diese Dreiheit ist der uralte, ewige Lebensgang in allem Empfinden. So sprach ich jetzt zwar nicht wörtlich mit mir, aber so sprach mein Herz in tiefstem Blut; und erst später, wenn ich über diese Minuten nachdachte, war mir bewußt, daß mein Herz damals so gedacht hatte, während mein Auge staunte, daß das Mädchenauge im Mondschein vor mir nicht weinen konnte.

"Ich werde so ruhig," sagte sie langsam, "Ihre Nähe macht so ruhig; es ist, als strahlten Sie die Milde eines fernen, fremden Landes aus, die Milde eines gesitteten Europas, das Sie auch hier in dem abenteuerlichen Mexiko noch immer umgibt."

"Ich war heute gar nicht ruhig", mußte ich eingestehen. "Heute mittag, als ich eben von einem Juwelier kam, wo ich mir einen Opal in einen Ring hatte fassen lassen, und als ich den Ring an den Finger gesteckt hatte, überfiel mich gleich die unruhige Trauernachricht, die ich aus der Zeitung im Schaufenster eines Zeitungsbureaus im Vorübergehen las, und ich eilte hinaus vor die Stadt, gepeitscht von Unruhe."

"Opale bringen allen Europäern Tränen, aber nicht den Menschen, die hier geboren sind; denen tun die Opale nichts zuleide, so sagen die Indianer hier", sprach die Mondbeschienene gedankenvoll.

"Dann werde ich meinen Opalring verschenken", sagte ich lakonisch.

"Wenn der Ring Ihnen heute die Nachricht vom Tode meines armen Vaters brachte, dann – möchte ich gern einen andern Edelstein dafür zurückgeben. Der Opal, der heute gleich so bedeutungsvoll für Sie und mich wurde, soll mir eine Erinnerung sein, wenn Sie wieder in Europa sind. Und damit Sie Mexiko bald vergessen, möchte ich Ihnen einen Rubinring geben, der alles Unangenehme im Leben rasch für den vergessen macht, der im Sommer geboren ist. Sie erzählten mir auf der Herreise, daß Sie im Juli geboren sind; also bitte, nehmen Sie den Rubin, der der Stein des Julimonats ist; er hat meinem Vater gehört."

Und das junge Mädchen nestelte, während sie das sagte, an ihrem Armband, daran sie verschiedene Schmuckgegenstände klingelnd trug, und reichte mir einen Ring, der auch noch im bläulichen Mondschein rötliches Feuer hatte. Ich dankte ihr verblüfft.

Ich gab ihr darauf meinen Opalring, den sie an ihrem Armband befestigte, indessen ich den Rubinring, der mir gut paßte, an die Hand steckte, wobei ich immer noch schwieg und tief erstaunt war. Vor Staunen und Unklarheit über den plötzlichen Ringtausch hatte ich meine Sicherheit verloren.

Im fremden Lande steht man jeden Augenblick auf unsicherem Boden, der vom Gedröhn sich jählings folgender Überraschungen unter den Stiefelsohlen stetig zu zittern scheint, dachte ich für mich. War der Ringtausch eine Annäherung, oder sollte der Rubin mir helfen, sie, das junge Mädchen, so bald wie möglich zu vergessen und alles, was mit ihr zusammenhing, der Vergessenheit zu übergeben?

"Was werden Sie jetzt tun?" fragte ich sie, als sie vom Stuhl aufstand und ihren Mantillenschleier über ihre Haare in die Stirn zog. "Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Klarheit zu bekommen, ob Sie sich in Ihrer Vermutung täuschen, daß Ihr Vater eines unnatürlichen Todes starb, oder ob Sie recht haben? Darf ich fragen, ob Sie des Arztes, der den Tod Ihres Vaters als durch einen Herzschlag eingetreten erklärte, ob Sie dieses Arztes sicher sind? Wissen Sie, daß er ein ehrlicher Mann ist und in keiner Beziehung zum Polizeipräsidenten steht?" – Ich wunderte mich, während ich sprach, über meine Sprache, die wie eine offizielle Zeitungssprache wurde.

"Ich kenne den Arzt gar nicht, man hat den Arzt erst auf der Polizei telephonisch herbeigerufen, als die Schutzleute meinen Vater auf die Wache brachten."

"Wünschen Sie, daß ich morgen beim Stiergefecht in der Loge mit dem Präsidenten der Republik selbst spreche und ihn auf den Fall aufmerksam mache? Ich kann das leicht tun, und wie ich den Präsidenten kenne, ist er ein so warmherziger Mann, daß er sicher alles tun wird, um in Erfahrung zu bringen, ob der Tod des Abbés ein natürlicher war, sobald ich ihm andeute, daß im Publikum Zweifel auftauchen."

"Oh ich danke Ihnen – ich danke Ihnen – ach, ich fürchte so sehr, Sie öffentlich in diese Angelegenheit hineinzuziehen... Nein. – Ich wünschte –", sie zögerte, weiterzusprechen.

"Sagen Sie nur, was Sie wünschen!" sagte ich eindringlich.

"Ich wünschte – für Sie –, daß Sie alles vergessen und abreisen möchten. – Verzeihen Sie mir – ich kann mich nicht mehr beherrschen –"

Sie sank in den Stuhl zurück. Sie hielt die Hände vor das Gesicht, und wie eine Sturmflut, die hinter der Starrheit der schwarzen gläsernen Augen seit Stunden sich angestaut hätte, so brach jetzt ein Schluchzen, ein Stöhnen, ein Wimmern, ein ruckweises lautes Weinen aus der Brust und aus der Seele des Mädchens hervor, und es war für mich unmöglich, in dem mondmilden Zimmer korrekt neben der Weinenden zu stehen und das Schluchzen bloß anzuhören; ich hätte mich tot wie eine fünfte Wand im Zimmer gefühlt, hätte ich nicht meinen Arm um die Weinende gelegt und ihr Haar gestreichelt, ihre Hände, ihre Wangen. Ich fühlte, wie sie, aufgelöst vom Schmerz, nach einem Ruhepunkt, nach einem Menschenherzen schluchzte: "Meine Mutter ist selbst ganz gebrochen von Trauer, bei ihr darf ich nicht weinen", stotterte sie unter stoßweisem Schluchzen. "Ich muß endlich weinen, oh – mein armer Vater, oh – mein armer, armer Vater; o Gott, räche ihn, räche ihn, oh, ich will den ermorden, zehnfach ermorden der, der meinem armen Vater den Tod angetan hat. Oh, er ist nicht natürlich gestorben, er ist ermordet worden. Dieser Mensch, dieser furchtbare Feigling, den ich nie liebte, der mich nur aus Ehrgeiz heiraten wollte, um mit dem Präsidenten der Republik verwandt zu werden, der ist sicher sein Mörder gewesen. Aber ich töte ihn, ich werde morgen schon meinen Vater rächen. Morgen – ich weiß es, niemand anders als er wollte meinen Vater aus dem Wege schaffen, niemand anders, weil mein Vater mir als Beichtvater von der Verbindung mit jenem Menschen abgeraten hat. Er hat als Beichtvater von vielen Leuten viel Ungeheuerliches über den Polizeipräsidenten erfahren, er erkannte ihn, und weil der erkannte und durchschaute Mensch meinen Vater fürchten mußte, hat er meinen Vater vergiftet. Er hat ihm beim Frühstück Gift reichen lassen – es ist nicht anders möglich, ich weiß es. Plötzlich sehe ich alles so klar. Jemand sagt es mir hier in Ihrem ruhigen Zimmer. In Ihrer ruhigen Nähe sehe ich das ganze Verbrechen klar vor mir, als ob es mir der Mond aufklärte, und die weißen Zimmerwände erzählen es, und die Ruhe und die Güte, mit der Sie mich behandeln – alles macht es mir klar: mein Vater ist ermordet, vergiftet – von dem Ungeheuer von Mann, der mich zwingen will, ihn zu heiraten, und der glaubt, ich würde mich von neuem wieder mit ihm verloben, da mein Vater tot ist und mich nicht mehr bereden und mich nicht über den Charakter des Mannes, den er durchschaute, aufklären kann –"

Sie lachte mitten unter Tränen in gesteigertem Haß auf.

"Und dazu muß er mir meinen Vater ermorden – um seinen Wahn, seinen Trotz, seinen Hochmutsglauben zu befriedigen –, nie, niemals hätte ich wieder diesem Mann, dem ich nur auf Zureden meiner Mutter mein Jawort gegeben hatte, von neuem meine Hand gegeben – niemals –, auch wenn jeder das Beste von ihm erzählt hätte. Seit ihm im Zorn der Schwur entfahren ist, daß er uns alle verderben wollte, wenn ich von der Verlobung zurücktreten würde, seitdem bin ich überzeugt gewesen, daß er im Grunde einen niedrigen, streberischen, hartherzigen und selbstsüchtigen, verbrecherischen Charakter hat –"

Plötzlich schwieg sie mitten in der stürmischen Anklage – sie sah auf – es wurde todstill – sie sah mich an – ich war neben dem Stuhl auf die Knie gesunken."

Ich will Sie rächen an dem Kerl!" rief ich ehrlich ekstatisch und war zugleich erschrocken über die Figur, die ich machte: daß ich hier niederkniete wie in einem Schauspiel, wie in der Mondscheinszene eines Liebesdramas auf einer Provinzbühne. – Mein Verstand korrigierte mein unüberlegtes Gefühl. Ich richtete mich rasch auf und ging im Zimmer auf und ab, rasch auf und ab, und fühlte in dem Schweigen, daß mir die Augen des jungen Mädchens, das nicht mehr weinte, folgten; und es peinigte mich, daß ich lächerlich gewesen war, und ich wollte es wieder gutmachen und blieb im Schatten der Wand und nicht im Mondschein beim Klavier stehen und sagte:

"Es ist schwer zu wissen, ob hier ein Mord vorliegt oder nicht, aber ich schwöre Ihnen: ich werde es auf irgendeine Weise erfahren, und sollte ich selbst dabei zugrunde gehen."

Dieser letzte Satz war mir wieder etwas theatralisch entschlüpft, ich verstand mich gar nicht mehr; was hatte ich nur, daß mir alles einfache Sprechen abhanden gekommen war, daß ich immer in viel zuviel Überschwang verfiel, der mir gar nicht zukam, und den ich sonst an anderen haßte?

Da leuchtete im Dunkeln der rötliche Rubin an meiner Hand auf, die auf den Tasten des offenen Klaviers nervös und lautlos hinstrich. Machte dieser rote Edelstein so überschwenglich feurig, daß er mir Worte in den Mund legte, die mich zum Südländer machten und mir alle besonnene deutsche Art nahmen? Ich vergaß aber den Stein wieder, denn die junge Mexikanerin war nun aufgestanden. Ohne ein Wort zu sprechen, kam sie aus dem Mondschein in den Schatten zu mir an das Klavier; sie faßte nach meiner Hand und wollte sie küssen. Ich zog die Hand zurück und umschlang das junge, geschmeidige Geschöpf, das sich an mich schmiegte und sich küssen ließ, als ob es unter meinen Küssen und an meiner Brust nun wirklich Ruhe, tiefe, ernste Ruhe gefunden hätte.

"Rennewart", sagte sie und küßte mich auf mein Schläfenhaar, während ihr Gesicht auf meiner Schulter lag.

"Orla", sagte ich leise, und ich strich ihr über die Wangen und sah wieder den rosa Feuerschein des Rubinringes an meiner Hand, während ich ihre Wange und ihren Hals streichelte.

"Orla, kommst du mit mir nach Europa?"

Sie schüttelte leise den Kopf und weinte auf meiner Schulter und schwieg.

Nun wußte ich – und es rieselte mir ein kaltes Gefühl durchs Blut –, das Mädchen, das ich streichelte, liebte mich nicht, es liebte augenblicklich nur den Mann in mir, der seinen Vater rächen wollte.

"Orla, warum küßt du mich, wenn du mich nicht liebst?" fragte ich erschrocken und sanft. Orla weinte.

Plötzlich aber, als ob sie fürchtete, sie könnte mich zurückstoßen und vielleicht verlieren und mich unmutig und zur Rache unlustig machen, plötzlich umschlang sie mich, zog mich leidenschaftlich an sich; meine Hand, die ich fallen ließ, und mit der ich sie nicht mehr streicheln wollte, riß sie von den Tasten des Klaviers zurück, so daß es laut anschlug und einige Dissonanztöne die Mondstille des Zimmers schrill aufstörten.

Dieser Klang des banalen Klaviers machte uns wach. Wir ließen voneinander. Ich begleitete sie zur offenen Tür, wir blieben nicht im Mondschein stehen, das Mondlicht schien mir greller als alle Sonne.

"Kommst du morgen wieder?" konnte ich nicht unterlassen zu fragen.

"Ich gehe nicht, ich gehe nicht, komm in meinen Wagen!" sagte sie leidenschaftlich und legte beide Arme auf meine Schultern und sah mich mit mondglitzernden Augen an, angstvoll, bittend und zwingend.

"Bedenke, daß wir noch nicht gesehen sein wollen, bis wir alles erfahren haben, was wir von deinem armen Vater wissen wollen."

Ich war froh, daß ich mich so hart beherrschen, es so stolz verbergen konnte, wie sehr ich mich sehnte, mit ihr im Wagen, unter dem Mond, hinaus in die Nacht zu fahren.

"Oh, wie ruhig du plötzlich sein kannst!" klagte sie jetzt. "Komm mit mir, ich gehe weiter mit dir, weiter als nach Europa!" – Und sie lächelte. –

Ah – da durchfuhr mich ein Schmerz –, ich hatte sie für ganz jungfräulich unschuldig gehalten, und nun sprach sie so reif wie eine Wissende, die alle Geheimnisse der Liebe und Umarmung beherrschte. Ich schämte mich meiner Naivität, meines deutschen Glaubens an die Reinheit der Frauen; meine Seele war mir wie ein weggeworfenes Papier zerknittert, und ich verlor die Lust, das Mädchen zu küssen; sie kam mir wie auf der Gasse oder wie von Räubern geschändet vor.

"Wer war der Räuber, der dich früher einmal raubte?" fragte ich halb gutmütig lächelnd, um meine bittere Enttäuschung zu verbergen.

"Frage mich nicht – du machst, daß ich mich umbringen könnte, wenn ich unter deinen ruhigen Armen gestehen soll, daß er es war, der vielleicht der Mörder meines Vaters geworden ist."

"Verflucht, unmöglich!" brach es vor Entsetzen und Staunen aus mir hervor. "Der Polizeipräsident? – Der?"

Sie riß meinen Kopf an ihre Lippen und sagte: "Sprich nicht von ihm. Du bist ein Heiliger gegen diesen Menschen."

Dann lief sie fort. Ich ging hinter ihr her bis zur Straßenecke, sie winkte ihrem Wagen. Sie gab mir noch einmal unter den Augen des Kutschers fest die Hand, sie stand in der schwarzen Mantille, mit den Handschuhen in der Hand und mit den halbentblößten Armen, prachtvoll und reizvoll vor mir, so daß ich ihre Hand plötzlich wieder heftig drückte, ihren Arm streichelte und halb scherzend sagte: "Komm morgen abend wieder! Du bist so schön, daß alle Heiligen mir gut sein müssen."

"Morgen?" fragte sie erschrocken und sah mich groß an. Oh, ich hatte vor ihrer Schönheit im Mondschein sogar vergessen, daß sie zu Hause eine weinende Mutter hatte, daß sie der Leiche des Abbés zum Grabe folgen mußte, und dann erst wiederkommen konnte.

"Ich gehe mit meiner Mutter morgen zum Stiergefecht," sagte sie plötzlich rasch, "dort darfst du mich anschauen, aber bringe mich nicht zum Weinen. Meine Mutter sagt, wir müßten hingehen und dürften bei den drei Nationaltagen nicht fehlen; es würde sonst auffallen, daß wir wegblieben, und man könnte böse Klatschereien machen. Ich finde zwar, meinen Vater, der als Abbé allgemein als unser Familienfreund bei uns bekannt war, könnten wir auch öffentlich betrauern und sollten nicht zum Fest kommen, aber meine Mutter ist wegen der Briefe, die seit der Haussuchung in den Händen der Polizei sind, so aufgeregt, daß sie zum Stierkampf gehen und versuchen will, den Polizeipräsidenten dort zu sprechen."

Ich stand gedankenvoll da und konnte den Wagenschlag noch nicht zudrücken.

"Auf Wiedersehen morgen!" sagte ich endlich ruhig.

"Auf Wiedersehen – ich liebe dich! – dich ruhigen Europäer!" Sie wendete mir rasch die Lippen zum Kuß hin und drückte den Wagenschlag zu. Dann fuhr sie fort, und ich ging nicht von der Stelle und sah dem Wagen nach, der bald hell, bald dunkel durch die Mondscheinstreifen und durch die Baumschatten unter den gewaltigen Laubnetzen der gigantischen Alleebäume des Paseo fortjagte.

Langsam ging ich um den Halbkreis des Platzes der Glorieta di Colon auf dem Trottoir zu meiner Wohnung zurück.

Ich erstaunte über meinen winzigen Schatten: es mochte elf Uhr sein, und unter dem hohen Tropenmond, der senkrecht über mir stand, ging ich fast schattenlos hier auf dem schneehellen Asphalt des Trottoirs. Es war, als fehle mir etwas Altbekanntes. War ich wie Peter Schlemihl geworden, die alte Märchenfigur Chamissos, die ihren Schatten verloren hatte? Oh, ich hatte mehr verloren, viel mehr heute abend, ich hatte ein Ideal, eine Seele, eine Leidenschaft verloren.

Was geblieben war, das war nicht mehr Lust, sondern Lüsternheit, nicht mehr Inbrunst, sondern – Brunst des Körpers nach vagabundenhafter Frauenschönheit.

"Alter Idealist, alter Europäer! Altes deutsches Gemüt!" so spottete ich, während ich mich um mich drehte und verwundert meinen Schatten am Boden im Mondschein suchte und statt eines Schattens nur einen kreisrunden Fleck um meine Füße sah; wie ein rundes schwarzes Brett unter einer Spielzeugfigur aus einer Nürnberger Spielzeugschachtel – so klein zusammengeschrumpft war mein Schatten unterm senkrechten Tropenmond. "Welch ein Tag, welch ein Tag!" sagte ich halblaut vor mich hin und setzte mich in meinen Salon in den Schaukelstuhl und wollte überlegen, was mir heute alles gedroht hatte; denn das Geständnis, daß ich kein junges Mädchen, kein unerfahrenes Geschöpf, sondern eine reife, erfahrene junge Frau in der Mexikanerin liebte – das machte mir plötzlich alles unheimlich komisch. Deine Leidenschaft ist zu einer Mißgeburt ausgeartet, dachte ich. Statt daß ich Unerfahrenheit und erste Mädchenhingabe errungen hatte, bot sich mir reife Frauenliebe, geschultes, verständiges Liebesempfangen und bewußtes Liebesgenießen an.

Wie die Welt sich hier in Mexiko sich stündlich verwandeln kann: Ich war heute zum Heiligen in Ixtapalapa erklärt worden, und mir hatte sich eine Heilige in ein reales Menschenkind verwandelt. Ein Lebender war ein Toter geworden. Ein Polizeipräsident zum Verbecher, ein Opalring war jetzt in ein Rubinring verwandelt worden und ein feuriger, ehrlicher Liebhaber in einen feurigen, ehrlichen Lüstling. Einem menschenfressenden Gott war ich entflohen, um der menschenfressenden Liebe in die Arme zu laufen.

Schlangen hatten mich heute verschont, und eine Frau hielt mich jetzt umstrickt und machte vielleicht morgen schon einen Mörder aus mir, der, ihren Vater zu rächen, sich nicht vor Menschenblut scheute und schonungsloser als die Schlangen wurde.

Herrgott, ja, ich war in einem Zauberland; vielleicht war morgen schon wieder alles nicht wahr, und vielleicht wurde es niemals übermorgen, und alles blieb bei heute, wenn jetzt zum Beispiel jemand draußen am Vorgarten vorbeiginge, seinen Revolver abfeuerte und mich erschösse, angestiftet vom Polizeipräsidenten, weil ich seine ehemalige Braut und Geliebte bei Nacht hier empfangen hatte.

Mit einigem Galgenhumor betrachtete ich den rötlichen Rubinring an meiner Hand, dann stand ich auf, schloß die Glastüren, zog die Vorhänge zu und versuchte, als ich das Klavier schließen wollte, die Töne des Liedes der Ausruferin zu finden, von der das Mädchen gesagt hatte, daß sie sie mit Botschaften zu mir geschickt hätte.

Ich klimperte noch eine Weile die drei, vier Ruftöne, dann schloß ich das Klavier und ging in mein Schlafzimmer hinauf und war vor dem Spiegel ganz erstaunt, als ich bemerkte, daß ich noch im Reitanzug und in Gamaschen dastand.

Ich war sogar zu übermüdet. Um an Essen und Trinken denken zu können; ich legte mich unter das Moskitonetz und schlief trotz zahlloser singender Quälgeister zu Tode erschöpft für ein paar Stunden ein.

Gottlob, daß die Götter den Schlaf erfunden haben; ohne Hilfe des Schlafes käme man sonst in manchen erregten Zeiten keinen Augenblick zu sich selbst. Man müßte sonst immer das Leben der andern leben; nur der Schlaf garantiert einem, daß man, wenn auch nur für ein paar Stunden, sein unumschränkter Herr wird. Wenn ich mich gar zu lebhaft von der Welt in Mitleidenschaft gezogen fühle, dann erscheint mir manches Mal der Schlaf als der einzige Zufluchtsort, der zurück zur persönlichen Ehrlichkeit führt.

Aber hier in Mexiko, umgeben von Moskitos, war es schwer, sich selbst nachts im Schlaf zu sich zurückzufinden.

"Nächste Woche reise ich ab!" Das sagte ich mir laut vor, wobei ich mir schwor, wenn mich am Tag vor der Abreise die Reue wieder überfallen würde, nur an die Moskitos zu denken.

Europa, süß schlafendes, moskitofreies Europa, wie bist du so weit! Ahnte ich denn jemals, daß man nicht überall zu Hause sein kann, wo einen die Reiselust hinführt? – "Willst du mit mir nach Europa?", so hatte ich vorhin das schöne Mädchen gefragt. Sie hatte den Kopf geschüttelt. Und doch wollte sie mit mir weiter als nach Europa reisen? Sie wollte mir alles, alles geben, sich selbst – wenn ich ihr bei ihrer Rache helfen würde.

Hatte sie mich wirklich lieb? Fürchtete sie sich vor dem gesitteten Europa, und schämte sie sich dort ihrer Abenteurernatur, weil sie nicht dorthin wollte? – Wer konnte das beantworten? Sicherlich wüßte sie selbst nicht zu antworten! Wenn sie nicht nach Europa wollte, so war das Gefühl bei Orla ähnlich dem Gefühl der Angela, die auch keine Wagenfahrt nach dem Wallfahrtsort machen wollte, sondern lieber ins Mißgeburtenmuseum zu ihrem Paolo fuhr. Vielleicht hatte auch Orla noch einen Paolo hier, irgendwo, von dem sie noch nicht gesprochen hatte.

Jetzt schien mir alles möglich.

"Ich muß sie doch fragen, ob sie mich neulich im Sumpf in den Staubhöhlen gern umbringen und mich untersinken sehen wollte." Ich seufzte und schleif ein.

Am nächsten Nachmittag blieb ich in der Arena in der Loge des Präsidenten der Republik nur solange, als es die offizielle Höflichkeit erforderte. Nachdem ich die mir bekannten mexikanischen Würdenträger begrüßt und mit dem Präsidenten den üblichen Händedruck ausgetauscht hatte, zog ich über meinen Frack den hellen Regengummimantel, den man hier nachmittags "vor dem Regen" immer bei sich haben muß, und schloß mich einigen Bekannten an, um hinunter zu den Ställen zu gehen und die Stieropfer, die dieser Sonntag fordern sollte, zu besichtigen.

Man hatte mir erzählt, es seien für die drei Nationaltage fünfzehn Stiere aus Spanien importiert worden; da sich nicht alle mexikanischen Stiere zum Kampfe eignen und die Spanier besondere Kampfrassen züchten, ließ man das Material zu den Nationalfestsonntagen direkt aus Spanien kommen.

Aber die Stiere interessierten mich nicht. Ich hatte einen Bekannten gefragt, ob er mir den Polizeipräsidenten zeigen konnte; und da er ihn nicht fand, fragte ich den wachhabenden Adjutanten des Präsidenten, der mir versicherte, der Polizeipräsident habe eine leichte Erkältung und käme heute nicht zu den Festlichkeiten; er sei bereits durch einen Diener abgemeldet worden.

Unten bei den Ställen der Stiere ließ ich meine Freunde vorausgehen. Ich selbst betrat einen der Entreekorridore, deren vier wie Schachte von vier Seiten in den Zirkus der Arena einmündeten.

Hier stellte ich mich neben dem Musikkorps auf, das da auf einer Tribüne spielte, und von hier konnte ich gut die Loge des Präsidenten der Republik und rechts und links von dieser die Logen der Damen der mexikanischen Aristokratie beobachten, ohne im Gedränge selbst beobachtet zu werden. Denn die Arena ist in zwei Halbkreise geteilt. Die eine Hälfte des Zirkus, die Schattenseite, ist für die weiße Rasse, spanische Mexikaner, Amerikaner und Europäer, die andere Hälfte, die Sonnenseite, ist für die farbige Bevölkerung bestimmt, die Indianer und Neger. Ich hatte den Diener meines Wagens gerufen, ihm meinen Zylinder gegeben und mir meinen weißen Panamastrohhut aus dem Wagen bringen lassen. Ich knöpfte jetzt den Gummimantel zu, und niemand konnte nun drüben aus den Logen in mir einen der offiziell Eingeladenen vermuten. Ich stand mit meinem Opernglase neben einigen weißen Clerks, welche die billigen Plätze auf der Sonnenseite der Indianer den teureren Plätzen auf der Schattenseite vorgezogen hatten. Unter meinem tief in die Stirn gezogenen Panamahut, hinter meinem Opernglas, konnte ich nun gut alle Gesichter der geladenen Gesellschaft beobachten. Ich suchte und suchte alle Damenreihen ab, alle weiß gekleideten und mit weißen Spitzenschleiern frisierten Mexikanerinnen, die große rote Rosen-, Nelken- und gelbe Tigerlilienbukette vor sich auf den Brüstungen der Logen liegen hatten. Die weißen Spitzen und Schleier gaben allen Damen, auch den älteren, das Aussehen von Bräuten, und die Reihen der Blumenbukette vor ihnen waren wie bunte Reihen langer Blumenbeete, dahinter die tief dekolletierten bleichen Brüste und die gepuderten bleichen Gesichter mit den großen sichelförmigen schwarzen Augenbrauen und mit den üppigen rot gefärbten Lippen wie Reihen von Wachsfigurenköpfen in Friseurschaufenstern auf die Arena hinabsahen. Die Frisuren, die Armgelenke, die Ohren und die Hälse aller Damen glitzerten von Goldgehängen und von Diamantenkrusten, alle Fächer wippten, die farbigen Tücher der Fahnen über den Logen hingen regungslos über den Köpfen der geputzten Gesellschaft; denn ein brennend blauer Himmel stand träge und einfarbig über der Arena. Kein Windhauch rührte die Fahnentücher, nur die Damenfächer und die Damenköpfe und die Brillanten bewegten sich ruckweise und geschäftig. Die Musik spielte eine Opernouvertüre. Die Sonnenseite der Arena, auf der ich stand, war so heiß, daß es mir schien, als drücke sich die Sonne wie flüssiger Siegellack durch meinen Panamahut, und als könne der Strohhut jeden Augenblick Feuer fangen.

Ich suchte die jungen Augen, die gestern abend bei mir in den Mond gestarrt hatten, die geweint hatten, die Zuflucht bei mir gesucht hatten, die ich geküßt und wieder geküßt hatte, und von denen ich dann abgeglitten war, während sie sich offenbarten und ihr Leben bloßlegten und aus Göttinnenaugen zu Menschenaugen wurden. Ich begriff nicht, daß ich gestern so töricht empfindsam hatte sein können; wie konnte ich Reinheit von einer Frau fordern, die mir keine versprochen hatte, die mir sofort in dem ersten Augenblick eingestand, was sie mir zu geben hatte und was nicht.

Waren das nicht alte, veraltete Europarudimente in mir, die von der Frau Keuschheit verlangten, wenn man selbst als Mann keine Keuschheit mehr zu bieten hatte? –

Ich fand die junge Mexikanerin nicht, in keiner Loge, so sehr ich auch mit dem Opernglas alle Damengesichter prüfte. Sie war unsichtbar. Sie war nicht gekommen, wenn sie es auch versprochen hatte.

Die alte Sehnsucht nach Leidenschaft stieg in mir auf. Ich verwünschte meine anerzogenen europäischen eingebildeten und tyrannischen Idealansichten. Ich hatte sicher gestern beim Abschied das leidenschaftliche Mädchen verletzt, weil ich nicht mit ihm in den Wagen gestiegen war, wie es wünschte, und vielleicht schämte es sich heute, daß ich meinem Staunen so brutal im Augenblick der Enttäuschung Luft gemacht und gerufen hatte: "Verflucht! War es der Polizeipräsident, der dich verführte?"

Sie mußte gemerkt haben, daß ich mich enttäuscht fühlte, weil sie nicht mehr unberührt war, und es machte sie vielleicht bitter, dies mitten in dem Trauerschmerz um ihren Vater sich und mir eingestanden zu haben.

Ich empfand die Musik so laut; die Blechinstrumente dröhnten, als ob die tropische bombastische Sonne den einen Halbkreis der Arena wie ein glühendes Geschütz mit glühenden Kartätschen beschösse. Die Musik donnerte, die Hitze donnerte, und von tausend Füßen und Spazierstöcken donnerten und dröhnten nun die Sitzreihen der trampelnden, beifallswütenden Menschenreihen, die jetzt den runden des Kessel des Amphitheaters bis zum Rand Kopf an Kopf erfüllten, und die Beifall stampften, wahrscheinlich, weil jetzt der Stier oder die unbekannte Stierkämpferin das Theater betreten hatte.

Ich spürte gar keine Lust, das Schauspiel mit einem einzigen Blick zu verfolgen; ich war froh, daß mir die weißen hohen Strohhüte von weiß gekleideten Indianerinnen, die vor mir standen, die Aussicht auf die Arena verstellten.

Ich behielt meinen Feldstecher vor den Augen, stand wie in einem Versteck und suchte immer wieder die weißen Reihen der Damen ab. Ich bemerkte auch, daß noch nicht alle Plätze besetzt waren, und rechts von der Loge des Präsidenten der Republik sah ich noch einige freie Stühle.

Jetzt kommt ein Diener in jene Loge und legt vor einen der freien Stühle ein großes weißes Rosenblatt auf die Logenbrüstung. Er tritt hinter den Stuhl, eine Dame nimmt darauf Platz.

Sie ist es.

Nun nickt sie zu der Präsidentenloge zurück, von wo alle Herren und der Präsident selbst ihren Eintritt bemerkt haben und grüßend nach ihr zu sehen. Sie grüßt etwas lebhaft und erregt zu den Herren zurück, nimmt ihre Lorgnette und mustert die Arena.

Sie ist es nicht. Aber es ist ihre Mutter. Das von der Spitzenmantille eingerahmte Gesicht ist sehr geschminkt und restauriert, so daß man die Dame beim ersten Blick für ein junges Mädchen halten konnte. Jetzt aber, wo sie die Spitzenmantille von der Brust und vom Hals zurückschlägt, sieht man die Figur, den Hals und die Büste einer Frau, die schon ältlich ist, und die, sehr weise, ihr Haar weiß gepudert hat, um den Silberton des Altwerdens reizvoll interessant zu machen und durch das absichtliche weiße Haar jung zu erscheinen. Daß es die Mutter der Mexikanerin ist, sagt mir die auffallende Ähnlichkeit; sie sieht der Tochter zum Verwechseln ähnlich.

Aber wo ist sie, die Tochter? Warum ist sie nicht mitgekommen. Ist sie krank? Hat sich was ereignet? – Ein neues Erlebnis. Auch der Polizeipräsident ist nicht erschienen. Hat das Ausbleiben der beiden einen Zusammenhang?

Ich quäle mich mit Fragen und Sorgen. Darüber habe ich das Entree der Stierfechterin vorübergehen lassen. Ich bemerke jetzt erst an der Stille im Zuschauerraum, daß sich ein spannender Augenblick im Stierkampf vorbereitet.

Mein Opernglas schaut auf den Sandboden hinunter. In dem Rund meines kleinen Glases sehe ich winzig klein, zwischen den Rändern von zwei Indianerstrohhüten unten vor mir, die rot kostümierte Stierkämpferin im Männeranzug; sie springt zwischen den zwei Strohhüten hin und her, die vor mir die weitere Aussicht auf die Arena verbauen. Jetzt wendet sie sich um. Eine schwarze Seidenmaske bedeckt Stirn und Nase, um die Frau unkenntlich zu machen.

Ich muß an all die Gespräche im Deutschen Klub denken, wo man seit Wochen von der Dame erzählte, die den ersten Stierkampf wagen wollte, und die niemand kannte, und die sich nicht einmal dem Präsidenten zu erkennen geben wollte.

Ihr Mund ist sehr energisch, ihr Kinn sehr vornehm und ihr Hals wundervoll in der Linie; die ganze Person hebt sich von dem enganliegenden roten Männerkostüm wie ein maskierter Page vom grauen Sand ab, als wäre sie eine der vornehmsten jungen aristokratischen Damen und direkt von der Logen oben in die Arena gesprungen.

Ich habe mir eine derbe, muskulöse, untersetzte Frauenperson vorgestellt und bewundere nun dieses gewandte Geschöpf, das wie ein Jüngling, wie ein Page von edelstem Blut da unten bei den Banderilleros und den Reitern vor dem schwarzen Stier tanzt, der bereits von Blut trieft, und den der bläuliche Blutglanz vom Rücken durch das pechschwarze Fell naß herabrieselt.

Kurze Dolche, an deren Griffe lange blaßblaue und blaßrosa und gelbe seidene Bandstreifen flattern, stecken dem Stier, von den Banderilleros hineingestoßen, hinter den Ohren im Nacken. Und der buntgescheckte Strauß von Dolchen schwankt auf dem gedrungenen Stierhals wie ein lustiger Festkranz und nicht wie eine eiserne Dolchkrause.

Zwei Pferde, deren Reiter eben abgesprungen sind, und die vor dem zur Raserei angestachelten Stier über die Barrieren in den Zuschauerraum flüchten, liegen am Boden hingestreckt; dem einen Pferde liegen die Gedärme als ein dicker roter Gekrösehaufen unter dem Sattel im Sand, dem andern hat der Stier den Hals aufgeschlitzt, und das Blut aus Maul und Nüstern wächst auf dem Sand zu einer großen schwarzen Pfütze, darinnen sich die Tropensonne spiegelt, weiß wie eine Quecksilberkugel.

Nun erscheint die Stierkämpferin wieder klein zwischen den beiden Strohtürmen der Hüte vor mir. Sie schwing den roten Mantel, um den Stier auf sich aufmerksam zu machen und an sich zu locken.

Die Musik spielt sentimental "La Paloma", und ich hebe mein Glas dichter vor die Augen, um den mantelschwingenden weiblichen Toreador besser sehen zu können. Da ist es, als durchzuckte mich der Degen, den sie in der Hand hochschwingt.

Ich bin der festen Überzeugung, die Dame, dieser kämpfende Page da unten in der Arena, sei meine Mexikanerin.

Ich kann mir nicht klarmachen, woran ich sie erkenne, aber ich erkenne sie plötzlich Zug um Zug, an Haltung, Gang, Armbewegung. Würde sie zu Pferd sein, so wäre ich überzeugt, daß es nur sie und sonst niemand sein könne.

Ich habe aber keine Zeit, sie zu beobachten, sie ist wieder hinter den Hüten verschwunden. Nun verwünsche ich meinen Platz. Ich werde unruhig. Ich bedenke nicht mehr, daß ich einen Frack und eine weiße Weste unter dem Mantel anhabe, ich knöpfe meinen Mantel auf, der mir zu heiß wird. Ich dränge vor, die Indianer sehen sich zögernd um. Als sie einen Herrn in europäischer Gesellschaftstracht zwischen sich sehen, machen sie mir alle Platz, als ob ich der Präsident der Republik in eigener Person wäre.

Aber da ich zögere, vorzutreten, blicken sie sich untereinander verwundert an. Ich sehe eben, wie sich der Stier unten dicht vor der Frau aufstellt, daß er den Kopf bis auf den Sand senkt und von unten einen Hieb mit seinen Hörnern macht, der den Mädchenfingern aber nur den roten Mantel entreißt. Der Stier schleudert den roten Fetzen von sich und sinkt plötzlich, vom Blutverlust zitternd und geschwächt, in die Knie.

Der Degen des weiblichen Toreadors fährt ihm wie eine lange Nadel, sicher geführt und hart gestoßen, durch den Hals in die Brust hinunter, so daß wahrscheinlich dem Stier das herz getroffen ist.

Mächtig dröhnender Beifall tobt rings um das Rund des Theaters; tausend Arme, tausend Hüte fliegen in die Luft, tausend Hände klatschen wie ein knatterndes Gewehrfeuer; tausend Füße stampfen unaufhörlich, endlos, und tausend Bravorufe schallen. Fächer, Hüte, Geldtaschen, Blumenbukette, Handschuhe, goldene Uhren, Taschentücher, ein Regen von klirrenden, flatternden, glitzernden Dingen wirbelt aus allen Logen durch die Luft, von allen Plätzen, von allen Reihen und das Winken der Frauen und das Händeklatschen und Füßestampfen nimmt kein Ende.

Mitten in dem Hagel der tausend Gegenstände steht die Stierfechterin bei dem zusammengestürzten schwarzen toten Stier, der da wie eine schlafende Katze, die Schnauze nach dem Schwanz gedreht und harmlos aussehend, am Boden kauert.

Eben kommen sechs lichte Schimmel, auf den Köpfen rote Straußenfedern, zwei und zwei hintereinander vor einen eisernen Rechen gespannt, in die Arena. Und es sieht so aus, und es klingelt von Schellen am Geschirr der stampfenden Pferde, daß man glaubt, nun beginne eine Zirkusnummer.

Meine Lippen flüstern: "Orla! Orla! Orla!" Als könnte ich durch die schwarze Maske der Stierfechterin sehen, so deutlich erblicke ich Orlas Gesicht dahinter. Eine gewaltige Aufregung macht mich mitten im Sonnenschein kalt und heiß, als ob ich in kalten und eisigen Luftströmungen auf einem freien Berge stünde und ins Tal hinunterschaute, wo Blut, Kampf, Tod und Triumph herrschen – und Liebessehnsucht.

Man hat den Stier auf den eisernen Rechen gelegt, und die Stierfechterin soll den Triumphrundgang vor den sechs weißen Schimmeln antreten, die den getöteten Stier auf dem Rechen hinter sich her schleifen. Man hat die zwei blutigen toten Gäule aus der Arena geschleift und den Sand zum Triumphzug rasch gereinigt und geglättet. Die schellenklingenden Schimmel und die Musik begleiten das Mädchen mit Triumphgetöse, und der Beifall vor dem sich verneigenden Mädchen ist endlos.

Es ist, als sei der Himmel mit Donner und Kaskaden von rauschenden Wolkenbrüchen in die Arena gestürzt, so elementar braust der Beifall, so elementar macht sich hier das Empfinden der Tausende von Zuschauern Luft, deren Blutdurst angestachelt, bis zum Fieber angestachelt wurde.

Es ist, als ob das ganze Theater auf allen Reihen bis hoch hinauf ein zuckender Leib geworden sei, der wie ein bewegter Ring aus Armen, Gesichtern und Händen, wie eine dicke lebende Schlange rund um die Arena kriecht, darinnen jetzt die fast schwache zarte Mädchengestalt in roten Kniehosen und weißen Strümpfen und schlanker Taille nochmals erscheint. Nachdem die Schimmel den Stier fortgeschleift haben, steht sie als Siegerin unscheinbar wie eine Marionette dort unten allein im Sand und bewegt sich grüßend nach allen Seiten und vor allem nach den Logen des Präsidenten und der Aristokratie – aber sie ist dabei immer noch schwarz maskiert. Wieder wirbelt ein noch reicherer Regen von Gegenständen, Blumen, Orangen, Operngläsern, Taschenuhren durch die Luft. – Plötzlich zuckt das sich lächelnd verbeugende Geschöpf zusammen, als habe sie ein Gegenstand an den Kopf getroffen – und sieht eine kleine Rauchwolke zu ihren Füßen, und mit einem leichten Aufschrei stürzt sie mit dem immer noch maskierten Gesicht vornüber in den Sand, streckt die Arme weit von sich, greift mit den weißen Händen durch den Sand, als ob sie schwimmen wollte, schlägt um sich, als ob sie etwas abwehrte, und bleibt regungslos liegen, die Knie an die Brust herangezogen. Totenstille, die Musik bricht jäh ab, und einige Leute eilen von allen Seiten zu der Hingestürzten, tief gebückt, als ob sie auf Händen und Füßen zu ihr liefen.

Ich stoße die Indianer auf die Seite, ich fühle unter meinen Händen die muskulösen Körper von ein paar Dutzend umgestoßenen Indianern, die ich zurückdrängen mußte, um zur Barriere hinunterzukommen. Ich rede laut mit mir:

"Orla – ist gestorben. Es muß einer eine Pistole vor ihre Füße geworfen haben, und diese ist losgegangen." So sprach ich, während ich mich durchdrängte, hinunter in die Arena, als ob ich allein der Gestürzten helfen könnte.

Ich sehe durch die letzten Menschenreihen, die ich noch zu durchdringen habe, daß die Arena von Menschenmassen gestürmt wird, meistens von Herren, Europäern und Amerikanern, die das Mädchen aufheben. Man hat ihr die Maske abgenommen, aber ich kann nur die schwarze Larve in der Hand eines Herren sehen, das Gesicht der Stierfechterin ist verdeckt durch die Rücken der Herren.

Jetzt komme ich an die Barriere, klettere hinüber, schiebe die erstaunten Herren beiseite – da sehe ich die großen grauen Augen einer mageren Frau, die mich mit geröteten Augäpfeln entsetzt anstarrt; Blut quillt ihr in dünnen Streifen aus dem einen Mundwinkel, man hat ihr einen Herrenpaletot um den Leib gewickelt und Herrenpaletots als Kopfkissen unter den Kopf gelegt. Zwei, drei Herren, Ärzte, knie bei ihr und nesteln ihr Hemd am Halse auf.

"Einen Schuß in den Unterleib oder in die Lunge", sagt ein Herr mit einer roten Riesennelke im Knopfloch seines Frackes halblaut zu mir.

"Muß sie sterben?" fragt ein anderer.

"Sie sah hübscher aus mit der Maske. Sie hat ein häßliches Gesicht", sagte ein Offizier neben mir, und er kaut an einer kalten Zigarette, aus der er vergeblich Rauch in die Luft blasen will.

Ich wußte nicht, warum ich da stand.

Es war eine fremde Frau, die von einer ihr unsinnigerweise im Übereifer zugeworfenen Pistole, die sich entladen hatte, zu Tode verwundet worden war.

Ich steh noch und denke darüber nach, wie so gar nicht ähnlich doch diese Frau in der Nähe der schönen Mexikanerin ist, sie ist viel magerer. Sie ist nicht so graziös. Sie geht mich gar nichts an. Sie rührt nur mein Mitleid, nicht aber meine Leidenschaft. Ich war ein Narr, daß ich eben während einer Viertelstunde ihr alle Aufmerksamkeit gewidmet hatte, ohne mich nach der Loge, wo Orlas Mutter sitzt, umzusehen.

Ich schaue hinauf.

Da oben steht aufrecht die junge Mexikanerin neben ihrer Mutter. Aber an ihrer Seite sehe ich einen vollbärtigen, hohen, schwarzen Herrn, nicht mehr sehr jung, der hat den Arm unter Orlas Arm geschoben und hält das Mädchen, vor allen Damen, die sich tumultuarisch neben ihm unterhalten und mit Operngläsern gestikulieren und auf die verwunderte Stierkämpferin starren, alle aufgerichtet, als ob die Leute in allen Logen auf mich heruntersähen, weil ich so erstaunt hinaufstarre.

"Sagen Sie, bitte, ist das nicht dort in der rechten Loge, rechts von der Loge der Republik – der einzelne Herr in Galauniform, unter all den Damen, ist das nicht –" Ich mußte schlucken.

"Der Polizeipräsident, meinen Sie?" sagte höflich der Offizier mit der kalten Zigarette. "Jawohl, und die Dame, deren Arm er hält, ist seine Braut. Ein stolzer Herr, ein schönes Brautpaar. Man sagt, es sei augenblicklich das schönste Brautpaar in der ganzen Hauptstadt."

"Jawohl," sagte ich, "ich kenne kein schöneres!"

Dann, als mich der Offizier um Feuer bat, wurden wir durch Menschen getrennt, die sich zwischen uns schoben, und ich verlor ihn gern aus dem Gesicht, weil mir übel und krank und so trocken im Halse wurde, daß ich fühlte, ich hätte kein lautes Wort mehr sprechen können.

"Welch ein Unfug, Pistolen in die Arena herunterzuwerfen; so was kann doch auch nur in Mexiko passieren. Und dort oben steht der Polizeipräsident in eigenster Person und tut, als ob die Sache hier unten unter seiner Würde sei. Er denkt nur ans Vergnügen, der hohe Herr, und an seine reiche Braut." Ein norddeutscher Herr sagte das im Vorübergehen zum deutschen Konsul, der mit ihm ging.

Ich ging langsam aus der Arena und vermied es, zu den Logen hinaufzusehen. Aber ich sah noch, wie eben der Präsident mit seinem Stab die Treppen herabstieg, neben ihm jetzt der Polizeipräsident, und wie alle in die Arena eilten, wo immer noch die Ärzte um die Verwundete beschäftigt waren.

Das Theaterpublikum war ein Getümmel von Aufgeregten geworden, man drängte, man stieß sich, man sprach leise, und man schrie sich an. Manche Damen eilten zu ihren Wagen, andere weinten in den Logen. Ich sah die Mexikanerin und ihre Mutter nicht mehr, und als ich zur Ausgangstür hinaustrat, wo die Fahnen in Massen vom Himmel niederwallten, die grünen Girlanden schon welk hingen und die Autos und Wagen lärmend vorfuhren, da sah ich eben Orla zu ihrer Mutter in den Wagen steigen. Sie zog die Spitzenmantille dicht vor das Gesicht. Sie konnte mich aber nicht gesehen haben. Sie schien sich vor der Menschenmenge zu schämen. Während ihre Mutter vergnügt lachend den Fächer bewegte und die einzige Dame war, die der Unglücksfall der Stierfechterin nicht erschüttert hatte, saß die Tochter regungslos im Wagen.

Der Portier klatschte in die Hände und schrie durch die hohlen Hände laut meinen Namen aus, damit mein Kutscher vorfahre.

Da wandte sich Orla im fortfahrenden Wagen um, aber mein Kutscher schob sich mit den Pferden zwischen sie und mich, ich konnte keinen Blick von ihr auffangen.

Ich stieg in meinen Wagen und ließ das Wagendach schließen, da eben die ersten Tropfen des Nachmittagregens fielen.

Dann lehnte ich mich drinnen in die Kissen zurück und hielt mein Taschentuch vor das Gesicht, als der Wagen fortfuhr. Jeder, der von draußen hereinsah, muß wohl geglaubt haben, daß ich über die verwundete Stierfechterin weinte.

Aber ich weinte nicht. Ich sah immer noch im Geist die Loge, den Arm des Polizeipräsidenten Orlas Arm halten, sah immer dieses Bild. Ich preßte nur mein Tuch an meine Schläfen. Es war, als hätte ich eine Kugel im Kopf und hätte Wundfieber, so heftig preßte sich mein Blut in die Stirn und war um mich wie ein dumpfes Donnern. Schreck, Leid, Bestürzung, Ungewißheit wirbelten in mir durcheinander. Denn Herzbeben ist gründlicher als Erdbeben. Ich sah Hoffnungen einstürzen, hörte Gelächter, ohne daß jemand lachte, hörte Wutgeheul, ohne daß sich meine Lippen öffneten. Das Herz ist ein lebendes Wesen für sich in uns Lebenden. Selten, daß es seine Stimme gebraucht, so selten wie das stille Wild im Walde, das nur aufschreit, wenn es angeschossen ist, das dann klagt und brüllt und eine Stimme bekommt, die es vorher selbst noch nie gehört hat. Und staunend, erschrocken und mit Genugtuung hörte ich aus meinem Fleisch mein Herz schreien, und ich lauschte ihm unter Schmerzen und voll Ehrfurcht.

Der Tropenregen stürzte jetzt draußen nieder, wie Wasserwände stand er um den Wagen; an der nächsten Straßenecke stauten sich Wagen und Automobile, und mein Wagen geriet im Gedränge dicht neben einen anderen, darin die Mexikanerin mit ihrer Mutter saß.

Der Regen aber war dicht und beschlug die Fenster grau, so daß ich die Damen wie in tiefer Wasserflut sah, wie Spiegelungen farblos, wie ein mattes Bild auf behauchten Metallscheiben – ich sah beide drüben hinter den großen grauen Scheiben ihres Wagens, trotzdem sie ganz nah waren, doch nur wie ferne Erscheinungen. Das Mädchen saß und schrieb mit einem Bleistift in ein kleines Notizbuch. Ihre Mutter saß neben ihr und versuchte mit dem Taschentuch die Fensterscheibe hellzureiben, was ihr nicht gelang, da der Flutregen die Scheiben von außen trüb bespülte. Die Mutter schien über die Tochter jetzt geärgert zu sein. Diese saß und schrieb und starrte dazwischen der nutzlosen Hantierung der Mutter zu, welche hartnäckig ein Stückchen Scheibe klarreiben wollte. Die beiden Damen schauten von mir fort, und ich hätte mich gern durch irgendein lautes Zeichen bemerkbar gemacht, aber der Regen vollführte einen solchen zischenden Lärm wie das Sturzwasser an einem Mühlenrad.

Da saßen wir beiden Menschen fast nebeneinander und durften uns nicht einmal die Hände reichen. Ich sah auf das fließende Wasser, das jetzt fast bis an die Achsen der Räder reichte und über einen Meter hoch wie eine Hochwasserflut durch die Straßen raste.

Die Trambahnen standen still. Es war irgendeine Störung eingetreten, und zehn Wagen hintereinander sperrten den Verkehr; wir konnten die Straße nicht kreuzen.

Sollte uns das Leben auch so voneinander fortspülen, sie und mich, wie jetzt hier der Tropenregen vorbeischoß? In einer Stunde würde dieser Regen wieder vergessen sein, wie ein Nachmittagsereignis vergessen, und niemand kümmerte sich mehr darum, daß man ihn erlebt hatte.

Ist so auch unsere Leidenschaft?

Ich betrachtete Orla. Sie nagte an dem kleinen goldenen Füllfederhalter, mit dem sie geschrieben hatte. Sie sah aus wie eine Meduse. Ihr Haar war geringelt wie Schlangen, und es sah aus, als jage eine Flut von Luftwellen und Gedankenwellen durch seine Locken, die sich natürlich bauschten, als ob das junge Mädchen immer auf dem Rücken eine Pferdes säße, und als ob sich davon das Haar, aus Gewohnheit am stürmischen Reiten, aufbäumte und wellig türmte. Auch wenn sie nicht mehr ritt, behielt das Haar diese kühne, energische Lockenlinie, die immer von Wut und Wagnis sprach.

"Sie hat Milliardärinnenaugen", hatte damals der Reitlehrer zu mir gesagt, als wir zum ersten Male von ihr sprachen. "Sie hat die Augen blank wie blaue Bankscheine", fügte er hinzu.

Er hatte recht: sie hatte die Augen eines eisernen Reichtums, Augen, die locken und fernhalten zu gleicher Zeit die Last wie die Lust, die der unermeßliche Reichtum mit sich bringt.

Ich hatte gar nicht weiter über ihr Vermögen nachgedacht. Ich erinnerte mich jetzt, daß neulich ein Bekannter im Deutschen Klub erzählt hatte, der Vater ihrer Mutter hätte Kohlenminen in Nordamerika besessen und eine ganze Stadt sein eigen genannt, die auf dem Grund und Boden seiner Bergwerke in dreißig Jahren zu einer Industriestadt erwachsen wäre. Er hätte sich später nach Mexiko zurückgezogen. Seine Tochter, die Mutter Orlas, galt als eine der reichsten Frauen und als eine der leichtlebigsten in der Republik Mexiko.

Ihre einzige treue Liebe, von der aber niemand wußte, war der Abbé gewesen. Von ihren andern Liebhabern allen wußte man, nur in ihrer Beziehung zum Abbé hatte sie es verstanden, als unantastbar vor der Welt zu erscheinen; und – gerade er war der Vater ihrer einzigen Tochter.

Ihr hatte sie die Augen ihres Reichtums und ihres Mutes zum Leben mitgegeben – diese seltenen, unerschrockenen Mädchenaugen, die, oft abwesend wie künstliche Glasaugen, unbeweglich starren konnten, Augen, die zwischen den Lidern wie die Zähne zwischen den Lippen unbeweglich stillstehen konnten.

Ich hatte Muße, sie zu betrachten, und Zeit, abzuwarten, ob sie mich nicht fühlen würde.

Sie schrieb jetzt wieder in das winzige Buch auf ihrem Schoß.

Nun wendet sie den Kopf nach der Scheibe, durch die ich sie betrachte, und – sieht mir in die Augen. Sie sieht mich. Sie sieht mich lange an, als ob ich nicht ich wäre.

Sie denkt hinter ihren unbeweglichen Augen ein paar großzügige Gedanken – das fühle ich.

Ich hatte eben überlegt, wie es wäre, wenn ich meinen Wagen trotz dem Regen verlassen und mich einem von den Indianern anvertrauen würde, die die Leute durch die Flut von den Haustüren zu den Trambahnen trugen, und mich an einem Restaurant absetzen ließe.

Aber Orlas Augen sitzen jetzt fest an mir wie gestern ihre Hände, als sie meinen Kopf nahm, ihn zu sich bog und sagte: "Ich will dir weiter als bis nach Europa folgen."

Orla steht jetzt auf und nähert sich der Scheibe ihres Wagens, um sie herunterzulassen und zu mir zu sprechen. Ich rühre mich nicht. Ich bin noch betroffen, ich sehe unter ihrem Arm, der jetzt das Fenster herabläßt, in Geist noch die Hand des Bräutigams, mit dem sie vor nicht mehr als fünf Minuten oben in der Loge der Arena stand.

"Was will sie von dir, wenn sie eben noch den andern am Arm gehalten hat!" fährt mich mein Herz trotzig und beleidigt an.

Eben setzten sich alle Trambahnwagen in Bewegung. Und auch der Kutscher von Orlas Wagen und meiner rufen die Pferde an – die Wagen bewegen sich langsam.

Orla läßt drüben den Vorhang an der Glasscheibe ihres Wagens herunter und sagt mir zugleich stumm mit einer energischen Handbewegung, daß ich dasselbe mit meinem Vorhang in meinem Wagen tun soll.

Ich greife mechanisch nach dem silbergrauen Rollvorhang, ziehe ihn herab und denke, es werde irgendein Sinn bei diesem Augenbefehl sein; es war mir, als würde der Vorhang alles erklären können, wenn er zugezogen wäre.

Ich hörte Orla mit lauter Stimme ihren Kutscher anrufen. Ich öffne schnell den Wagenschlag. Es ist mir, als sähe ich durch den geschlossenen Vorhang, daß sie mich sprechen will. Sie steigt in demselben Augenblick von einem Trittbrett zum andern und zu mir in den Wagen. Ich halte sie fest, da mein Wagen schon fährt, und helfe ihr und fasse sie unter den Arm, sie springt in den Wagen, aber sie verfängt sich mit den Fußspitzen in ihre Kleiderfalten. Ich ziehe sie mit aller Kraft herein. Dabei kracht ihr Seidenmieder in allen Nähten, und der Ärmel zerreißt an der Achselnaht – die dünne, blanke Seide schlitzt wie weißes Papier bis in den Rücken ihrer Taille auf.

Sie lacht. Ich lache und schließe rasch die Tür; Orla hält sich an meinen Füßen fest, greift an ihre Frisur und lacht unbändig. Durch den Sturz und den Sprung sind auch die Haarnadeln herausgefallen, der Spitzenschleier hat sich gelöst und hängt um ihre Hüften. Die nackte rosiggelbe Schulter sieht wie das Blütenblatt einer großen Teerose aus dem Seidenschlitz, ihre Haarringel fallen im sich schüttelnden Wagen lose um ihre Ohren, über die Wangen. Aber es ist alles so unerwartet verrückt, konfus und doch so bitter ernst, daß Orlas Lachen plötzlich in Weinen umschlägt. Sie sitzt im Wagen auf dem Teppich des Fußbodens und weint, weint, mit der Stirn an mein Knie gelehnt, weint unaufhaltsam, so wie sie gestern abend weinte.

Da ist sie plötzlich wieder im Innersten meines Herzens zu Hause. Von dem Tumult, in dem ich mich noch eben befand, ist jedes Echo verschollen. Mein Herz, das angeklagt hatte, hat jetzt nicht einmal Zeit zu entschuldigen, nicht einmal Zeit zu verzeihen; es weiß nur noch von Zärtlichkeit, es ist voll von Zufriedenheit, daß es das Mädchen mit Händen und Lippen fühlen darf. Ich fühle Orla ins Haar, auf den Nacken, auf die nackte Schulter, die sich aus der zerschlitzten Seide heraus an mich schmiegt. Ich biege ihren Kopf zurück und lasse mein Herz für jeden Schrei, den es vorher geschrien, jetzt Küsse finden – Küsse ohne Atem und ohne Besinnen.

Sie läßt sich küssen, küßt mich leidenschaftlich wieder und weint dabei leidenschaftlich. Ihre Tränen hängen an meinen Wangen, ich schmecke sie auf meinen Lippen.

Ich frage sie nicht: "Warum weinst du?"

Ich weiß, daß sie sich auf den Wunsch ihrer Mutter wieder verlobt hat. Wahrscheinlich damit dieser Polizeimensch die Briefe von dem Abbé wieder herausgibt. Aber muß sich die Mutter den schämen, einzugestehen, daß der Abbé Orlas Vater ist – jetzt, wo er tot ist?

Alles das haben mir ihre Küsse und Tränen, ohne ein Wort der Aussprache, mitgeteilt und meine Küsse und meine Augen haben Orla gefragt, ohne daß unsere Lippen sprachen.

Es gibt eine Allwissenheit unter den Liebenden, die ist immer in dem stärksten Liebesaugenblick da; jedes Herz weiß von dem Herzen, das er liebt, hellhörend plötzlich alles. Denn wie es hellsichtige Augenblicke gibt, so gibt es auch ein Hellhören.

Niemand spricht, niemand fragt, und doch tauschen zwei Wesen Gedanken in langen Sätzen aus; sie haben nicht gesprochen und doch gehört.

Orla brachte auch jetzt noch keine Entschuldigung vor.

Aber ein neuer Tränenerguß, eine neue Umarmung sagte mir: "Verzeih! Ich mußte dies für die Mutter tun, verzeih mir für heute. Morgen ist vielleicht alles anders. Verzeih mir bis morgen. Glaube mir, ich weiß, daß es so nicht bleibt, wie es heute auf Wunsch der Mutter aussieht. Du weißt es sicher auch. Vergib mir, bis ich wiederkomme." Dann drückte sie mir das kleine Elfenbeinnotizbuch in die Hand. Ich verstand, daß sie darin an mich geschrieben hatte.

Der Wagen hielt.

Sie sah mich an und breitete rasch ihre große weiße Mantille aus; diese bedeckte ihren Kopf, hing wie ein Schleier über ihr, sie wickelte ihre Figur, ihr Gesicht in den großen Spitzenschal, darinnen sie ganz verschwand – ich fand nur noch ihre Hand zum Kuß, und ich küßte rasch jeden Finger, ich küßte ihre Hand und lehnte sie an meine Wange –, aber an dem einen Finger sah ich einen Opalring, der wie das Auge eines Blinden, wie ein kleiner, weißer, leerer Augapfel leuchtete.

Sie stand jetzt halb aufrecht im Wagen, und ich saß.

Sie hielt sich, als der Wagen hielt, noch einen Augenblick an meinem Haar fest. Sie fuhr mir mit der Hand über die Wangen und die Schulter, als wenn sie mich nie loslassen wollte, dann stand der Wagen still. Unkenntlich vermummt stieg sie aus, als ein Diener von draußen öffnete. Es war ihr Portier. Sie hatte zwischen den Tränen geflüstert: "Ich sagte vorhin zu meiner Mutter: ich steige einen Augenblick in den Wagen einer Freundin. Und ehe meine Mutter antworten konnte, war ich ausgestiegen und in deinem Wagen verschwunden..."

Hatte sie das gesagt, oder hatte ich auch das hellgehört? Ich konnte es nicht mehr bestimmen.

Ich fuhr nach der Glorieta in meine Wohnung.

Ich las das Notizbuch unterwegs noch nicht.

Ich wollte noch nicht Buchstaben und Worte in die Küsse und Tränen mischen, die mich wie eine Welt umgaben, welche aus dem Himmel auf die Erde in diesen Wagen gefallen und wieder von der Erde verschwunden war, als der Wagen wieder an Orlas Haus gehalten hatte.

Ich hätte am liebsten diesen Wagen heute gar nicht mehr verlassen. Diese hellen Kissen, die geschlossenen grauseidenen Vorhänge, die voll von der Nähe eines geliebten Weibes waren – sie sahen aus, als hätten sie jetzt für immer ihren Zweck erfüllt und könnten jetzt nie mehr ganz leer stehen –, so reich, üppig und erinnerungsschwer sah mich das Wageninnere an, daß ich es nur ungern mit meiner leeren Wohnung vertauschte. In Orlas Notizbuch las ich zu Hause dasselbe, was wir uns schon schweigend unter Küssen gesagt hatten. Aber das kleine Buch hatte ich jetzt lieber als den Rubinring, den ich gestern mit ihr getauscht hatte. Über dem kleinen Buch hatte ich sie, Wagen neben Wagen, belauscht, hatte gesehen, wie sie aussah, wenn sie an mich dachte und an mich schrieb. Und dieses Gesicht, das sonst ein Geliebter selten von der Geliebten zu sehen bekommt, war mir wertvoller als die Erinnerung an den Mondscheinabend in meinem Zimmer, wertvoller als die Erinnerung an den ersten Kuß. –

Ich las in dem Notizbuch, daß ich noch acht Tage, bis zum Schluß des Nationalfestes, Geduld haben müßte. Früher könne sie nicht wieder zu mir kommen. Nach dem Nationaltag hoffe sie, daß sich eine Lösung finden würde. Vorläufig müsse sie noch den Schmerz über den Verlust ihres Vaters mit der Mutter teilen und der Mutter zu Wunsch und Willen sein. Nach den offiziellen Festlichkeiten (von denen sich ihre Mutter des Geredes wegen nicht zurückhalten wolle) hoffe sie eine endgültige Lösung ihrer Verlobung zu erzwingen.

Acht Tage – wie acht Lebensalter, so unendlich schien mir diese Spanne Wartezeit. Jetzt, wo ich ihre Küsse noch auf den Lippen fühlte, sollte ich acht Tage von der Erinnerung an diese Küsse leben.

Ich mußte niemanden sprechen, ich wollte nicht acht Tage in den Straßen von Mexiko wie ein der Fährte nachwitternder Jagdhund durch alle Straßen gehen und bei jedem Wagen, der um die Straßenecke führe, hoffen, ich würde Orla sehen, und fürchten, ich würde sie mit dem Polizeipräsidenten sehen müssen.

Als der Regen nachließ, war, wie immer in dieser Zauberwelt der Tropen, sofort wieder der ewig grünlichblaue Welthimmel da, der hier, in der heißen Zone und bei der hohen Plateaulage der Stadt Mexiko, ein eisiges Grün in seiner Bläue ausstrahlt wie ein Gemisch von zwei bengalischen Feuern. Geisterhaft klar und nicht so gesättigt einfach blau wie in der heißen Zone der Küste von Vera Cruz sieht der Himmel auf die hochgelegene Hauptstadt.

Das Sturzwasser des Tropenregens, das vorher, über die Achsen der Wagenräder und fast bis an die Plattformen der Trambahnen reichend, sündflutartig durch die Straßen schoß, ist eine Stunde später verschwunden; niemand spricht mehr von diesem Wassersturz aus tiefschleppenden Wolken, man ist sofort wieder in die Gewohnheit des klaren Himmels eingelebt, und auch der Abendkorso nimmt seinen gewöhnlichen heftigen Verlauf wie eine zweite Sturmflut von Pferden, Wagen mit dekolletierten Frauen und vornehmen Reitern, die den Paseo überschwemmen, ein blitzendes Gewoge aus Leidenschaft, Rassigkeit und Gefallsucht. Die wilde Wagenfahrt begann, die nach dem Regen plötzlich vor Sonnenuntergang in den Straßen einsetzt und auf dem Paseo unter den regenblinkenden Laubgewölben der Alleebäume dahinrast und mit schwindelnder Schnelle die Abendluft durcheilt. Die Stämme der Tamarisbäume der Promenade sind vom Regen feucht und rot gefärbt; wie ungeheure Fackeln stehen die Riesenbäume auf eine Meile hinunter bis zum Schloß von Chpultepec und lassen den Zug der Wagen allabendlich an sich vorbeistürmen und bleiben mit ihrem roten Holz wie die rothäutigen Indianerhäuptlinge gelassen; unerschütterlich in ihrer Ruhe erwarten sie, umgeben von der Unruhe der vorbeistürmenden Menschen- und Pferdeketten, die Nacht, würdevoll und festgewurzelt im uralten Heimatboden.

Die europäische Abenteuerwelt, die da den Korso, die Abendglocken, die öffentliche Jagd nach Ehre, Leidenschaft und Geld mit nach Mexiko verpflanzt hat, bleibt den Bäumen so fremd wie den Indianern, die diese Stadt neben den Europäern bewohnen.

Sie mischen sich kaum unter die Massen der um Sonnenuntergang aus der Stadt stürmenden Wagenreihen. Höchstens, daß einmal eine Indianerfamilie in breiter Reihe daherwandert und alle, Vater, Mutter, Verwandte und Kinder, sich in einer Reihe sanft an den Händen halten, als wären die grauen Eltern und die verheirateten Familienmitglieder alle zusammen Kinder, wenn sie feiern und Beschaulichkeit genießen. Und das Wort "lustwandeln" paßt so vorzüglich auf die sich immer an den Händen führenden rothäutigen Leute, wenn sie spazierengehen lautlos wie Wolken, ohne Zwang und ohne Frechheit, neben den eingebildeten, den erzwungen höflichen und frech lüsternen Reihen der Europäer, denen sie vorsichtig ausweichen, aber mit einer Vorsicht ohne Demut.

Ich saß in meinem Zimmer auf dem Schaukelstuhl und hatte nach meinen Erlebnissen, nach dem Stierkampf und nach dem Liebesgenuß im Wagen, keine Lust, mich unter die Korsoleute zu mischen.

Ich ließ mir Wasser und Zitrone zu einer Limonade bringen, vergaß aber, die Zitrone ins Wasser zu pressen, bemerkte es jedoch nicht eher, als bis ich mein Glas ausgetrunken hatte – da erst sah ich die unberührte Zitrone auf dem Teller.

So abwesend kann Liebe machen, dachte ich, sie suggeriert dir Zitronen ins Wasser, du schmeckst Dinge, die du gar nicht berührst, die Vorstellungsgabe wird durch die Liebe bis ins Wunderbare gesteigert, du wirst von ihr nicht bloß allwissend, sondern auch allkörperlich gemacht. Geschmack, Gehör, Gesicht werden in eine vierte Dimension versetzt, in die Dimension einer Sinnenwelt, die sich aus Nichts eine Wirklichkeit schafft und die Wirklichkeit ins Nichts auflösen kann. Ich hatte eben im Wagen Worte gehört, die die geliebten Lippen nicht sprachen, und die nicht an meine Ohren dringen konnten, und die mir doch als Sätze ins Bewußtsein traten. Ich schmeckte jetzt den Saft der Zitrone, trotzdem das Wasser destilliert war und keine Zitrone und keinen Zucker enthielt – ich schuf mir aus Nichts eine Sinnenwelt. Und vorhin, als wir uns im Wagen hinter den geschlossenen Vorhängen geküßt und der Regen uns wie Himmelsweben umgeben hatte, wußten wir nichts mehr von der Wirklichkeit, und jeder Kuß entrückte uns fort von der Welt, hinaus in den Weltraum, ins Nichts.

Liebe erleben, heißt alles erleben – Endlichkeit und Unendlichkeit in einer Sekunde, in einem Kuß verkörpert und in einer Umarmung.

"Mehr als Liebe gibt es nicht!" Diese Worte eines drastischen Buches, das ich früher einmal in Europa gelesen hatte, mußte ich mir jetzt immer wiederholen, und dabei begriff ich nicht, warum ich diese Worte nicht schon damals so gut gefunden hätte wie heute. Ich hatte aber jetzt mit der Liebe auch das Verständnis für Tiefe und Geist erhalten und fühle mich seit dem Augenblick, da ich Orla geküßt, auch allen Dichtern der Welt verwandter. Trotzdem ich nie Verse machen konnte und nie welche gemacht habe, überfiel mich jetzt die Sehnsucht, in Versen zu sprechen, die Worte tanzen und anschwellen zu lassen, weil genießende Liebe das Blut musikalisch, rhythmisch macht und Körper und Geist zu einer Harmonie verbindet, als tauchten Körper und Geist zusammen im Takt der Weltallharmonie unter. Denn die Welt ist kein Chaos – sie ist Musik, Gedicht, plastisches und farbiges Kunstwerk. Dieses offenbart sich aber außer den Künstlern, die die Erkenntnis des Weltgenusses und des Kunstgenusses mit in die Wiege bekommen haben, den gewöhnlichen Sterblichen im Liebesgenuß, wo sie sich für Augenblicke gleich den höchsten Künstlern erhoben fühlen und dann für Sekunden das Weltall unbewußt als harmonisches Kunstwerk empfinden, auch wenn sie vorher Grübler, Zweifler und weltmüde Leute waren – der Augenblick der Liebesseligkeit macht alle Menschen gleich. Kein Kaiser fühlt dann in der Liebe mehr als der Bettler, kein Knecht weniger als der Herr, kein Bauer weniger als der Gebildete. Ein verstandloses Verstehen dringt in solchen Sekunden mit blitzartiger Helle in alle Poren, in alle Blutkörperchen ein, und der Körper flammt mit dem geliebten Körper in einer einzigen zündenden Weltallseligkeit zusammen und verbindet sich mit der Weltallharmonie. Häßliche Häßlichkeit wird in den Liebessekunden verklärt, nicht für den Zuschauer natürlich, sondern nur für die beiden, die sich umarmt halten und ihre Herzwärme austauschen und vermischen; selbst aus dem Vagabunden wird dann ein göttlicher Schöpfer.

Dieses Mysterium der Liebe profanierend zu bezweifeln, ist jedem erlaubt, der noch nicht an sich erlebt hat – schändlich ist nur der Mensch, der Liebe erlebte, ohne sie zu heiligen; er ist ein Lügner und Verleumder seines eigenen Herzens, das besser reden könnte, wenn es eine Stimme hätte, als der Mund eines solchen Unwissenden und Unverständigen redet. Denn das Herz eines jeden Menschen ist gut und göttlich enthusiastisch geboren und verändert sich nie. Nur die Lippen schwätzen, das Herz aber schwätzt nicht – es kann nur jauchzen vor Lust oder aufschreien vor Leid. Darum: wer sein Herz jauchzen hörte, während er die Liebste küßte und umarmte, und will das Jauchzen nachher nicht zur Sprache der Lippen werden lassen, der lügt mit denselben Lippen, mit denen er vorher küßte, und lügt sich in Liebesleere hinein. Wer aber seinem jauchzenden Herzen auch die Sprache der Lippen leiht, der steigert seine Liebesfülle und bleibt seinem Herzen treu und singt mit der Weltalliebe im Takt.

Ein Glas Wasser hatte mir diese Gedanken eingegeben, und die Liebe hatte das Wasser in meinem Munde zu Wein verwandelt. Süß berauscht hörte ich mein Herz weise reden und einen Propheten, der das ganze Weltall durchschaute, mit den Augen liebender Leidenschaft das Weltsystem erkannte und begeistert zum Redner wurde, trunken von der Weltweisheit der Liebe, die weiser macht als alle Wissenschaft und wahrer ist als alle Wissenschaft, da sich in Körper und Blut eines jeden verliebten Menschen neu beweist und beweisen läßt und nicht nur ein Gespinst der Gedanken bleibt.

Die Sonne war untergegangen und die beiden letzten Wagen des Korsos kehrten langsam im Schritt draußen auf dem Paseo, von dem ich schräg über den Glorietaplatz ein Stück sehen konnte, zur Stadt zurück.

Der Sand unter den Rädern sprach mit und knirschte; mancher Stein sprühte knatternde Funken unter einem Hufeisen, das ihn traf – die Steine sprechen mit Feuerzungen, und der tote Sand redet eifrig.

Alle Dinge sind Wesen wie der Mensch, alle ein Stück Liebesleben im Liebeslied des Weltalls.

So sprach ich feierlich und wünschte mir: "Wenn doch jetzt Orla wieder zur Tür hereinkäme wie vorhin in den Wagen – jetzt gleich vom Vorgarten draußen in das Zimmer!"

Ich sah die Blumen an, die gestern im Mondschein wie Eisblumen geleuchtet hatten. Es waren blaßblaue Windenblüten am Vorgartengitter, die hatte ich im Dunkeln für Tuberosen gehalten und hatte sogar den Tuberosengeruch dabei empfunden. Die Windenblüten hatten sich bei ihren Tränen über den Tod ihres Vaters vor meinen Augen im Mondschein in Form, Farbe und Geruch in Tuberosen verwandelt – in die Rosen der mexikanischen Kirchhofkränze.

Ich begriff, daß die Liebe mit mir machen konnte, was sie wollte. War sie gut, so wurde ich davon gut; war sie gemein, so wurde ich gemein. Die Liebe ist ein Instrument, auf dem die Liebe ihre Töne dichtet. Der eine wird Prophet und Sänger, der andere Mörder und Verbrecher aus Liebe. Die Liebe war, wie dieses Land Mexiko, reich an Mißgeburten, an Höllen und klarblauen Himmeln und an staubigen, ausgetrockneten Sumpfhöhlen.

Die Luft draußen war nun grau von der Fülle des grauen Abends. Noch war keine Laterne angezündet, und mein Zimmer war wie untergegangen in der dunklen Fülle meiner Liebesgefühle.

Ich sah nur das helle Viereck der langen offenen Tür, die den Abendhimmel und die weißlich werdenden Tüten der Riesenwinden am Vorgartengitter umrahmte.

Draußen rollte jetzt kein Wagen mehr, es war die Stille vor dem Erscheinen des ersten Sternes.

Ich erinnerte mich plötzlich: ich hatte einmal in Europa, in irgendeiner fränkischen Stadt, am Abend, zu der Zeit, da der Venusstern eben zwischen hohen Hausgiebeln wie eine weiße Knospe aus Diamanten am Himmel stand und glitzerte, einen spielenden Knaben beobachtet – der sprang plötzlich mitten in der Straße und rief wie ein kleiner Schauspieler seine Spielkameraden an und deutete mit schöner Geste hinauf nach dem einzigen Stern zwischen den Hausgiebeln und rief diesen Satz, als wäre es der Anfang eines Gedichtes: "Das ist der erste aller Sterne der Welt!" Und der Knabe sprang weiter und wußte im nächsten Augenblick nicht mehr, daß aus ihm zukünftige Begeisterung und Anbetung der Venus gesprochen hatte. Daran dachte ich eben jetzt, und dann hörte ich aus dem Zwielicht die Stimme einer Verkäuferin, einer Indianerin singen:

"Tomales caliente, con carne, con dulce – eheeeee! Kleine Pastetchen mit Fleisch und Süßem, ehee..."

Das war Orla! So hatte sie gestern gesungen, so hatte sie mir am Klavier die Takte dieses Ausrufes der Pastetenverkäuferin vorgespielt.

"Tomales caliente, con carne, con dulce – ehee." Ich stand auf und trat in die Tür des Salons und sah hinter dem Gartengitter eine kleine alte Indianerfrau, die trug einen Holzteller auf dem Kopf, darauf Fleischpastetchen und Kuchen lagen.

Nun blieb sie stehen.

Ich stieg die zwei Stufen hinunter und trat einen Schritt in den Garten.

Da flog ein kleiner Brief über das Gitter, fiel an den Windenblättern herunter und blieb auf den Grasspitzen des Rasens liegen.

Ich warf eine Münze über das Gitter. Die Indianerin fing die Münze geschickt mit dem Pastetenbrett auf. Sie nickte und bekreuzigte sich, und ihre Augen blickten groß und froh unter dem Teller, den sie dann wieder auf dem Kopf trug. Sie lachte nicht mit dem Mund – nur mit den hellen Augäpfeln.

Dann ging sie weiter und sang.

Ich hörte ihr zu.

"Tomales caliente, con carne, con dulce... ehee."

Ich hörte ihr noch lange zu, ohne mich von der Stelle zu rühren, ohne den Brief aus dem Grase aufzuheben.

"Ehee – –"

Dann, als es still blieb, bückte ich mich, pflückte eine Windenblüte und ließ dabei den Brief in meiner Hand verschwinden.

Mit brennenden Wangen, als ob ich mich über ein Feuer gebeugt hätte, richtete ich mich wieder auf und sah auf den Kolumbusplatz hinaus, wo über dem Kopf der finstern Statue der Venusstern aufleuchtete. Im glasgrünen Abendhimmel war er wie ein kleiner Spiegel der dunkelheimlichen Liebesgöttin, der auf die abendstille Straße und auf den kleinen Vorgarten und auf einen törichten Verliebten herabblitzte.

"Der erste aller Sterne der Welt!"

Kleiner Knabe, der du das so klug gerufen hast, möge sich die Venus drüben in Europa dafür bis an dein Lebensende segnen!

Ich fühle den kühlen Brief, der sich in meiner Hand wärmte, und drückte ihn leidenschaftlich, als wäre er die Hand der Venus.

Dann ging ich in mein Zimmer und saß dann am Klavier bei einer Kerze und las:

"Rennewart, ich bitte Dich nicht, mich zu lieben; denn das vermögen keine Bitten. Ich will Dir nur sagen, was ich mir heute nacht immer wiederholte: Ich will Dir nach Europa folgen. Ich will sein, wo Du bist, ich folge Dir über alle Meere der Welt.

Verachte mich nicht, Geliebter, verachte mich nicht; ich bitte Dich jetzt: nimm mich fort von hier. Sobald ich meinen Vater hier begraben habe, reisen wir.

Morgen gehe ich mit meiner Mutter nach Tlalpam, wohin die Leiche des Abbé gebracht wurde, und das Grab seiner Eltern ist. Tlalpam ist die alte Krönungsstadt der frühen Aztekenkönige, und dort muß ich einen Teil meiner Lebenskrone begraben: meinen armen, armen Vater.

Ich bitte Dich, denke jetzt nicht weiter daran, irgendwelche Schritte zu tun, um zu erfahren, ob mein Vater eines natürlichen oder eines unnatürlichen Todes gestorben ist.

Ich habe eine Ahnung, daß sich das alles in nächster Zeit von selbst verraten wird. Verschiedene Anzeichen und ein Brief, den ich heute von einer unbekannten Person erhielt, sprechen dafür.

Aber rühre keine Hand, gehe auch nicht zum Präsidenten der Republik, wie Du vorhattest. Und dann möchte ich Dich auch warnen: Komme nächsten Sonntag bei der großen Truppenrevue nicht auf die Tribüne des Präsidenten der Republik. Man spricht allgemein davon, daß von einigen Unzufriedenen ein Staatsstreich vorbereitet werde. Aber niemand weiß etwas Sicheres. Auch der Brief, den ich erhielt, spricht von einem Attentat auf den Präsidenten der Republik, das für den Unabhängigkeitstag, den nächsten Sonntag, geplant sei.

Bis Sonntag hoffe ich, die Briefe von meinem früheren Bräutigam (die Briefe meiner Mutter an meinen Vater) zurückzuerzwingen. Sei nicht unruhig! Er darf mich, seit ich Dich heute im Wagen küßte, nicht mehr berühren, und ich weiche ihm bis Sonntag aus; bis zu dem Tag, wo ich die Briefe von ihm zurückempfangen habe, müssen wir uns noch gedulden. Dann kann ich meine Mutter ruhig verlassen und folge Dir nach Europa, das dann meine Heimat und unser Grab werden soll. Nie mehr will ich in dieses Land der Schrecken zurückkehren.

Oh, ich höre heute nur Musik in meinen Ohren. Die Welt kann mir nichts Böses mehr antun. Die Welt ist Liebe, Liebe, Liebe. Du, mein Geliebter!

Übermorgen, wenn ich von Tlalpam zurückkomme, schreibe ich Dir wieder und sende Dir Nachricht durch die singende indianische Straßenverkäuferin. Und gib ihr dann auch eine Zeile für mich mit. Hast Du heute auch ein Klingen in Deinen Ohren, als ob die ganze Welt eine einzige Liebeshymne sänge? So glücklich singt und jubelt jeder meiner Schritte heute.

Warum darf ich Dir nicht Tag und Nacht schreiben, solange ich Dich nicht sehen und nicht umarmen kann?...

Seit Jahren bin ich daran gewöhnt worden, meine Gefühle zu verstecken; von dem Tag an, wo ich erfuhr, daß mein Vater lebte, daß er Abbé war und mir vor der Öffentlichkeit nicht Vater, sondern nur Freund sein durfte – seitdem ist aus meinem Herzen ein sich windendes Wesen geworden, gleich einer Flamme, die man ausblasen will, und die sich flach an die Erde duckt und dann wieder aufschnellt und sich wehrt und in die Luft jagt ohne Ruhe.

Du hast aus Eurem großen harmonischen Europa eine Ruhe mitgebracht, die mich anzieht, die mich sicher und vernünftig macht.

Ich gehe mit Dir, wenn Du mich noch mitnehmen willst, und Europa soll meine Heimat werden, wie es Deine Heimat ist.

Rennewart, vergiß nicht die Minuten heute im Wagen, vergiß sie nicht, bis ich wieder bei Dir bin.

O r l a."

"Die Stimme lacht, die Stimme weint, die dieses spricht und singt mit meiner Stimme, die hier gesungen hat von Liebe und Liebesweisheit, bis es Abend wurde."

So sprach ich feierlich laut zu mir und saß am Klavier bei der Kerze, und ich las den Brief drei, vier Stunden lang, bis die Kerze abbrannte und ich mir erst bewußt wurde, daß Zeit, wirkliche Zeit vergangen war. Ich hatte in diesem Brief außer aller Zeit gelebt und wunderte mich jetzt, daß es möglich war, daß Liebe auch die Zeit zeitlos machen konnte. Wunder an Wunder reihte die Liebe in den Stunden, seit ich Orla liebte und von ihr geliebt wurde. –

Ich ahnte nicht, daß auch der Schrecken, ehe er einsetzt, einige harmonische Pausen, einige lebensruhige und festliche Takte voraussendet – gleich der Stille vor dem Erdbeben, in der nur die Tiere, die an der Erde leben, den Schauder des Unheimlichen fühlen und wie Schatten an den Menschenwohnungen vorbeiflüchten.

Ich war so zufrieden mit der ganzen Welt. Seit ein paar Stunden schien mir die ganze Erde an irgendeinem Ziel angekommen zu sein. Daß nun aber der Zusammenbruch meines kurzen Glücks schon im Gange war – das konnte ich nicht wittern; ich wußte noch nichts von der Grausamkeit, von den Drachen des Schicksals, die rasselnd aus blauem Himmel über die Menschen niederfahren und sich an der Zerstörung und an der gigantischen Wollust des Todes mästen. –

In dieser Nacht unter dem Moskitonetz entbehrte ich zum erstenmal nicht des Schlafes. Ich wehrte sanft den hungrigen Moskitos und sang mit ihrem Singen; und selbst das Singen der blutsaugerischen Insekten schien mir Harmonie geworden; ich fühlte ihre Stiche nicht, meine Haut schwoll nur wenig an, wenn mich eines der Tiere stach, ich ließ ihnen beinah willig mein Blut, und sah zu, wenn sich ein solches bissiges Teufelchen mit seinen schwingenden Flügeln auf meine Hand setzte und den spitzen Rüssel saugend in eine Pore meiner Haut stach. Ich war schmerzlos, von irdischen Schmerzen befreit durch die Seligkeit der Liebesfülle, die mir seit den Minuten mit Orla im Wagen nicht mehr auslöschte, und ich erschien mir unendlich erfüllt von ihr.

Ich hatte, als ich den Moskitos bis zum Morgen wachend zuhörte, sogar den Gedanken, ob das feine Singen der Tiere nicht auch eine Hymne an das wollüstige Leben wäre?

Liebe macht töricht und weise.

Am nächsten Morgen hatte ich noch den Moskitosang im Ohr, der manchmal wie das rhythmische Lied der Indianerfrau, der Briefbotin, klang: Tomales caliente, con carne, con dulce – ehee –

Und ich dachte: wie mag wohl die Apollohymne sein, die man kürzlich ausgegraben hat, und die die Astronomenfrau, die Messingblonde, so gern hier in Mexiko auf ihrer Violine spielen wollte, während ihr Mann bei seinen Instrumenten auf der Sternwarte wäre.

Wo mochten die beiden Eingewanderten sein?

"Vorläufig reisen wir nicht weiter und bleiben in San Juan", hatte sie mir in ihrem Briefe damals gesagt. In San Juan waren die Pyramiden der alten Azteken. Die Sonnenpyramide und die Mondpyramide und der Totenpfad zwischen einer Allee von kleinen Priesterpyramiden waren dort. In den ersten Tagen nach meiner Ankunft in der Hauptstadt hatte ich gleich einen Ausflug dorthin gemacht. Ob wohl jetzt die Astronomenfrau abends bei Mondschein auf dem Totenpfade zwischen den Pyramiden wanderte, fragte ich mich, und ob sie dort die Violine spielte vor den Gräbern der Priester, vor den Pyramiden und vor dem aufgehenden Mond, der zur Vollmondzeit wie ein großer Heiligenschein über der Spitze der Mondpyramide emporwuchs? Ob sie sich jetzt die Apollohymne eingeübt hätte? Oder waren sie und ihr Mann längst wieder zurückgekehrt?

Ich sehnte mich jetzt so sehr nach einer Violine und nach dem Genuß der Apollohymne, daß ich beschloß, für einen Tag nach San Juan hinauszufahren und mich nach dem jungen Ehepaar zu erkundigen. Und auf der Sonnenpyramide um Mittag, wenn der Himmel silbergrau vor Hitze war, dann sollte mir die Violine der messingblonden Frau die Apollohymne vorspielen. –

Die Bahnfahrt nach San Juan währte nur kurze Stunden. Ich ging dann zu Fuß unter dem endlos blauen Morgenhimmel über die scherbenübersäten Erdflächen. Milliarden Scherbenstückchen glitzerten hier am Boden, wo vor Scherben kaum ein Grashalm wächst. Reste von Mauern, kaum einen Fuß hoch, zeigten noch rote Wandbemalungen in den Gemächern. Es sind Scherben und Mauervierecke von riesigen, vom Erdboden verschwundenen Aztekenstädten. Stundenlang ging ich an den trübseligen grauen Tonscherben und den blitzenden glasierten Splittern von alten zerbrochenen Krügen vorbei, die, wenn man sie aufhob und näher betrachtete, noch die Spuren primitiver Linienbemalung zeigten.

Ich wurde auf den Meilen bei Meilen, die voll von Scherbensplittern an den flachen Erdflächen vorüberzogen, etwas müde und traurig, und es war mir, als begleiteten mich einsamen Europäer wieder alle Geister der gemordeten Indianervölker, alle Geister ihrer ermordeten Könige, ihrer Krieger, ihrer Frauen und ihrer Kinder.

Hie und da wirbelten über den Scherbenfeldern Windböen auf, die grau Staubspiralen über die Felder drehten, und die in der unendlichen, blauen, sanglosen Stille wie lebende Wesen drohend aufgerichtet durch die sonnige Öde jagten.

"Es ist nur Wind und Staub," sagte ich zu mir, "mach‘ nicht mehr daraus, dann ist es auch nicht mehr."

Aber böse Ahnungen in mir redeten: Die Staubsäulen sind wie der Nebel, den ein fernes Unglück aufwirbelt; als ob wieder einer der alten Rachegedanken der untergegangenen Indianerkönige über den Scherben dieser verschollenen Stadt kreist; die Rache des beleidigten Volksgeistes hängt sich hier auf Schritt und Tritt an dich. Wie der Staub dieser staubigsten Hochebene der Welt, so bleibt immer wieder neues aufwirbelndes Unheil an dem Europäer hier haften.

Ich hätte diesen Ausflug nicht machen sollen, ich hätte in der Stadt bleiben sollen. Warum mußte ich Lust nach der Apollohymne bekommen und warum mir die europäische Götterhymne hierher an die Stelle der indianischen Götterpyramiden wünschen? Es ist nicht gut, die Götter zweier Kontinente gottlos zu vermengen, als ob alte Anschauungen kein Leben mehr hätten. Götter sind nie tot und auch die alten Götter der Heiden kann man heute noch beleidigen. Es sind Ideen, die ihr Selbstbewußtsein, ihren Stolz, ihre Ehre, ihren Respekt besitzen, auch wenn sie der Vergangenheit angehören.

Solch furchtsame Betrachtungen flößten mir die zahllosen tausendjährigen Scherbenfelder zu meinen Füßen ein, die aussahen, als hätten alle Städte der Welt ihre irdenen Kochtöpfe hier zerschlagen und meilenweit verstreut.

Dann überschritt ich die Brücke eines unsichtbaren Flusses. Die Flüsse eilen in diesem Lande, tief in die Erde eingegraben, wie in langen dunklen Korridoren in Erdspalten dahin, und auf der Ebene siehst du keinen Fluß, bis du auf dem Brückenweg über dem Erdspalt stehst und haustief unter dir unter der hohlen finstern Erde die Wasser rauschen hörst und dir die Kühle von unten entgegenströmt wie Kellerluft. Ich saß einen Augenblick in der menschenleeren Landschaft, sah auf die baumlosen Scherbenflächen und hörte den Donner des unterirdischen Flusses unter der Brücke. Bei diesem Fluß fühlte ich mich wohler, es war, als verjage die Wasserkühle die Brandatmosphäre der Luft über den Scherbenfeldern. Die Erde hatte vorher nach altem Brand und Verwüstung gerochen. Aber das eilende Wasser wußte nicht mehr, daß hier einst Städte verbrannt und zerstampft worden waren. Die platte Erde grübelte heute noch mit dem Staub über einstige Unglücksstunden nach, nur das schnelle Wasser unter der Brücke hatte alles vergessen und sprach von Leben und Lebenseile.

Ich sah auf der Brücke nur eine goldene strähnige Flutspiegelung von dem dunkeln Fluß unten, die den Glanz der Sonne wiedergab, und die mich an die messingfarbenen Haarwellen der Frau des Astronomen erinnerte. Der Fluß dort unter der Erde rauschte wie das Echo in einer ungeheuren Muschel, und ich mußte in dem dunkeln, schwarzen, unterirdischen Strom an den Hades der Griechen denken, an den Strom der Vergessenheit, an den Nachen des Charon, an die Seelen der Toten. Ich verlor, wie ich die Sonne da unten in nachtkalter Tiefe kaum heller als das blonde Haar einer Frau sah, allen Glauben an Lebensfülle. Ich verlor alle Sicherheit der Wirklichkeit im Angesicht der ungeheuren Scherbenfelder vor mir. Und bei der Betrachtung des schwarzen unterirdischen Stromes, der nie an das Tageslicht kam, wurde mir das Weiterleben erfüllt von einer unermeßlichen Finsternis, von einer ungeheuren, endlosen Nichtigkeit. Ich versuchte vergeblich, die Küsse Orlas in meine Erinnerung zurückzurufen – es war, als sei ich von den Meilen der toten Scherbenfelder, die einst glückliche indianische Hauptstädte gewesen, und die wertloser Schutt geworden waren, als sei ich von der Trauer aller Endlichkeit plötzlich niedergeworfen; und mein Leben und alle Leben der Welt erschienen mir nicht mehr wert als eine einzige kleine Scherbe, nicht mehr als der Schall eines unterirdischen dunkeln Stromes. Ich fühlte mich vom Tode dieser Landschaft angefaßt und wollte auf alle Zukunftsfreuden verzichten und sehnte mich, hinzufallen und Schutt, Staub, Scherben zu werden, um in der Ohnmacht des Daseins die wirkliche Ohnmacht des Nichtseins in mir verkörpert zu fühlen.

Ein Indianer in grauweißem Hemd und grauweißer Leinenhose und mit dunkeln Gesicht unter dem weißen Strohhut lief jetzt auf der fernen Feldstraße vorbei. Die Indianer, wenn sie allein sind, gehen nie langsam; sie haben immer den trottenden Laufschritt eines flüchtigen Wildes. Da sie barfuß gehen, tauchen sie plötzlich lautlos in der Landschaft auf, als wäre sie aus einer Ackerfurche aufgestanden. Sie eilen, einen Gruß murmelnd, vorbei und sind unhörbar gleich wieder verschwunden – es ist, als hielte ihr eiliger Gang mit ihren eiligen Herzschlägen Schritt. Während der Gang des Europäers mehr mit den Gedanken des Gehirns Taktschritt hält und bald langsamer, bald schneller ist, geht der Indianer immer gleichmäßig eilig wie der Stundenzeiger einer Uhr.

Als der Indianer auf die Brücke kam, fragte ich ihn auf spanisch, ob ein weißer Herr und eine gelbhaarige Frau im Dorf wohnte.

Er sah mich an, schüttelte den Kopf und lief weiter. Drüben verschwand er hinter den hohen, grauen Stauden der Pfeilerkakteen, die wie ein Waldgehege drüben den Weg säumten und wie aus der Erde gewachsene Prügelstangen aussahen. Ich ging weiter; die Kakteen vereinigten sich jetzt an beiden Seiten des Weges zu hohen graugrünen Mauern. Undurchdringliche Stachelmauern, Pfeiler an Pfeiler, wuchsen die haushohen Kakteen senkrecht in die Luft und sahen manchmal wie stachelige Knochen aus oder wie großlappige Ohren von Elefanten. Hie und da leuchtete eine große scharlachrote Blüte an der Warzenreihe eines Kakteenpfeilers. Der Weg schien wie verhext und ausgestorben; nur die Furchen der staubigen erdfarbenen Landstraße zeigten, daß hier Menschen und Lastkarren gegangen waren. Zwischen den regungslosen Kakteen, die nicht rauschten und sich fleischig wie aufgerichtete steife Schlangen den Weg entlang drängten, konnte ich nicht hindurchsehen, und ich wußte nicht, ob Menschenwohnungen dahinter lagen, ob ich von dort beobachtet wurde oder nicht. Denn als ich zum erstenmal hier war, war ich nicht durch das Dorf, sondern einen andern Weg zu den Pyramiden gewandert und war in Gesellschaft der Herren der deutschen Gesandtschaft gewesen und hatte geplaudert und nicht auf den Weg geachtet.

Heute aber nach allen Erlebnissen der letzten Tage war ich eindrucksfähiger als jemals. Und seit ich das Scherbenfeld und den unterirdischen unheimlichen Fluß überschritten hatte, schien es mir, als schleifte ich eine Kette von Unglücksahnungen und Todesgedanken nach; ich war nicht mehr allein, ich war von tausend Gedankengeistern umgeben und von einer Unruhe, die ähnlich der Unruhe war, die mich jedesmal überfiel, wenn ich die unheimlichen Götzenbilder der Indianer im Museum der Hauptstadt betrachtet hatte. Wie ein Fluch, wie ein Bannstrahl ging es von den grotesken Formen der versteinerten Zuckungen jener mißgestalteten Schreckensfiguren aus, als ob jeder Blick auf diese entthronten Götter, denen wir Europäer die Andächtigen getötet hatten und an deren Stelle wir unsern Gott hier eingeführt hatten, uns Europäer und uns Eindringlinge hier in diesem geplünderten Lande verfluchte und uns Leiden und Unglück und Folter und den Tod wünschte.

Hinter den langen lebenden Zäunen der stacheligen Kakteen entdeckte ich jetzt hie und da ein Indianergesicht. Eine Frau, ein paar Kinder, ein paar Dirnen sahen mich durch eine Lücke im Pflanzenzaun an; wie gelbe Masken, aus Lehm geformt und mit künstlichen, weißen, glänzenden Porzellanaugen – so standen die gelbroten Menschengesichter regungslos zwischen den blaugrünen Kakteenpfeilern, als ob sie dort aufgehängt wären.

Ich lachte und grüßte – sie lachten nicht und grüßten nicht zurück.

Ich sah hinter den Spalten der Kakteenzäune freien, festgestampften Boden, darauf manche graue Erdhütte stand, deren Dach mit kurzem Gras bewachsen war. Im Hof trieben sich ein Hahn oder Truthühner oder ein Hund umher, oder es stand da ein Maultier, an einem Pfosten angebunden.

Mehr als das wenige, was man durch die Kakteenzäune erschaute, war vom Dorf nicht zu sehen. Und da keine Leute erschienen und die Straße zwischen den grauen Pflanzenmauern wie ausgestorben lag, so ging ich nicht länger in der Hauptstraße weiter, sondern suchte mir einen engen Seitenweg, wo ich weder auf eine neues Scherbenfeld kam, und wo der spitze Steinhügel der Sonnenpyramide wie ein großes deutsches Hünengrab aufragte.

Die Sonnenpyramide ist nicht sehenswerter als irgendein Grashügel, sie ist mit unzähligen kleinen gelben Sonnenblumen besät und wirkt eigentlich nicht anders als ein hoher Rasenhaufen. Von hier aber führt ein breiter Weg durch eine Allee aus Resten von kleinen Pyramiden, die in gleichmäßigen Abständen den Weg zur Mondpyramide säumen. Diese Pyramide liegt am Ende der Allee wie ein Giebel und ist gut erhalten und in ihrem Steinaufbau gut erkenntlich. Die kleinen Pyramiden am Wege seinen Priestergräber, sagt man, und es ist noch die Spur roter Malerei an den Stufen und auch innen in dem höllenartigen Raum.

Ich stand einsam zwischen den Steinhügeln und sah auf die Mondpyramide und wünschte mir – keine Liebe mehr – sondern ein Grab.

Ich lachte mich wegen dieses sentimentalen Gedankens aus, aber ich war so von der Luft des Totenreiches hier zwischen Scherbenfeldern, Grabpyramiden und Stille umgeben, daß mir immer wieder die Sehnsucht nach dem Tode näher lag, als die Sehnsucht nach dem Weiterleben.

"Ich will nicht zurückkehren", sagte ich mir. "Orla hat schon einem anderen Manne gehört. Sie kann mir nie mehr ganz gehören, oder ich werde Vergleiche in ihren Augen suchen. Das Leben ist kein Zeitvertreib, das Leben ist ein Todeskampf. Ein stündliches Kämpfen gegen den Tod.

Ich will verschollen hier draußen in San Juan wohnen. Will nie mehr irgendeinem Menschen ein Wort von mir sagen. Will die Jahre bis zu meinem Tode zwischen diesen lautlosen Scherbenfeldern verbringen. Oh, wie wohltuend ist die Totenstille dieser ausgestorbenen Felder, auf denen einst die Bewohner von Riesenstädten wimmelten, liebten, feilschten, töteten und starben und nichts als Scherben übrigließen.

Grauenhaft undankbar ist dieser tägliche Kampf um das Nichts!

Wie erreichen dasselbe: den Tod, das Nichts. Warum kämpfen wir, wenn nicht mehr als das Nichtsein zu erringen ist und nur Scherbenfelder und zerfallene Gräberpyramiden von dem Leben der größten Geister ganzer Völker übrigbleiben? Wo sind die Helden, die Könige, die Wissenden, die Reichen und die Armen dieser verschwundenen Städte hingekommen?

Eine Staubspirale dreht sich unterm blauen Himmel über den Scherben einer Riesenstadt, das ist alles: Staub, Scherben, Totenstille. Das ist der Sinn alles Vergänglichen, daß es den Tod als Bleibendes erringt!"

Ich wendete mich wieder den grauen Kakteenpflanzungen zu und ging durch die abenteuerlich geformten Reihen der unbeweglich lebenden Pflanzenungeheuer, die mit ihren roten Apfelfrüchten und mit den feisten, fleischigen Blätterkeulen, die zweimal größer als ein Mensch waren, in die Luft ragten und den engen Weg säumten.

Mir war, als seien da in der Erde Geheimnisse begraben, die in Gestalt regungsloser fetter Pflanzenungeheuer aus dieser Stauberde aufschössen und nur zu dem sprächen, der dem Lande angeboren war wie sie.

Durch einen Kakteenzaun drängten sich jetzt ein Indianerjunge und schleppte einen Steinklumpen, den er mitten auf dem Weg vor mir aufpflanzte. Der Stein zeigte die gedrungene Gestalt eines kauernden Aztekengötzen, der mich anglotzte, als wolle er mir Eingang und Ausgang dieses Dorfes versperren.

Der Knabe wollte mir das fußhohe Götzenbild verkaufen.

Ich dankte ihm – ich wollte keine Götter aus diesem Lande besitzen und auch keine nach Europa schleppen. Und ich ging und sah mich, solange ich in dem Dorf blieb, von dem keuchenden Knaben verfolgt, der mir überallhin den steinernen Götzen nachschleppte und schnaufend hinter mir durch den Sand humpelte und mir, wenn ich mich umsah, den Gott vor die Füße stellte und ihn mir wie einen Sklaven zum Kauf anbot.

Bei dem einzigen Spanier, der hier im Dorfe Kaufmann ohne Kaufladen war und auch hinter einem Kakteenstachelzaun in einem Steinhause lebte, sprach ich dann vor und fragte nach dem europäischen Ehepaar.

Aber er wußte nichts. Er hatte vor Wochen einmal einen Herrn und eine Dame durch die Straße gehen sehen, aber sie wären nicht dageblieben.

Ich hätte mir denken sollen, sagte ich zu mir, daß die junge Frau keinen Augenblick in dieser Todeslandschaft bleiben wollte. Wie hatte ich nur glauben können, die beiden hier zu finden? Sie waren sicher vor dieser Öde gleich wieder umgekehrt.

Ich lachte und empfand nun einen doppelten Anreiz, hier zu bleiben, wo niemand bleiben wollte.

Ich fragte den spanischen Kaufmann, ob er ein Zimmer zu vermieten hätte. Nein, sagte er, ein Zimmer hätte er nicht, aber wenn ich in der Kapelle wohnen wollte, würde er mir ein Bett hineinstellen lassen.

Er zeigte mir dann im Haus zu ebener Erde einen mit roten Steinen gepflasterten Raum, der ganz kahl war, und in dem sich nur an der Hinterwand ein einfacher Holztisch fand, wie man ihn überall in Restaurants hat; dieser Tisch war mit einem weißen Tuch bedeckt und stellte einen Altar dar. Darauf stand die bunte Statue einer Mutter Gottes mit dem Christkind auf dem Arm. Von der Decke des Raumes hing eine rot verglaste Öllampe, das "ewige Licht", das die Kapelle vervollständigte.

Hier sollte ich wohnen. Bei der Madonna und dem ewigen Licht und bei dem weiß gedeckten Altartisch schlafen und träumen.

Ich glaubte erst, der spanische Kaufmann wolle mit mir scherzen. Dann aber sah ich, daß ihm sein Anerbieten vollständig Ernst war. Und ich sagte, ich würde es mir überlegen.

Aber ich blieb nicht. Nachdem ich ein Glas von dem milchigen Agavensaft des Pulque getrunken hatte, der wie mit Most gemischte Buttermilch säuerlich, schleimig und alkoholisch gärend schmeckt, verabschiedete ich mich und ging durch die Kakteenzäune und über die Scherbenfelder wieder zur Bahnstation. Statt der Apollohymne hatte dieser Ausflug meinem Herzen eine Totenhymne aufgespielt, und ich erwartete niedergeschlagen den Abendzug von Mexiko.

Erst im Zug, wo viele Europäer saßen, erinnerte ich mich wieder an Orla und fühlte mich wie von einem Alpdruck befreit. Ja, sobald sie ihren Vater begraben und ihrer Mutter die Briefe zurückverschafft hätte, müßten wir beide zusammen nach Europa reisen, sagte ich mir.

Dieses Zauberland Mexiko war für einen Europäer auf die Dauer zu nervenerschütternd. Und ich wollte nicht länger bleiben, ich hatte hier genug errungen; da ich mir eine schöne Frau aus diesem Lande nach Europa brachte, konnte ich dann froh sein, mit heilen Gliedern aus diesem Götzen- und Kraterreich entkommen zu sein.

Aber umsonst war diese Vorahnung von Tod auf dem Scherbenfelde und auf dem Totenpfad zwischen den Pyramiden von San Juan nicht gewesen. Das Unglück, das mich ereilen sollte, hatte schon seine Schatten in meine Tage geworfen, und darum hatte mein Herz, das ahnungsvoller und wissender als der Verstand ist, an diesem Tag in San Juan auf das zukünftige Leben verzichten wollen und hatte sich unbewußt zu der Totenruhe der Scherbenfelder hingezogen gefühlt; das grauenhafte Unglück, das mich nun Schlag auf Schlag zu verfolgen begann, hörte nicht eher auf, als bis ich die Küste von Europa wieder betrat, und sogar dorthin noch verfolgte mich, wie eine letzte Welle des Schreckens, ein letzter Schlag. –

Die Woche bis zum Unabhängigkeitstag verging noch lautlos. Ich erhielt abends durch die indianische Straßenverkäuferin öfters ein Billet von Orla, die nur grüßte und sich sonst in ein Schweigen hüllte, das mir natürlich schien, da sie wahrscheinlich täglich neue Spuren des Verbrechens sammelte, das an ihrem Vater begangen worden war.

Orla wollte mit ihrer Mutter nach Tlalpam, wo die beiden Damen täglich den Totenmessen beiwohnten, die für den Abbé gelesen wurden. Sie bat mich, nicht nach Tlalpam zu kommen, da der Ort nur aus einigen Häusern um einen Marktplatz bestünde und man sich in dem kleinen Flecken nicht treffen konnte, ohne daß es sofort den Leuten aufgefallen und weitererzählt worden wäre.

Ohne jedes Vorzeichen seiner außergewöhnlichen Bedeutung brach der Sonntag des Nationalfestes an.

Auf der Alameda, dem schönsten parkartig bepflanzten Platz von Mexiko, waren die Tribünen für die Zuschauer der Truppenrevue errichtet. Die Straßenzüge von Mexiko wimmelten von Fahnen, die Tribüne des Präsidenten war ein weißes Zelt, mit Fahnenfächern bedeckt, und einige Stufen führten von der Straße auf das Podium, wo das Zelt leuchtete.

Nie zuvor hatte ich so viele Leute hier auf der Straße gesehen – meistens Fußgänger; denn die Hauptstraße Calle San Francisco, die zur Alameda führte, war während der Truppenrevue für Wagen und Trambahnen abgesperrt, und nur Fußgänger wogten dort Kopf an Kopf.

Von allen Balkonen hingen Teppiche, ebenso von den Fenstern der spanischen Paläste, die, meistens im alten Jesuitenstil gebaut, mit geschweiften Mauern, mit Vasen und Girlanden und Ornamenten aus Stein, mit rosa Farbenanstrich prunken und prahlen.

Die Luft hing so voll von der bunten Fahnenleinwand, die von den Dächern bis auf die Trottoire herabreichte, daß man in den Straßen nicht weit sehen konnte; und als die Wagen der Auffahrt und das Militär und die Musikbanden und die langen Reihen der Offiziere zu Pferd in der Calle San Francisco heranrückten, sah man nur immer stückweise zwischen zwei Fahnenlaken ein Stückchen vom Aufmarsch des Militärs, von der Anfahrt der Generale und Minister.

Ich hatte mir ein Fenster gegenüber der Tribüne vorausbestellt, aber als ich in das Haus eintreten wollte, war dieses wie alle Häuser gegenüber der Tribüne von Polizisten bewacht, und es war verboten, heraus- oder hineinzugehen. Ich zeigte zwar meine Karte, aber der Offizier sagte: "Sie werden da oben doch nichts sehen, da heute keine Fenster geöffnet werden dürfen. Das hat seine Gründe. Es sind zu viele Drohbriefe in letzter Zeit verbreitet worden. Man fürchtet ein Attentat auf den Präsidenten der Republik."

Inzwischen marschierte bereits ein Haufe Militär mit Musik an der Tribüne auf, ich hörte die Kommandorufe und wußte, daß gerade jetzt der Präsident bei der Tribüne vorbeifuhr; denn wie ich noch mit der Polizei an der Haustür wegen des Fensters verhandelte, das ich gemietet hatte, sagte es schon zum andern: "Der Präsident kommt!"

Dann entstand ein wogendes Gedränge, der Polizeioffizier und ich wurden von einer Menschenmauer an die Haustür gepreßt, es war unmöglich, etwas zu sehen. Ich hörte nur die Worte: "Was ist passiert?" – "Niemand weiß es." – "Es ist ein Unglück passiert." – "Dem Präsidenten der Republik ist ein Unglück passiert." – "Jemand hat sich auf den Präsidenten gestürzt." – "Seht doch, seht, sie arretieren einen Menschen dort an der Tribünentreppe", schrie ein Junge, der an einer Laterne hochkletterte. "Er wollte eine Bombe werfen", rief ein anderer. "Nein, es war nur ein Pflasterstein, den er warf", schrie ein Dritter von der Mauer herunter. "Ein General hat den Stein mit dem Arm aufgehalten", erklärte einer aus dem Fenster über mir. "Der Präsident besteigt die Tribüne." Alles brüllte jetzt um mich her begeisterte Hochrufe für den Präsidenten, den man vorher todstumm empfangen hatte.

"Man bringt den Kerl schon in einen Wagen, der den Stein geworfen hat. Ein ganz harmloser Mensch", lachte der Polizeioffizier, der schon wieder zurückkam und sich orientiert hatte, daß nichts Schlimmes passiert war. "Der Polizeipräsident in eigener Person hat den Kerl aus den Händen des Generals, der sich zwischen den Attentäter und den Präsidenten der Republik geworfen hatte, in Empfang genommen und mit Schutzleuten in einen Wagen befördert."

"Der Präsident ist unverletzt. Es ist nichts weiter passiert", rief der Polizeioffizier und beruhigte die Menge.

Also war doch etwas passiert, und Orlas Warnung war nicht ohne Grund gewesen, dachte ich. Die Revue nahm ihren Anfang, und die Truppen marschierten an dem Zelt vorbei, wo der Präsident schmunzelnd und unverwundet zwischen den Ministern stand und die Truppenführer grüßte.

Dann später als der Präsident der Republik zum Stadthaus gegenüber der Kathedrale fuhr, wo er den Lunch einnehmen sollte, hallten die Straßen von Vivatrufen; auf allen Balkonen winkten die Taschentücher der Damen, und ein Blumenregen überschüttete den Präsidentenwagen. Die ganze Hauptstadt schien wie nach einem Alpdruck aufzuatmen. Als kehre der Präsident mit den Truppen unverwundet aus einer Schlacht zurück, so eifrig begrüßten die Vivatrufe und Blumen aus allen Fenstern und Balkonen der Calle San Francisco den Mann, der einem Attentat entgangen war.

Niemand ahnte, daß für die ganze Stadt ein viel tragischeres Schauspiel, als es dieses Attentat gewesen war, jetzt erst beginnen sollte.

Der Nachmittag verlief noch still. Man ruhte vom Vormittag aus, und einer beglückwünschte den andern, daß das Fest nicht durch einen Mord befleckt worden war. Ich hatte im Deutschen Klub gegessen und schlenderte nach Hause und dachte mich durch ein wenig Nachmittagsruhe von den schlaflosen Moskitonächten zu erholen. Ich sah mich schon im Geist im Schaukelstuhl liegen und rauchen, sehnsüchtig auf den Ruf der Verkäuferin wartend: Tomales caliente, con carne, con dulce – eheee!

Ich sehnte mich nach dem letzten Brief von Orla; denn morgen würde sie ja selbst kommen.

In solchen Gedanken kam ich bei der Glorieta an, wo mir ein Haufe Militär und ein Trupp Polizei auffiel, die da herumstanden.

Ich bemerke plötzlich von weitem, daß die Tür zu meinem Salon offen ist, und das Militär auf den Stufen im Vorgarten postiert ist und es drinnen im Zimmer von Polizisten wimmelt.

Dieses sehe ich von der anderen Seite des Platzes, wo ich mich unter die Zuschauer gemischt habe.

"Was geht dort vor?" fragte ich ganz harmlos einen Trupp Soldaten, die, von Spaziergängern umgeben, Gewehr bei Fuß stehen oder sich auf den Trottoirrand gesetzt haben, weil die Sache ihnen scheinbar zu lange dauert.

"Dort wohnt ein Kerl, der mit dem Attentäter gemeinsame Sache gemacht hat, ein Europäer; bei ihm ist Haussuchung."

Bei mir war Haussuchung. Ich zündete mir ruhig eine Zigarre an und gedachte meiner Unantastbarkeit als Fremder und Untertan des Deutschen Reiches! Ich ging dann zum Kaffeehaus an der Ecke, wo ich sofort an die deutsche Gesandtschaft telephonierte. Der Gesandte, der mich gut kannte, war, wie ich wußte, zum offiziellen Lunch im Stadthaus eingeladen, aber ein Sekretär der Gesandtschaft gab mir sofort den Bescheid, daß ein großer Irrtum vorliegen müsse, daß man keinesfalls bei mir Haussuchung halten dürfe. – Ich hätte keine kompromittierenden Staatspapiere in meiner Wohnung, sagte ich zu dem Sekretär, es wäre mir aber auch nicht angenehm, wenn der Polizeipräsident nach meiner Privatkorrespondenz fahnden ließ, so wie er es neulich bei einem Abbé getan hätte, der dann gestorben wäre, "an den Folgen der Haussuchung", wie man jetzt in der ganzen Stadt spottet.

Ich solle ruhig im Kaffeehaus bleiben, man würde mir sogleich zu Hilfe kommen, beeilte sich der Sekretär mir liebenswürdig zu raten. Der deutsche Gesandte, der eben mit dem Präsidenten der Republik an der Tafel säße, würde beim Präsidenten der Republik in dieser Sache selbst vorstellig werden. "Warten Sie bitte im Café, bis ich Ihnen alles telephonieren kann, was geschehen wird."

Ich bestellte mir Kaffee und rauchte und versank hinter einer Zeitung und mußte lächeln; die Briefe Orlas hatte ich alle in meiner Tasche; wenn der Polizeipräsident die bei mir suchen lassen wollte – die konnte er nicht finden. Meine wissenschaftlichen Korrespondenzen wichtiger Natur hatte ich bei dem Sekretär, mit dem ich bekannt war, im eisernen Tresor der Gesandtschaft deponiert. Höchstens ein paar Briefe aus Europa, den Brief der Engländerin, der mir den Selbstmord der Österreicherin aus Pouldu anzeigte, und ein paar Ansichtspostkarten konnten die Herren von der Polizei in meinem Schreibtisch aufstöbern – das war alles.

Um mich einer Leibesvisitation zu entziehen und die Briefe Orlas zu bahelten, war es schon klüger, ich wartete hier, bis Hilfe aus meiner Gesandtschaft käme. In demselben Augenblick eilte ein Indianerjunge mit Extrablättern draußen am Café vorbei und schrie herein:

"Die neuesten Enthüllungen, die der Attentäter nach seiner Gefangennahme gemacht hat! Die sensationelle Verhaftung einer jungen Dame aus der Aristokratie!"

Ich lachte und dachte: Sind jetzt die Mexikanerinnen auch Nihilistinnen und Anarchistinnen geworden?

Aber ich hatte keine Lust, die prahlerisch angepriesenen Extrablätter zu lesen, und rauchte und trank meinen Kaffee und war erstaunt, daß ich nicht in meinem Schaukelstuhl saß, sondern im Café, wo ich sonst nie zu treffen war.

Nicht lange, so fuhr ein Automobil vor, und der Gesandtschaftsattaché v. H., mit dem ich gut befreundet war, winkte mir. Ich beeile mich und sehe aus den Gesichtsausdruck des Attachés, daß irgend etwas Unangenehmes im Anzug ist.

Dann saß ich im Auto. Wir fuhren die Allee nach dem Schloß Chaputepec hinunter, und ich erfuhr, daß der Gesandtschaft von Seiten des Polizeipräsidenten mitgeteilt worden sei, ich stünde in Beziehungen zu der aristokratischen Anarchistin, die heute im Zusammenhang mit dem Attentat verhaftet worden sei.

Ich lachte den Attaché gutmütig aus und sagte: "Ich kenne nur eine einzige junge Dame hier in Mexiko, und die ist die Braut des Polizeipräsidenten selbst und keine Anarchistin."

"Die ist es", nickte der Attaché ernst. "Sie wissen noch nicht, daß der Polizeipräsident dem Präsidenten der Republik den uneigennützigsten Dienst geleistet hat, der jemals in Mexiko einem Präsidenten erwiesen wurde, indem er, als der Attentäter den Namen seiner Braut als Mitwisserin des Attentates nannte, diese junge Dame sofort in Tlalpam verhaften und nach Mexiko überführen ließ, wo sie heute noch als Gefangene im Staatshause eintreffen soll."

Ich wußte nicht mehr, ob der Attaché irr redete oder die Wahrheit sprach! Orla sollte Mitwisserin des Attentates sein, sollte in ein Komplott gegen das Leben des Präsidenten der Republik verwickelt sein?

"Wo fahren Sie mit mir hin?" fragte ich den Attaché, der den Wagen auf Umwegen zur Stadt zurückfahren ließ.

"Zur Gesandtschaft, wo sie sich einstweilen aufhalten müssen, bis die Haussuchung bei Ihnen beendet ist und wir den Polizeipräsidenten von Ihrer Unschuld und der Harmlosigkeit Ihrer Beziehung zu der aristokratischen Anarchistin überzeugt haben. Was ist doch hier alles möglich in diesem Lande aller Möglichkeiten!" seufzte der Attaché. "Wie in Europa sind wahre Wickelkinder an Unschuld gegen diese Verbrecherwelt, die einen hier in dem Lande der Goldsucht umgibt."

Ich war verstummt.

Daß ich kein Anarchist war und auch keinen anarchistischen Tendenzen huldigte, wußte man ganz genau auf meiner Gesandtschaft, wo man meine Gesinnung so gut kannte wie die Grenzen des Deutschen Reiches. Der Attaché fragte auch nicht weiter indiskret, wie ich zu der verhafteten Dame stünde; das erschien ihm belanglos, da das meine Privatangelegenheit war.

Orla war von ihrem Bräutigam verhaftet worden!

"Können Sie mir, bitte, sagen, was Sie von dem Tode des Abbé halten, der neulich starb?" fragte ich Herrn von H.

"Sein Tod ist mir ein Rätsel. Ein Arzt behauptet, er sei an einer Vergiftung gestorben; das war der Arzt, der auf der Straße hinzueilte, als der Abbé umfiel. Aber das war doch ganz unmöglich, da der Abbé eben vom Lunch beim Polizeipräsidenten kam. Der Gerichtsarzt, der die Leiche untersuchte, behauptete, es liege nur ein einfacher Herzschlag vor. Und das ist natürlich maßgeblich."

"Natürlich", nickte ich.

Der Attaché lächelte geheimnisvoll. Dann sagte er mir ins Ohr:

"Nichts ist in diesem Land so unnatürlich wie das Sterben. Keiner weiß, was er heute zu essen bekommt, wenn er eingeladen wird. Vielleicht eine Dosis: ‚Tod, eile dich‘!" fragte ich naiv.

Der Attaché schwieg und lachte wieder. Dann erreichten wir das Hoftor der Gesandtschaft, das Automobil fuhr in den Hof, und hier auf deutschem Boden war ich vor allen Leibesvisitationen sicher. Ich fühlte mit der Hand nach meiner Brusttasche, wo Orlas Briefe steckten, und mußte lachen über die Komödie des Polizeipräsidenten, der seine eigene Braut arretieren ließ, wahrscheinlich, weil sie ihn nicht mehr sehen wollte. Ich war ganz sicher, daß Orla nichts passieren würde. Morgen würde ganz Mexiko über den Streich des eifersüchtigen Polizeipräsidenten lachen, und Orla schon heute abend wieder nach kurzem Verhör freigelassen werden.

Er wird sie doch nicht über Nacht am Ende im Stadthaus bei sich behalten wollen, dieser Polizeiwüstling! – Ich erschrak bei dem Gedanken an die rohe Macht, die gewalttätigen Charakteren zur Verfügung steht, wenn sie an die Spitze einer Behörde gesetzt sind und ihre Macht in roher Weise mißbrauchen wollen. Meine Zähne knirschten mir vor Wut im Munde, wenn ich bedachte, daß der Polizeipräsident, der hier so willkürlich wie nirgends Haussuchungen unternehmen ließ, vielleicht auch Orla nur unter dem falschen Vorwand des Verdachtes anarchistischer Anschläge zu sich ins Stadthaus hatte bringen lassen, um sie dort nochmals zu überreden, ihn zu heiraten. Denn er müßte heute den Brief von ihr erhalten haben, worin sie ihm endgültig die Verlobung absagte. Vielleicht hatte seine Wut und seine Ohnmacht den Mann zum Äußersten getrieben.

Auf den Treppen des Gesandtschaftsgebäudes standen die Diener zu meinem Empfang aufgereiht, denn es sollte nicht den Eindruck machen, als ob ich hier als Gefangener und Flüchtling einzöge, sondern als Besuch des Gesandten. Graf v. L., er, der eben erst vom Lunch im Stadthause zurückgekommen sein mußte, kam mir in eigener Person, und in großer Gala, wie er eben heimgekehrt war, auf der Treppe durch die oberste Glastür entgegen. Seine Orden klingelten, als er mir beide Hände entgegenstreckte.

"Mein Lieber, sein Sie unbesorgt! Nun kann Ihnen nichts Schlimmes mehr passieren, und wenn alle Polizeipräsidenten aller Staaten von Amerika hinter Ihnen her wären – das Deutsche Reich und der deutsche Kaiser machen sich immer ein Vergnügen und eine Ehre daraus, Ihnen dies Haus anzubieten."

Das war nun äußerst zuvorkommend von dem guten Grafen L., aber ich konnte ihn vor Aufregung kaum begrüßen und fragte atemlos, ob er wisse, was für eine Bewandtnis es mit der aristokratischen Mexikanerin habe?

"Ich verstehe nichts von alledem", sagte Graf L. und geleitete mich durch die Säle der Gesandtschaft zu seinem Privatsalon. "Die Gesandtschaft steht Ihnen natürlich zur Verfügung; tun Sie, als ob es Ihre Villa in Europa wäre. Rauchen Sie in Ruhe eine Zigarre mit mir, wenn Sie Lust haben, und lassen Sie uns beraten. Zuerst gestatten Sie, daß ich das offizielle Habit mit dem Hausrock vertausche."

Der Gesandte ließ mich einige Minuten mit meiner angezündeten Zigarre allein in dem breiten Lederklubsessel aus Elefantenhaut; und ich hatte Muße, mich etwas zu sammeln. Ein Dickhäuter muß man hier in Mexiko sein, dachte ich und fuhr über das Elefantenleder, Mexiko verlangt Dickhäuter und keine nervösen Europäer.

Dann kam der Graf zurück und schritt leicht auf den Zehenspitzen über den Parkettboden des Salons und sprach halblaut, als wolle er nicht von den Dienern gehört sein: "Wissen Sie, daß man in Ihrem Zimmer auf der Glorieta eine Dame gefunden hat, die arretiert worden ist? Mein Diener, der mir das eben mitteilte, behauptet, daß die Leute meinen, es sei die Mexikanerin, die man in Ameca-Meca vorfand, und die man dann bei Ihnen suchte."

Ich war rasch aufgestanden.

"Setzen Sie sich!" so beschwichtigte mich der Gesandte. "Es ist da jetzt nichts mehr zu machen. Die Dame ist ins Stadthaus gebracht worden. Man wird sie übrigens, wenn sie unschuldig ist, natürlich gleich wieder in Freiheit setzen."

Ich bestürmte nun den Grafen, seine ganze Macht aufzubieten, um mich zu Orla zu bringen und Orla die Freiheit wiedergeben zu lassen. "Die Dame ist meine Braut, sie ist natürlich nicht mehr Mexikanerin, sie ist dadurch bald Angehörige der deutschen Nation geworden; lassen Sie doch nichts unversucht, damit man mir meine Braut zurückgibt."

Der Gesandte war sehr überrascht über meine Verlobung und sagte, ich solle mir keine Sorge über das Schicksal meiner Braut machen. Sie würde in einer Stunde wieder freigelassen, sie sei ja unschuldig am Attentat auf den Präsidenten der Republik, und der Polizeipräsident habe sie nur vor dem Publikum schützen wollen. Denn der Attentäter habe sie als Mitwisserin genannt, und wenn das sich herumspräche, dann könne das Volk, das den Präsidenten sehr liebte, den Einfall bekommen, die junge Mexikanerin zu beschimpfen. Und da heute große Volksbelustigungen seien und viel Pulque getrunken würde, sei es immer besser, daß Orla sich auf dem Stadthaus aufhalte, als daß ihr vielleicht, wenn sie im Wagen über die Straße führe, von einem betrunkenen Volkshaufen Beschimpfungen angetan würden. Der Attentäter, den der Polizeipräsident kurz verhört habe, berufe sich übrigens auf die Mexikanerin: diese könne beweisen, daß er Enthüllungen machen werde, die ernstester Natur wären. Wenn man ihn nicht freilasse, dann würde er vor dem Richter Dinge enthüllen, die eine hochstehende Persönlichkeit als Mörder entlarven würden. Der Mann werde natürlich jetzt erst recht nicht freigelassen, da man jetzt die Enthüllungen fast mehr fürchte, als vorher das Attentat auf den Präsidenten der Republik. Vorläufig, da der Attentäter sich auf die junge Dame beriefe, und da beim ersten Verhör einige Reporter von Zeitungen zugegen gewesen wären, die der aufgeregten Neugier der Stadt Rechnung zu tragen hätten und es mitteilen müßten, daß eine junge Dame mit im Spiel sei – vorläufig bliebe dem Polizeipräsidenten keine andere Wahl, als die junge Dame im Stadthaus festzuhalten, damit die erregten Volksmassen sich nicht wegen des beabsichtigten Attentäters vorschnell an ihr rächten.

"Warten Sie jetzt alles Weitere ruhig auf der Gesandtschaft ab", meinte der Gesandte. Sie sind hier so sicher wie Ihre Braut es auf dem Stadthause ist. Denn niemand kann Ihnen hier und dort etwas anhaben. Ihre Wohnung an der Glorieta, wo man die Dame fand, ist jetzt von tausend Menschen belagert – Neugierigen aus der ganzen Stadt, die den Festnachmittag damit verbringen, das vermeintlicher Attentäternest zu beschauen, und die sich in immer größere Aufregung hineinreden. Sie könnten nicht nach Hause. Ihr Salon und Ihr Zimmer sind versiegelt, es stehen Wachen davor; das wurde angeordnet, damit man Ihnen Ihre Sachen nicht demoliere oder stehle."

Mir schwindelte. Ich war in ein immer enger werdendes Netz von Ungeheuerlichkeiten verwickelt und hatte nicht einen Faden zu der ganzen Verwirrung in der Hand.

Ich wiederholte nur stereotyp die Frage:

"Glauben Sie, Graf, daß der Abbé eines natürlichen Todes gestorben ist?"

Der Gesandte zuckte die Schultern, als wolle er dasselbe sagen, was der Sekretär und der Attaché mir schon vorher angedeutet hatten, daß es ein Mittel gäbe, das man in Mexiko "Tod, eile dich!" nenne.

"Der Abbé soll übrigens wieder ausgegraben und nochmals seziert werden; man traut dem Wissen des Gerichtsarztes nicht ganz, denn der andere Arzt, der damals auf der Straße vor dem Gerichtsarzt zuerst gerufen wurde, hat sich heute nochmals gemeldet und behauptet in allen Zeitungen, der Abbé sei einfach vergiftet worden. Beweise hat man noch keine."

Mir gruselte vor diesem Rattenkönig von monströsen Geheimnissen: – geheimnisvolle Drohbriefe, Vergiftung, Attentat, Haussuchungen und Verhaftungen – wo war der Schlüssel zu diesem Schreckensknäuel, der sich immer mehr verwickelte.

Gleich mexikanischen Mißgeburten sah mich diese Verwirrung mit vielen verrenkten Armen und vielen Menschen- und Tierköpfen an. Menschen, die zu Bestien und Ungeheuern verunstaltet waren – Ebenbilder ihrer ungestalten dämonischen Götzenbilder.

Ich mußte an den Jungen in San Juan denken, der mir im Staube nachgekeucht war und mir das gedrungene, aus Stein gehauene Götzenbild nachgetragen und es mir aufgepflanzt hatte, wenn ich mich umsah; wohin ich mich jetzt wendete, saß so ein verrenktes Götzenungeheuer auf meinen Wegen hier in Mexiko. Es war nicht mehr das Leben unter der Sonne, es war, als lebe die Welt hier ewig in der Geisterstunde der Mitternacht. Wie die Kraterlandschaft bei Ixtapalapa ein Herd von Höllentöpfen zu sein schien, so war ganz Mexiko heute eine Hölle für mich. Der Menschenfressergott, der in Ixtapalapa hauste, schickte mir jetzt noch seine Schlangen täglich bis in die Hauptstadt nach und wollte mich vernichten; denn ich wußte es ja nur zu gut, daß ich nicht ein Heiliger war, wie es die naiven Indianerleute damals in der Nacht verkündet hatten.

Orla schien mich also entweder besucht zu haben, um vor der Rache des Polizeipräsidenten zu flüchten, vielleicht auch, um die zurückerhaltenen Briefe ihrer Mutter bei mir zu verwahren, oder sie hatte mich überhaupt nur besuchen wollen, und sie konnte nicht ahnen, daß man sie bei mir verhaften würde. Der Polizeipräsident hatte also überall seine Spione gehabt und wußte von unseren Zusammenkünften. Natürlich mußte er das wissen, denn man hatte uns ja ganz öffentlich zusammen auf dem Paseo reiten sehen. Oder hatte uns die Logenschließerin im Theater an einen seiner Spione verraten? Oder hatte Orlas Kutscher, der sie an jenem einen Abend zu mir fuhr, geplaudert? Es war ja leicht, zu entdecken, für wen sich Orla interessierte, da sie neulich nach dem Stiergefecht mitten im Regen ihren Wagen mit meinem vertauscht hatte und dann aus meinem Wagen ausgestiegen war. Das waren alles Unüberlegtheiten, die nur Verliebten passieren können, und es wäre lächerlich gewesen, wenn ein Polizeipräsident von Mexiko, der sich nicht entloben will, nicht in Erfahrung bringen könnte, mit wem sich seine Braut verloben möchte.

Ich brauchte mich ja nicht gerade um Orla zu ängstigen, aber es war doch sehr aufregend, zu wissen, daß der Polizeipräsident Orla für ein paar Stunden in seiner Macht hatte, und daß bei seiner streberischen, ehrgeizigen und gewalttätigen Natur das junge Mädchen sehr unbehagliche Stunden vor sich haben könnte.

Oh, wenn man sich auf der Erde nur mehr ängstigen würde, als man es tut – man würde vielleicht manches Unglück abwenden durch eifrigere Angst und eifrigere Aufgeregtheit. Statt sich stoischer Beruhigung, lähmender Beherrschung und diplomatisch kühler Überlegung zu befleißigen, sollte man sich wie die Tiere von den Angstzuständen fortreißen und aufwühlen lassen und heftiger empfinden und sich heftiger sorgen!

Diese Selbstvorwürfe, daß ich mich nicht genügend meiner Angst um Orla hingegeben hätte, mußte ich mir leider später, nach dem Hereinbruch einer nie wieder gutzumachenden Katastrophe, wiederholen. Ich hätte mich an diesem Nachmittag nicht von der Ruhe und Würde des Gesandten und des Gesandtschaftshauses betäuben lassen dürfen. Ich hätte eher verwildert und unwürdig mich von der Angst verzerren und mitreißen lassen sollen; ich hätte mich nicht als ein Schützling des Deutschen Reiches in dem kaiserlichen Hause besänftigen lassen sollen.

Als ich erfahren hatte, daß Orlas bei mir gewesen und bei mir verhaftet worden war – wahrscheinlich gerade in dem Augenblick, als ich ahnungslos die Soldaten vor meinem Haus um Auskunft fragte und dann ins Café ging, um zur Gesandtschaft zu telephonieren, da hätte ich mich nicht zur Gesandtschaft bringen lassen dürfen. Ich hätte in eigener Person zum Präsidenten der Republik, der mir freundlich gesinnt war, eilen und auf der Freilassung meiner Braut bestehen müssen.

Was hatte mich nur abgehalten, dieses zu tun? – Unzählige unglückselige Zufälle. Erstens, daß es Festtag war und der Präsident heute feiern und nicht in der Feier gestört sein wollte. Zweitens, daß man den Präsidenten der Republik nicht mehr an das peinliche Attentat erinnern sollte, daß einen Mißton in den Vormittag des Festes gebracht hatte, und das man ihm nun am Nachmittag nicht mit Nachdruck von neuem nahebringen sollte. Endlich hatte doch Orla eigentlich nichts zu fürchten; ich glaubte, wie der deutsche Gesandte, sie sicher von sicheren Leuten umgeben und im Stadthaus so gut aufgehoben, wie ich es in der Gesandtschaft war. Bis sie dann in der Nacht die Stadt verlassen könnte – bis dahin glaubte ich sie von Menschen und Schutzwachen umgeben.

Denn konnte ich vorausschauen, was nie zuvor die Erde hervorgebracht hatte? Könnten wir uns einen Krater voll Feuer in der Erde oder einen Ozean aus Salzwasser denken, wenn wir noch nie einen Krater, Feuer und Ozean gesehen hätten?

Konnte ich vorausahnen, daß der Polizeipräsident eine der Menschenbestien war, von denen, seit die Erde besteht, kaum zwei Exemplare gelebt haben?

Der Gesandte und der Attaché gaben sich alle Mühe, mir zu erklären, daß jeder Schritt von meiner Seite nur störend und aufreizend auf den Polizeipräsidenten wirken könnte; da ja gar nichts mehr gegen die junge Mexikanerin vorläge, könnte sie nicht länger als bis zum Abend im Stadthause festgehalten werden. So ließ ich mich schließlich überzeugen, daß ich mich ruhig verhalten müßte. Ich sollte alles seinen ruhigen Gang gehen lassen und die Dinge lachen und von der heiteren Seite nehmen, da der Polizeipräsident sich bis morgen durch diese Gefangennahme seiner eigenen Braut lächerlich genug gemacht haben würde, so daß ich dann ruhig zusehen könnte, denn ich würde morgen alle Lacher in der Hauptstadt auf meiner Seite haben. Der Polizeipräsident dränge sich bei jeder Gelegenheit als ein Ordensjäger und als gewaltiger Streber vor, der sich immer bemerkbar machen wolle, auch wenn dieses Aufsehen mit unrechten Mitteln erreicht werde; deshalb werden schon morgen alle Welt den Mann verlachen, der seine frühere Braut nicht geschont hätte, um nur in der Gunst der Regierung zu steigen.

"Aber vielleicht ist jener Attentäter, jener Absender der Drohbriefe, die die Dame in den letzten Tagen erhielt – vielleicht ist er ein Schuft und hat die Dame nur genannt, da man Briefe von ihm bei ihr gefunden hat, und will sich mit ihr wichtig machen und tun, als ob er Enthüllungen von Geheimnissen zu machen hätte, die er wahrscheinlich gar nicht besitzt. Oder ist er vielleicht der gedungene Mörder des Abbés? Denn ein Mensch, der sagte, er habe den Tod des Abbés in den Händen, er könne den Mord begehen und den Mord für Geld verhindern, schrieb in den Tagen vor dem Tode des Abbés viele Briefe an die junge Dame und an den Abbé.

Es sind so viel mystische Möglichkeiten vorhanden, daß ich nicht ruhig hier sitzen kann, ich muß auf das Stadthaus und ich bitte Sie, Graf L., verschaffen Sie mir durch den Präsidenten der Republik die Erlaubnis, einen Augenblick mit den jungen Mexikanerin zu sprechen."

Der Graf lächelte und beruhigte mich mit seinem fortwährenden Gleichmut und seinem Lächeln.

Er ließ mir einen Lemon-Squash nach dem andern durch die Diener bringen, und als dieser Zitronensaft, in dem ich übrigens Dosen von Brom zur Beruhigung meiner Nerven herausschmeckte, gewirkt hatte und ich mich dünnblütig und sanftmütig geworden fühlte, beeilte er sich, mir eine Partie Schach vorzuschlagen. Und da er wußte, daß ich ein leidenschaftlicher Schachspieler bin, unterhielt ich mich in Gemeinschaft mit dem Attaché bis zur Einbruch der Dunkelheit bei diesem Spiel, das mich diesen Nachmittag mit seinem Lärm, seinen Schrecknissen und Überraschungen ein wenig vergessen ließ.

Ehe es dunkel wurde, kam der Sekretär herein und teilte uns dreien, die wir noch teils spielend, teils zusehend beim Schachbrett saßen, mit, er habe die Nachricht erhalten, daß die Mexikanerin von ihrer Mutter am Stadthause abgeholt worden sei, und daß sich das Volk allgemein über das Attentat beruhigt habe. Die beiden Damen seien nach Ameca-Meca zurückgekehrt. Die Glorieta di Colon sei jetzt auch von Menschen frei. Der Polizeipräsident habe die Siegel an meinen Türen fortnehmen und die Wachen abziehen lassen, da alles in schönster Ruhe und Ordnung zu verlaufen scheine."

Sie werden aber in dieser Nacht doch noch in der Gesandtschaft Wohnung nehmen müssen. Ich hafte dem deutschen Kaiser und Deutschland mit meiner Person für Ihr Wohlergehen", sagte der Gesandte rasch zu mir. "Wollen Sie einem meiner Diener Auftrag geben, daß er Ihnen Ihre Toilettensachen für die Nacht holt, denn ich kann es nicht verantworten, daß Sie gleich wieder in Ihre Wohnung zurückkehren; wenigstens in dieser Nacht bleiben Sie, bitte, noch unser Gast auf der Botschaft. Man weiß nicht, ob Ihnen nicht jemand etwas Übles antun könnte. Sie sind der Rivale des Polizeipräsidenten, müssen Sie bedenken; das dürfen Sie nicht aus dem Auge verlieren und müssen bis zu Ihrer Abreise noch sehr auf der Hut sein."

Ich dachte wieder an das gräßliche mexikanische Wort "Tod, eile dich!", das hier wie ein verkappter Meuchelmörder hinter schwarzer Larve täglich umherging. Niemand war sicher vor dem "Tod, eile dich".

Ich stimmte den Gesandten zu und atmete auf bei dem Gedanken, daß Orla nun wieder bei ihrer Mutter in Ameca-Meca war und ich morgen Nachricht von ihr haben würde.

In meiner Wohnung ließ ich durch einen Gesandtschaftsdiener sagen, daß ich auf der deutschen Gesandtschaft sei, und daß man mir Briefe dorthin senden solle. Dann richtete ich mich in zwei mir zugewiesenen Zimmern für die Nacht ein.

Der Gesandte und der Attaché, die am Abend bei dem offiziellen Diner im Schloß Chapultepec nicht fehlen durften, mußten mich um sechs Uhr, gleich nach Sonnenuntergang, allein lassen, und ich versprach ihnen, die Gesandtschaft heute nicht zu verlassen und mich mit Lesen und Rauchen zu unterhalten.

Ich nahm dann das Abendessen allein ein; dann setzte ich mich ans Klavier und spielte im Gesellschaftssalon aus einigen Notenheften, die ich da fand. Umgeben von den lebensgroßen Porträts der deutschen Kaiserfamilie, Bismarcks und Moltkes, die rings von den Wänden sahen, und beim Glanze der elektrischen Kronleuchter fühlte ich mich für eine Weile ganz in Europa zu Hause; es war mir, als läge Mexiko weit irgendwo im Westen hinter dem gelben Sonnenuntergang. Da sah ich es im Geist wie ein Plateau aus Goldplatten liegen, so wie ich es mir als Knabe immer vorgestellt hatte, wenn man mir von den goldenen Atztekenkönigen und von Cortez und seinen Abenteuern erzählt hatte. Da hatte damals für mich dieses golddurchglänzte Land im Westen wie eine Bank aus Sonnenuntergangswolken gelegen und abends die Fenster der fränkischen Stadt Würzburg beleuchtet, in der ich geboren war.

Alle dunkeln Stadtfenster am Main spiegelten dann das ferne Goldreich wider, und ich sehnte mich viele Abende, nachdem ich die Abenteuer des Spaniers Cortez gelesen hatte, nach dem Lande des goldenen Götzen, nach dem Lande, das ich mir mit Goldplatten gepflastert dachte.

Ich spielte jetzt Schubertsche Lieder und spielte eine Beethoven-Sonate und spielte mir noch einige wenige Takte von Grieg. Dann dachte ich an die Indianerin und spielte die singenden Takte des Ausrufes: Tomales caliente, con dulce, con carne, ehee.

Und während ich den Tönen zuhörte, stieg mir plötzlich eine unsagbare Trauer ins Herz; ich fühlte mich tief beklommen; ich wußte nicht: war es die Stille des Gesandtschaftshauses, war es die Sehnsucht nach Orla – ich fühlte meine Herz zusammengeschnürt, es war, als sei jemand hinter mich getreten, als faßten mich von rückwärts zwei feste Hände um den Hals und wollten mich erwürgen. Ich fühlte Angstschweiß auf meiner Stirn, ich stand vom Klavier auf, klingelte dem Diener und bat um eine Glas Eiswasser.

"Der Herr sehen so blaß aus; soll ich vielleicht den Gesandtschaftsarzt rufen?" fragte der Diener.

Ich dankte. Und er ging lautlos. Ich war froh, daß der Diener rheinischen Dialekt gesprochen hatte; in diesem Augenblick klang das, als spräche eine der Heimaterdschollen zu mir, und die Angst ließ nach; ich konnte aber das Eiswasser nicht austrinken.

Ich sah auf die Kaminuhr: es war elf Uhr. Es würde doch Orla nichts zugestoßen sein in Ameca-Meca? Ich lächelte über meine Angst, als ob ich der deutsche Gesandte wäre, der als echter Deutscher keine Angst zeigte und sich keine Angst eingestand.

Ich betrachtete der Reihe nach den deutschen Kaiser, die Kaiserin, den Kronprinzen, die Kronprinzessin, Bismarck und Moltke und ging vor den Wänden auf und ab und ließ die Augen der Großen des Deutschen Reiches aus ihrem Rahmen heraus ermutigend auf mein geängstigtes Herz schauen.

Ich war einer so angstbeklommenen Stimmung verfallen, daß die Zigarre, die ich mir anzündete, nicht brennen wollte. Ich verfiel in Gedanken und ging auf und ab und freute mich immer, wenn ich die Kaiserin und die Kronprinzessin betrachtete. Es war mir, als wäre durch die Nähe der hohen Frauen der Schrecken, die Angst gebannt, die sich zu allen Fenstern, aus allen Wänden wie ein fremder Metallgeruch hereinschlich. Immer, wenn ich die Gesichter der Damen ansah, beruhigte mich das mehr als der Anblick der starken mutigen Männergestalten.

Wenn Frauen mit dem Leben fertig werden können, ohne zu zittern, ohne Angst, ohne zu klagen, dann mußt du es auch können. Ich ging auf und ab und sprach eifrig auf mich ein und nickte dabei der Kaiserin und der Kronprinzessin zu, als hätte ich eben die Damen gesprochen, und nickte zu den Bemerkungen, die sie über mich an den Wänden da oben zu machen schienen.

"Es ist etwas passiert", sagte plötzlich mein Herz feierlich. "Entweder ist ein Erdbeben im Anzug, und ich spüre es wie die Tiere voraus, oder es ist irgendwo in Europa ein mir nahestehender Mensch gestorben, und in der Einsamkeit kommt die Kunde in mein Herz, und das weint bereits über den fernen Trauerfall, während der Verstand ein schwerfälliger Bauer ist und erst trauert, wenn er morgen oder in vierzehn Tagen die Nachricht durch die Post erfährt."

Ich nahm mein Notizbuch und schrieb: "Elf Uhr, 17. Sept. abends Angstgefühl, ähnlich einer großen Trauer."

Dieses schrieb ich klar und deutlich in den Kalender meines Tagebuches ein.

Nun war mir etwas freier, seit ich mit Bleistift und Papier meine Angst sozusagen statistisch festgehalten hatte.

Ich hörte am offenen Fenster über die Bäume des Gesandtschaftsparkes hinweg die Musik von der Alameda und die von der Plaza, und die beiden Melodien vermischten sich nicht in der Luft unter den Nachtsternen – sie standen wie ein Hexenlärm bald über der fernen Alameda, bald über der Plaza.

Diese zwei sich gleichsam in den Lüften streifenden Musikbanden kämpften je nach den Luftströmungen um die Oberhand, und es war bald wie das Gekläff einer Meute von hundert Blechinstrumenten, bald das Miauen von hundert Geigen und Flöten. Es war, als vervielfältige sich die Musik unter den Sternen, als gäbe jeder Stern sein Echo dazu, so daß der Himmel in dieser Nacht voll von Musikinstrumenten zu hängen schien.

Bei diesem Lärm konnte ich nicht schlafen gehen; ich hielt es für klüger, einen Spaziergang nach der Alameda oder nach der Plaza zu machen. Der Gesandtschaftssaal mit den großen offiziellen Figuren war mir jetzt lästig.

Ich sehnte mich nach dem Mondlicht in meinem Salon an der Glorieta, wo ich im Schaukelstuhl Orla zum erstenmal bei mir gesehen hatte, und ich sehnte mich nach dem mystischen Straßensang der Indianerin, der nicht wie das Ausrufen von Kuchen klang, sondern wie eine gesungene rhythmische Beschwörungsformel.

Ja, ich wollte mich unter die Indianer auf der Plaza mischen, den Liedern zuhören und den Volksbelustigungen zusehen.

Ich hörte das Knattern von Raketen in der Ferne; das Feuerwerk, das die Stadt dem Volk zur Verschönerung des Nationalfestes darbot, war mitten im Abbrennen begriffen. –

Ein paar Minuten später stand ich am Ausgang der Calle San Franzisko, die auf die Plaza mündet.

Der große Platz war eine zischende taghelle Feuerwelt geworden. An Hunderten von hohen Masten brannten die lichterlohen Garben von kunstvollen Feuerwerkskörpern. Zwölf Masten trugen an ihren Spitzen, knallend und paffend und gewaltig fauchend, die zwölf Bilder des Tierkreises. An anderen Masten flammten die Wappen aller mexikanischen Provinzen. An andern feuerfarbige Papageien aus Glühbirnen, Adler, Leoparden, Drachen, Dämonenmasken und künstliche Blumensträuße; viele Lichtfiguren waren aus grünen, gelben, roten, blauen Glühbirnen gebildet, andere Masten stellten flammenwehende Palmen dar und glühende Sonnenkugeln, umgeben von allen Planeten und von Kometen.

Diese helle Welt bewegte sich, flimmerte, flammte, zuckte, explodierte, warf Feuerdämpfe in die Nacht und kreiselte um die Spitzen der hohen Masten.

Darunter, Gesicht bei Gesicht, drängten sich Tausende von weiß gekleideten Indianern, die alle zur Höhe sahen; und ihre Augen spiegelten das Feuerspiel, ebenso alle gläsernen Fensterreihen der Häuser rings um die Plaza, die aussahen, als wären es Tausende von Ofenluken, die offen stünden und ihre Glut in langen Reihen zeigten.

Unter dem Feuerlärm spielte die Musik und begleitete mit rasselnden Becken und Pauken den Wirbeltanz der künstlichen Feuerspiele rund um die Bäume des Platzes.

Die Kathedrale lag wie in die Luft entrückt, von Feuerschnörkeln umgeben, als wäre sie heute noch der Tempel der aztekischen Göttergrimassen.

Als sei die Hölle auf die Erde heraufgestiegen, so verwirrend wirkten die lodernden, prasselnden Feuerwerkskörper, die sich fortwährend in ihren Gestalten verwandelten. Es war, als mündeten alle Krater von Mexiko in dieser Nacht hier auf diesem Platze mit feuerspeienden Mäulern und ließen Funken regnen und rote Lavaströme anschwellen; denn die Nachtwolken am Himmel flossen gleich roten Lavamassen über die Türme der Kathedrale in die Ferne.

Bis Mitternacht dauerte dieser Hexentanz der Feuergarben, der Raketen und der Musik. Dann, als die Masten dunkel standen, die Bäume wieder Bäume geworden waren und keine Haufen von roten Kupferlücken mehr waren und alle Häuser und die Kathedrale bei den Straßenlaternen wieder nüchtern nebeneinander standen, da begann erst für die indianische Bevölkerung das eigentliche Nachtfest. Hunderte von roten Häufchen glühender Holzkohlen glimmten zwischen den Indianergruppen, auf den kleinen Rasenvierecken, zwischen den Wegen und Blumenbeeten des gartenartig bepflanzten Platzes. Auf den Rändern der Springbrunnenbassins aufgereiht, saßen Indianer, andere im Gras, andere unter den Bäumen, andere an dem Rand der Trottoire. Sie saßen still mit glutbeschienenen Gesichtern, einer schürte die Glut, einer röstete Bananen, einer schenkte Pulque aus Krügen ein, einer oder mehrere zupften Mandolinen, und viele im Kreis sangen summend, melodisch dumpf, als sängen sie keine Sprache, als sängen sie wortlose Erinnerungen, die sie je nach dem Gefühl nur in einem oder zwei Lauten der gezupften Mandoline zusangen. Sie wiegten die Köpfe, und unter dem Schal der Mütter schliefen die Kinder wie in einem winzigen Zelt, sie waren gleichsam unter den Beschwörungen der uralten einfachen Lieder eingeschlafen und waren vielleicht die einzigen hier am Platze, die im Traum, während die Alten Lieder sangen, auch die alten Zeiten sahen, ohne zu wissen, daß es neue und alte Zeiten gab.

Ich betrachtete den alles umarmenden Nachthimmel, dessen Sterne in den Parkbäumen saßen wie die Augen von Millionen von Indianern, die da oben über dem Platze herab zu ihren Enkeln und Urenkeln schauten und den gesummten leisen Liedern und den glucksenden Saiten der sanften Mandolinen zuhörten, welche sanft klangen wie unterdrückte Seufzer ohnmächtiger tyrannisierter Menschen. Als das Höllenfeuerwerk vorhin über den Bäumen in die Nacht prasselte, da war‘s gewesen, als machten die Nachtgeister sich Luft und tanzten entfesselt, und alle Augen auf der Plaza sahen hinauf in die tanzende Feuerwelt, als seien die indianischen Gottheiten mit Schlangen und Blitzen wiedergekehrt. Nun war es dunkel, der Götterspuk war verflogen, die Luft roch noch nach Pulver und Salpeter und Schwefel und war doppelt dunkel. Und nun weilten aller Augen wieder hier auf dem Platz am Boden, und nur die Sterne sahen von weitem wie der Rest eines Feuerwerkes aus, das sich in der Nacht verflüchtigt hatte. Die Indianer saßen wieder, von ihren alten Göttern verlassen, auf dem Rasen, melancholisch, zusammengekauert, in Gruppen, aus denen man keinen Laut, kein Gelächter hörte; nur wenn man näher kam, sah man, wie einige Köpfe wiegten und zu der dünnen Mandoline murmelnde Laute sangen – Laute, die keine Worte waren, Laute wie Blätterrascheln oder wie das kochende Geräusch eines summenden Kessels über dem glühenden Holzkohlenhäufchen.

Die meisten der hier kauernden Gruppen waren Indianer, die von den Feldern, aus ihren Erdhütten und Erddörfern, aus Maisfeldern und Agavenpflanzungen draußen vor der Stadt Mexiko hereingewandert waren – die Gärtnerfamilien aus Santa Anita, der schwimmenden Gemüsegartenstadt draußen. Anita Santa ist ein Erdstrich, durchzogen von Kanälen, die zwischen den Gärten anstelle von Wegen laufen, und wo eine Welt von Kähnen täglich verkehrt. Von dort kamen diese friedlichen Gruppen, die sogar jetzt zur Nachtzeit hier auf dem Stadtplatz blieben und erst im anbrechenden Morgen heimkehren wollten. Sie sahen alle so unscheinbar dunkel aus in ihren weißen Hosen und Hemden, als wären sie Gruppen aus grauer Erde, aus Gartenerde, und könnten zerfallen, wenn man sie anstieße. Nichts an ihnen leistete Widerstand, ihre Haltung war weder selbstbewußt noch bewußt, sie lebten wie Pflanzen und Tiere und Wolken ohne Bewußtsein von sich selbst, bang vor dem Chaos, das sich Welt nannte, bang vor den Herren des Landes, die sich immer noch als Europäer fühlten, wenn sich auch die hellfarbigen spanischen Abkömmlinge Mexikaner nannten. Die Indianer widersprachen ihnen nicht, aber es lag eine Zugehörigkeit zur mexikanischen Muttererde im Schweigen der roten Rasse, mehr als in allem dem lauten Selbstbewußtsein, mit dem die herrischen, von Europa abstammenden Mexikaner auftraten.

Ich fühlte mich auf dem Stadtplatz, den nur niedere Anpflanzungen und wenig hohe Bäume schmückten, wie in einem tiefen indianischen Urwald; als ich langsam von Kohlenfeuer zu Feuer ging, da hatte ich, von den Mandolinen und Singlauten umgeben, das Bewußtsein verloren, daß ich mich mitten in einer Großstadt befand.

Es war gegen ein Uhr nachts, als ich von der Urwaldstimmung langsam Abschied nehmend, durch die leeren Straßen zur deutschen Gesandtschaft zurückging. Hinter mir auf dem Stadtplatz war das Gewimmel der Menschen noch groß und hatte mich alles Unangenehme und alle Sorge dieses Tages vergessen lassen. In den stillen Straßen, wo an den Straßenecken mexikanische Polizisten postiert waren, jeder mit einem Totschläger in der Hand und neben sich auf dem Pflaster eine Blendlaterne, da kam wieder das Europaselbstbewußtsein in meine Urwaldstimmung, und ich dachte an Orla, an die Gefahr der Verhaftung heute nachmittag, an die Haussuchung, an das Attentat.

Plötzlich hörte ich von einer Straße, die ich eben verlassen hatte, den Signalpfiff eines Polizisten. Jeder Schutzmann in der Hauptstadt Mexiko hat eine Pfeife, und alle Viertelstunden beginnt das Signalpfeifen von einer anderen Straßenecke zur andern und setzt sich durch die ganze Stadt fort und dauert endlos in die Nachtstille, als ob große wilde Vögel einander zupfiffen und antworteten ohne Ende.

Dieses Pfeifen störte mich zuerst gar nicht. Ich hatte es jede Nacht gehört, solange ich in Mexiko war. Aber das hatte ich nie gesehen, daß die Polizisten dabei ihre Posten an den Straßenecken verließen und durch die Straßen rannten. Ich sah jetzt von allen Ecken plötzlich Polizisten herbeieilen, als wäre da eine Jagd nach Räubern. Sie rannten alle nach einer und derselben Richtung. Ich war aber schon von so viel Aufregung heute müde gemacht worden, daß es mir ganz gleichgültig war, wohin die Polizisten eilten, und ich empfand auch gar keine Neugier, zu wissen, was sich da Unvorhergesehenes ereignet hätte. Ich ging ganz ruhig meines Weges weiter, passierte den Wachtposten der Gesandtschaft, und als der Portier mir das Tor öffnete, hatte ich längst die Signalpfiffe, die sich noch immer vereinzelt von Straße zu Straße wiederholten, und die Polizisten vergessen.

Ein Diener begleitete mich auf mein Zimmer; er sagte mir, daß der Graf L. auch erst vor einer Stunde heimgekehrt sei und nach mir gefragt habe. Als der Diener mich in meine erleuchteten Zimmer geführt und mir mit seinem rheinländischen Dialekt gute Nacht gewünscht hatte und ich allein war und Orlas Briefe aus meinem Rock nahm und auf den Nachttisch neben meinem Bett legte, wurde mir wieder weh zumute, fast ebenso weh, wie es mir vorher im großen Saal um elf Uhr gewesen war, wo ich Klavier gespielt hatte. Jetzt war es mir wieder, als stünde jemand hinter mir und erwürge mich von rückwärts, und mein Kehlkopf wurde mir wieder so eng und trocken, daß ich glaubte, ich müsse den Hals voll Rauch und Staub haben.

Gepeinigt und erschöpft, legte ich mich halb ausgekleidet auf mein Bett. Neben mir über dem Nachttisch war ein Haustelephon angebracht. Ich starrte dieses Telephon an, als könne ich jeden Augenblick von dort eine Aufklärung erhalten, warum mir so bedrückt und tief traurig der Atem stocke; und mir war, als müsse ich in dieser Nacht noch von allem Abschied nehmen.

Plötzlich klingelt das Telephon wirklich.

Ich glaubte erst, ich hätte auf einen Knopf gedrückt, und hielt das Klingeln für einen Spuk und erschrak und war zugleich wie erlöst, weil sich nun jemand um mich zu kümmern schien.

Graf L. fragte aus seinem Zimmer, ob ich schon zu Hause sei.

Ich antwortete ihm sofort, ich wäre kurz vorher gekommen.

"Das freut mich, daß Sie da sind. Ich hatte mir schon Angst gemacht, es könnte Ihnen etwas zugestoßen sein."

Ich lachte in das Telephon und dankte ihm für seine Fürsorge und meinte: "Auf der Plaza bei den Indianern war es nicht unsicherer als hier auf der Gesandtschaft!"

"Nun, das freut mich!" sagte der Graf und wünschte mir eine gute Nacht.

Ich war dann etwas beruhigter, da ich doch wenigstens eine Menschenstimme gehört hatte. Ich entdeckte nun auch auf meinem Tisch beim Sofa eine Schale voll Früchten und eine Karaffe voll Wein, die man mir für die Nacht hereingestellt hatte, und ich bewunderte die Aufmerksamkeit des Gesandtschaftspersonals.

Die Früchte löschten ein wenig meinen Durst. Ein paar Glas Wein gaben mir die Phantasie, daß ich soeben aus sehr fröhlicher Gesellschaft heimgekehrt wäre. Ich bemerkte, daß sehr schöne Bilder von Rennpferden an den Wänden hingen. Ich nahm mir vor, morgen meine "Stella" satteln zu lassen und auszureiten, vielleicht träfe ich auf dem Paseo Orla zu Pferd. Ich sah uns schon im Geist wieder über die Hochebene, durch die abgeernteten Maisfelder reiten, immer weiter, immer weiter, bis der Staub der Höhlen in den ausgetrockneten Sümpfen uns umschlang und Orla unsichtbar wurde und ich vergebens kämpfte, aus dem Staub, aus dem Grau der Erdwolken an den blauen Himmel zu kommen. Ich erstickte im Staube und trauerte, daß Orla mit mir ersticken mußte, und daß ich nun nie mehr Europa wiedersehen würde. "Nie mehr wirst du Europa sehen!" Dieses wiederholte ich mir, während ich im Traum am Staub zu sterben meinte.

Ich erwachte erschöpft.

Das elektrische Licht brannte noch, und draußen war es heller Tag.

Ich hatte das Gefühl, daß das Erwachen und das Nichtgestorbensein nicht einmal sehr angenehm wären. Ich hatte so lange im Staub mit dem Ersticken gekämpft, daß mir der Schweiß auf der Stirn stand, als hätte ich mit einem Mörder gerungen.

Warum warst du denn traurig darüber, daß du Europa nicht wiedersehen solltest? Warum fragtest du im Traum nicht danach, ob du Orla wiedersehen würdest?

Ich setzte mich auf und horchte. Mir war, als ob heute nacht sehr viel Leben im Gesandtschaftspalais gewesen sei; ich hatte im Hof Leute kommen und gehen hören und wußte es im Schlaf genau, daß sehr viel um mich vorging, aber ich wollte im Traum nicht vom Pferde steigen. Denn Orla ritt mir immer voraus, und ich wollte sie einholen.

Das Telephon klingelte wieder.

Der Sekretär war am Telephon und bat, daß ich mich schnell ankleiden möchte, der Graf L. möchte mich dringend sprechen, noch bevor er ausritte.

Ich fragte, ob irgendwo in der Stadt ein Unglück passiert sei. Aber das Telephon versagte. Ich hörte niemand mehr und eilte, mich schnell abzuduschen und mich schleunigst anzukleiden.

Meine Finger waren aber fast zu schwach von dem schweren Erstickungstraum; ich brauchte mehr Zeit als jemals und mußte dem Diener klingeln, damit er mir die Stiefel anziehe. Ich war schwindelig; so schaukelte der Zimmerboden vor meinen Augen. Ich trank ein Glas Eiswasser, tat ein paar kräftige Atemzüge am offenen Fenster und eilte dann, mich zusammenraffend, den Korridor entlang nach dem Privatsalon des Gesandten, wohin mich sein Kammerdiener führte.

Das weitere der Reihenfolge nach zu erzählen, ist mir heute noch ganz unmöglich.

Ich sehe nur immer den graublauen Ledersessel aus Elefantenhaut, in dem ich saß. Ich war vorher nie in meinem Leben ohnmächtig gewesen. Aber ich sehe mich plötzlich umgeben von Ärzten, Dienern und dem Gesandten, ich sehe die weißen, blendenden Tücher von Kompressen und sehe deutlich einen Eimer voll mit mattweißem Eis; ich fühlte aber kein Eis, alles war Feuer, überall war das große Feuerwerk, daß jetzt nicht über der Plaza, sondern an der Zimmerdecke senkrecht über mir abgebrannt wurde.

Ich dachte nur: Aber warum denn Feuerwerk am hellen Tag? Machen Sie doch die Fensterladen zu, die Leute werden glauben, die Gesandtschaft brennt. Das Eis wäre wahrscheinlich da, um die von der Decke herabfallenden Funken aufzufangen, damit keine Brandflecken auf dem Parkettboden entstünden, dachte ich. Es war aber doch seltsam, daß alle Feuerkörper in den einen einzigen Eimer fielen.

Und noch seltsamer war dies: je länger ich das Eis ansah, desto feuriger wurde auch das Eis. Es verwandelte sich im Eimer in Kohlenglut.

Der Arzt, der Diener der Graf L. und der Sekretär, alle waren so dunkel im Gesicht. Alle waren Indianer. Es war nirgends mehr ein heller Europäer im Zimmer zu sehen; ah – das Feuerwerk hatte alle Europäer vernichtet. Ganz Mexiko war ein einziges Feuerwerk geworden und brannte vor meinen Augen prasselnd ab. Auch die Indianer verbrannten, das Feuer fiel jetzt von der Decke auf meinen ganzen Leib; ich erschien mir hell, als strahle ich Feuer aus meinen Gliedern. Ich brannte und verbrannte und wurde zu Feuer. Und nie mehr sollte ich Europa sehen! dachte ich immer.

Ich begann zu schluchzen. Ich weinte mitten im Feuer. Ich löschte mit meinen Tränen das Feuer. Es verkroch sich. Es wurde müde und schwach. Und immer, wenn es wieder aufflackern und nach mir greifen wollte, dann stieg mir ein Schluchzen, eine Sehnsucht nach der Heimat, eine Sehnsucht nach Europa aus meinem Innern. Und mit dem Ruf: "Ich will jetzt zurück, ich will nach Europa, ich will fort, ich bin ein Europäer, ich bin ein Bürger von Europa, und dieses mexikanische Feuerwerk darf mich nicht ersticken", mit diesem Ruf löschte ich die Flammen. Sie wurden zu tausend Feueradern, dann zu tausend Funken, dann wurde es Tag. Es dämmerte sacht und wurde hell. Alles wurde wieder ruhig, irdisch, und das Ungeheuerliche hatte sich irgendwohin verkrochen.

Vielleicht sitzt das Ungeheuerliche hinter den Bildern der Rennpferde an den Wänden, dachte ich und fragte den Diener und den Arzt.

Sie nahmen die Bilder von den Wänden, und man trug die Rennpferde aus dem Zimmer.

Ich sah, daß ich im Schlafzimmer neben dem Telephon lag.

Vielleicht sitzt das Ungeheuerliche im Telephon, reflektierte ich und fürchtete mich vor dem kleinen lackierten Kasten, der bei Tag und bei Nacht klingeln und reden konnte.

Man schraubte den Kasten ab. Ich sah Hände, die das taten. Ich sah den Schraubenzieher, der die Schrauben drehte. Der Stahl der Schraubenziehers konnte auch ein Messer sein... "Neunzehn Messer!" rief ich laut. Der Arzt gab mir zu trinken. Ich sah dann nichts mehr und wollte einschlafen. "Das Morphium hat gleich gewirkt", hörte ich den Diener mit dem rheinischen Dialekt sagen...

Jemand rief: "Tod, eile dich!"

Diesen Ruf hörte ich öfters von den Wänden hallen. Dann erschien gewöhnlich kurz darauf das Gesicht einer Krankenschwester, die mir zu trinken gab. Viele Krankenschwestern wechselten ab, und allmählich hörte ich den Ruf "Tod, eile dich!" nur noch aus weiter Ferne, als würde das über den Dächern der nächsten Straßen gerufen.

Eines Tages dachte ich: "Ich muß aber schon sehr lange krank sein, weil ich so viele verschiedene Krankenschwestern gesehen habe."

"Wie lange bin ich schon krank?" fragte ich die Schwester, die mir mit einem Palmfächer die Fliegen vom Gesicht jagte.

"Beinah sechs Wochen", sagte sie und lächelte. "Aber nun sind Sie bald so gesund, daß Sie auf das Land und dann nach Europa zurückreisen dürfen, hat der Arzt heute gesagt."

"Wie heißt das Spital, in dem ich krank liege?" fragte ich. –

"Sie sind in keinem Spital. Sie sind immer noch in der deutschen Gesandtschaft. Man wollte Sie in kein Spital bringen. Man durfte es auch nicht. Sehen Sie, hier auf dem Nachttisch liegen lauter Telegramme an Sie aus Europa. Der deutsche Kaiser und Kronprinz haben bereits mehrmals nach Ihrem Befinden fragen lassen. Der Gesandte hatte ganz dringende Anweisung erhalten, daß Sie in der deutschen Gesandtschaft gepflegt werden müßten, bis Sie zur Abreise kräftig genug wären." Die Krankenschwester lächelte geheimnisvoll und sagte: "Man fürchtete vielleicht, daß Sie in Ihren Fiebergesprächen Staatsgeheimnisse ausplaudern könnten!"

"Wer hat denn in all den Tagen immer: ‚Tod, eile dich!‘ gerufen?"

"Oh, das waren Sie selbst, aber jetzt sind Sie seit drei Tagen ganz gesund, und Sie sollen sich auch nicht mehr an den Ruf erinnern. Sie dürfen jetzt auch nicht mehr sprechen, schlafen Sie sich gesund; Schlaf ist immer die beste Medizin, sagten alle Ärzte, die hier an Ihrem Bett waren."

Und die Krankenschwester legte den Fächer fort und gab mir wieder zu trinken. Danach schlief ich wieder fest ein. –

Die Geschehnisse, die mich auf das Krankenbett geworfen und mir eine Gehirnentzündung gebracht hatte, waren, nüchtern erzählt, diese:

Als ich an jenem Morgen nach dem Nationalfest in das Zimmer des Gesandten trat, ging dieser in seinem Schreibzimmer vor einem Herrn auf und ab. Jener Herr wurde mir als der Gesandtschaftsarzt Medizinalrat Dr. Sch. vorgestellt. Der Gesandte Graf L. fragte mich – und sah mich dabei ernst und bleich an, so daß ich glaubte, er habe den Arzt seiner selbst wegen konsultiert –, ob ich mich stark genug fühle, um eine sehr ernste Nachricht mit Ruhe und Kraft aufzunehmen.

Ich setzte mich in den Elefantenledersessel und sagte, während es mir kalt über den Rücken lief, scherzend: "In diesem Sessel fühle ich mich als Dickhäuter. Ich werde alles aushalten. Bitte, sprechen Sie rasch! Welches neue Ereignis verfolgt mich?"

Der Gesandte ergriff eine Zeitung; es war das Morgenblatt der Stadt Mexiko. Er sagte: "Seien Sie ein Mann und lesen Sie diese Zeitungsnotiz."

Diese lautete:

"17. Sept. 189.. L y n c h j u s t i z.

Die Bevölkerung von Mexiko sammelte sich heute nach vor dem Stadthause um ein Uhr an, und einige hundert Personen der niederen Stände stürmten in den Hof, drangen in das Stadthaus ein und fanden den Weg zu den Haftzimmern; ehe die Polizei sie hindern konnte, begann die aufgeregte Menschenmenge die Türen einzuschlagen. Nachher fand man den Attentäter, der bei der Truppenrevue gestern einen Attentatsversuch auf den Präsidenten machte, von neunzehn Messern durchbohrt. Und Fräulein Orla von ***, von der man am Nachmittag bereits glaubte, daß sie in Freiheit gesetzt worden sei, wurde in ihrem Haftzimmer erwürgt aufgefunden.

Die Personen, die durch diese Lynchjustiz wahrscheinlich dem Präsidenten der Republik, welcher noch nie ein Todesurteil unterschrieben hat, einen Dienst erweisen wollten, hätten dieses Mal nicht so vorschnell ihre Ergebenheit für den Präsidenten der Republik bekunden sollen, denn es ist leicht möglich, daß sie im Übereifer einen Unschuldigen und eine Unschuldige ermordet haben.

Ob diese Personen damit den Präsidenten der Republik einen wirklichen Ergebenheitsdienst geleistet haben, muß die genauere Untersuchung der Ereignisse erst ergeben.

Vorläufig ist festgestellt, daß unter den Hunderten von Menschen, die in das Stadthaus stürmten, neunzehn Männer bemerkt wurden, die, mit schwarzen Masken vor den Gesichtern und in schwarze Mäntel gewickelt, den Weg zu den Korridoren und zu den Haftzimmern so genau wußten, als wären sie im Stadthause aufs beste bekannt.

Auffallend ist, daß diese neunzehn verkappten Gestalten später nicht mehr in der Menschenmenge beobachtet wurden. Man nimmt an, daß sie einen nur den Vertrauten des Stadthauses bekannten Ausweg durch ein Rückgebäude nahmen und so unbemerkt fliehen konnten."

Der Polizeibericht meldete:

"Neunzehn dem Präsidenten auf Leben und Tod innigst ergebene Männer scheint der schändliche Attentatsversuch auf den Präsidenten der Republik heute derart mit Abscheu erfüllt zu haben, daß sie unter sich beschlossen hatten, der amtlichen Justiz zuvorzukommen und dem Attentäter und seiner Mitwisserin im Namen des Volkes den Tod zu geben.

Als die neunzehn maskierten Männer um ein Uhr nachts in das Stadthaus drangen, traten sie zuerst bei dem Polizeipräsidenten ein, der noch spät in der Nacht an seinem Schreibtisch wichtige Arbeiten zu erledigen hatte, und von ihm verlangten sie die Auslieferung des Attentäters, der gestern dem Präsidenten der Republik nach dem Leben gestrebt hatte. Der Polizeipräsident weigerte sich, den neunzehn Abgesandten der Lynchjustiz die Gefangenen vorzuführen. Aber die Volksrächer ließen sich nicht abweisen und stürmten nach den beiden Haftzimmern, wo sie die beiden Gefangenen fanden, und wo sie sofort Lynchjustiz übten.

Der Attentäter wurde von neunzehn Messerstichen getötet, das Fräulein *** fand man erwürgt.

Gestern nachmittag war noch die Mutter der jungen Dame zu dem Polizeipräsidenten in das Stadthaus gefahren und hatte die Freilassung der jungen Dame verlangt. Diese sollte auch ihrer Mutter nach Ameca-Meca folgen, sie weigerte sich aber und sagte: da man sie verhaftet habe, wolle sie auch in Untersuchungshaft bleiben; sie verlange vor Gericht gestellt zu werden, um ihre völlige Unschuld in der Attentatsangelegenheit zu beweisen.

Auf ihren eigenen Wunsch wurde die junge Dame deshalb in Haft behalten, und ihre Mutter kehrte allein nach ihrer Hazienda in Ameca-Meca zurück.

Jeder weiß, daß auch unser ausgezeichneter Polizeipräsident einem dem Präsidenten der Republik huldigende heroische Tat beging, als er sofort Gerechtigkeit walten ließ und, ohne Rücksicht darauf, daß Fräulein Orla von *** die Braut des Polizeipräsidenten ist, diese junge, angesehene, bekannte Dame so gut wie jeden anderen Angeklagten verhaftete und keinen Unterschied in der Person walten ließ. Damit hat unser Herr Polizeipräsident wieder einmal seine regierungstüchtige Gesinnung von Grund aus gezeigt, und der Präsident der Republik wird ihm dafür zu danken wissen.

Die traurigen Umständen, die den gewaltsamen Tod der jungen Dame und des Attentäters veranlaßten, bedürfen keiner weiteren Aufklärung. Durch diesen Akt der Lynchjustiz zeigte sich wieder einmal die große Beliebtheit, deren der Präsident unserer Republik sich in allen Schichten der Bevölkerung erfreut. Das Volk bewies dies schon dadurch, daß es gleich nach dem Attentat in Scharen herbeieilte. Nur wenige Stunden dauerte es, da hatte das Volk auch sein Urteil gefällt und seinem Präsidenten Genugtuung verschafft, indem es neunzehn beherzte Männer auswählte, denen es die Rache im Namen des Volkes übertrug. Da das Volk selbst gehandelt hat, wird es, um neue Unruhen zu vermeiden, der Regierung sowohl als allen Bürgern lieb sein, wenn man die Verfolgung der neunzehn Auserwählten der Nation nicht zu streng handhabt. Die Nation selbst hat hier gerichtet, dadurch ist der Präsident der Republik vielleicht enthoben worden, sein erstes Todesurteil zu unterschreiben. Denn jedermann in Mexiko weiß, daß unser geliebter Präsident noch nie ein Todesurteil unterschrieben hat. Die Nation hat gerichtet, heilig sei der Wille der Nation!"

Dieses waren der unklare Polizeibericht und die ungenügenden Zeitungsnotizen, die am Morgen des 18. September in der Hauptstadt bekannt wurden, und die natürlich ungeheures Aufsehen erregten.

Ich las damals nur den Satz, daß Orla erwürgt worden sei.

Hier nahm mir der Gesandte das Blatt sanft aus der Hand; ich bat, er möge weiterlesen.

Ich hörte in dem Sessel mit geschlossenen Augen dem ganzen Zeitungsbericht zu.

Ich hörte auch noch, wie aus weiter Ferne, eine kurze Debatte zwischen dem Arzt und dem Gesandten. Dann begann sich zu der Trockenheit meines Halses ein Brand und Blutandrang in meinem Gehirn einzustellen. Mein Gehirn schien zu explodieren.

Die darauffolgenden Krankheitseindrücke habe ich bereits beschrieben, so wie ich mich ihrer noch erinnern kann. –

Die Zeitungen hatten während meiner Krankheit vollauf zu tun; denn täglich verdrängten neue Sensationsnachrichten die alten, und binnen einigen Tagen sah ich die ganze Stadt Mexiko in einem Trubel von Verwicklungen verstrickt, die atemloser und die Gehirne erhitzender nicht von der zügellosesten Phantasie ausgedacht werden könnten.

Am gleiche Nachmittag wunderten sich schon einige Zeitungen, wie es hätte möglich sein können, daß Volksverschwörer bis in das Innere des Stadthauses gedrungen wären. Man fragte sich, wie man das zulassen konnte, das die Polizisten doch auf dem Wachtzimmer in genügender Anzahl versammelt gewesen sein müßten und den Meuchelmördern sofort den Weg verstellen und verhindern konnten, daß neunzehn Mann nachts bis in das Amtszimmer des Präsidenten vordrangen.

Der Polizeibericht strotzte auch von viel zu viel Selbstlob der Polizei und des Polizeimeisters.

Es war ganz unmöglich, zu denken, daß der Polizeipräsident seine Braut nicht hätte retten können, da er doch ihr zu Hilfe zu eilen vermochte.

Auch wunderten sich andere Zeitungen, daß der Präsident seine Braut nicht gezwungen hatte, mit ihrer Mutter nach Ameca-Meca heimzukehren. Es lag gar kein Grund vor, dem Starrsinn einer gekränkten unschuldigen Dame nachzugeben und sie in Haft zu lassen, um sie erst am nächsten Tage zu verhören.

Darauf antworteten noch am gleichen Abend in den Abendzeitungen die neuen Polizeiberichte: "Der Polizeipräsident stürzte, als er sah, daß die Gefahr des Lynchens nicht mehr von den Gefangenen abzuwenden war, mit zwei geladenen Revolvern auf den Balkon seines Zimmers; dieser Balkon führte auf die Plaza, wo nachts um ein Uhr ein unruhige Menschenmenge wogte. Der Polizeipräsident feuerte die beiden Pistolen in die Luft ab und machte dadurch die untenstehenden Menschen aufmerksam, daß ihm und dem Stadthaus Gefahr drohe.

Wohl an dreihundert Personen drängten darauf in den Hof des Stadthauses. Man weiß nicht, ob sie mit den neunzehn Abgesandten gemeinsame Sache machen wollten. Als der Polizeipräsident die Mörder nicht mehr zurückhalten konnte und sie bei den Gefangenen wußte, befahl er, daß man die großen Tore des Hofes zum Stadthause schließen sollte, um so den Verschwörern und ihren Mithelfern den Rückweg abzuschneiden. Der Polizeipräsident setzte sich, als er die Schüsse zum Zeichen, daß er Hilfe benötigte, vom Balkon abfeuerte, selbst der Gefahr aus, von den neunzehn Verschwörern ermordet zu werden. Zum Glück waren diese aber nur von dem Willen beherrscht, ihrer Opfer habhaft zu werden, und ließen den Polizeipräsidenten auf dem Balkon die Pistolen abfeuern, ohne ihn weiter zu behelligen. Immerhin ist vor allem der heroische Mut des Polizeipräsidenten zu bewundern, der seine Gefangenen mit eigener Lebensgefahr verteidigte."

So schloß der Polizeibericht in den Abendzeitungen. Alle diese Berichte erfuhr ich damals nicht mehr, und erst nach vollständiger Genesung las ich die Zeitungsausschnitte, die mich mit den aufregenden Berichten jener Tage der Unklarheit und der Widersprüche bekannt machten.

Schon der zweite Tag brachte dann eine seltsame Notiz der Morgenzeitung: "Es hat sich ein Messerschmied gemeldet. Er behauptet, daß am Unabhängigkeitstag, nachmittags um drei Uhr, ein auffallender Mann, in dem er den Polizeipräsidenten zu erkennen glaubte, neunzehn Messer bei ihm eingekauft habe. Da der Laden des Festtages wegen geschlossen war, bediente er den Käufer im halbdunkeln Laden. Der Messerschmied kann darum nicht genau bestimmen, wie der Mann aussah, den er vor sich hatte. Aber der Verkauf von neunzehn Messern am Feiertag war ihm sehr auffallend gewesen. Auf der Polizei hat man dem Messerschmied keinen Glauben schenken wollen und ihm auch die Erlaubnis verweigert, die Messer zu besichtigen, mit denen der Lynchmord begangen wurde.

Noch einen ganzen Tag lang kreuzten sich die Ausreden der Polizeiberichte mit den Gegenbeweisen in den Zeitungen. Man konnte aber an jenem zweiten Tage nach dem Doppelmord noch nicht annehmen, daß über Nacht plötzlich das ganze Mordgewebe klargelegt werden würde.

Die Zeitungen alle waren sich am zweiten Tag darin einig, daß die Mörder keine Volksabgesandten gewesen seien. Ebenso habe nachts um ein Uhr keine Unruhe im Volk bestanden. Alle Leute, die noch zu dieser Stunde auf der Plaza waren, behaupteten, es hätten da nur friedliche Indianergruppen um kleine Holzkohlenfeuer gesessen, und die hätten keinen Sinn fürs Lynchen gehabt. Es wären nur noch harmlose Landleute und Gärtner aus Santa Anita auf der Plaza gewesen. Die europäische Bevölkerung hätte meistens schon geschlafen.

Unter den dreihundert Menschen, welche man im Hof des Stadthauses fand, war auch nicht ein einziger, der ein Ahnung hatte, daß man im Stadthaus zwei Lynchmorde beging. Alle dreihundert waren erst herbeigeeilt, als der Polizeipräsident die Schüsse vom Balkon abfeuerte. Es war nur menschliche Neugier gewesen und kein einiger Volkswille oder Rachegedanke oder gar "der heilige Wille der Nation", der diese dreihundert Neugierigen von ihren Mandolinen fort nach dem Stadthause getrieben hatte.

Der Vorgang blieb am Dienstag abend noch ein Rätsel. Die neunzehn schwarz maskierten Männer, die niemand kannte, die von keinem Volkswillen gewählt waren, die aber trotzdem Verschwörer sein mußten, begannen die ganze Hauptstadt mehr zu entsetzen, als der schwache Attentatsversuch am Präsidenten der Republik es getan hatte. Niemand fühlte sich jetzt mehr sicher; wenn der Polizeipräsident, umgeben von der ganzen Polizei, nachts im Stadthause nicht mehr sicher vor neunzehn maskierten Meuchelmördern war – wer sollte sich dann noch in der Hauptstadt sicher fühlen?

Die Zeitungen fingen an zu höhnen. Andere sagten laut, die Mörder müßten vom Präsidenten der Republik selbst abgeschickt gewesen sein, damit dieser kein Todesurteil zu fällen brauche.

Aber auch diese Behauptung war unhaltbar, denn der Attentatsversuch am Nationaltag hätte gar keine Erschießung des Attentäters zur Folge haben müssen, da der Präsident nicht einmal verwundet worden war und es nicht einmal erwiesen war, ob der Attentäter überhaupt den Präsidenten der Republik hatte töten wollen. Viele behaupteten jetzt, jener habe nur einen Stein aufgehoben und getan, als wolle er werfen; er habe nur die Aufmerksamkeit des Präsidenten auf sich ziehen wollen. Er habe gar nicht ausgesehen, als sei es ihm unlieb gewesen, daß man ihn verhaftete. "Heute verhaftet mich die Polizei, morgen lasse ich einen Polizeipräsidenten verhaften!" hatte er gerufen.

Der Gefangene behauptete ebenso wie Fräulein Orla von ***, daß er am nächsten Tag, wenn er verhört würde, großartige Enthüllungen machen werde.

Und dieser Mann, der bei der Gefangennahme vor allen Leuten bei der Truppenrevue ausrief, er werde morgen den Polizeipräsidenten verhaften lassen, dieser selbe Mann wurde nachts, ebenso wie die Braut des Polizeipräsidenten, sozusagen unter den Augen der Polizei ermordet. Das schien auffallend und gab zu denken. Erstaunlich war, daß nicht am gleichen Nachmittag nach Einlieferung der beiden Verhafteten ein Vorverhör im Stadthause, wie sonst üblich, stattgefunden hatte.

Die Polizeiberichte redeten sich aber darauf hinaus, man habe die Attentäter, welche sich durch die Verhaftung in überreiztem Zustande befunden hätten, sich erst noch ausruhen lassen wollen, damit sie nicht in der Überreiztheit unwahre Aussagen machten. Auch hätte man die Beamten des hohen Nationaltages wegen nicht gerne bemühen wollen und habe deshalb das Verhör auf den nächsten Tag verschoben.

Am Mittwoch aber erschien die Aufklärung in der größten Morgenzeitung mit der sensationellen Überschrift: "Neunzehn Polizisten, vom Polizeipräsidenten verleitet, sind die Schuldigen des Doppelmordes im Stadthause, begangen an zwei wehrlosen Verhafteten."

"Das Geständnis eines der Polizisten, der sich, von Gewissensbissen getrieben, heute morgen auf unserer Redaktion einfand und uns den Sachverhalt erklärte, folgt hier:

Am Nachmittag des Nationalfesttages, nachdem der Mann, der einen Attentatsversuch auf den Präsidenten der Republik begangen haben sollte, im Stadthause eingeliefert worden war, ließ mich der Polizeipräsident zu sich rufen und fragte mich, ob ich dem Präsidenten der Republik einen großen Dienst erweisen und mir dadurch eine Auszeichnung verdienen wollte. Dann sollte ich mich in die Zimmer der beiden Verhafteten begeben und diese mit zwei Pistolen, die mir der Polizeipräsident einhändigen wollte, erschießen. Der Präsident der Republik würde mir dafür immer dankbar sein, denn dann wäre er nicht genötigt, zwei Todesurteile zu unterzeichnen.

Man müsse aber den Mord so arrangieren, daß ich unentdeckt bliebe und man sagen könne, ein Fanatiker aus dem Volk sei in die Haftzimmer eingedrungen und habe die Verhafteten erschossen. Nach dieser Tat könne ich für immer der Gunst der Polizeipräsidenten versichert sein. Er würde mich reichlich belohnen und mich auch schnell im Amte befördern.

Ich zeigte keine Bedenken, da ich mich keines Mordes dadurch schuldig zu machen glaubte, wenn ich Verhaftete erschoß, die doch zum Tode verurteilt würden. Der Polizeipräsident überlegte aber nochmals das Ganze und sagte mir: damit ich sicher ginge, sollte ich achtzehn meiner Kameraden auswählen. Man müsse das Ganze dann so ausführen, als sei eine Volksmenge in das Stadthaus eingedrungen und habe die Verhafteten gelyncht. ‚Neunzehn Mann wären leicht zu finden‘, sagte ich dem Polizeipräsidenten. ‚Ich finde hundert, wenn Sie wollen, die dem Präsidenten der Republik diesen Dienst leisten möchten.‘

‚Es ist eine Ehrentat, die Ihr an Schandtätern verrichtet‘, hat dann der Polizeichef zu mir gesagt.

Ich kaufte am Nachmittag die neunzehn Messer ein. Wir neunzehn Polizisten, ich und die achtzehn Kameraden, die ich ausgewählt hatte, und die sofort begeistert dem Präsidenten der Republik und dem der Polizei gehorchen wollten, beeilten uns; wir maskierten uns, und abends um elf Uhr drangen wir in die Zelle des Verhafteten. Dieser wehrte sich nicht. Wir warfen ihn auf den Rücken und stießen nacheinander die neunzehn Messer in seinen Körper und ließen die Messer in seinem Leichnam stecken.

Den Mord an der verhafteten jungen Dame aber haben wir nicht begangen; der Polizeipräsident hat sie mit eigener Hand erwürgt.

Da alles scheinbar im Auftrag des Präsidenten der Republik und unter den Augen des Polizeipräsidenten geschah, waren wir guter Dinge.

Nachts um ein Uhr aber waren wir ohne Masken; als der Präsident die Signalschüsse vom Balkon des Stadthauses auf die Plaza abfeuerte, trieben wir das harmlose Volk, das unter den Bäumen friedlich lagerte, zu Haufen in das offene Tor des Stadthauses, indem wir die Kunde verbreiteten, es wäre ein Attentat auf den Polizeipräsidenten begangen worden. Die ahnungslosen Neugierigen drängten gar nicht sehr zum Stadthause hin, wir mußten sie immer wieder anfeuern und überreden; bis ungefähr ein paar hundert friedlicher Menschen scheu in den Stadthaushof eingedrungen waren, bedurfte es vieler Überredungskunst. Dann schlossen wir die Tore hinter den Leuten. Allen Eingeschlossenen wurden ihre Namen und Adressen abgefragt. Einige wenige wurden zum Schein verhaftet, die anderen ließen wir wieder laufen. Dabei verbreiteten wir eifrig die Kunde von den neunzehn schwarz maskierten Mördern, welche die zwei Verhafteten gelyncht hätten.

Aber wir fanden wenig Glauben; die sanften Indianer lächelten nur und gingen zurück auf die Plaza zu ihren Feuern und Mandolinen.

Wir neunzehn lebten nach dem Mord in einer Selbstberauschung, immer von dem Glauben getragen, daß wir nur einem im Namen des Präsidenten der Republik zum Tode Verurteilten den Tod gegeben hatten, den der Verhaftete doch früher oder später durch öffentliches Erschießen gefunden hätte.

Erst in diesen drei Tagen sahen wir allmählich ein, daß wir Mörder und keine Richter gewesen waren. Seit wir wissen, daß der Präsident der Republik diesen Akt der willkürlichen Hinrichtung der Gefangenen nicht befohlen hat und nicht gutheißen will, und seit man uns in allen Zeitungen mit dem Wort Meuchelmörder bezeichnet – seitdem sehe ich immer das arme Opfer vor mir, den Mann, der sich widerstandslos niederwerfen ließ und keine Ahnung hatte, daß er ermordet werden sollte. Erst als jeder von uns sein Messer unter dem Mantel vorzog, schrie er auf und rief: "Oh ich weiß es, der Mörder des Abbés hat euch gedungen, aber ich schwöre: ich bin unschuldig. Er hat mich überredet, ihm Gift zu verschaffen, um ein Pferd zu vergiften, aber als er das Gift hatte, verlangte er, daß ich mich beim Abbé als Diener einschleichen und ihm das Gift beibringen sollte. Ich habe den Abbé nicht vergiftet – ich bin unschuldig! Ich schwöre es, daß ihr einen Unschuldigen umbringt!"

‚Du bist schuldig!‘ riefen wir neunzehn theatralisch, so wie der Präsident, unser Chef, es uns gesagt hatte, und dann erstachen wir den Wehrlosen trotz seiner Bitten und ließen die neunzehn Messer in seinem Leib stecken.

Ich bereue jetzt meine Tat bitter. Ich kann nicht mehr schlafen, ich kann nicht mehr ruhig essen und trinken, überall sehe ich den Ermordeten, und immer höre ich seine Worte: ‚Der Mörder des Abbés hat euch gedungen!‘

Deshalb, um Ruhe zu finden, kam ich auf die Redaktion, um alles zu gestehen, und um mir durch mein Geständnis mein Gewissen zu erleichtern."

Diese einfachen Worte eines Polizisten, der aber seine Kameraden nicht nennen wollte, veranlaßte alle die anderen achtzehn, daß sie noch am Nachmittag auf dieselbe Zeitungsredaktion gingen und ihr Geständnis in gleicher Weise wie der erste ablegten.

Am nächsten Vormittag wurde die Gefangennahme des Polizeipräsidenten bekannt, am Nachmittag die der neunzehn Polizisten. Der Polizeipräsident wiederholte, als er von dem Geständnis der neunzehn gehört hatte, er habe dem Präsidenten der Republik einen großen Dienst leisten wollen. Dann aber meldete sich der Kammerdiener des Polizeipräsidenten, welcher plötzlich aussagte, er habe dem Abbé, dem Beichtvater der Braut des Präsidenten, beim Frühstück eine Tasse Tee servieren müssen; der Polizeipräsident hatte ihn beauftragt, vorher ein Pulver, das er vom Polizeipräsidenten erhalten habe, in den Tee zu tun; angeblich sei das ein Magenpulver gewesen, das der Abbé gewohnt gewesen wäre, jeden Morgen beim Frühstück einzunehmen. Kurz danach hatte sich der Abbé während des Frühstücks plötzlich erhoben und gesagt, er habe zu Hause seinen Schreibtisch nicht abgeschlossen, er wolle rasch in eigener Person nach Hause gehen und seine Papiere verschließen. Dabei sei der Abbé schon sehr blaß gewesen, und er sei auch nicht weit gekommen, sondern schon an der nächsten Straßenecke tot zusammengestürzt. Wahrscheinlich habe er das Gift im Tee herausgeschmeckt und habe nur zu einer Apotheke eilen wollen, um ein Gegengift einzunehmen. Aber der Tod ereilte ihn vorher. Auf seiner einen Manschette fand man die Worte gekritzelt: "Ich bin vergiftet worden, es war Gift in einer Tasse Tee..." Mehr sagte die gekritzelte Schrift nicht, wahrscheinlich hatte der Abbé das unterwegs geschrieben, als er zur Apotheke eilte.

Nach der Aussage des Kammerdieners des Polizeipräsidenten war kein Zweifel mehr, daß in dem Polizeichef ein vielfacher Mörder verhaftet worden war.

Der Polizeipräsident hatte sich von einem Individuum Gift verschafft und dieses Individuum aufgefordert, daß es den Beichtvater seiner Braut umbringen solle. Als sich der andere weigerte, beging er die Tat selbst, um den Abbé los zu sein, der seine Braut von der Verlobung abbringen wollte, und der als Beichtvater zuviel von der Welt wußte, die den Polizeipräsidenten kompromittieren konnte. Kaum war dieser Mord geschehen, so sah er ein, daß er nichts erreicht hatte; er mußte von seiner Braut hören, daß sie einen anderen Mann, einen Europäer, gewählt habe, mit dem sie zusammen Mexiko verlassen wollte. Er wußte, daß sich seine Braut mit dem Mann, der ihm das Gift verschafft, ins Einvernehmen gesetzt hatte, und daß dieser bei der Truppenrevue dem Präsidenten der Republik in Gegenwart aller Leute eine Anklage überreichen sollte, die den Polizeipräsidenten als den Giftmörder des Abbés erklärte. Ihm, dem Manne, der das Gift zur Vergiftung eines Pferdes geliefert hatte, konnte dabei nichts geschehen, aber der Polizeipräsident konnte von der Tribüne weg arretiert werden und keine Zeit zur Flucht gewinnen. So hatte der Giftverkäufer kalkuliert. Und Orla hatte ihm brieflich versichert: wenn er den Mörder ihres Vaters dem Präsidenten der Republik anzeigen würde, sollte er die Hälfte ihres ungeheuren Vermögens erhalten. Denn der Mann hatte nach dem Tode des Abbés wieder an Orla geschrieben und versichert, er hätte, als er das Gift beschafft und dann gehört hatte, daß es der Polizeipräsident zur Vergiftung des Abbés benützen wolle, den gemeinsamen Gedanken gehabt, aus diesem Wissen Nutzen zu ziehen; er hätte die Drohbriefe an sie und an den Abbé, um dadurch Geldsummen zu erpressen. Wenn sie ihm Geld geschickt hätte, würde er sie vor dem Gift des Polizeipräsidenten gewarnt haben. Er selbst war ein heruntergekommenes Subjekt, einst ein Schulkamerad des Polizeipräsidenten; und da er ein studierter Chemiker war, wurde er von diesem immer zu Rate gezogen, wenn er irgendein Geheimmittel brauchte.

Am Ende der Schreckenswoche, die dem Nationalfest mit täglichen Verbrecherenthüllungen gefolgt war, las man in allen Zeitungen, Freunde des Polizeipräsidenten hätten diesem in einem ausgehöhlten Brotlaib eine geladene Pistole ins Gefängnis geschickt. Und der so viel besprochene vielfache Mörder wurde sein eigener Mörder. Es war vielleicht die einzige heldenhafte Tat, die er in seinem Leben begangen hat, daß er den Mut fand, sich selbst aus dem Leben zu schaffen. –

Diese Zeitungsnachrichten und ausführlichen Berichte über die Morde am Unabhängigkeitsfest wurden mir vom deutschen Gesandten, dem Grafen L., langsam und schonend in der Zeit meiner Genesung beigebracht. Ich war durch meine Krankheit so weit von allen Ereignissen fortgerückt worden, daß ich mich manchmal nur schwer auf Orlas Gesicht besinnen konnte; es war von den Fiebererscheinungen, die ich in der Krankheitszeit fortwährend vor meinem Gehirn vorbeirasen sah, verjagt worden. Ich dachte viel über Orla nach und sagte mir zuletzt: das Schicksal hat unsere Vereinigung nicht gewollt. Sie hätte sich in Europa wahrscheinlich niemals heimisch gefühlt, sie, die waghalsige Tochter eines Abenteurerlandes, die großzügige mutige und eifrige Pferdeliebhaberin – sie hätte Europa zu eng, zu alt empfunden, so wie mir meine kleine Nichte in Philadelphia, die Einladung Europa zu besuchen, mit den Worten ausgeschlagen hatte: "Was soll ich dort in dem alten Europa?! Bleib du lieber bei uns!" – Mexiko, das mir in Orla verkörpert entgegengetreten war, schien mich jetzt längst verlassen zu haben. Seit Orla tot war, schien ich nicht mehr in Mexiko zu sein. Nur meine Koffer standen noch hier – meine Seele war längst wieder nach Europa zurückgekehrt. Und mit den anderen Koffern würde mir auch der Koffer meiner Seele, mein Leib, bald nachgeschickt werden.

Wenn ich an die Stunde dachte, wo ich damals in dem Salon des Gesandten morgens, im Elefantenledersessel sitzend, die Zeitung zugereicht erhielt, wo kurz erwähnt stand, daß Orla von *** im Haftlokal erwürgt aufgefunden worden war – da sehe ich nur noch, ehe das Riesenfeuerwerk meiner Gehirnexaltation begann, den Ledersessel, der mir schien, als wäre er die Kinnlade des Menschenfressergottes von Ixtapalapa; der Sessel sah aus, als bewege er sich und könne mich wie ein offenes Maul zerkauen. Es war mir, als säße ich zwischen den Kinnladen des Menschenfressergottes. Dieser hatte Orla bereits verschluckt und begann nun auch mich mit seinen Kiefern zu bearbeiten. Ich sah dann das Feuer von der Decke regnen, als wäre es der Atem des Menschenfressergottes, der rote Funkenmeere durch die Luft streute, wie das Feuerwerk des Nationalfestes nachts auf der Plaza, wo ich zwischen Indianern, Mandolinen und Feuerbecken gewandert war, ohne zu ahnen, daß sie, nach der ich mich stündlich sehnte, vielleicht vom Sternenhimmel auf mich herabsehen konnte, so wie die Ahnen der Indianervölker, deren Augen ich zwischen den Bäumen als Sterne zu sehen glaubte. Sie lag als Leichnam in jener Nacht mir ganz nah, hinter den Bäumen, in dem langen einstöckigen Stadthaus, dessen Balkone noch mit Fahnenbündeln geschmückt waren, und auf dessen langem, flachem Dach die Reihen der Fahnenstangen aufgerichtet standen und ihre Leinwand regungslos hängen ließen; die Mitternachtsluft war friedlich und atemlos wie die Tote gewesen, die dort oben im Stadthaus unter dem fahnengeschmückten Dach ohne Atem lag, und die zwischen den Mandolinen bei den Indianern unter dem besternten Parkbäumen mich aufgesucht hatte, die neben mir ging, ohne sich bemerkbar machen zu können, die des Nachts neben mir war, als ich den Telephonkasten an meinem Bett anstarrte und ich nicht schlafen konnte vor rastloser Unruhe.

Alles dieses durchdachte ich in der Zeit meiner Genesung, und oft, wenn das Kleid der Krankenwärterin hinter mir rauschte und ich die Schwester im Zimmer leise hantieren hörte, mußte ich mich rasch umsehen, ob nicht doch vielleicht Orla wiedergekommen war. Hier in dem Lande der plötzlichen Schrecknisse wäre vielleicht auch das Wunder der plötzlichen Wiederkehr einer Toten mir gar nicht so wunderbar erschienen. – Ich hatte bis jetzt noch keine Träne vergießen können. Es war, als wäre mein Herz zugemauert. Meine Augen lebten getrennt von meinem Herzen. Sie sahen scheinbar alles; aber sie waren argwöhnisch und kalt geworden. Sie waren wie Fernrohre, die alles sehen und nichts behalten. Sie sahen zurück in die letzten Wochen und stellten sich auf die Gegenwart ein und starrten geradeaus in die Zukunft, aber sie sagten nicht: "Oh, wie traurig, oh, wie weh", oder: "Oh, wie einsam", und nicht: "Oh, wie wir leiden". Meine Augen hatten die Sprache verloren. Es war mir gleichgültig, ob ich in den Himmel sah, der jetzt nachmittags nicht mehr regnete, der jetzt immer blaue, klare Ewigkeit war; die Augen sagten auch nichts, wenn sie Menschen sahen: wenn der Gesandte an meinem Krankenstuhl mit mir plauderte, wenn die Krankenschwester mir meine Briefe aus Europa vorlas, wenn es Abend wurde, oder wenn der Gesandtschaftsattaché drüben im großen Gesellschaftssaal Beethoven, Brahms und Wagner spielte. Meine Augen sahen die Welt an, als liege sie hinter der Glasscheibe eines Schaufensters und sei nur ein Schaugericht und kein persönlicher Besitz mehr. Das Leben ging nur mit dem Zeiger der Uhr im Kreise an zwölf Stunden täglich vorüber, und meine Augen sahen wie die Räder des Uhrwerks nichts von dem Leben, dem die Stunden dienten. Ich fragte den Arzt eines Tages, wie das mit mir werden solle, wenn ich gar keinen Wert des Lebens mehr begreifen lernen würde. Es war mir ganz gleichgültig, ob ich aß, ob ich trank, ob ich mich wohl oder unwohl fühlte; gab man mir nichts zu essen und zu trinken, so vergaß ich, es zu verlangen, da ich nach den ausgestandenen Schrecknissen kein Empfinden mehr für irgendeine Lebensregung spürte.

Der Arzt fragte, ob ich ein Lied oder eine Musik kenne, die mich früher besonders erschüttert habe. Musik heile die Apathie am besten und würde vielleicht die Trauer auslösen, die Tränen, die ich nicht weinen konnte. Ich bat, man möge die Indianerin rufen, die abends immer an der Glorieta Pasteten verkaufte; sie solle unter meinem Fenster im Hof ihren Gang singen.

Sofort erfüllte man mir den Wunsch.

Mein Krankenstuhl wurde ans Fenster gerollt.

Gegen Abend, als die Krankenschwester eben fortgegangen war, den ich brauchte sie nur noch am Tage, da kam der Arzt zu mir und plauderte wie jeden Abend ein Stündchen.

"Erschrecken Sie nicht," sagte er, "die Indianerin tritt eben in den Hof, ich sehe sie bei den Kallablumen des Parkteiches vorbeikommen. Sie wird jetzt unter dem Fenster singen."

Die Indianerin sang:

"Tomales caliente, con carne, con dulce – ehee..."

Ich hörte es und hörte es doch nicht.

Sie sang drei-, viermal und entfernte sich singend.

Ich erhob mich nur unwillkürlich im Krankenstuhl und stand zum erstenmal auf und ging ans Fenster. Ich sah das Pastetenbrett über einem Lorbeerbusch wandeln. Die Indianerin sah ich nicht mehr, sie ging, vom grünen Lorbeer versteckt, nach dem Parkausgang. Ich hörte das Parktor knirschen, dann fiel das eiserne Gitter ins Schloß. "Soll sie zurückkommen und nochmals singen?" fragte der Arzt.

Ich schüttelte den Kopf. Ich verstand nicht, warum ich das hatte hören wollen. Hier in der Gesandtschaft, hier in den Mauern, die für mich Europa repräsentierten, verstand ich nichts mehr von der Wollust dieses einfachen, naturlautartigen Rufes, der mir früher so sehr zu Herzen gegangen war.

"Aber Sie können wieder auf Ihren Füßen stehen und zittern nicht – das wenigstens hat der Sang der Indianerin erreicht", so tröstete der Arzt mich und sich. Und dann bot er mir seinen Arm und führte mich langsam auf die Dachterrasse der Gesandtschaft.

Über die Welt von Dächern fort konnte ich hier oben noch den letzten Rest des Sonnenuntergangs sehen.

Am östliche Horizont lagen der Ixtacchihuatl und der Popokatepetel, beide vereist schimmernd wie irisfarbene große Brocken von Opalsteinen. Weiß, gespensterhaft lag das Profil des Ixtacchihuatl, dessen Name "weiße Frau" bedeutet – weiß wie das Profil einer Toten, die da am Erdrand aufgebahrt lag, und der das gelbe Sonnenlicht wie gelbes Haar niederfloß.

"Kannten Sie nicht ein junges Astronomenehepaar?" fragte mich in diesem Augenblick der Medizinalrat. Ich sah, daß ihn das Profil des Ixtacchihuatl, der weißen Frau, die dort mit weißer Stirn und gelbem Goldschein ausgestreckt lag, an die Frau des jungen Astronomen erinnerte; und ich war gar nicht überrascht, denn ich selbst hatte bei dem abendgelben Berg sofort an die messingblonde Frau gedacht. Der Medizinalrat erzählte mir, er habe gehört, der junge Astronom habe sich eine Sternwarte in einem der Gärten von Cuautla, einem kleinen Flecken in den Halbtropen, bauen wollen, und er und seine Frau lebten schon länger dort in einem Garten. Ob ich nicht Lust hätte, noch einmal Cuautla und meine Bekannten dort vor meiner Abreise zu besuchen.

O ja, ich hatte plötzlich beim Einatmen der kühlen Eisgeruchluft, die am Abend da von den beeisten mächtigen Kratern kam, große Lust zu einem Besuch bei alten Bekannten. Ich sehnte mich, Menschen zu sprechen, die mit mir von Europa gekommen waren. Ich wollte einmal die Apollohymne hören und wollte diesen Menschen, denen es geglückt war, hier in dem Lande des Menschenfressergottes sich ihr Glück zu gründen, Lebewohl sagen. Um nicht ganz zerstört aus diesem Lande zu gehen, wünschte ich mir, doch wenigstens hier noch einmal ein glückliches Menschenpaar gesehen zu haben.

Acht Tage später war ich auf dem Wege nach Cuautla.

Der Medizinalrat hatte mich begleiten wollen, ich aber lehnte es ab. Ich war jetzt ganz gestärkt, ich wünschte ein wenig mit mir allein zu reisen.

In Cuautla, daß eine halbe Tagesreise von der Hauptstadt Mexiko liegt, mietete ich mir beim Gasthofbesitzer ein Pferd und einen Führer. Der Weg ging durch ein trockenes Bachbett, durch Zuckerrohr und Maisfelder und Agavenpflanzungen. Man hatte mir gesagt, daß die Gärten, von denen der Astronom einen gemietet hatte, zu einer Hazienda gehörten; und wenn ich auf dieser; zu einige Stunden von Cuautla lag, fragen würde, dann könnte ich erfahren, wo die neue Sternwarte stände.

Gegen Mittag erreichte ich die hohen Mauern der Hazienda. Die Gebäude waren früher ein spanisches Kloster gewesen und standen groß und mächtig auf einer Anhöhe. Gackernde Hühner, Schweineherden und Maulesel trieben sich am Weg herum; auch hörte ich das Summen von Maschinen. Die Zuckerrohrernte war in vollem Gange, und überall am Wege, wo mir Leute begegneten, nutschte jeder: Kind, Mann und Frau, an kurzen Stengeln Zuckerrohr. Göttliches Land, dem die Süßigkeit vom Feld in den Mund wächst, wollte ich sagen – da kam mir aus dem Tor einer der Aufseher entgegen. Hinter ihm im weiten Hof standen die Wagen mit geschnittenem Zuckerrohr belastet; in der ehemaligen Klosterkirche war das Dach von Schornsteinen durchbrochen, und darunter in dem Kirchenschiff sausten die Transmissionsriemen, Kessel bei Kessel war aufgestellt, darin der Zuckersaft gesotten, gereinigt, gepreßt und gekühlt wurde. Ich war vom Pferde gestiegen, und ehe ich noch sprechen konnte, blieb ich schweigend vor dem tosenden Maschinengetöse stehen, das aus den Pforten der Barockkirche dröhnte, als wäre die Hölle in den Himmel eingezogen. Die Mauern und der Erdboden zitterten unter dem Eisensummen und unter dem Schwirren der Eisenräder und der sausenden Transmissionsriemen.

"Können Sie mir sagen, wo die Sternwarte ist? Sie soll in einem der Gärten der Hazienda liegen."

"Oh – oh – oh", machte der Aufseher und fragte: "Sind Sie vielleicht ein Verwandter des verstorbenen jungen Astronomen?"

Ich glaubte, ich hätte im Lärm, der aus der Kirche kam, nicht richtig gehört. Und ich wiederholte die Frage nach der Sternwarte.

"Der ist tot, der junge Mann. Die Frau hat ihn vor acht Tagen in der Hauptstadt Mexiko begraben, schrieb sie hierher. Die Sternwarte ist noch gar nicht gebaut. Der junge Deutsche bekam jeden Abend Fieber. Und als das junge Ehepaar den Garten bezog, da dauerte es nicht lange – keine vier Wochen waren sie hier –, dann mußte die Frau ihren Mann nach der Stadt Mexiko in ein Spital überführen. Dort ist er vor ein paar Tagen gestorben. Auch die junge Frau sieht nicht aus, als ob sie den Mann lange überleben würde: sie ist von allen Schrecken und Sorgen, die sie mit ihrem Mann hatte, sehr mitgenommen; und der Arzt hatte beiden geraten, schleunigst nach Europa zurückzukehren. Sie hatten auch schon ihre Schiffsplätze bestellt und wollten reisen, da wurde der Mann ganz plötzlich so sehr vom Fieber gepackt, daß man ihn nur noch nach der Stadt bringen konnte. Aber an eine Abreise übers Meer war nicht mehr zu denken. Wer weiß, vielleicht kommt auch die junge Frau nicht mehr nach Europa zurück; sie sieht nicht aus, als ob sie ihren toten Mann noch lange überlebt."

Ich nickte, als ob ich derselben Meinung wäre, und mußte an das rotweiße Profil des Ixtacchihuatl denken, der im gelben Abendlicht einer toten Frau mit blondem Haar glich. Und ich wunderte mich auf einmal, daß ich beim Anblick des weißen Frauenprofils nicht an Orla, sondern an die blonde Astronomin gedacht hatte. Vielleicht war ihr Mann gerade zu jener Abendstunde in Mexiko gestorben, als ich auf dem Dach des Gesandtschaftshauses stand. Vielleicht ist auch sie selbst schon tot. Ich nickte und bot dem Aufseher eine Zigarre an. Und ich ließ mich dann von ihm durch das Schiff der Kirche führen, wo an Stelle der Beichtstühle, der Chorbänke und des Altars die Zuckerpressen und die Kessel und Zuckermühlen standen, wo statt der Stille und Gebete die Wucht der Arbeit, die Tatkraft und der Gegenwartswille einsetzten, energisch, unerschütterlich, deutlich und furchtlos. Die Mönche und der Geist der freiwilligen Entsagung waren verdrängt vom Arbeiter und vom Geist der Lebensbehauptung.

Hier war das neue Europa. Hier der Lärm unserer Tage. Hier fühlte ich mich kräftig werden, ich bekam Arbeitslust, und mein Blut geriet mir mit den Rädern der Maschinen in frische Schwungkraft und frischen Kreislauf.

Der Anblick des gepflegten Stahls der Kessel, der Zahnräder, der Anblick der Arbeiter in ihrer sachlichen, schlichten blauen Leinentracht, der eiserne Eifer mitten in der Tropenlandschaft machte mich frei von aller Schwäche. Ich konnte nicht einmal den Tod des jungen Astronomen so sehr betrauern. Ich überdachte nur, daß ich nun mit dem nächsten Schiff zurück in die nüchterne Maschinenzone, die sich Europa nennt, sehnlichst heimzukommen wünschte. Ich fühlte nichts als dringliche Sehnsucht nach einfachen deutschen Waldbäumen, Sehnsucht nach rußigen Städten, wo die Schornsteine der Fabriken starrten und Menschen in Selbstzucht, ohne Götzen, ohne überreizte Abenteuerlust, ohne Krater, ohne Pistolen in den Gürteln, einfach, streng und arbeitstüchtig Bürger von Europa waren. Ich dankte den Maschinen und ihrem kräftigenden Lärm in der hohen Kirche und schüttelte dem Aufseher die vom Maschinenöl und vom Ruß gutmütig und ehrlich verarbeitete Hand.

Dann stieg ich auf mein Pferd und ritt, vom indianischen Führer begleitet, nach Cuautla zurück.

Beim Herritt hatte ich die Gegend nur flüchtig beachtet, ich hatte immer über die Spitzen der zartgefiederten Blätter der Zuckerrohrstauden hinweg den Himmelsrand nach der Hazienda und nach der Sternwarte abgesucht. Nun erst beim Heimweg, als es dunkel wurde und die Erde den Abend grau wie einen Dunst ausatmete, sah ich von der Mähne meines kleinen mexikanischen Pferdchens auf. Der Weg war überwölbt von hohen Königinnenpalmen. Die weißen Schäfte dieser Palmen standen wie Marmorsäulen am schmalen Weg. Dichtes Unterholz voll wilder Zitronenbüsche, voll grüner Zitronen füllte die Räume zwischen den Palmen. Der Aufseher vorhin in der Hazienda hatte mich einen Augenblick aus der Kirche fort in den einen der Fruchtgärten geführt, den der gestorbene Astronom gemietet hatte, und wo die Sternwarte hatte errichtet werden sollen. Solch ein Garten war eigentlich ein Fruchtwald. Die Stauden und Bäume standen so dicht, daß die Bündel brauner, roter und gelber Bananenfrüchte von den korallenroten Beeren der graziösen Kaffeebäume gestreift wurden; darunter quollen aus der Erde die stacheligen Ananasfrüchte inmitten von blaugrünen steifen Lederblättern; zitronengrüne und hellgelbe Orangen, bernsteingelbe Mangofrüchte und die langen schönen Schoten der Brotfrüchte drückten sich durcheinander. Der Indianergärtner dieser Fruchtpflanzungen hatte nichts zu tun, als nur die handbreiten Bewässerungsfurchen, die den Garten wie ein rieselndes Wassernetz durchzogen, in der Erde mit einem Stückchen Holz zu regulieren. Geerntet wurde hier das ganze Jahr hindurch, alle Fruchtbäume trugen Früchte und Blüten, frische grüne Blätter und welkes Laub zu gleicher Zeit.

Der Sommer, der Herbst und der Frühling hingen an allen Zweigen dieser Bäume um mich. In diesem Garten war keine Blume – nur Früchte und Fruchtblüten strotzten über mir, unter mir und um mich her. Man hatte von keinem Weg eine Aussicht, man sah immer nur wieder in Dickichte von Fruchtbäumen, die so eng wuchsen wie manche Nadelholzpflanzungen in deutschen Wäldern, darinnen sich die Bäume so stark beschatten, daß sie einander ersticken.

Dieses beobachtete ich jetzt nochmals und erkannte, daß die Welt in Mexiko doch auch reich und üppig sein konnte; wunderbar fleischig hatte mich der Fruchtgarten angesehen, und niemand hätte geglaubt, daß er durch seine feuchte Treibhauswärme und durch sein üppiges Fruchtfleisch dem letzten Besitzer, dem jungen Astronomen, den Fiebertod gegeben hatte, weil auch die fruchtgütigste Erde hier dem Europäer das Heimatrecht verweigert.

Es wurde nicht Nacht. Der Schein des aufgehenden Mondes stand hinter den Sträußen der Palmen, und immer, wenn ich unter eine Palme hinritt, war die Luft darunter warm wie in einem Haus, außerhalb des Bereiches der Palmenkrone aber war die Luft abendkühl. Der Zitronenduft löste sich zudringlicher von den Büschen des Unterholzes. Bald ritt ich durch buschigen Zitronenwald, der grau im Mondschein wie ein Nebel neben mir lag, und atmete so reichen Duft ein, daß mir schwindelig wurde. Der Zitronenduft und der Duft von Orangenblüten erinnerte mich an den Geruch eines Hochzeitskranzes und Hochzeitsstraußes. Wo war die Braut, der dieser Kranz und dieser Strauß gehörten? Das weiße Gesicht des Mondes stieg aus dem Unterholz. Der Mond machte meine kaum genesenden Nerven noch schwindeliger als der Orangenblütenduft. Ich sah die weißen Stämme der Königinnenpalmen wie silberne Leuchter zu beiden Seiten des Weges stehen. Der Weg war weich von tiefem grauen Staub, und die Pferde schritten lautlos wie auf Watte über die Erde, nur die Metallteile des Pferdegeschirrs klingelten. Es war wie ein Geisterritt durch Orangenblüten, durch warme Palmen, durch kühles Licht, über dumpfen Staub. Aus den Palmen stiegen große grünliche Glühkäfer, gingen wie die Flammen von Herzen über das Unterholz, kamen vereinzelt über den Weg; ein Licht blieb mir vor dem Gesicht stehen, ich sah es als grünlich klaren Körper wie ein fliegendes Auge, das aus einem Schädel fortgeflogen wäre und phosphorn, ohne Herz und ohne Hirn, seinen Weg über die Orangenbüsche suchte.

"Tote gehen um!" dachte ich einen Augenblick, und ich wunderte mich, daß ich nichts fühlte, immer noch nicht fühlte, wenn ich die Worte Tod und Tote aussprach. Mein Herz war noch nicht bei mir. Der Schreck hatte es ins tiefste Versteck hinter meine Rippen verscheucht.

Seit der Ermordung Orlas hatte ich kein Herz mehr. Meine Augen gingen immer noch allein ohne Herz wie die Glühwürmer durch die Nacht, die aussahen wie Augen, wie Augen ohne Menschen.

Wenn du erst auf dem Meer bist und jeder Tag dich wieder näher nach Europa zurückbringt, dann kehrt auch dein Herz wieder! – Ich könnte vielleicht mit der armen trauernden blonden Frau reisen, dachte ich jetzt. Wenn sie noch lebte, und wenn sie noch nicht abgereist wäre, wollte ich mit ihr reisen.

Ich ritt Galopp, schlug das Pferd mit der Reitpeitsche und trieb es an, als ob ich dadurch früher aufs Meer kommen könnte.

Der Geruch gebrannten Kaffees drang aus ein paar Hütten am Weg. Einige indianische Herdentreiber waren mit Lassos in den Händen vorher an mir vorbeigejagt und kehrten jetzt hinter mir zurück und trieben einen Stier, den sie aus einer Herde herausgefangen hatten, vor mir her und verschwanden mit ihm hinter Zaunhecken im Mondschein.

Plötzlich mußte ich meine Hände vor mein Gesicht halten. Ich fühlte: die Tränen stürzten aus meinen Augen. Die flüchtige dunkle Silhouette des Stieres und die Lassoreiter hatten mich an das Stiergefecht, an Orla in der Loge neben ihrem Mörder, an die Heimfahrt im Wagen, an die Küsse erinnert, die wir da küßten! Mit einem Ruck war mein Herz in meinem Körper, in mein Blut, in meine Augen, in die Luft um mich, in die Bäume, in die Mondlandschaft gedrungen, heller als das hellste Licht, heißer als mein Blut selbst und weiter und unendlicher sich aus mir löschend als die Nacht, als der Orangenduft. Nur ein Wirklichkeitsschatten der Erinnerung an die echtesten Minuten hier in diesem Land, an die wenigen hitzigen Küsse und Umarmungen, war mit dem Schatten des vorbeijagenden Stieres auf mein Herz gefallen, und das Herz hatte sein Versteck verlassen, hatte sich verlangend in das offene Weltall gestürzt, sehnsüchtig Liebe von mir fordernd, Hilfe für seine Sehnsucht, und hatte sich wieder preisgegeben dem Durst, dem Verlangen, dem Fordern und dem Trieb zum Leben.

Ich weinte und weinte Tränen der Erlösung, der Sehnsucht, der Trauer, des Vermissens, lebende, rollende, eifrige Tränen, die an meinen Wangen herunter in die Mähne des Pferdes fielen. Ich weinte, über den Hals des Pferdes gebeugt, und fühlte klar mitten im Weinen: nun war ich einsam wie nie, nun war ich wieder ein Liebesuchender, ein Reiter in der Nacht, ohne Herzensziel! – Und ich weinte mich, je länger ich den Tränen ihren Willen gab, desto fester wieder ins Leben zurück. Meine Augen wuchsen wieder mit meinem Herzen zusammen. Und als ich in Cuautla vom Pferde stieg, vor den mondweißen Mauern des Gasthauses, da fühlte ich mich irdischer als am Morgen. Ich wußte nun wieder, was ich verlernt hatte im Schreck und in der Krankheit: daß das Leben Verlust und Gewinn, Blüte, Frucht und welke Blätter hatte, und daß es nicht nur ein Phantom und eine Fiebererscheinung war...

Dies Leben kam wieder gesund zu mir, seit ich den Schmerz um Orla endlich in raschen heftigen Tränen ausbrechen fühlte. Diese Tränen gaben mich wieder dem Empfinden zurück. Denn wo man Schmerz fühlt, ist man auch fähig, Freude zu fühlen, nur die Gleichgültigkeit ist wie ein luftleerer Raum, darinnen der Mensch aufhört zu atmen, und aufhört daseinsberechtigt zu sein. –

Am nächsten Tag, als ich wieder in der Hauptstadt Mexiko war, teilte ich dem deutschen Gesandten meine Absicht mit, sofort nach Europa zu reisen. Graf L. war erfreut, mich so erfrischt aus Cuautla zurückkommen zu sehen, und auch der Medizinalrat hatte nichts gegen die ganz plötzliche Abreise. Da die Stadt immer noch unter der Aufregung der Gerichtsverhandlung der neunzehn Polizisten stand und alle Tagesblätter die Verhandlungen täglich wiedergaben und alle Welt nur davon sprach, daß der Präsident der Republik nun neunzehn Todesurteile unterschreiben würde, fanden die Herren der Gesandtschaft sowohl als ich selbst, daß eine schleunige Abreise mir gesundheitlich nur von Vorteil sein könnte.

Ich fand aber noch einen Brief von Orlas Mutter vor, die mich bat, nach Tlalpam zu kommen: sie hätte eine große Sehnsucht, mit mir von Orla zu sprechen. Der Brief war aber schon sehr alt und hatte von meiner alten Wohnung an der Glorieta den Weg durchs Polizeibureau genommen und war nun nach vier Wochen erst der deutschen Gesandtschaft übergeben worden. Trotzdem machte ich mich auf den Weg nach Tlalpam. Aber im Augenblick, als der Zug dort in der Bahnhofshalle einfuhr, sagte eine Stimme in mir, daß ich niemand finden würde. Ich ging deshalb gar nicht erst aus dem Bahnhof; der Ort ist sehr klein und Orlas Mutter war hier durch die letzten Ereignisse jedermann bekannt. Ich fragte den Beamten am Billettschalter: und der konnte mir auch sofort Auskunft geben und sagte mir, daß die Dame, die ich suchte, sich zur Winterkur nach Florida begeben hätte. Bei dem Worte Winterkur fiel mir ein, daß morgen der erste November, der Totentag, war, und daß man hier in dem immergrünen Lande Mexiko nichts von Winter wußte.

Orlas Mutter hatte also die ganze Tragik der Ereignisse und Todesfälle in ihrer Familie schnell überwunden und schnell mit sich abgemacht und war bereits weit fort über den Golf von Mexiko gereist. Ich bedauerte, daß ich nicht erst telegraphisch bei ihr angefragt hatte, und ärgerte mich, daß ich da am Bahnhof in Tlalpam stand. Ich betrachtete plötzlich die Bahnhofshalle genauer, die wie ein langer, weißer, gewölbter, hoher Saal war. Nun sah ich erst, daß ich mich auch hier wieder in der alten Barockkirche eines früheren Jesuitenklosters befand. Der Zug hielt mitten im Kirchenschiff. Die Lokomotive stand wie ein eisernes dampfendes Götzenbild vor den drei Stufen des Hauptaltars. Der Altar war verschwunden, an seiner Stelle stand eine Weichenwärterzelle, eine armselige Holzhütte, aus der ein magerer Mann trat und mit einer Signalfahne winkte, damit der Zug rückwärts fahre und auf das Nebengleis rangiere. Die hohen schmalen Kirchenfenster, die wunderbaren Stukkaturschnörkel an der Decke umgaben ein riesiges Gipsdreieck, in welches das Auge Gottes gemalt war. Das Auge Gottes sah auf den Schienenweg und auf die Personenwagen erster Klasse, aus denen die Europäer gestiegen waren, es sah auch auf die zweite Klasse, aus der die Indianer gestiegen waren. Das Auge Gottes sah auf die Weichenwärterhütte, auf den Billettschalter und auf mich. Der Billettschalter war in die Sakristei eingebaut, und statt eines Priesters sah der Beamte in der Uniformmütze aus dem Guckfenster. Nichts Unheiliges aber war an der Stelle des Heiligen hier getreten – das heilige Leben mit seinem tiefen Lebensernst, der Alltag, den die Arbeit heiligt, der Lebenstrieb gingen fröhlicher jetzt hier um, fröhlicher als ehemals die dumpfe Hingabe an heiliges Nichtstun. Die mit Eisenwagen und ernsten Tagesarbeiten angefüllte hohe Halle sah herrlich tätig aus; die Schönheit der Arbeitsfreiheit, der Drang nach Bewegungsfreiheit, die emsige Hingabe an weises Ausnützen der Sekunden und Minuten ging als der Geist eines neuen europäischen Gottes von der großen Lokomotive aus, die eben langsam und majestätisch ihre Kolben rührte, ihre wuchtigen Räder wie bezähmt drehte und den Dampf aus dem Schlund des Schornsteins kurzgedrungen und wuchtig ausstieß.

Ich mußte an Orla denken, wie sie im Bahnhof von Orizaba auf die Plattform der Lokomotive gesprungen war, und wie gut sie die Ventile und die Regulierung der Maschine gekannt hatte.

Ich schneuzte mich heftig, um meine Tränen zu verbergen, die mir in die Augen traten. Ein Bahnbeamter trat an mich heran und sagte mir, ich könne, wenn ich zurück nach der Hauptstadt Mexiko wollte, gleich wieder in den Zug steigen.

Noch einmal überblickte ich die Halle und bemerkte das Symbol des Heiligen Geistes, eine weiße Taube, die an der Decke über dem Auge Gottes als Relief in Gips gearbeitet war. Die Taube schwebte mit ausgebreiteten Flügeln da oben, und kein Fortschritt hatte durch die Arbeit das Symbol des Geistes und des Friedens verscheucht. Der echte heilige Geist lebt nur im Lebenstrieb, in der Arbeit und in der Liebe. So sprach ich zu mir und fand es seltsam, daß dieses Land mir schon drei Kirchen gezeigt hatte, die der Zeitgeist sich erobert hatte. Die erste Kirche war eine Reitbahn geworden, die zweite in Cuautla eine Zuckerfabrik, und die dritte hier in Tlaplam ein Bahnhof. Und es gab noch viele andere Kirchen hier im Lande, die Lebensdrang sich erobert hatte. Der Zeitgeist drängt die Andacht aus der Kirche, aus den Mauern wieder in die Natur zurück. Vor der Natur, vor der Arbeit und vor einem liebenden Menschenherzen halten wir heute unsere tiefen Andachten. Die Dreieinigkeit des neuen Lebens, das von Europa aus über alle fünf Weltteile strahlt, ist beschlossen in dreieinigen hohen Geistern, dem Geist der Natur, dem Geist der Arbeit und dem Geist der Liebe vom Mann zum Weibe und zu allen Menschen. Im Geist der Natur ist die Liebe zu allen Lebewesen, zu den Pflanzen, Tieren und Dingen enthalten. Im Geist der Arbeit ist alle Liebe zum Lebenstrieb, der den Menschen zum nützlichen Glied der Menschheit und der Natur macht. Im Geist der Liebe vom Mann zum Weibe liegt der Grundkeim zur Liebe überhaupt, zur Eltern- und Kindesliebe, zur Liebe des Nächsten und zur Liebe zur Arbeit und zur Natur. Um den Geist der Liebe vom Mann zum Weibe kreist das ganze Weltall; diese Liebe gebiert alle Liebe und alle Kraft.

So philosophierte ich mit mir, während der Zug mich weiter nach Mexiko zurücktrug. Auf der Gesandtschaft teilte man mir mit, daß bereits übermorgen ein Dampfschiff von Vera Cruz abgehen würde. Es sei aber fraglich, ob der Dampfer gut sei: er wäre ganz neu und hätte eben erst seine erste Fahrt von Dublin über den Ozean gemacht. Es sei ein kleines Schiff. Wenn ich aber noch warten wollte, dann würde bald ein größeres Schiff gehen.

Nein, ich wollte nicht mehr warten.

Niemand, nur eine Dame mir ihrem Manne fahre auf dem Schiff mit, sagte man mir noch, da sonst kein Passagier sich auf den kleinen neuen Dampfer wage, der eigentlich erst seine Probefahrt gemacht habe.

"Ist es keine einzelne Dame, die mitfährt?" fragte ich und dachte an die Frau des gestorbenen Astronomen.

"Nein, eine Dame und ein Herr, ein Ehepaar", sagten die Leute des Schiffsbureaus. Dann konnte es die Dame, die ich meinte, nicht sein; trotzdem sagte ich zu, aus Gesundheitsrücksichten wollte und konnte ich nicht jetzt erst die Astronomenfrau aufsuchen. Ich war immer noch im Genesungszustande, wo ich der armen, trostlosen jungen Frau keine guten Worte und keine Anteilnahme geben konnte, denn es wäre ihr nicht damit gedient gewesen, weil ich auch von ihr Mitgefühl für meinen Verlust hätte beanspruchen müssen. Ich hätte ihr außerdem alles erzählen und auseinandersetzen müssen, denn sie hatte ja keine Ahnung, daß ich die junge Mexikanerin wiedergesehen und geliebt habe, und daß ich Orla jetzt stündlich vermißte und betrauerte und noch so elend und apathisch war, daß mir keine Gesellschaft wohltat. Nur die stille Trauer und das Alleinreisen könnten mich kräftigen, sagte ich zu mir. Es wurde nun entschieden, daß ich übermorgen abreisen würde.

Am nächsten Morgen hatte ich noch einige Einkäufe auf der Plaza zu machen.

Es war der erste November, der Tag, wo alle Indianer nach den Kirchhöfen eilen, die weit vor Mexiko liegen, um auf den Gräbern ihrer toten Verwandten zu essen, zu trinken und zu plaudern. Auch dem Toten stellt man ein wenig Speise hin und plaudert mit ihm, als ob er noch lebe.

Ich hatte dem Medizinalrat versprechen müssen, nicht auf den Friedhof zu gehen, und hatte nur einen Diener mit einem großen Strauß Tuberosen und Veilchen an das Grab Orlas gesendet. Unter allen den Neugierigen, die nach den Gräbern drängten, wäre es mir auch unmöglich gewesen, mit Orla an ihrem Grabe allein zu sein; ich gab den Gedanken auf, den Friedhof zu besuchen.

Auf der Calle San Franzisko, die ich seit dem Abend des Nationaltages nicht mehr zu Fuß betreten, sondern nur im Wagen durchfahren hatte, als ich nach Cuautla und Tlalpam gereist war, erstaunten mich die Menschenmassen vor verschiedenen Schaufenstern.

Ich sah zwischen den Köpfen der Leute durch und sah lange Reihen von Ansichtspostkarten, auf denen die Köpfe der neunzehn verurteilten verbrecherischen Polizisten photographiert waren. Über diese neunzehn Köpfe war am ersten November das Todesurteil gesprochen worden. Es sollte am Tag der Toten eine Genugtuung und Sühne bedeuten, daß man der aufgeregten Nation das Todesurteil als Beruhigung mitteilte. Neunzehn junge kräftige Männer hatte ein einziger unüberlegter streberischer Augenblick auf Schafott gebracht. Neunzehn Köpfe sollten von den Schultern dieser Männer fallen. Der Hauptmörder aber war den neunzehn bereits in den Tod vorausgegangen: der Polizeipräsident. Und ich mußte an Orlas Mutter denken, die mir im Brief mitgeteilt hatte, daß sie es gewesen sei, die dem Polizeipräsidenten die Pistole in einem ausgehöhlten Brot ins Gefängnis geschickt habe.

Seltsame Mutter, die dem Mörder vom Schafott half, die es nicht erwarten konnte, bis er verschwand, und die dann eiligst zur Kur nach Florida gereist war!

Die Tragik wirkte hier in Mexiko auf diese Frau so wenig tragisch wie das Erdbeben, an das sich alle Bewohner von Jugend an gewöhnt hatten. Gewohnt, immer Pistolen und Messer in den Taschen der Männer auf allen Straßen offen herumtragen zu sehen, waren selbst die Frauen hier aufs Unglück vorbereitet, wie ein Reisender auf dem Meer beim Anblick des tobenden Wassers auf den Schiffbruch vorbereitet ist. Nur mir armem europastillen Mann, mir waren Erdbeben und Gürtel voll Pistolen und Dolche in den Cafés, auf der Trambahn und auf den Trottoiren der Straßen so ungewohnt wie das Morddrama hier, das im ganzen dreiundzwanzig Menschenleben gekostet hatte, ein Drama, das Mexiko nicht länger als nötig interessierte, und von dem schwache Kunden in die europäischen Zeitungen gelangt sind. Als ich später wieder in Europa war, wußten dort die wenigsten von den Aufregungen des mexikanischen Unabhängigkeitstages. Wenn ich nicht die Zeitungen mitgebracht hätte, würde man es kaum geglaubt haben, da man mit Absicht wenig darüber telegraphiert hatte, um die mexikanischen Zustände nicht bloßzustellen. Wenn hie und da in Mexiko eine Stadt im Erdbeben verschwand, hörte man kaum das Echo davon aus kurzen Telegrammen in Europa, und hier waren ja nicht Tausende im Erdbeben begraben, sondern nur dreiundzwanzig Menschen getötet worden. Damit entschuldigte man sich, wenn man möglichst wenig Kunde von dem neunzehnfachen Todesurteil nach Europa dringen ließ.

Ich dachte noch eben über das Totenfest nach, das der Menschenfressergott von Ixtapalapa, dessen Kiefer bis in die Stadt Mexiko reichten, an dem Tage abhielte, wo die neunzehn Köpfe unter der Guillotine fallen würden; und mir diesen Gedanken kam ich auf die Plaza.

Der zweite Platz vor der Kathedrale wimmelte unter allen Bäumen von Verkaufsbuden, die aus ein paar Pfählen, bedeckt mit weißer oder grauer Segelleinwand, wie bei einem Jahrmarkt in Massen aufgebaut waren.

Zuerst sah ich nur Reihen von Totenkränzen und Blumenkreuzen, dann aber war mir, als sei der Platz ein ausgegrabener Miniaturfriedhof geworden. Da waren Zuckerbuden und Spielzeugbuden in langen, endlosen Reihen, und auf den Verkaufstischen lagen hochaufgeschichtet lebensgroße Totenköpfe aus Marzipan mit vergoldeten Goldschaumaugen und mit goldenen Zähnen. Da waren ganze Skelette und gekreuzte Knochen, aus Zucker angefertigt. Da waren Scharen von Hampelmännern aus bemaltem Karton, die den Tod darstellten; wenn man an einer Schnur zog, so tanzten die Knochenbeine des Todes, und die Arme hielten und spielten eine Violine. Da waren ganze Leichenzüge aus schwarz gekleideten Puppen zum Spielen für die Kinder und kleine Trambahnwagen aus Schokolade mit einem Schokoladensarg. Es wurden auch lange Reihen von kleinen Grabsteinen aus Schokolade verkauft, mit künstlichen Blumen verziert und mit goldenen Inschriften. Winzige Skelette aus weißem Zucker saßen auf den Gräbern.

Die Buden hingen voll von diesen Schokoladenfiguren des Todes, lagen voll von Bergen von Totenköpfen aus Marzipan, voll von verzuckerten Gräbern, welche die Erwachsenen den Kindern zum Naschen kauften, ohne daß sich diese hier weniger unterhielten als beim Einkauf von Zucker- und Schokoladeneiern auf europäischen Ostermärkten.

Mit dem unbestimmten Gefühl: soll ich hier mitlachen, mitkaufen, mitspielen oder entsetzt umkehren, betrat ich die langen Reihen der Marktbuden, wo die Spielzeuge und die Süßigkeiten, die den Tod, Gräber und Grabsteine darstellten, nicht endeten.

Allmählich erschien mir der Markt nicht mehr wie das offene Maul eines Menschenfressergottes, der einen ganzen oder mehrere Friedhöfe zwischen seinen Kinnbacken zerkaut; allmählich gewöhnte ich mich an das Spiel mit dem Tod, als ich die Finger der kleinen Kinder begierig nach den Marzipantotenköpfen greifen sah, und als einige europäische Kinder an ein paar Totenbeinen aus Zucker nutschten und andere bereits den Mund schwarz gemalt hatten vom Kauen an kleinen Schokoladengrabdenkmälern, und als ich sah, wie die freundlichen, sanften Indianer feierlich und lautlos mit stillen Gesten und fröhlich glänzenden Augen ihrer Totenwaren auf den Tischen anboten – da wendete ich dem Markt nicht den Rücken: ich ging lange sinnend auf und ab und sagte zu mir: "Tod, wo bleibt dein Stachel!"

Das ganze Weltall ist ein Lebensspiel. Geburt, Liebe, Tod sind die großen Spielfestzeiten bei allen Wesen. Und nun verstand ich auch die Mutter Orlas, die dem Tod nicht mehr Raum in ihrem Leben gab als die Kinder hier. Sie war schon wieder nach Florida zur Kur gereist, denn auch das Leben wollte sein Recht haben – das große Leben, das den Tod als ein Spielzeug ansieht, wie die Liebe, die Geburt und das ganze Weltall – als ein Götterspielzeug aus Zucker, Schokolade und Marzipan.

Ich ging nach Hause und fuhr, vom deutschen Gesandte und dem Medizinalrat begleitet, zur Bahn.

Daß die Herzen symbolische Spielzeuge sein können, ebensogut wie die Badepuppen kleiner Mädchen, das hatte ich schon in Europa gewußt, daß aber auch der Tod ein Kinderspielzeug werden kann, das hatten mich erst die Indianer in der Hauptstadt Mexiko gelehrt. Von dieser letzten Überraschung gleichsam mit nachdenklichem Reiseproviant versorgt, verließ ich die Hauptstadt Mexiko für immer und reiste nach Vera Cruz, um mit einem Schiff auf den Atlant und endlich wieder zur Mutter Europa zu kommen.

5. Die Ozeanwelle

Mein Zug raste bergab, siebentausend Fuß von der Hochebene der Stadt Mexiko hinunter an die Küste.

An den Stationen, wo die Indianer und Indianerinnen in rote Wolldecken eingewickelt saßen und ihre Zigaretten rauchten und Sommer wie Winter die mächtigen, hohen, breitrandigen Strohhüte trugen, nahm ich Abschied von den schönen stillen Augen dieser an der Erde kauernden genügsamen und lautlosen Menschen, die sanften Waldrehen gleichen und lautlos hinwandernden leichten Gazellen ähnlich sind und mit den großen stummen Augen den Europäern nachsehen, die ihr Land aufgeteilt haben.

Der Zug durchrasselte wieder die vielen Tunnels wie auf der Herreise, aber so wie die Bergabfahrt schneller vonstatten ging als das Hinaufklettern auf die Hochebene, so trennte sich mein Herz auch leichter und flog nach Osten, befreit, dem alten Europa entgegen.

Jetzt werden bald nicht mehr alle Europäer schlafen, wenn ich aufwache, dachte ich; und ich werde nicht immer zu Bett gehen, wenn Europa aufsteht; ich werde auch bald nicht mehr bloß zu Bett gehen, um zu wachen, sondern werde über dem Meer drüben den Schlaf ohne Moskitos wiederfinden, den heiligen Nachtschlaf, den ich seit Monaten nicht mehr empfing.

Ich erkannte die Gegenden, die ich durchfuhr, nicht wieder; denn damals, als ich in Orlas lebhafter Gesellschaft mit dem Abbé und mit dem jungen Astronomenehepaar hier vorbeigereist war, da hatten die Bäume und die Berge die Geste von großzügigen Seelen gehabt, die den Himmelsraum ausfüllen möchten und Sehnsucht nach Abenteuern und Sehnsucht nach unerreichbaren Glückszuständen haben. Jetzt standen Bäume und Berge an der gleichen Stelle, mit der gleichen Geste; aber ich fühlte nicht mehr den Schwung der Sehnsucht in allen Linien dieser Weltlandschaft; ich war allein da, und die Urwälder draußen mit dem graublauen Unterholz und den fächerartig darüber ausgebreiteten Baumriesen, deren Astwerk gleich den Stockwerken und den Gerüsten fabelhafter Waldhäuser sich über die Buschlandschaft erhob –, diese Blätterriesen und die Berggefälle dahinter, an deren Schluchten der Eisenbahnzug entlang bergab fuhr, standen nur wie die leeren Kulissenmalereien einer Bühne da, die nicht mehr von den Geheimnissen eines Dramas belebt werden, die Fenster des Zuges zogen wie an einer Kulissenwelt vorbei, die leer stand, in die das Tageslicht starrte, und die auf ein neues Glück wartete.

Ich war allein wie nie vorher im Leben. Und ich war nur glücklich, wenn ich hinaussah und bemerkte, wie rasend der Zug bergab eilte, und wie schnell der Schauplatz der letzten Monate zurückblieb. Es war, als wollte mir diese eiserne göttliche Maschine des Zuges wie ein guter europäischer Freund helfen, alles Unglück schnell zu vergessen.

Und wenn ich nicht gewußt hätte, daß drüben im Osten, über dem Atlant, mich ein großer Weltteil erwartete, voll Menschen, die mir gut waren, die meine Kräfte anzogen, die mir Hoffnungen und Zukunftsgedanken gaben, wenn ich nicht Europa wie einen Riesenmagneten gefühlt hätte, einen Magneten, der jetzt den Eisenbahnzug nach Osten zog und später das Dampfschiff über das Meer zu sich lenken würde, dann wäre ich gern in einen der Abgründe im Urwald hinabgesprungen, hätte mich an Felsen und Baumstämmen zerschmettert, nur um zu den Toten zu kommen, die mit mir reisten, und die ich doch nicht ganz als ein Spielzeug ansehen konnte, so wie die Indianer es auf dem Totenmarkt von Mexiko konnten.

Am nächsten Morgen kam ich nach Vera Cruz.

Ehe ich aufs Schiff ging, schlenderte ich noch durch die Straßen der Stadt, und mein Weg führte mich an einer Kirche vorbei. Die Kirchentür stand offen, und eine Sehnsucht nach Stille, Frömmigkeit und vereinfachten Lebensgesetzen trieb mich aus der Straße, darin die Aasgeier wie Sperlinge umherflogen und die Gossen nach Fieberdünsten stanken, in das Kircheninnere. Ich staunte: drinnen hing nicht Christus, nicht der weißhäutige europäische Gottessohn, sondern ein Indianer, eine Rothaut, am Kreuz. Das Riesenkreuz hing frei über dem Hauptaltar, daran der Indianer geschlagen war, mit schwarzem, schlichtem Haar, mit rotbrauner Haut, den bunten Federschurz um die Lenden. Das machte mir klar, wie gräßlich der Anblick war, an den wir unsere Kinder und uns von Jugend an gewöhnt haben, so daß wir kaum noch sehen, daß wir zu einer Hinrichtung aufschauen; zum erstenmal, da ich an der Stelle des weißen Mannes eine unschuldige sanfte Rothaut mit durchnagelten Füßen und Händen und blutender Hüftwunde aufgerichtet am Kreuz hängen sah, erfüllte mich Schrecken und Grauen vor den Schmerzen eines Gekreuzigten. Unwillkürlich mußte ich an die Tempel der Griechen denken, wo einst die Statue eines lebenbetätigenden Gottes im Allerheiligsten dem Beschauer Mut und Lebensfreude gab. Mir Verzweifeltem gab der Anblick des Hingerichteten und Gekreuzigten nur die Bestätigung, daß der Lebende einer Fülle von Irrtümern preisgegeben ist, die ihm das Dasein aufnötigt. Die Juden, die Christus ans Kreuz schlugen, irrten sich so, wie hundertmal Gericht und Menschenwissen sich irrten. Wo aber war das zum Lebensglück erhebende Symbol? Die Madonna mit dem Christkind konnte mich wiederum nur in Trauer versetzen, denn ich hatte ein unschuldiges Kind vor mir, das man einst, wenn es erwachsen wäre, hinrichten würde, und diese Mutter, die das Kind im Arm trug, müßte tausend Schmerzen um ihr Kind ausstehen. Ich sehnte mich nach Lebensfreude, nach Lebensbetätigung, nach Lebensfrieden und erkannte nur die Weltirrtümer der Menschen, die einen frommen und guten Mann, der sich Gottes Sohn nannte, quälten und ihn ermordeten, und die dann mehr als tausend Jahre lang zu dem Ermordeten aufschauten. Der Mißgriff der Welt, daß die Menschen Mörder am Göttlichen werden, stand hier vor mir, hier, wo ich Trost für den Irrtum der Mörder suchte. Orla war ermordet worden, die Geliebte meines Herzens, und ich fand keinen Gott und keinen Gottesbegriff in der Kirche, der mir nach den Schmerzen eine neue Liebe und neue Lebensfreude auf dieser Welt versprochen hätte. Wäre ich aber in einen griechischen Tempel eingetreten, so würden mir die unendlichen Freuden der unendlich glücklichen Götter vielleicht Hoffnung auf ein sich verlohnendes Weiterleben eingeflößt haben, so wie gute Freunde, die mit Musik und Freude einem die Sorgen vertreiben möchten.

Trauriger, als ich eingetreten war, verließ ich das Haus des gekreuzigten Indianers. Ich mußte immer an die neunzehn zur Hinrichtung verurteilten Polizisten in Mexiko denken, an Mord und Totschlag auf der ganzen Welt; denn seit Christus bis heute war die Welt, nach tausendneunhundert Jahren des Kreuzes, nicht anders geworden, nicht weniger mordlustig als am Hinrichtungstag auf Golgatha. Was nützt es dann, das Traurige anzubeten, wenn dieses die Welt so wenig ändern konnte wie die fröhlichen Heidengötter des Olymps? Wenn ich zwischen dem Anblick eines Hingerichteten und dem Anblick einer Venus, eines Zeus oder eines Baldur, einer Freia, eines Wodan zu wählen hätte, so würde ich, wenn ich Gemütserfrischung und Lebensbestärkung brauchte, lieber der Statue eines lebenskräftigen Gottweibes oder eines lebensstarken Gottmannes mein Leid vorgetragen haben und hätte aus der unverwüstlichern Kraft eines edlen Frauenkörpers oder einer edlen Männergestalt mehr Widerstandsmut geschöpft als jetzt, wo mein Hirn müde von Mördern, Gemordeten und Hingerichteten war und mein Auge zu einem von Menschen verquälten gekreuzigten Menschenkörper aufschauen sollte. Meine Trostlosigkeit wurde noch schwerer. Ich fühlte mich nun auch von allen Gottesgedanken der Welt allein gelassen, ich fand nicht mehr zu dem Gottesbegriff meiner Jugendjahre zurück.

Die Geliebte tot und ermordet; und vor der Kirche auf den Gossen von Vera Cruz huschten die schwarzen riesigen Aasgeier herum wie eine Springprozession verkappter Heuchler und Mörder, wie das Menschengeschlecht, das sich in Aasgeier verwandelt hätte und in schwarzen Federröcken um die Kirche her hockte und nichts vom Leben sähe als die schmutzigen Abfälle, die in den Gassengossen daherschwammen.

Kein Mensch war in den Straßen, nur die sich um Lampen und Knochen zankenden menschengroßen Aasgeier, die um sich schlugen und die Luft bis in die Kirche hinein mit Hungergezänk erfüllten.

Noch einen Abend verbrachte ich am Land, denn das Schiff verschob seine Abfahrt, und ich wohnte indessen in dem französischen Hotel, wo ich bei der Ankunft vor mehreren Monaten das Mittagessen mit dem Astronomenpaar eingenommen, und wo die junge Frau damals in ihrem Zimmer entdeckt hatte, daß ihre Violine von den roten Ameisen zerstört worden war. Ich hörte noch im Geist durch das Türbrett ihr Schluchzen wie damals, während ihr Mann mir das Unglück mitteilte.

Nein, in diesem Lande hatte die junge Frau wahrscheinlich keine Apollohymne spielen können, hier hatte sie sicher niemals Ruhe und Muße zu einem Violinspiel gefunden, wie sie es in Europa gewohnt gewesen war.

Am Abend spielte auf der kleinen Plaza von Vera Cruz eine Militärkapelle, und die Frauen gingen unter den Kokospalmen in weißen Kleidern und mir weißen Schleiern wie im Hochsommer, und niemand dachte in der lauen Mondnacht daran, daß es November war.

Am nächsten Morgen wurde mir mitgeteilt, daß ich eiligst aufs Schiff kommen solle, es rüste sich zur Abreise.

Ich verließ gern das von Aasgeiern wimmelnde Vera Cruz, und als ich auf das Schiff fuhr, denn es lag draußen im Meer verankert, und ein Kahn fuhr mich mit meinen Koffern an Bord, da fragte ich unterwegs den rudernden Matrosen, wie viele Passagiere an Bord seien. Ich hatte vorher mit Absicht keine Erkundigungen eingezogen, um mir nicht sagen zu müssen, daß ich nur mit dem Schiff führe, weil vielleicht auch die blonde Dame darauf reiste; ich wollte alles auf Glück und Zufall ankommen lassen.

"Es sind keine Passagiere außer Ihrer Frau dort, mein Herr", sagte der englische Matrose auf englisch.

"Außer meiner Frau?" fragte ich.

"Jawohl, mein Herr, sonst niemand!" antwortete der Mann und sah nicht von seinen Rudern auf; da der Seegang am Dock heftig war, mußte er sorglich auf die Brandung achten.

Was heißt das? dachte ich bei mir.

"Wann ist denn meine Frau an Bord gekommen?" fragte ich und vermied es zu lächeln.

"Vor einer Stunde. Ich habe sie eben erst zum Schiff gerudert", rief der Matrose zurück. "Jawohl, mein Herr!"

Ich schwieg und überlegte, was das zu bedeuten habe, und fragte nichts mehr. Der Matrose war natürlich in dem guten Glauben, daß ich zu jener Dame gehöre, die er herübergerudert hatte.

"Ich habe eine Kabine erster Klasse vorausbestellt", sagte ich zum dem Steward, der mich oben an der Schiffstreppe empfing.

"Jawohl, mein Herr", sagte er und führte mich durch das leere Schiff, hinunter durch den Salon in den Kabinenkorridor. In einer offenen Kabinentür sah ich da die blonde junge Astronomenfrau in schwarzem Trauerkleid sitzen. Sie hatte die Augen geschlossen, sie war totenblaß, lehnte mit dem Kopf an dem Türpfosten und rührte sich nicht.

"Oh", sagte der Steward erschrocken, "die Dame – ich glaube, der Dame ist nicht wohl! – die gnädige Frau – Sie scheint ohnmächtig zu sein!" –

Die junge Dame saß auf einem Koffer, als wäre sie tot; ihre Hände waren eiskalt. Der Steward sprang schnell fort und holte vom Büfett des Eßsaales nebenan Whisky, um ihr die Schläfen und Lippen zu benetzen. Er träufelte Whisky auf eine Serviette und hielt diese ihr an die Stirn. Ich stützte inzwischen ihren Oberkörper, damit sie nicht vom Koffer glitte. Inzwischen kamen Matrosen mit meinen Koffern polternd vom Deck herunter, um mein Gepäck in dieselbe Kabine zu stellen.

"Steward, sagen Sie doch zu diesen Leuten, daß ich nicht hier in dieser Kabine wohne, man hält mich für den Mann der Dame."

Der Steward dirigierte die Matrosen mit meinen Koffern in eine Kabine nebenan, und in dieser Zeit schlug die Ohnmächtige wieder die Augen auf. Ich dachte sofort: Nun wird sie sich zu Tode erschrecken, wenn sie mich so plötzlich, wie aus allen Himmeln gefallen, neben sich sieht! Sie aber sah kaum auf. Sie war so schwach, daß sie nichts zu erkennen schien.

"Luft, ich ersticke, Luft!" sagte sie schwach und wurde dann wieder ohnmächtig.

Der Steward kam zurück, öffnete das runde Kajütenfenster und sprang fort und brachte einen Palmenfächer. Ich riß eine Decke vom Bett und wehte der Ohnmächtigen Luft zu.

"Eis!" rief der Steward einem neugierigen Schiffsjungen nach, der im schmalen Schiffskorridor draußen vorüberging. "Eis, schnell, lauf und hole vom Koch Eis aus dem Eisschrank, lauf, die Dame stirbt, wenn du dich nicht eilst." Wir beide wehten indessen Luft mit dem Tuch und dem Fächer aus Leibeskräften. "Es ist zu dumpf hier unten in dem stillstehenden Schiffskasten," sagte der Steward leise und besorgt, "die Dame scheint herzschwach zu sein, ich habe sie eben noch gesprochen, da zitterte sie schon und war sehr blaß. Wenn sie sich nur auf der langen Seereise aufrecht erhalten kann. Sie hätte besser getan, sie wäre über Nordamerika mit der Bahn gefahren, das wäre schneller und einfacher gewesen. – Aber vielleicht hat sie die lange Seefahrt gewählt, um sich an der Meerluft zu stärken; aber wenn man so schwach ist wie sie, und wenn dann gar unterwegs Sturm käme, könnte es ihr schlimm gehen." Der Steward sprach das schnell und flüsternd.

Dann trugen wir die Dame vom Koffer auf das Bett und legten ihr einen Eisumschlag auf die Stirn.

"Wir dürfen uns nicht genieren und müssen der Dame das Kleid aufknöpfen," sagte der Steward, "sie kann vielleicht ersticken, wenn wir ihr die Kleider nicht öffnen."

"Ich kenne die Dame schon von der Herreise," sagte ich zum Steward, "ich werde ihr das Kleid öffnen, gehen Sie inzwischen und holen Sie Zitronenlimonade."

"Sie kennen sie schon?" sagte der Steward und sah mich verblüfft an, als könnte ich vielleicht doch heimlich der Mann oder der Geliebte dieser Dame sein und wolle nur unerkannt bleiben.

Er ging dann rasch und murmelte: "Goddam!"

Ich fühlte mich in der kleinen Kabine, deren schneeweiße, lackierte Wände frisch, sauber und anheimelnd leuchteten und von einem Silbernetz aus Wellenreflexen überrieselt wurden, heimisch und behaglich, als ich neben der schwarz gekleideten Frau stand, die leise atmend in den Kissen lag und die Augen geschlossen hielt, und deren Hand ich nicht loslassen wollte, fürchtend, ich könnte sie erschrecken, wenn ich an die Knöpfe ihres Kleides rührte.

Ich hatte bemerkt, daß sie, seit sie den Eisumschlag auf der Stirn fühlte, wieder eine rosige Gesichtsfarbe bekam, und daß die erschreckende Todesblässe sich verloren hatte.

Unter der weißen Leinwand der Eiskompresse lag ihr gelbes Goldhaar naß, vom Eiswasser an die Schläfen geklebt, und legte sich in schönen, langen Goldlinien ein wenig unordentlich über ihr Ohr und das weiße Kopfkissen. Die weißen Wände der Kabine, die weißen Kissen und das weiße Sonnenlicht draußen vor dem runden Fenster gaben mir die Vorstellung, als läge die junge Frau in einer Schneelawine, und sie hätte, in den Schnee versunken, monatelang hier gelegen, und nun erst hätte die Sonne den Schnee so weit geschmolzen, daß ich sie wiederfinden konnte wie eine Schneeglockenblume im Februar in einer aufgestauten Grube. Und wie diese Blüten einen feinen, frischen Honiggeruch haben, so erinnerte mich ihr goldgelbes Haar an Honig und leuchtete in der kleinen weißen Kabine wie Honigtropfen in einer Wachswabe. Der Meerglanz draußen griff mit seinen silbernen Lichtnetzen herein und streichelte die still atmende junge Frau und kam über die Wände der Kabinen wie ein Lichtregen auf sie herab und überrieselte das ganze Gemach, als wären die Wände voll von erregtem Zittern und Vibrieren und wären so erregt wie mein Augen und mein Herz und mein Blut, die der stillen, regungslosen, schwachen Frau huldigen mußten und glücklich waren, daß ich die Hand einer Frau halten durfte, die auch eine Fremde in diesem fremden Lande war, und die wie ich sich nach Europa zurücksehnte.

Der Steward kam leise mit der Limonade. Er sah mich fragend an und wunderte sich, daß ich der Dame nicht die Kleider geöffnet hatte. Dann sagte er:

"Sie sieht besser aus. Sie scheint eingeschlafen zu sein."

Ich legte die Hand der Schlafenden auf den Rand des Bettes. Dann stand ich auf und sagte dem Steward, daß es besser wäre, wenn wir die junge Dame allein ließen. Sie könnte sonst beim Erwachen erschrecken. Es schien auch keine Gefahr mehr für sie vorhanden zu sein, sie hatte wieder eine natürliche Gesichtsfarbe und atmete friedlich.

Wir gingen dann und ließen die Türe halb offen, um den Luftzug in der heißen Kabine nicht zu unterbrechen.

Dann ordnete ich meine Koffer und ging umher, um das Schiff zu betrachten.

"Wir reisen nicht vor morgen," hatte der Steward gesagt, "der Kapitän ist noch am Land und holt die Schiffspapiere vom Schiffsbureau. Er hat es eben sagen lassen, daß wir erst morgen die Anker lichten werden."

Der Speisesaal des Schiffes war an den Wänden mit weißen Marmorplatten belegt, auf denen goldene Lorbeerzweige eingegraben waren. Rote Teppiche, rote Sofas und rote Fenstergardinen machten den Raum zu einem kleinen Festsaal.

Das Schiff war vornehm und freundlich wie eine Privatjacht ausgestattet, und ich dachte mir: in dieser freundlichen sonnigen Meeresstille wirst du schöne liebenswürdige Stunden verleben; das Wasser wird den Schrecken der letzten Monate sanft einwiegen, und die junge Frau und ich, wir beide werden wie in einem Kurhaus in diesem kleinen sauberen Meerschloß wohnen, das mit seinen weißen kleinen Korridoren, den weißen Kabinen und dem weißen Marmorsaal voller Sonnenschein ein recht nervenberuhigender, lauschiger und beinah lachender Aufenthalt sein wird.

Ich hätte nicht zu fürchten, daß noch mehr Passagiere kämen, sagte der Steward lächelnd zu mir, denn die meisten hätten erfahren, daß das Schiff seine erste Fahrt nach Westindien gemachte habe, und wollten sich nicht gern dem kleinen neuen Schiff anvertrauen. Zumal, da das Schiff nicht ganz neu ist, fügte der redselige Steward bei. Das Schiff sei früher schon zehn Jahre lang von England nach Australien gegangen. Es habe jetzt in Dublin im Dock gelegen, sei neu hergerichtet worden und dann zur Fahrt nach Westindien von der Schiffsgesellschaft "Prince Line", der es gehörte, beordert worden. Es hieß: "The spanish Prince".

Zum erstenmal seit Monaten atmete ich wieder etwas von europäischer Sicherheit ein, als ich dem englisch sprechenden Steward zuhörte, der vor drei Wochen erst aus Europa gekommen war und mir beinah Respekt einflößte, als wenn er mehr Europäer wäre als ich, und als ob ich mich gegen ihn beinah schon als Mexikaner fühlen müßte, da ich seit Monaten den Heimatkontinent aus den Augen verloren hatte.

Der Mann freute sich am schönen Wetter und an der Sonne in Westindien und sagte, daß in Europa ein sehr schlechter kalter Herbst schon vor vier Wochen gewesen sei.

Ich erstaunte, daß man vom Wetter sprach, denn mit Ausnahme der Stunden des Tropenregens in den Sommermonaten herrschte hier doch immer ein selig blauer Himmel, und ich hatte es ganz verlernt, vom Wetter zu sprechen oder nach dem Wetter zu fragen, sowenig wie ich mich um den Kreislauf meines Blutes befragte, der immer, ohne mich zu fragen, gleichmäßig zum Herzen und vom herzen strömte.

Aber gern wollte ich wieder in das launische, unbestimmte Europawetter kommen, wenn ich dadurch dem viel fürchterlicheren launischen Schicksalswechsel und Seelenwetter entging, das hier unterm blauen mexikanischen Himmel mich täglich mehr als alle Wetterwechsel von Europa geplagt und verfolgt hatte.

Mir war, als hatte das Schiff, seit ich wußte, daß in einer der Kabinen jene trauernde Frau schlief, ein warmes Herz bekommen. Das Schiff war mir jetzt wie ein großer, lebender, guter Körper, der sich um mich kümmerte und mich vorsichtig und sicher über den Atlant transportieren würde wie ein treues Pferd.

Bei dieser Betrachtung fiel mir ein, daß ich in all der Aufregung der letzten Wochen mein Pferd "Stella" im Reitstall vergessen hatte; ich hatte es nicht verkauft, es stand noch dort und wartete, daß ich darauf ausreiten sollte. Ich fühlte jetzt erst, daß ich nach meiner tiefen Krankheit doch noch nicht allen Sinn für die Gegenwart zurückgewonnen hatte, und ließ mich schleunigst wieder nach Vera Cruz rudern, um wegen des Pferdes nach Mexiko zu telegraphieren und im Rennstall wenigstens meine Abreise mitzuteilen.

Neben dem Stadthause von Vera Cruz war die Post, ich schickte das Telegramm ab; aber als ich wieder auf die Straße treten wollte, stellte sich ein Mann neben mir auf und deutete mit dem Finger auf die Plaza.

Ich sah dort einen kleinen Trupp Soldaten. Ich begriff nicht, was der Mexikaner meinte, der da mit einem Brief in der Hand nicht in das Posthaus trat, sondern auf die Soldaten deutete.

"Warten Sie nur, Sie werden etwas erleben!" sagte der Mann rasch, als ich weitergehen wollte.

Ich begriff nicht, warum mich der Trupp Soldaten, die einen Gefangenen in ihrer Mitte führten, interessieren sollte. Jetzt schwenkte das Militär an einer Ecke in die Seitengasse.

"Warten Sie nur, jetzt gleich geschieht etwas!" rief eifrig und hastig der eigentümliche Mann neben mir und hielt mich am Arm fest.

Ich sah in demselben Augenblick einen Menschen in Sträflingskleidern aus der Gasse herausstürzen, in welche die Soldaten eingebogen waren.

Ich hörte dann einen militärischen Zuruf aus der Ferne über die Häuser herüber, dann das Krachen einer Salve. Der fliehende Häftling machte zwei Sätze in die Luft, fiel wie umgeblasen platt vorwärts, rührte kein Glied und lag still und flach an der Ecke des Platzes wie ein umgefallenes Brett.

"Er sollte zum Tode verurteilt werden. Aber man sagte ihm heimlich, in jener Gasse dürfe er davonlaufen, man würde ihn entkommen lassen; kaum lief jedoch der arme Teufel, so haben sie ihn erschossen. Das sollen Sie in Europa erzählen, mein Herr, wenn Sie hinüberkommen. Ich bin nämlich der Mechaniker des Schiffes, mit dem Sie reisen. Ich sah, daß einer unserer Matrosen Sie von Bord herüberruderte, und dachte mir, es müsse sie auch einmal interessieren zu sehen, wie der Präsident hier in Mexiko es versteht, dem Unterschreiben von Todesurteilen zu entgehen. Ich habe an dieser Posttür schon viermal solche Exekution beobachtet. Und gestern abend hat es mir der Wachtoffizier im Hotel beim Abendessen mitgeteilt. ›Morgen wird wieder öffentlich hingerichtet ohne Todesurteil!‹ sagte er. ›Wenn Sie es sehen wollen, gehen Sie nur um die Mittagsstunde zur Post!‹ Man tut bei der Überführung des Gefangenen vom Gefängnis zur Bahn, als wolle man ihn los sein, und sagt ihm auch: ›Der Präsident will kein Todesurteil fällen; darum laufen Sie nur, wenn wir an der Plaza um die Ecke biegen!‹ Läuft der Arme dann, so befiehlt der begleitende Offizier den Soldaten, nach dem Flüchtling zu feuern. So kommt es, daß der Präsident bisher nie ein Todesurteil unterschrieben hat."

Inzwischen hatten sich die Soldaten um den Toten gruppiert und warteten auf der Plaza, bis man eine Bahre brachte.

"Sehen Sie nur: die Aasgeier auf den Dächern sind hier schon an die öffentlichen Salven auf Menschen gewöhnt. Sie sind alle auf den Dächern in langen Reihen sitzengeblieben. Sie haben das schon öfters gesehen als ich," lachte der Mechaniker höhnisch, "Raubtiere und Raubmenschen – wo ist das eigentlich ein Unterschied? Alles lebt von der Gewohnheit, Tier und Mensch sind dasselbe", so schloß der einfache Mann in der blauen Schiffsjacke. Dann grüßte er und ging.

"Dieses war die Abschiedssalve Mexikos für mich", sagte ich zu mir, als der Pulvergeruch über die Kokospalmen des Platzes wehte und die Luft mit Traurigkeit und Todesangst erfüllte.

Als ich am Abend dieses Tages wieder an Bord des Dampfers kam und auf das Deck stieg, sah ich die Schornsteine rauchen, denn die Kessel wurden geheizt; die Boote, die am Tage um das Schiff gelegen hatten, waren ans Land gefahren; die kreischenden Ketten des Verladekranes auf dem Mitteldeck standen still, die Matrosen waren dabei, die großen Luken der Verstauungsräume mit Brettern und geteerten Leinwanden zu schließen. Man hörte nur noch das Hantieren der Leute und das Glucksen der Wellen unten um die Schiffswände, und in der Luft sangen Schwärme von Moskitos, die mit dem Abendwind vom Land aufs Meer hinausgetrieben waren.

Im ölgelben Abendschein lagen die Höhen von Mexiko blaugrau wie angehäufte Aschengebirge, wie die Riesenreste des Feuers der Tropensonne, die am Tage hier gebrannt hatte.

Fern im Hafenwasser standen eine große Hafenmaschine und einige verankerte Segelschiffe, deren dünne Masten und Taue wie Stricknadeln fein auf dem Verdeck des langen dunkeln Bootskörper aufgebaut standen. Diese schwarzen Schiffsgespenster am Abend, regungslos verteilt auf der milchglasmatten Meeresflächen, wirkten auf mich wie Gerüste von Guillotinen und wie Schafotte, die auf verurteilte Mörder warten. Ich stand am Schornstein und hatte Luft, tief aufzuseufzen, um mich von dem Alpdruck, den der Anblick des Erschießens und des fliehenden Sträflings heute in Vera Cruz auf mich gemacht hatte, zu befreien und wünschte mich weit fort von dieser unheimlich fremden und willkürlichen Küste Mexikos.

Plötzlich seufzte nicht ich, sondern die Abendluft neben mir seufzte so tief wie ein Mensch.

"Die junge Frau schläft noch in ihrer Kabine, ich habe mehrmals in ihr Zimmer hineingesehen, sie liegt noch in der gleichen Stellung, wie wir sie hingelegt haben, und schläft", so hatte mir der Steward mehrmals am Nachmittag versichert, als ich mich nach der Kranken erkundigte. Nun aber sagte mir das Seufzen, daß sie auf dem Verdeck hinter dem Schornstein war; niemand anders konnte es sein als sie, die so viel Leid mit sich trug und Trauer wie ich selbst. Ich ging laut auftretend um den Schornstein und fand die Kranke auf einem Deckstuhl ausgestreckt. Sie hatte wieder die Augen geschlossen und dachte wahrscheinlich, daß ein Schiffsoffizier vorbeigehe. Sie blieb mit geschlossenen Augen liegen, und ich zog mich wieder zurück, um sie nicht zu stören.

Ich sagte dem Steward: "Wenn die Dame sich nicht nach den Mitreisenden erkundigt, dann sagen Sie ihr nicht, daß ein ihr bekannter Herr mit an Bord ist; ich will die Kranke nicht stören, nur wenn sie sich nach Gesellschaft sehnt, dann sagen Sie ihr, daß ein Freund von ihr, den sie noch von der Herreise über den Atlant kennt, gern mit ihr sprechen würde." –

Zuerst fuhr das Schiff nach Progreso im Golf, wo es vierundzwanzig Stunden draußen im offenen Wasser lag, dann ging es in ein paar Tagen im Golf der Küste entlang nach Tampiko, wo es im breiten und schilfreichen Fluß von Tampiko liegenblieb.

Es war immer noch zu keinem Gespräch zwischen mir und der blonden Dame gekommen. Sie war während der Seereise in ihrem Bett geblieben und hatte die Kabine nicht verlassen wollen.

Sie sei nicht in der Stimmung, Menschengesichter zu sehen, die sie nicht kenne, sie fühle sich zu traurig, hatte sie dem Steward gesagt. Sie wollte nicht aufstehen.

Aber an dem Abend, als das Boot bei dem Landstädtchen Tampiko vor Anker lag und man nur Waldufer und flaches grünes Land und keine Stadt voll Menschen sah und der Mond aufging über dem Unterholz auf der anderen Flußseite, da sah ich sie auf Deck kommen. Sie trug nicht mehr ihr schwarzes Kleid, das wahrscheinlich zu warm war. Sie hatte ein hellgraues Taftkleid an und kam unter dem Mondschein geradeaus von der Treppe auf mich zugeschritten. Ihr Gang war erregt und eilig, sie hatte wohl eben erst vom Steward erfahren, daß ein Bekannter von ihr an Bord sei.

"Oh – Sie sind es!" Mehr sagte sie nicht. Ich war aufgestanden und ließ sie sich in meinen Stuhl niedersetzen. Sie weinte plötzlich in ihr Taschentuch und konnte nicht weitersprechen.

Der Mond glänzte auf ihrem Haar, das sah im Mondschein bleigrau aus und hatte in der Nacht jeden gelben Schein verloren.

Dann sprachen wir stundenlang, bis der Mond über den hohen Bäumen der fernen Stadt Tampiko unterging und die Nebel dem Fluß entstiegen. Es war mir aber während der ganzen Zeit, als wir auf dem halbhellen mondgrauen Verdeck miteinander sprachen, als schaue ich in einen Spiegel und antwortete mir selbst, wenn ich zu ihren Berichten nickte und "ja" und "jawohl" sagte. Ich hörte ihr zu, wie sie die ganze Krankheit ihres Mannes schilderte, als ob ich mich selbst in dem Spiegel krank liegen sähe, und als ob alles, was sie und ihr Mann gelitten hatten, auch mir geschehen wäre. Ich verstand alles so deutlich, daß sie mir endlich sagte: "Wir sind wie zwei auf Moll gestimmte Instrumente. Sie kommen mir verändert vor, als hätten Sie auch ein Leid in Mexiko erlitten. So schweigsam und trauervoll waren sie früher nicht."

Aber ich konnte nicht anders: ich mußte schweigen, ich konnte nicht sofort mit meinen Erlebnissen antworten.

Ich nickte nur und sagte: "Ich freue mich unendlich auf Europa!" Und dann erzählte ich ihr nur ganz unvermittelt, daß ich Nachricht aus Europa erhalten hätte: eine mir in Pouldu sehr lieb gewordene junge Dame habe sich erschossen. Kaum hatte ich das ausgesprochen, so fühlte ich, wie konfus das war.

"Ach", sagte die junge Frau, und ihre Stimme kam staunend zu mir – und sie machte eine Pause, als erwarte sie eine Fortsetzung des Berichtes.

Aber ich sah, ein wie ungeschickt es war, von meiner Freude für Europa zu sprechen und dem Bericht von einem Todesfall damit zu verbinden, vom Tode dieser fernen Bekannten, die mir nicht mehr als nur eine Begegnung am Atlant gewesen, und die von Orla längst verdrängt und aus meiner Erinnerung schon halb ausgelöscht war. Ich fühlte: nun war ein Mißverständnis da. Die trauernde Frau glaubte, ich traure um eine gestorbene Geliebte in Europa, und ich sehnte mich, an das Grab dieser Toten nach Europa zu kommen; und sie glaubte sicher auch, daß ich nur deshalb, weil mir jemand in Europa gestorben war, zurück in die Heimat wollte, und daß ich mich seit jenem Trauerfall in Mexiko verlassen fühlte.

Mit einem einzigen Wort – ich hätte nur Orla zu nennen brauchen und meine Liebe zu der Ermordeten erwähnen müssen – wäre eine Kette von Mißverständnissen vermieden worden.

Aber es war teils eine zu große Lust am geheimen Besitz meiner Abenteuer, die mich schweigen ließ, teils fand ich aus allen Schrecken auch nicht mal mehr den Anfang jener Verwicklungen, die so wild und plötzlich mich in Leidenschaften und Unglück verstrickt hatten. Ich hätte nicht gewußt, wie sollte ich mein Herz schildern, wie sollte ich eindringlich einer Frau meine Blutwallungen und meine Inbrunst für Orla beschreiben. Lust am süßen persönlichen Geheimnis, Scham vor der Darstellung meiner Herzenserlebnisse und Angst, meine eben heilenden Schreckensnarben wieder aufreißen zu müssen, zwangen mich zu fortgesetztem Schweigen. Und ich ließ die junge Frau in dem Glauben, daß ich drüben in Europa und nicht hier in Mexiko eine Geliebte verloren hätte.

Am nächsten Morgen gingen wir beide an Land und wanderten durch die weiten ländlichen Straßen der kleinen mexikanischen Flußstadt, die einstöckige Häuser mit so niederen Erdgeschoßfenstern hatte, daß man durch die Fenster in die Zimmer sehen konnte.

Seit wir uns beide in der Nacht beim Mondschein auf dem Deck wiedergefunden hatten, war eine übertriebene Lebhaftigkeit in mir und auch in der blonden Frau, die ich früher nicht an ihr und nicht an mir gekannt hatte.

Wir redeten fortwährend wie rasselnde Uhrwerke, doch schien es mir, als vermiede sie es, von ihrem Mann zu sprechen; sie hatte nur kurz den Krankheitsverlauf berichtet. Der junge Astronom hatte vom Sonnenstich eine Gehirnhautentzündung bekommen und war am dritten Tag an Gehirnlähmung gestorben. Sie erzählte viel vom dem Garten von Cuautla und von den Pyramiden von San Juan, wo sie sich sehr gefürchtet hatten; aber sie sprach beinahe mehr mit der Stimme einer befreiten und aufatmenden Frau als mit der Stimme einer leidenden Witwe.

Jetzt in den Straßen von Tampiko kaufte sie am Marktplatz einige indianische Stickereien und eine große Ananas, die sie mir zu tragen gab und die sie nachher auf dem Schiff essen wollte. Sie lachte ein wenig, und ihr Haar glänzte jetzt am Tag wieder messinggelb. Sie fuhr fort zu lachen, so daß ich, der ihr nichts von meinen Abenteuern mit Orla und nichts von den Erlebnissen des Unabhängigkeitstages erzählt hatte, es schon beinahe zu lustig und zu vergnügt fand, wie wir beide hier scheinbar so sorglos gingen und zu schnell unsere Gräber vergaßen.

Da kamen wir beim Rückweg zum Schiff in Tampiko in einer engen Straße an einem offenen Fenster vorbei, und wie wir beide unwillkürlich mit einem Blick das Zimmer im Erdgeschoß streiften, sahen wir uns beide blaß an.

Drinnen stand ein Sarg. Links und rechts brennende hohe Kerzen um den geschlossenen schwarz lackierten Sarg.

Die junge Frau schwieg mitten im Lachen, das sie ab und zu übertrieben lebhaft hervorstieß wie eine, die nicht hört, daß sie lacht. Und nun geschah das Schreckliche, daß sie wieder lachte und immer wieder lachte und dann um meinen Arm bat, weil sie vor Lachen stolperte, und weil sie nicht lachen wollte, doch immer wieder lachen mußte. Dann, auf Deck angekommen, suchte ich ihre Aufmerksamkeit von dem furchtbaren Lachen abzubringen. Ich zeigte auf eine Schar grüner kleiner Papageien, die vom Ufer in die Schiffsraaen geflogen waren und dort eifrig schwätzten und von einem Schwarm weißer Schmetterlinge umflattert wurden.

"Ich weiß, Sie wollen mich vom Lachen abbringen," sagte sie, "ich danke Ihnen; aber versuchen Sie es nicht! Lassen Sie mich in meine Kabine gehen: dieses Lachen verwandelt sich, sobald ich allein bin, in Weinen." Und das Taschentuch vor den Mund haltend, ging sie von mir, immer noch stoßweise ein Lachen lachend, von dem man hörte, daß es sich in einen Schauer von Tränen und Schluchzen verwandeln wollte.

Es war, als ob zwei Welten in dieser Frau um die Oberhand kämpften: die Gegenwartswelt und die Schmerzen des Vergangenen, die nicht weichen wollten und ihr Recht und ihren Platz, den sie im Herzen einnahmen, nicht freigeben wollten.

Am Nachmittag gingen wir wieder an Land. Sie sprach noch lebhafter und hatte entzündete Augenlider und gerötete Nasenflügel, als ob sie viel in die Kissen ihres Bettes geweint und geschluchzt hätte. Wir kamen beim Uferspaziergang in ein buschiges Unterholz, wo sie stehenblieb und einen kleinen Kolibri bemerkte, der wie ein vibrierender kleiner Rubin in den wilden Zitrusbüschen schwirrte.

"Glauben Sie, daß die Tiere auch Seelenleiden kennen?" fragte sie mich plötzlich. "Dieses kleine, göttlich schöne Geschöpf sieht aus wie ein Funken wirbelnder Seligkeit. Dies Tier kennt keine Qualen."

Ich fühlte, wie sie der Gedanke erlöste, daß es Dinge geben sollte, Wesen, die nur selig sein sollten, und daß sie bei ihrem Anblick wieder zurück zum glücklichen Leben finden wollte. Ich konnte ihr den Gedanken nicht zerstören, wollte nicht einwenden, daß Menschen und Tiere, daß überhaupt alles Dasein zeitweilig von der Möglichkeit des Nichtseins gequält werden mußte. Ich lächelte nur und sagte: "Der Farbe nach sollte man es nicht für möglich halten, daß der kleine schwirrende Rubin dort irgendein Leid kennt oder fühlt. Er sieht wirklich sehr selig aus, wie er jetzt da zwischen den Blättern und Zitronenblüten schwirrt und Honig nascht."

"Aber er ist doch nicht immer selig! Nein, Sie sollten mich nicht für kindisch halten; ich fühle alles, was Sie mir verschweigen, Sie verschweigen mir unendlich viel, weil Sie mich schonen wollen."

Ich sah sie erstaunt an und glaubte einen Augenblick, sie wisse alles, was mir in Mexiko mit Orla begegnet war.

Sie aber sagte rasch: "Ich weiß es, daß die Tiere ein Herz haben so gut wie Menschen. Es gibt überhaupt nicht, das aus dem großen Weltall, aus dem fühlenden Weltallkörper und aus der fühlenden Weltallseele geboren ist, das nicht fühlen und empfinden kann."

Ich war wieder erstaunt.

"Woher wissen Sie das alles? Sie sprechen Gedanken aus, dich ich heimlich für mich denke, aber nicht sage, weil die Menschen nicht reif sind, sie nachzufühlen."

"Ich bin es nicht, die jetzt zu Ihnen geredet hat," sagte sie dann schlicht, "das hat mein toter Mann abends, wenn er von den Sternen und den Fernrohren zu mir kam, immer wieder gesagt: die ganze Materie fühlt sich untereinander, und jedes Ding, das lebt und das wir sehen und benennen, sieht auch und nennt sich auch. Im Leben, meinte er, fühle jedes Ding, daß es lebt, und fühlt alle andern Dinge leben. Und leben ist lieben und leiden."

"Ja, Leben ist entweder Freude oder Schmerz, es wechselt in allen Dingen immer Freude und Schmerz ab. Eine einheitliche Seligkeit gibt es nicht, und das wäre auch kein Leben für Fleisch und Blut", erwiderte ich ihr.

"Also jetzt erst sagen Sie mir die Wahrheit, wo ich Sie anklagte, daß Sie mich schonen wollten – bitte –," sie blieb stehen, sah mich leicht von der Seite an und sagte leiser: "Bitte, sagen Sie mir in allem immer die Wahrheit. Sie sollen mich nicht zuviel schonen. Wir reisen eine lange Reise über den Atlant miteinander; und um alle Mißverständnisse zu vermeiden, sollten wir uns in allem immer die Wahrheit geradeheraus sagen."

"Oh", rief sie plötzlich und blieb stehen.

In einem Acker neben uns, der morastig vom Flußwasser durchsetzt war und schwarz glänzte, lag ein braunes Pferd und schien verendet zu sein. Ein Haufe Raben hatten dem Kadaver bereits den Bauch aufgerissen und zerrten die Gedärme aus der Bauchhöhle.

Wir standen beide einen Augenblick vor dem schauerlichen Bilde still. Plötzlich warf das Pferd den Kopf empor und schlug zuckend mit einem Huf in die Luft. Dann streckte es sich wieder und versank halb in den schwarzen Morast. Die Raben blieben ruhig und ungestört auf seinem Bauch hocken.

"Oh", rief die junge Frau entsetzt. Und nun begann sie wieder dieses entsetzliche Lachen zu lachen. Sie lachte aber nicht lange, sie nahm ihre Hände vor das Gesicht und weinte; und ich konnte nicht anders: ich mußte mein Taschentuch herausnehmen und mich schneuzen, um meine eigenen Tränen zu verscheuchen.

"O nein," rief plötzlich die junge Frau verzweifelt, "wir können nicht zusammen spazierengehen; ich bin zu erregt, zu erschüttert. Es bedarf nur eines kleinen Schreckens – gleich stürzt mein ganzes Herz, das sich zum Leben aufrafft, wieder zusammen. Ich darf Sie nicht wieder belästigen. Ich werde mich von jetzt an in meiner Kabine einschließen. Es ist besser so: ich bin noch nicht fähig, mich zu fassen. Verzeihen Sie mir, das war so dumm und so unnötig vorhin von mir, Sie zu bitten, mir immer die Wahrheit zu sagen. Es kann mir ja ganz gleich sein, ob Sie mich belügen, oder ob Sie mir die Wahrheit verschweigen; das geht mich ja im Grunde nichts an. Wir kennen uns ja kaum. Ich bin durch die Trauer um meinen Mann ganz und gar aus jeder Gesellschaftsfassung gebracht. Ich bin es noch gar nicht wieder gewohnt, so ganz allein mit mir zu sein; und rede ich dann mit einem Menschen, so mache ich, um mich für die Einsamkeit zu entschädigen, doppelt soviel Ansprüche – Ansprüche, auf die ich gar kein Recht habe."

Nach diesem Gespräch schloß sich die junge Frau trotz meiner Gegenrede in ihre Kabine ein und kam am nächsten Tage nicht wieder zum Vorschein.

Am folgenden Tag ging ich allein an Land und schnitt im Buchenwald einen Lianenzweig ab, den ich ihr durch den Steward ins Zimmer bringen ließ. Es wuchsen ein paar Orchideen mit Luftwurzeln an diesem Zweig, und ich freute mich, daß die Blumen der einsamen Eingeschlossenen Unterhaltung bringen würden.

Am Abend kam die junge Frau im Mondschein auf das Deck und setzte sich neben mich. "Sie haben mich mit Skorpionen aus meinem Zimmer und aus der Einsamkeit gejagt."

Ich verstand sie nicht gleich.

Da kam auch schon der Steward und zeigte uns einen Wassereimer, in den er die Orchideenbündel eingetaucht hatte. Das Wasser wimmelte von kleinen Skorpionen. "Auch in meinem Zimmer liefen schon einige herum und trachteten mir nach dem Leben", sagte die junge Frau lebensvoll erregt und lächelte mich dankbar an, weil ich sie indirekt von ihrer selbstgewählten Einsamkeit befreit hatte. –

Am gleichen Abend saßen wir auf den Deckstühlen schweigend nebeneinander, als hätten wir uns nichts Wichtiges mehr zu erzählen, und als könnten wir es uns wie zwei gute Freunde leisten, zu schweigen, ohne daß dieses Schweigen auf die Dauer beleidigend gewesen wäre.

Sie schien es sich aber vorgenommen zu haben, sich von jetzt an möglichst wenig für mich zu interessieren; denn als das Schiff am nächsten Tag nach dem Mississippi, nach New Orleans, quer über den Golf von Mexiko weiterfuhr, blieb sie meistens mit einem Buch beschäftigt oder schlafend hinter dem Hauptmast des Verdeckes auf dem Schiffsstuhl liegen; und wie mir schien, sollte dies sagen, daß sie allein bleiben wollte, denn sie sah kaum von ihrem Buch auf; oder wenn sie aufsah, zog sie sich gleich in ihre Kabine zurück und nickte mir nur leicht zu, sobald ich an ihrem Platz vorüberkam.

Ich hielt mich daher meistens auf der Kommandobrücke oben in der Steuerkabine des Kapitäns auf. Der Kapitän plauderte gern, und auch der wachhabende Offizier erzählte gern von seinen Schiffbrüchen auf früheren Reisen.

Als wir in den breiten lehmgelben Mississippi einfuhren, hatten die junge Frau und ich in den ganzen drei Reisetagen kaum ein paar höfliche Worte gewechselt und waren einander seit der Abfahrt von Tampiko fremder geworden.

Mir war, als müsse diese Entfremdung durch das kleinliche idyllische Landstädtchen Tampiko bewirkt worden sein, das einen kleinstädtischen Zug von Beschränktheit, Engherzigkeit und Peinlichkeit auf uns ausgeströmt hatte. Denn kaum näherten wir uns auf dem Riesenstrom Mississippi der großen Stadt New Orleans, so bemächtigte sich aller Menschen an Bord ein großzügiges Erwachen aus der idyllischen Stumpfheit, die von Tampiko her noch dem Schiff und allen an Bord anhaftete.

Die Schiffsleute hatten behaglich breite Erinnerungen an die großstädtischen Eindrücke von New Orleans auf ihren Lippen und priesen das herrliche Leben, das sie jetzt in der großen Mississippistadt mit Theatern, Frauen und Restaurationen erwartete.

Außerdem sollte auch endliche die gräßliche Ladung Kreosot, die das Schiff mit sich führte, ausgeladen werden, und von Kapitän bis zum Steward freute sich jeder, diese chemisch stinkende Ladung loszuwerden, deren Ausdünstung sich in weißen Kristallen an allen Ventilatoren des Schiffes wie ein Reif niedergeschlagen hatte. "Der Geruch ist gesund", hatte zwar immer der Kapitän behauptet, wenn man sich über diese Ausdünstung aus dem Laderaum beklagte, aber nun schmunzelte selbst er bei dem Gedanken, den "gesunden Geruch" bald auszuladen.

Bei der Landung an dem öden Uferkai des Mississippi, wo man nur Holzbarken, Kohlenhäuser und die Hütten der Negerarbeiter am Kai neben dem Schienenweg langer Güterzüge, die da am Ufer standen, sah, fragte ich die junge Frau, ob sie Lust habe, mit mir die Stadt zu besichtigen, die noch durch ein Arbeiterstadtviertel aus kleinen Holzhäusern vom Mississippi getrennt wurde.

Sie dankte und sagte, sie würde in ihrer Kabine bleiben. Ich dachte bei mir: Das wird eine recht trostlose und langweilige Heimreise werden, wenn sie immer darauf beharrt, allein zu bleiben. Ich ging mit dem Kapitän und den Offizieren zur Stadt, wo ich aber bald des Herumschlenderns zwischen den riesigen Großstadthäusern und Warenhäusern müde wurde, so daß ich mich gleich nach dem Abendessen um halb neun Uhr zurück aufs Schiff begab.

Am Ufer des Mississippi angekommen, setzte mich plötzlich der Mond in Erstaunen, aus dem ein großes Stück am Rand der Scheibe weggebrochen zu sein schien. "Mondfinsternis," sagte ich zu mir, "eine beginnende Mondfinsternis." Als ich vor dem finstern Schiffskörper am Ufer angekommen war und auf dem schmalen Brückenbrett von der Ufermauer auf das Deck ging, rief die junge Frau oben am Geländer meinen Namen.

Wie wohl mir das tat, daß eine bekannte Stimme mich rief, hier am leeren Mississippi. "Haben Sie schon die Mondfinsternis gesehen?" fragte die Stimme oben vom Schiff herunter. "Kommen Sie schnell, ich habe Sie die ganze Zeit hergewünscht, um Ihnen die Mondfinsternis zu zeigen."

Sie kam mir frisch und verwandelt entgegen und deutete mit dem Zeigefinger nach dem Mond, ihre andere Hand schob sie zutraulich unter meinen Arm und zog mich an das Schiffsgeländer nach der Flußseite, wo oben in der Nacht, von vorbeifliegenden Wolken hell und dunkel umdampft und umraucht, der Mond ab und zu erschien und immer noch von einem Schatten angebrochen war, wie ein weißer Teller, von dem ein Stück abgeschlagen ist.

Die junge Frau schien sehr beglückt, daß ich ohne den Kapitän und ohne die Offiziere zu ihr zurückkam; und als ich sie fragte, wie sie sich die Zeit vertrieben habe, klagte sie sehr.

Zuerst seien die Wäscherinnen aufs Schiff gekommen, Mulattinnen, Bekannte von ein paar Steuermännern, die hätten gleich das Klavier im Salon geöffnet und heftige Negertänze gespielt. Dann hätte der Hund des Kapitäns oben an Backbord gestanden und bis zum Abend sein eigenes Echo angebellt, das von einer Wand eines Kohlenlagerhauses zurückbellte, bis er heiser wurde. Der Hund hätte immer das letzte Wort haben wollen, aber das hätte die Wand nicht erlaubt, sie habe immer noch ein Schlußwort auf das letzte Geknurre des Hundes gehabt, bis der Hund nach Stunden ganz tiefsinnig und gekränkt fortgeschlichen sei.

Die junge Frau war dann, ermüdet vom Klaviergeklimper und Hundegebell, an Land gegangen und an den kleinen Vorgärten der Holzbaracken entlang promeniert. Aber der Weg sei dort mit Austernschalen gepflastert, die einen Pestilenzgeruch verbreiteten, und auch der Anblick von alten Negerweibern, die neugierig aus den Hütten gekommen wären, mit einem schwarzen Kind auf dem Arm und einer kurzen Tabakspfeife zwischen den dicken Lippen, hätte die blonde Frau wieder auf das Schiff zurückgetrieben. Und nun habe sie eben angefangen, sich zu fürchten. Darum sei sie auf dem Verdeck auf und ab gegangen und hätte gewünscht, daß ich doch zurückkommen möchte.

Die Erzählende verbesserte sich aber schnell und sagte noch: "Und natürlich vor allem wegen der Mondfinsternis wünschte ich, daß Sie aus der Stadt an den Fluß kommen sollten, um diese zu sehen."

Ich mußte aber im geheimen lächeln, weil zuerst doch nicht die Mondfinsternis, sondern die Einsamkeit die junge Frau mich auf das Schiff hatte zurückwünschen lassen.

Wir gingen auf und ab, und ich bat, daß sie ihre Hand auf meinem Arm lassen solle, damit sie nicht im Halbdunkel auf dem Verdeck über die unebenen Dielen stolpere und stürze.

So ging sie denn an meinem Arm bis zum Backbord, wo wir immer umschwenkten und bis zum Hauptmast marschierten. Wir gingen schnell, weil es hier am Mississippi in der Novembernacht nicht so warm war wie im Golf von Mexiko.

Und bei diesem Auf- und Abwandern begann sie, ohne daß ich sie befragt hätte, mir offen die ganze Leidensgeschichte ihrer Reise nach Mexiko zu erzählen.

Sie war mit ihrem Manne nicht etwa bloß, um für ein paar Monate einen Ausflug nach Mexiko zu machen, von Europa gekommen, sie hatten beide alle Brücken hinter sich abgebrochen und waren auf gut Glück und europamüde über den Atlant gezogen. Nicht nur hatte der Astronom, der ein großer Schwärmer vor dem Herrn war, in Mexiko seiner Sternwarte leben wollen, von der er träumte – er hatte außerdem die seltsamsten Einfälle, er wollte das beste, was Europa und Asien an Büchern, an Götzen, an Kunst und Musik hervorgebracht hatten, wenigstens in Erinnerungen mit hinüber in das Land der Sonne mitnehmen, um dort nicht ohne Tradition zu sein.

Das alles in Reproduktionen oder in Büchern mitzubringen und mitzuschleppen, war natürlich unmöglich gewesen. Darum hatte er sich so eine Art Kulturextrakt zusammengestellt und nahm das mit, was von der alten Kultur ihn persönlich am stärksten angeregt hatte.

Er hatte sich einen großen Gipsabguß von der Venus von Milo aus dem Louvremuseum verschafft, ebenso eine Statue des ägyptischen Sonnengottes Osiris, die Statue eines indischen Buddha, auf einer Riesenlotusblüte sitzend. Dieses waren die Bildwerke. Dann füllte er Kisten und Mappen mit Kunstblättern von Dürer, Rembrandt, Leonardo da Vinci und Michelangelo, Mappen mit Stößen von Meisterreproduktionen aus allem Museen Europas, und Kisten mit Abgüssen von den Friesen des Parthenons in Athen. An Büchern packte er die Edda und das Nibelungenlied ein, die Bibel, den Homer, den Koran und die indischen Weden. Er hatte seiner Frau eine große Harfe in Paris gekauft und ein ausgezeichnete Violine; aber sie wollte nur Volksmelodien und Zigeunerweisen spielen und sonst nur jene Apollohymne, die man eben erst ausgegraben hatte; außerdem hatte er Musikstücke von den Javanern und aus China und Japan und von den Arabern und von den Südseeinseln aus den Reisewerken berühmter Forschungsreisenden gesammelt.

Mit dieser Fracht an Weltkulturextrakt, versehen außerdem mit Angeln, Jagdgewehren, Fischnetzen und Fernrohren waren die beiden jungen Eheleute nach Mexiko abgereist.

"Das war ja, als ob sie in Europa die Sintflut erwartet hätten und den ganzen Bedarf an himmlischen Gütern, wie weiland Noah die Tiere in einer Arche, vor dem Untergang hätte erretten wollen", konnte ich mich nicht enthalten, scherzend und staunend zu bemerken.

"Oh, spotten Sie nicht," seufzte die junge Frau, "Sie wissen nicht, wie ernst diese Auswanderung meinem armen Manne war, und – er hat ja nun auch seine unerreichbaren Träume mit seinem Leben bezahlen müssen. Er war so überzeugt, daß er für mich und sich das Beste wollte, als er, gleich nach der Hochzeit in England, die Auswanderung in das Sonnenland Mexiko, wie er sagte, vorschlug und ausführte; er war europamüde."

"Und warum haben Sie sich nicht dagegen aufgelehnt, warum haben Sie ihn nicht einfach verlacht und darauf bestanden, in Europa zu bleiben?" fragte ich eifrig und mich ereifernd.

"Haben Sie nie geliebt?" fragte sie mich vorwurfsvoll.

Ich schwieg und fühlte: ich wurde blaß vor Trauer, wenn ich an Orla erinnert wurde.

"Gut", fuhr sie fort und sah mein Schweigen als eine Bejahung auf die Frage an. "Wenn man liebt und geliebt wird, sieht man die Welt nie mehr so nüchtern, wie man sie in einsamen ungeliebten Zeiten betrachtet.

Das wissen alle, die die Liebe erlebt haben. – Nie mehr hätte ich nach meiner Hochzeit bezweifeln können, daß sich schöne Träume ebensogut verwirklichen lassen könnten wie die Hochzeit selbst. Denn die wirkliche Liebe erleben, und nicht bloß von Liebe träumen, das übertrifft doch bei weitem alles Geträumte, alle Erwartungen, alle Vorstellungen unendlich! – Warum sollte ein Leben in Mexiko nicht ebensogut möglich, ebenso schön und herrlich sein, da doch die Liebe täglich alles zwischen meinem Mann und mir möglich und herrlich machte. Daß es auch für die Liebe Unmöglichkeiten gibt – um das zu wissen, waren wir zu glücklich miteinander, und alles war uns bis vor der Reise über den Atlant herrlich und nach Wunsch geglückt.

Wir sahen Mexiko nicht einmal für so sehr wichtig für unser Glück an. Es sollte nur eine Steigerung für unserer verliebten Einsamkeit bedeuten; wir wollten egoistisch ungestört, weltfern, ohne Zeugen unendlich glücklich sein – umgeben von allem, was die Welt Großes, Harmonisches und großes Unsterbliches geschaffen hat. Darum nahmen wir alle die Kunstwerke, Bücher und Noten mit uns, um, getragen vom Höchsten, nicht aus der Höhe der Liebe ins banale Leben zu fallen."

"Ja, das banale Leben," sagte ich traurig, "es ist der einzige Rahmen, in dem das Fleisch und das Blut leben und gedeihen und sich glücklich zu fühlen vermögen. Wir sind keine Astralkörper, die aus Licht im Licht leben können. Wir genießen mit dem banalen Leid und seinen banalen Bedürfnissen das höchste Glück, wenn wir das banale Leben nehmen, wie es ist, und es höchstens ein ganz klein wenig und von Generation zu Generation nur ganz sanft, ganz langsam zum Höheren hinlenken. Alle gewalttätige Vergeistigung des banalen Lebens bekommt uns nicht. Wir sind aus dem banalen Leben banal geboren und müssen dieses banale Leben als unser starkes Fundament zu schätzen und zu respektieren verstehen. Alle heftigen Stürmer gegen die Banalität haben sich die Köpfe zerbrochen, und das banale Leben blieb und behielt ewig recht. Das banale Leben lebte schon zur Zeit des Gottes Osiris, zur Zeit des Buddha und zur Zeit der Venus von Milo auch. Umgeben vom Banalen, entsteht und lebt sich das Höchste natürlich."

So dozierte ich und ereiferte mich und schämte mich zugleich, daß ich mich hatte fortreißen lassen, zu einer Frau so ausgiebig über das banale Leben in Beziehung zum Höchsten zu sprechen, zu ihr, die gerade um den Preis, nicht banal zu leben, ihr Leben und das Leben ihres Mannes eingesetzt hatte.

Ich schwieg und sah zum Mond auf, der jetzt wieder als vollkommen runde Tellerscheibe oben am Himmel hing und breit auf den uferlosen gelben nächtlichen Mississippistrom herabglänzte.

Die junge Frau stand neben mir und hatte meinen Arm losgelassen. Sie zog den weißen Seidenschal fröstelnd enger um ihre Schultern. Es schien, als fröre sie nicht so sehr von der Kühle der Mondnacht als von dem Alleinsein, an das sie noch nicht wieder gewöhnt war.

"Haben Sie nicht gefunden," fragte sie sehr ernst, "daß im fernen Land einen die Elemente am besten trösten können, die Urelemente: Feuer, Wasser, Luft und Erde?"

Ich verstand sie nicht gleich.

"Sehen Sie das Wasser da unten: es glänzt im Mond so selbstverständlich, wie das Wasser des Flusses glänzt in meiner Heimat in Europa. Sehen Sie dann das Licht, die kleine Flamme aus der Negerbaracke da drüben, neben dem Kohlenlagerhaus – das helle Fenster in der Nacht sieht auch hier am Mississippi vertraut aus, wie das Fenster in einem Haus, dahinter jemand krank liegt oder im Bett liest oder Briefe schreibt, ganz so wie zu Hause bei Nacht ein Fenster in meiner Heimatstadt; und die Nachtluft, die jetzt von den Prärien jenseits des Mississippi hinüberweht – sie weht nicht anders, als die Luft zu Hause ins offene Fenster meines Mädchenzimmers; und – neulich; als ich meinen Mann auf dem Friedhof von Mexiko in die Erde versenkte und ihm eine Schaufel Erde auf den Sarg warf und die Erdbrocken poltern und aufschlagen hörte und der Erdgeruch aus dem Grab strömte, da tröstete mich nichts als Erdgeruch allein – der roch wie unser Garten zu Hause, wenn im Frühling der Gärtner unterm Fenster schaufelte und wir Mädchen es nicht erwarten konnten, bis wir Sommerkleider und weiße Pfingsthüte bekämen und uns damit in alle Hoffnungen des Sommers einkleiden dürften –, sehen Sie, so kindlich sind Frauen, daß sie sich am Primitiven trösten müssen. Gute Nacht." Sie verließ mich und brach so schnell ab, daß ich fast erschrak und glaubte, es habe sie ein Unwohlsein befallen. Aber ich fühlte an dem Ton, mit dem sie gute nacht gesagt hatte, daß sie doch nicht von den vier Urelementen getröstet war, daß ihr das größte Element, die Liebe, fehlte; daß sie floh, weil sie nicht in Tränen ausbrechen und nicht zeigen wollte, wie hart ihr die Trauer und die Einsamkeit ankamen – und wie wenig "Luft und Erde, Feuer und Wasser" einen Menschen trösten können, der das Liebste verloren hat.

Seltsam sanft und anheimelnd waren diese letzten Worte von ihr gewesen: "Die Urelemente können uns in dem fremden Land nach der Heimat versetzen und uns trösten." Oft schien es mir, daß der, welcher reist, bei allem unterwegs nach der Heimat fragt und fragen muß und im Grunde immer zu Hause ist. Erst zu Hause angekommen, erkennt man die Reise und die Fremde. Wie werde ich wohl von Europa aus meine mexikanischen Erinnerungen anschauen? Werden sie mir noch krasser, noch dämonischer erscheinen? –

Das Schiff war zwei Tage später schon bei Florida am Ausgang des Golfes von Mexiko und sollte jetzt an der Westküste von Nordamerika entlang und dann in der Höhe von Philadelphia auf der großen atlantischen Weltverkehrsstraße den Atlant gen Osten kreuzen – auf einer Fahrlinie, wo man täglich am Horizont Dampfer und Segelschiffe auftauchen und bei Tag und Nacht vorüberziehen sieht, so daß man sich wie auf einer großen Heerstraße fühlt wie mitten im Weltverkehr zweier großer Kontinente.

Aber noch eine Woche würde es dauern, bis wir in diese Weltverkehrsstraße einbögen; bis dahin waren wir täglich allein auf dem Meer und begegneten nur äußerst selten einem Schiff.

Bisher war das Wetter schön gewesen; und am Abend, als wir um das Kap von Florida fuhren, strahlte der Himmel wie ein Riesenprisma, das man siebenfach geschliffen am westlichen Horizont ins Meer tauchte, und das siebenfarbig leuchtete.

Aber der Kapitän runzelte die Stirn. "Weniger Farben am Himmel würden weniger Stürme bedeuten", sagte er.

"Also erwarten wir sieben Stürme?" fragte ich.

"Vielleicht sieben mal sieben!" lachte der Schiffsingenieur, der neben mir stand. Der Kapitän sagte nichts.

Am Abend, als die junge Frau und ich allein im Speisesaal saßen und einen kleinen handgroßen Alligator, den ich in New Orleans gekauft hatte, auf dem langen Tisch spazierenlaufen ließen und uns amüsierten, das junge Tier im Nacken zu kitzeln, bis es behaglich grunzte, da sah der Steward herein und sagte, der Kapitän ließe uns mitteilen: wenn wir ein Feuerwerk sehen wollten, sollten auf Deck kommen.

Wir gingen hinauf und sahen oben um die Mastspitze eine weiße elektrische Feuerkugel schweben wie eine weiße Feuerblase. "Elmsfeuer!" rief der Kapitän von der Kommandobrücke. Wir passierten die Grenze der Tropenzone, und durch den Temperaturaustausch entstand das Naturphänomen. Mir aber erschien das weiße Licht so, als habe sich der weiße leuchtende Astralleib eines gestorbenen Menschen dort um den Mast verdichtet, als nehme jetzt die Tote Abschied, von der ich solange nicht mehr gesprochen hatte, als wollte Orla sich mir noch einmal zeigen und mich an sich erinnern. Das Licht wehte wie ein weißer Schleier aus der Mastspitze und sprühte.

Aber ich sprach auch jetzt noch nicht von Orla zu der jungen Frau, trotzdem mich das geisterhaft blauweiße Licht dazu aufforderte.

Sie hielt plötzlich meinen Arm fest.

"Hören Sie?" sagte sie und horchte.

Es donnerte in der Ferne, und der Himmel am Horizont war als eine schwarze Masse mit der schwarzen Meermasse ineinandergesunken.

"Donner auf dem Meer im Winter! Es klingt, als käme Mexiko mit Erdbeben und donnernden Kratern hinter uns hergeschwommen", sagte sie, und bei dem furchtsamen Klang ihrer Stimme mußte ich daran denken, wie sie sich jetzt nachts in der Kabine beim Donner und bei den siebenmal sieben Stürmen, die von den Schiffsleuten erwartet wurden, fürchten würde.

Ich konnte ihr zu all dem bevorstehenden Schrecken nicht auch noch die Trauergeschichte von Orla erzählen; sie würde ganz vom Leben verschüchtert werden, wenn sie hörte, welcher Schändlichkeiten Menschen fähig sein können. Sie würde nicht mehr ruhen und einschlafen und immer an die neunzehn Polizisten und an den schändlichen Polizeipräsidenten denken müssen.

"Sie sind so still," sagte sie plötzlich, "Sie haben mir noch gar nichts von Ihrem Leben in Mexiko erzählt." Sie sah mich fest an.

Da gingen wir in den Speisesaal hinunter, und ich erzählte ihr alles, was ich von Orla wußte: von ihrem Tod, von den Drohbriefen, von dem Unabhängigkeitstag. – Nur daß ich sie geliebt hatte, und daß ich nach ihrer Ermordung todkrank gewesen war – das verschwieg ich.

Als ich zu Ende gesprochen hatte, sagte die junge Frau: "Ich wußte das alles aus den Zeitungen. Ich habe aber immer Tampiko erwartet, daß Sie es mir erzählen möchten. Ich erwartete eigentlich, noch mehr von Ihnen darüber zu hören als aus den Zeitungen."

Ich schwieg.

"Oh, Sie sollen nicht sprechen, wenn Sie nicht sprechen wollen", sagte sie und stand auf und gab mir nicht die Hand wie sonst, wenn sie sich abends zurückzog und gute Nacht wünschte. Sie ging. Und draußen grollte der Donner, als hätte sie, wie sie durch den langen weißen Schiffsspeisesaal zwischen den bronzenen Säulen hinaufschritt, eine Schleppe von Donner an ihrem Gewand. Wie hinter einem Kometen her ein Feuer durch die Nacht des Weltraumes fegt, so ging sie und hatte den Donner um sich, als grollten ihre Schritte beleidigt, als grollte das ganze Schiff und das Meer bis in die Ferne mit ihr, weil ich meine Geliebte vor ihr verleugnen wollte – so wie Petrus seinen Herrn nachts am Feuer verleugnet hatte.

Und während dieser ganzen Nacht, immer wenn ich aufwachte, grollte es, und das Schiff begann gegen Morgen zu rollen und sich auf die Seite zu legen, und tausend Dinge auf Deck krachten mit einem Male, und die Taue klatschten und pfiffen wie Signalpfeifen, denn es hatte sich der Vorbote der siebenmal sieben Stürme aufgemacht und hatte das Schiff eingeholt und ließ es sich wie ein lebendiges Geschöpf krümmen und dem Wasserfeld zu entfliehen trachten; aber die Wellen stiegen an den Wänden hoch und drückten das Schiff tief in den Wasserleib, so sein Holz stöhnte und in allen Fugen und mit allen Planken aufkreischte wie ein ängstliches Tier, das einer erwürgen will.

Und nun begannen die Tage eines wahnwitzigen neuen Schreckens. Das Meer hatte sich in eine Gebirgswelt aus Wasserbergen und Wasserhöhlen verwandelt. Riesigen Gebirgsketten ähnlich wälzte sich das Meer und war zu einer mächtigen schiefen Ebene geworden. Die Wellen erstiegen eine die andere, als wollte sich das Meer von der Erde trennen; und es wurde zur Höhe gerissen, hinauf in den Luftraum gezerrt, als wolle der Sturm die Wellen wie ein Wassergekröse aus den meilentiefen Schlünden herausreißen.

Das Schiff ritt nicht mehr wie sonst auf dem Scheitel des Meeres, es wurde von den Wellen fortgeschleift, es stand plötzlich, gleichsam hoch in der Luft über die Höhle zwischen zwei Meerbergen fliegend, so daß man die Schiffsschraube außerhalb des Wassers für Minuten nicht mehr arbeiten hörte. Oft horchten selbst der Kapitän oder der Ingenieur während der Mahlzeiten auf, wenn das Surren der Schraube verstummte und die Schiffsmaschine todstill zu stehen schien.

Ist die Schraube gebrochen? Sind wir in dem wahnsinnig gewordenen Element ohne Kraft, dem Wahnsinn des todsüchtig gewordenen Meeres preisgegeben, ohne Widerstand? So las man von allen Gesichtern der Schiffsleute die schweigende Frage, wenn das Schiff, vom Sturm aus dem Wasser gehoben, ohne Schwere durch die Luft flog wie ein Riesenheupferd, das einen Riesensprung über eine breite Meereshöhlung macht.

Das springende Schiff und die Rotten der Riesenwellen in der endlosen, tage- und wochenweiten atlantischen Einsamkeit wurden ihrer Jagd während sechs Wochen nicht müde. Zwei Dampfkessel waren unserem Schiff leck und unbrauchbar geworden. Die kostbaren Kohlen, die auf dem Meer ihr Gewicht in Gold wert sind, gingen zur Neige. Der Orkan begann jeden Nachmittag um fünf Uhr und tobte bis zum nächsten Morgen um neun Uhr, dann setzte der Sturm aus; aber das Meer kam wie eine weiße Gletscherwelt, eisgrün und weiß beschaumt und granitgrau und marmorschwarz, gleichen langen Marmorbrücken im Mittagnebel gegangen, und der Atlant glich eher den Gebirgsketten einer Schweizer Landschaft als einem flachen Wasser.

Es war, als arbeite der dröhnende Sturmhimmel wie eine gewaltige Saugpumpe, und die Wolken sögen das Wasser in Pyramiden hinauf in den Himmel; ein betäubender dreifacher Lärm umgab uns stündlich: der Lärm des Wassers, das wie die Kanonade eines Schwergeschützfeuers das Schiff bombardierte; der Lärm des Sturmgeheules: der Sturm, der den Himmel in ein einziges trompetendes riesiges Muschelhorn verwandelt hatte, brüllte und schmetterte Höllenfanfaren, krachende Töne, explodierende Donnergelächter; die Töne des Sturmes gaben dann dem Eisen, dem Holz, dem Glas, den Korridoren, den Kabinen und allen Gegenständen des Schiffes ein Stimmengewirr, das knatterte, kreischte, klatschte, rasselte, johlte, wimmerte, hatte Seufzer und Angstrufe, hatte markerschütternde gellende Rufe, Schüsse und Kampfgeschrei. Es schienen Geisterherden aus allen Winkeln durch das Schiff zu rasen, und sie sprangen hinaus in die Höhlen des Wassers und auf die Wassergebirge und johlten im Hohlraum des Nebelhimmels und kamen aus allen Windrichtungen wieder herunter, um den Atlant von neuem zu überfallen. Da waren Schlachten in der Luft, Triumphzüge, Bacchanale und hunderttausend Mordtaten und das Todesröcheln von Hunderttausenden auf einmal.

Da saßen Geisterhorden auf dem Deck, die den Mast bogen, daß er hin und her schnellte, da waren Horden von Unsichtbaren, die an den Deckbrettern und am Schiffsboden Tag und Nacht sägten; ihre Sägen knirschten auf und ab, bald im Chor, bald vereinzelt quietschend, und man sah im Geist deutlich die Riesensägen, die eisernen Riesenfeilen und hörte Schlag auf Schlag die Äxte und Hämmer, die den Schiffskasten von allen Seiten in Atome verwandeln wollten.

Über einen Tisch hinüber verstand keiner mehr des anderen Stimme, wenn man sich nicht Mühe gab und mit Anstrengung durch diesen infernalischen Lärm hindurchschrie.

Die junge Frau lag schon eine Woche auf dem Wandsofa, das durch die ganze Länge des marmornen Speisesaales lief. Sie lag in Reisedecken eingewickelt und hatte einen dichten blauen Schleier um ihren Kopf gewickelt. Denn sie hatte ihre Frisur wahrscheinlich seit einer Woche nicht mehr ordnen können. Wenn ich einmal in den Spiegel meiner Kabine schauen wollte, tanzte mein Gesicht drinnen von mir davon. So wurde ich in der Kabine umhergeschleudert, daß kein Spiegel das Gesicht einfangen konnte. Die Kleider an den Kleiderhaken standen immer waagerecht in mein Zimmer herein, und an das Bett mußte ich mich nachts anbinden. Man hatte Beulen am Kopf und an allen Gliedern von den Stößen, die das stolpernde Schiff und die Hammerschläge der Wellen einander gaben.

Die Betten, die Kleider, die Dielen des Speisesaals, die Wände der Korridore und die Schiffstreppen troffen von Salzwassergüssen, die unversehens Türen aufstießen, Oberlichtgläser zerbrachen und ins Schiffsinnere stürzten.

Wir lebten jeden Nachmittag von fünf Uhr an bis zum nächsten Morgen um neun Uhr jede Sekunde in jener Todesgefahr, die einer nur auf dem Schlachtfeld wieder kennenlernt; jede nächste Welle konnte das Schiff zerschellen.

Längst hatte man die roten Teppiche aus dem Saal von den Dielen gerollt, da das Salzwasser sie steif wie Glatteis machte. Denn der mangelnden Kohlen wegen war auch die Dampfheizung abgestellt, und wir saßen tagsüber in dem eiskalten, seewasserdurchtränkten weißen Marmorsaal in nassen eisigen Kleidern.

Nachmittags um fünf Uhr, ehe der Tag in Dämmerung bläulich zu dunkeln begann, sah ich im Osten durch die runden tellergroßen Fenster des Speisesaales am blaugrau vermummten Horizont weiße rollende Lawinen erscheinen. Es war, als stünden dort Festungsgeschütze hinter dem Nebel aufgestellt, die, statt mit Eisen, mit riesigen weißschäumenden Wasserkugeln schössen; diese vergrößerten sich schnell zu turmhohen Lawinen und waren im nächsten Augenblick schon über das Schiff hingerast, wandernde Wassermauern, die sich auf dem Schiffsdeck überschlugen, und die das Schiff im Einstürzen mit einem Regen von Steinen zu bewerfen schienen. Polternd dröhnte die Decke des Speisesaals nach jeder Meeressalve, als würden Frachten von wandernden, beweglichen Steinmauern an Schiff geschoben und stürzten mit allen Steinen auf dem Deck zusammen; wir erwarteten in jeder Sekunde den Einsturz der Saaldecke.

Bald kam der Kapitän, der uns zuerst täglich tröstete, nicht mehr zu den Mahlzeiten. Auch die Offiziere und die Ingenieure hatten genug auf der Kommandobrücke und bei den Reparaturen der Dampfkessel zu tun. Wir waren immer allein. Bald gab es auch keine warme Suppe mehr, da sie sofort aus dem Suppentopf oder aus den Tellern in die Luft, an die Decke, an die Wände und Fenster floß, wenn der servierende Steward mit Lebensgefahr den oft von einer Welle senkrecht aufgerichteten Fußboden des Speisesaals erklimmen wollte und fortgeschleudert wurde. Meinen letzten Teller Suppe auf dem Atlant aß ich, indem ich den Teller wie eine Wand vor mein Gesicht hielt und die Suppe senkrecht vor mir stehen sah, denn alle Begriffe von aufrecht, waagrecht, schief, verschwanden in dem chaotischen Geschleuder des Schiffes, das bald auf einer Seite lag wie ein Fisch auf einer Platte, bald aufrecht auf dem Kiel rutschte wie eine Ente, die taucht und den Steiß aus dem Wasser streckt; bald wieder stand das Schiff mit dem Backbord im Wasser und den Kiel wie einen Mast in die Luft erhoben, als wolle es sich wie ein gebäumtes Pferd nach rückwärts überschlagen.

Was Stille war, wußte niemand mehr. Die Ohren schmerzten, als wären sie brüllende Trichter von Grammophonen, in denen ein Höllenspektakel tobte.

Mitten in einer Nacht – es war die schlimmste – rief mich der Steward und sagte hastig:

"Stehen Sie, bitte, auf, der jungen Frau nebenan kann jeden Augenblick das Schlimmste zustoßen, sie hat wieder einen Herzkrampf wie am Tage, da sie in Vera Cruz an Bord kam."

Ich lag wie immer angekleidet auf dem Bett, denn es war unmöglich, bei diesem Weltuntergangswetter an Auskleiden zu denken. Der Kapitän hatte gestern das bedenklichste Gesicht gemacht. Er sagte, seit er den Atlant befahre, habe noch nie ein derartiger Orkan zwischen Europa und Amerika gerast. Er sagte, wir sollten uns nicht auskleiden, man müsse aufs Schlimmste gefaßt sein. Man hatte die Rettungsboote mit Nahrungsmitteln und frischem Wasser versehen, und alles war klar, um das Schiff zu verlassen, sobald es ein Unglück geben sollte.

"Wir sind seit acht Tagen nicht mehr auf der allgemeinen Schiffsroute. Ich habe, um Zeit und Kohlen zu sparen, den Kurs quer direkt über den Atlant eingeschlagen. Wir können hier niemals einem Dampfer begegnen, also auf keine Hilfe oder Rettung hoffen. Wir sind in der Zone von vielen alten Wracks, die im Umkreis von einigen Seemeilen seit Jahren herumtreiben. Wenn ein solches Wrack nachts im Sturm von einer Sturzwelle auf unser Schiff geschleudert wird, dann sind wir verloren. Deshalb müssen wir, solange wir im Bereich dieser Wracks sind, Tag und Nacht angekleidet bleiben, um uns retten zu können."

Das hatte mir der Kapitän mir allein oben in seiner Kabine auf der Kommandobrücke anvertraut.

Er zeigte mir die Karte auf dem Tisch, wo mit Nadeln unser täglicher Kurs bis Havre abgesteckt war.

Passierte etwas an der Schraube oder versagten die letzten beiden Dampfkessel, dann trieben wir in einem wildfremden Gebiet des Atlant umher – einem Gebiet, so groß wie viele Königreiche, in dem niemals ein Schiff kreuzte.

Dies alles schoß mir durch den Sinn, als der Steward mich jetzt mitten in der Nacht zu der Dame rief.

Ich kam in das kleine Toilettenzimmer, was man zu durchschreiten hatte, um in die Schlafkabine der jungen Frau einzutreten.

Die Kranke lag in einem weißen Schlafmantel auf dem Bett; der Mantel war nach japanischer Art einfach auf der Brust übereinandergeschlagen.

"Ich bin es", sagte ich ziemlich laut.

Eine elektrische Lampe am Kopfende des Bettes beschien das Gesicht der Liegenden.

Sie schlug die Augen auf.

Ich blieb am Fußende des Bettes stehen und hielt mich mit beiden Händen an einer der Messingsäulen fest.

Sie nickte mir zu, und ihre Lippen sprachen etwas, was ich bei dem Klirren einer Eisenkette, die über der Kabine draußen auf dem Verdeck straff gespannt hin und her rasselte, nicht verstand.

Ich hatte dem Steward gesagt, er müsse aus dem Schiffskeller Champagner holen, um der Kranken das Herz zu beleben.

Die junge Frau richtete sich auf und deutete lächelnd auf ihr Herz. Ich nickte ihr zu. Aber es war des Lärmes wegen unmöglich, ein vernehmliches Wort zu sprechen. Die Worte wurden vom Lärm in der Luft getötet und kamen nicht weit.

Wie ich noch unschlüssig dastand und nicht wußte, was ich tun solle, erscholl ein Klirren, als ob eine ganze Küche zerschmissen würde, die Tür sprang von selbst auf, und herein aus dem Korridor rollten: eins, zwei, drei, vier, sechs, zehn weiße Teller, die alle wie rollende Diskusscheiben in die Zimmerecke liefen und sich dort mit gellendem Geklirr in einem rasselnden Scherbenhaufen verwandelten.

Draußen im Korridor und im Speisesaal klirrten gleichfalls Dutzende von Tellern, die waren in Stößen aus einer aufgegangenen Büfettür herausgesprungen und waren nach allen Richtungen in Reihen durch den Saal, den Korridor und die Kabine gelaufen, wo sie unter betäubendem Gerassel zerschellten.

Die junge Frau sah mich einen Augenblick an, dann begann sie wieder das entsetzliche Gelächter zu lachen, das ich zum erstenmal in Tampiko von ihr gehört hatte. Ich ging sofort zu ihr. Ich nahm ihre Hände und schrie sie herrisch durch den Lärm an: "Sie dürfen nicht so lachen, hören Sie, gleich hören Sie auf so zu lachen, Sie ruinieren sich mit diesem Nervengelächter, ich befehle Ihnen, hören Sie auf und lachen Sie nicht mehr so!"

Ich schrie ihr dies, mit dem Mund dicht vor ihren Augen, in das Gesicht.

Sie zuckte noch einmal, zweimal; dann hörte sie zu lachen auf und sah mich stumm an, als ob sie sich besinnen müßte, wer es war, der ihr befahl. Darauf legte sie sich ganz still in die Kissen zurück. Dann kam der Steward mit dem Champagner. Ich ließ die Hände der Kranken los, nahm ein Glas, hielt es der Liegenden an den Mund, stützte mit der andern Hand ihren Kopf und winkte dem Steward mit den Augen, fortzugehen.

Das Trinken war ihr schwierig bei dem Schleudern des Schiffes, aber es gelang.

Ich hörte, wie der Steward im Eßsaal die Tellerscherben beiseiteschob, und bei diesem Geräusch sah mich die schöne Frau an. Nach einer Weile gab ich der Kranken ein zweites und ein drittes Glas Champagner zu trinken.

"Wir werden niemals mehr nach Europa kommen", flüsterte die Liegende; sie hatte mich mit den Händen an den Schultern zu sich herabgezogen und sagte mir das nah ins Ohr, wobei mein Ohr von ihren Lippen berührt wurde.

Diese Berührung ging mir seltsam elektrisch durch den ganzen Körper. Diese Lippen erregten in mir ein Gruseln, als berühre mich Orla wieder, als wäre ich wieder in Mexiko in meinem Gartenzimmer an der Glorieta, wo wir uns im Mondschein zum erstenmal küßten.

Orla und ich.

Und nun überfiel mich in dem Höllenlärm eine wollüstige Sehnsucht, mit Orla vereinigt zu sein.

Vor acht Tagen hatte mich der Kapitän vormittags auf Deck gerufen und auf das schäumende Meer gezeigt. In dem weißen Gischt sah ich damals eine Herde kurzer roter Holzbalken schwimmen; das Meer wimmelte, so weit ich sehen konnte, von roten Hölzern.

"Ist ein Schiff untergegangen?" hatte ich da den Kapitän erschrocken gefragt.

"Ja, ein Frachtdampfer heute nacht, er hatte eine ganze Ladung Mahagoniholz; wahrscheinlich war es ein brasilianischer Dampfer, nach New York bestimmt. Da sehen Sie noch die Mahagonibretter schwimmen. Es ist gut, daß jetzt am Tag kein Sturm ist; wenn wir Sturm hätten, dann könnte es sein, daß mir diese Balken mein ganzes Schiff zerschlügen. Bis es Abend wird und der Sturm wieder losgeht, sind wir hoffentlich aus dem Bereich der heranschwimmenden Hölzer."

Daran dachte ich jetzt, als ich auf dem Bettrand bei der schwachen Kranken saß und sie ganz still und gehorsam weder lachte noch weinte, sondern still lag, wie ich ihr befohlen hatte. Wo nahm ich nur den Mut her, ihr zu befehlen? Was scherte sie mich? Sie konnte mir Orla nicht wiedergeben – mein mutiges Mädchen, das nie schwach gewesen war, nie und vor nichts gezittert hatte.

War Orla jetzt bei allen den Geistern, die da auf das Schiff stürmten? Wollte sie mich zu einer hitzigen Brautnacht auffordern? Wenn das Schiff jetzt sinken würde, ich würde die Arme ausbreiten und Orla im Meertod erwarten. Ich wollte nicht erschrecken, ich wollte den Tod süß, als ein herrliches Wiedersehen mit Orla, genießen. Das ganze Meer würde wie schäumender Champagner um uns tanzen, das Schiff wäre wie nur ein tanzender Champagnerpfropfen, der auf den Wellen auf und ab flog. Der Sturm knallte Schüsse; das waren Champagnersalven – oh, keinen Augenblick würde ich zögern, in dem Gischt draußen dem Tod sehnsüchtig entgegenzuspringen, wenn jetzt der Kapitän käme und sagte, das Schiff gehe unter.

Und ich stand auf und ließ die Hand der schlafenden schwachen blonden Frau los. Vorsichtig leise brauchte man nicht zu gehen. Der Lärm verschlang jedes Geräusch. Ich schnallte nur den Riemen des Bettes über der Brust der Schlafenden fest, damit sie nicht hinausstürze aus dem Bett, wenn das Schiff sich zur Seite wälzte.

Sie läge jetzt sicher von den drei Glas Champagner leicht betäubt und träumte von ihrem verstorbenen schwärmerischen Mann, dachte ich mir. Ich wußte, der Steward hatte in dem Speisesaal auf dem Büfett noch einige Flaschen Champagner kaltgestellt.

Ich ging hinaus, tastete mich durch den dunkeln Saal, dessen weiße Marmorwände, beleuchtet vom phosphoreszierenden Schaum der Sturmwellen, bläulich schimmerten. Ich holte mir eine Flasche und wollte den Pfropfen nicht knallen lassen; ich dachte, ich könnte die Schlafende stören; als mir aber der Pfropfen dennoch aus den Fingern glitt und knallend aus der Flasche sprang, hörte ich selbst kaum den Laut, mit so ungeheuerlichem Gebrüll prügelten sich Schiff und Meerwellen und Sturmgiganten rund um mich, und der weiße Schaum flog draußen an den zwanzig finstern Fensterkreisen des Saales hell hinauf und hinunter, und ich mußte, um trinken zu können, immer ein Intervall zwischen zwei Wellendonnern und zwei vernichtenden Explosionen, die das Schiff halb umstülpten, abwarten.

Haha! Ich lachte vor mich hin. Nun war ich bald einer, der den Sturm auswendig kannte. Ich hatte mich in das Bombardement eingelebt; es hatte einen Takt, einen Rhythmus, und ich wußte genau, welche Geräusche, welche Bewegungen, welche Donnerstärke zu jedem neuen Takt der Höllenmaschine draußen gehörte. Ich trank Champagner für mich allein, auf dem langen Sofa ausgestreckt, umgeben vom rasselnden Geklirr der Tellerhaufen, die durch den ganzen Speisesaal der Diele wie eine Haufe altes Eisen hin und her fuhren und knirschten.

Furchtbar drücken war die eingesperrte Luft im Schiff, gleichsam zusammengepreßt von den Wellen draußen; man fühlte den Druck des Wassers, als wäre man mit dem Schädel in einen Schraubstock eingeklemmt. Ich stand auf und versuchte die Tür oben auf der Saaltreppe zu öffnen; der Steward hatte abgeschlossen. Aber als ich den Riegel aufdrückte, warf mich ein breiter Wasserstrom von der Tür in den Saal zurück und übergoß mich mit eisiger Salzlake. Die Tür schloß sich knallend von selbst wieder, und ich setzte mich auf das Tischende, um nicht mit den Beinen durchs Wasser waten zu müssen.

"Orla! Wie lange muß ich auf dich warten? Komm schnell, komm, laß uns über das Meer tanzen, im Hochzeitstanz über ein Champagnermeer!" So sang ich ganz laut durch das Getöse, wissend, daß niemand im Lärm meine Stimme hören oder verstehen konnte. Dieses Schiff war mein Hochzeitsschiff. Auf diesem Schiff gab es nur mich allein, nur mich, der sich freiwillig mit dem Tod verheiraten wollte. Ja, mit dem Tod verheiraten, nicht vermählen, richtige deutliche Sprache paßte nur allein in diesen Höllenspektakel, bei diesem Ritt meines Schiffes ins Jenseits schwand alles Pathos. Nüchtern, herrlich nüchtern sah ich dem Tod entgegen; er wies mir den einzigen Ort, wo mich das Beste erwartete: sie, Orla, die ich jüngst noch im Arm gehalten hatte, erwartete mich. Und wieder rief ich laut: "Große Atlantseele, ich bete nicht zu dir: verschone mich: ich bete: töte mich und mache mich selig, selig mit meiner toten Geliebten!"

Der Sturm sang und schrie Gelächter von draußen durch Fenster und Türen zu mir herein. Und ich sang und lachte; und als ich mich umsah, hatte ich während des Singens schon die dritte Champagnerflasche zur Vorfeier meiner Totenhochzeit geleert.

Der Tod klopfte zwar draußen an die Türen, aber er zögerte und ermüdete mich durch sein Ausbleiben.

Der Lärm blieb gleichmäßig tobsüchtig, so daß ich mich, als ich still und müde wurde, noch von dem eigenen Lärm, den ich beim Trinken gemacht hatte, umgeben glaubte.

Wie ich eben vom Tisch springen wollte, fühlte ich, daß mich jemand an der Schulter berührte. Etwas ganz Weiches, Zartes streichelte mein Ohr.

Ich lag mit aufgestemmten Ellenbogen auf der Tischplatte ausgestreckt, ich wäre beinahe bei der Berührung erschrocken. Es war die Schiffskatze, die im Dunkeln mit ihren drei Jungen, die sie neulich während der Fahrt im Golf von Mexiko geboren hatte, auf der langen Tischplatte jetzt zu mir heranspazierte. Sie saß wahrscheinlich auch am liebsten auf dem Tisch, weil ihr der Fußboden zu überschwemmt war. Sie begann zu schnurren, und ihre drei Kätzchen schnurrten wie die Alte und umstrichen mich und waren lebensjung und sanft und lebenswarm, mit zartem, warmem Blut in den elastischen, schmächtigen, kleinen Körpern.

"Leben kommt, junges Leben, das den Todsucher anschnurrt, und das gestreichelt werden will!" sagte ich zu mir. Und ich liebkoste die ganze Katzenfamilie und wurde wiederum von ihr liebkost.

Warum war ich vorhin beinahe brutal zu der einsamen jungen Frau gewesen und hatte sie angeschrien, als ob ich ein Recht über ihr Leben und ihren Tod hätte?

Ich konnte doch die Katzen streicheln und wurde von ihnen wieder gestreichelt – warum hatte ich nicht die arme zarte Frau, als sie das Lachen, das furchtbar nervöse Lachen überfiel, ebenso gestreichelt und sie beruhigt mit Sanftheit und Geduld und Zartheit.

Sind wir nicht alle jeder ein Atom in der großen Weltseele, ein einziges zusammengehöriges Leben? So wie die Katzenfamilie, die sich jetzt auf meinem Schoß zusammengekauert hat, und die beruhigt schnurrt und einschläft – so hätte ich die kranke Frau wie mein eigenes Stück Leben in den Arm nehmen und hätte sie lieben und beruhigen sollen.

Nein, das wäre nicht gegangen, räsonierte meine körperliches Ich gegen mein geistiges Ich. Du hast vorhin noch deinen Körper mit Orla zu einem Körper vereinen wollen; der Körper ist kein Geist, der sich blindlings zuneigt. Der Körper sträubt sich heute noch, einer Fremden gut zu sein, er trauert noch um Orla. Das Blut in ihm ist nicht rosigrot wie das Blut eines jungen Verliebten, das Blut ist tiefschwarz von Verzweiflung des Verlustes, vom Nachdenken und Trauern und von dem unendlichen Leid, das der Tod deinem Blut zugefügt hat.

Warte noch, der Geist fliegt dem Blut voraus, aber das Blut folgt nicht fliegend, Blut ist ein Teil der Erde, es braucht wie die Erde Tage und Nächte, bis es sich vorwärts bewegt; der Geist, die Weltseele, ist zeitlos, das Blut aber ist schwerrollend, irdisch und braucht Zeit, es ist wie der Bodensatz der Weltseele, es haftet, wo es einmal haftet, länger als der Geist, und du mußt dein Blut nicht verleugnen.

Dein Blut hat die Frau vorhin angeherrscht, es fürchtete sich, als ihre Lippen dein Ohr berührten und deine Seele elektrisiert aus deinem Körper in den Körper jener Frau hinüberglitt. Dein Blut jagte dich aus dem Zimmer, es stieß dich fort, es wollte lieber für Orla sterben; es ist jetzt noch sterbenszart und eher dem Tod als dem Leben zugetan, da es von viel Todesschrecken durchfärbt wurde. Nie kann man Menschen so schnell wie Tiere streicheln; mit den Tieren verbindet uns nur der Instinkt der Weltseele, mit den Menschen aber der Instinkt der Seele und der des Blutes.

Eine tiefe Harmonie zog nach diesen Gedanken in mein Inneres ein. Es war, als hörte ich nun den Sturm nicht mehr als einen chaotischen Lärm; der Orkan offenbarte sich mir als ein Harmonie, wie eine Hymne auf die Weltseele, die leidet und trauert und rast, und die auch im Rasen noch Göttlichkeit und Urweltharmonien verkündet – so wunderbar vertieft posaunte nun das Sturmgeheul, das aufbrausende Getürm der Sturzwellen, das Gedonner der Wellengebirge und selbst die Disharmonie der klirrenden Scherben im Schiff, der sägenden Töne an den Schiffsplanken, das Geächze und Geklage der Wände, der Ritzen und Dielen –, alles Geklapper, Geklirr und Gestöhn, das mich umgab, wurde in mir fast zu einer Stille. Ich hörte es nicht mehr. Wenn ich bedachte, daß ich hier als ein Todessehnsüchtiger saß und mit dem Menschenblut in meinem Leibe den Tod bewillkommte und mit der Seele nur ein wenig lebenssehnsüchtig noch an der Seele der Welt hing – da wurde selbst der Orkan zur Stille.

Kaum wie ein Goldhaar jener Frau da drinnen in der Kabine, mit so dünnen, so zarten Banden hielt mich noch die Weltseele fest am Leben; mein ganzes Blut aber rauschte mit dem Orkan draußen in einer harmonischen Todessymphonie. Ich erwartete die Sturzwellen, wenn sie durch die Decke hereinbrechen würden, nicht anders als eine Steigerung der Lust dieser Todesmusik, die mich umgab.

Ich träumte halb, halb wachte ich und streichelte die Katzenbrut und lag auf dem Tisch und sah das glitzernde Salzwasser mit den weißen, glitzernden Tellerscherben am Fußboden immer heller werden. Es wurde Tag draußen; zwischen den Schaumungeheuern kam die Bleibläue des Morgens durch die runden Scheibenluken in den Marmorsaal herein.

Dann krähten die Hähne mitten durch die Sturmwirbel, mitten im Gewasche und Geröchel von Wasser und Sturmluft krähten aus der Schiffsküche ein paar eingesperrte Hähne.

Dieser Morgenlaut, dieser Heimatruf war wohlig und irdisch beruhigend; ich sah im Geist die Hütten von Pouldu am Atlant in der Bretagne, wo ich zuletzt die Hähne von Europa hatte krähen hören. Die dicken Strohdächer des bretonischen Dorfes hinter den Rotdornhecken, bei den Reihen großer verrenkter Baumriesen und daneben im gelben Rapsfeld sah ich in Gedanken eine riesige finstere Windmühle, die sich wie ein ungeheures Insekt mit hohen Beinen am Atlant entlang durch die Luft zu bewegen schien. Ah, der Karbonbleistift, den ich in der Tasche trug! Ich nahm ihn heraus und drehte ihn zwischen den Fingern. Die junge Mutter, die tote Österreicherin, kam zu mir in den sturmumheulten Marmorsaal des Schiffes, sie setzte sich neben mich auf einen der Drehsessel, von denen je zehn längs den zwei langen Tischen hüben und drüben an den Boden geschraubt waren. Jetzt bei Tag sah ich, daß, wenn das Schiff sich hob, sich alle vierzig Drehsessel nach links drehten, und wenn das Schiff mit dem Kiel in die Tiefe schoß, drehten sich alle vierzig Sessel nach rechts um ihre Drehachse. Nur ein Sessel rührte sich nicht. Auf ihm sitzt jetzt die Österreicherin, dachte ich, und ich nickte jenem Stuhl zu.

"Ich werde es nicht vergessen, arme junge Mutter," sagte ich zu dem Stuhl, "ich habe dir, wenn ich nach Europa komme, einen Kranz auf dein Grab zu legen. Droben im Montparnassefriedhof von Paris ruhst du. Und mein erster Gang soll zu deinem Grabe sein. Ich sehe dich, wann ich will, mit dem Mond durch die grauen Dünen von Pouldu gehen. Du hättest mich jetzt bei meiner Rückkunft erwarten sollen; warum griffst du zur Pistole, ohne dich mir erst anzuvertrauen? Du hattest doch keinen Geliebten im Totenreich drüben, der dich in das Grab holte. Wenn ich jetzt im Sturm sterbe, dann –"

Ein andere Stuhl der Reihe blieb jetzt stehen und drehte sich nicht mehr nach rechts und nicht nach links – aber der erste, zu dem ich gesprochen hatte, der drehte sich, als wäre er wieder frei.

Orla ist eingetreten und hat sich auf den andern Stuhl gesetzt, und die Österreicherin ist aufgestanden und auf den Montparnassefriedhof zurückgegangen, sagte ich zu mir.

"Orla, die Nacht ist vorüber, und du hast mich nicht abgeholt. Bist du müde vom Orkan, vom Brauttanz – wollen wir zusammen über die Ebene von Mexiko reiten? Hast du auch dein Pferd im Stall vergessen und es stehengelassen und bist fortgereist, wie ich von ›Stella‹ fortgereist bin?"

O sie die Finger der Schaumwellen, die an den Scheiben draußen hinfahren und das Schiff erwürgen wollen mit allem, was darin ist! So hat dich jener Schuft zwischen seine Finger genommen und dich erwürgt." –

Plötzlich blitzte eine Erkenntnis durch mein Gehirn! Warst du vielleicht auch eine junge Mutter wie die Österreicherin, weil du just hereingekommen bist und dich auf den Stuhl neben sie gesetzt hast, Orla? – Dein Mörder war dein Verführer gewesen! Suchtest du den Tod von seiner Hand – wolltest du deshalb nicht zu mir nach Europa kommen – weil – weil du dich schon Mutter werden fühltest...? Orla? –"

"Oh!" Ich stöhnte und weinte in meine Hände, und als ich aufsah, standen alle Stühle still – auf allen Stühlen saßen Tote um mich, Ermordete, Hingerichtete und Selbstmörder.

Das Meer donnerte an die Saaltür, das Schiff flog aus dem Meer – einen Augenblick stand die ewig surrende Schiffsschraube, von deren Sang stets alle Wände zitterten, still. – Es war, als setzte der Herzschlag des Schiffes aus... War die Schiffsschraube gebrochen, standen wir entwaffnet und fielen als Wrack in die Abgründe des Atlant...?

Nein. Nichts war geschehen. Der Takt der surrenden Schraube setzte wieder ein. Die Wände vibrierten wieder wie vorher, und alle vierzig Drehstühle warfen sich eine halbe Minute lang nach links und dann wieder eine halbe Minute nach rechts herum.

Die Sturmstöße kamen vereinzelter; ich sah auf meine Uhr – es war acht Uhr morgens; und draußen klopfte der Koch an die Saaltür und rief nach dem Steward.

Ich sprang auf, um mir sprangen die Katzen davon, grau und flüchtig und lautlos, gleich meinen lebensmüden Nachtgedanken.

Etwas hatte sich in dieser Nacht in mir verändert. Ich fühlte mich zwar immer noch stolz darüber, daß ich glücklich sterben könnte, sobald das Schiff dem Untergang nah käme – daß ich nicht mit der Wimper vor dem Tode zu zucken brauchte –, daß ich die Todeskraft nicht mit der Lebenslust, sondern mit der Liebeslust in dieser Nacht besiegt hatte. Der Tod gab mich dem Zustand preis, dem Orla jetzt angehörte, er brachte mich also nur der Geliebten näher und konnte mich nicht von ihr entfernen. Entfernen von meiner Geliebten konnte mich nur die Zukunft, das kommende Leben.

Aber die Morgengedanken, der Einfall im hohläugigen Morgen, daß Orla eigentlich nicht mir gehört hatte, daß sie vielleicht sogar Mutter gewesen war, daß sie von den Händen, die sie umarmt hatten, erwürgt worden war – das flößte mir einen unbestimmten Schauder vor der Erinnerung an die Ermordete ein. Ich sah sie plötzlich nicht mehr so anschmiegsam mir gehörend wie vorher. Ich stellte mir ihren Liebeskampf und ihren Todeskampf vor und schauderte vor den grimmigen Bildern, die mir Orla entstellten.

Wie hatte ich vorher darüber nachgedacht, daß Orla jetzt im Tod wieder mit ihrem Mörder vereint war. Ich war im Leben, aber sie und er in einem mir fremden Element, im Element des Todes.

Warum hat mich nicht jene wahnsinnigste aller Sturmnächte verschlungen, mich zu ihr gebracht...?!

Hielt die Tote schon einen Toten im Arm, und konnte sie mich Lebenden nicht mehr bei sich brauchen? Ich zweifelte plötzlich an Orlas Liebe. Hatte sie mich wirklich so stark geliebt, wie ich es mir ausmalte?!

Sie war Mexikanerin und ich ein Deutscher, sie aus dem Kontinent Amerika, ich ein Europäer – trennte uns nicht von Jugend an ein Atlant, der sich nicht überbrücken ließ? Ich zweifelte jetzt, ob wie jemals glücklich geworden wären. Oh, ich hatte gute Zeit zum Grübeln, noch viele Sturmtage fanden mich in Betrachtung und viele Nächte auf dem Tisch im Saal ausgestreckt, und die Katzen kamen, und der Mondbrocken, der weißgesichtige, tanzte mit dem Schaum der Wellenpyramiden draußen, tanzte zwischen den Spiralen der rasenden Wolkenflüge, die im Orkan wie ein zweites stürmisches Meer am Himmel stürmten und den Mond und das Schiff und den Atlant mit sich fortzureißen schienen.

In diesem Gerenne aller Dinge, in diesem rasenden Fortwandeln, wo selbst der Luftraum über dem Kopf davonzueilen schien, und nicht bloß das Meer unter dem Schiff und nicht bloß die Zeit mit Tag und Nacht, in diesem ungeheuerlichen Vorbeistürmen aller Erlebnisse stürmten auch meine Empfindungen wie Wanderwellen in den Weltraum.

Täglich lag die stille blonde Frau im Saal auf der Sofabank in ihre Reisedecken eingewickelt, den blauen Schleier um den Kopf, durch den das Goldreich ihres Haares verborgen wie Gold auf dem Grund eines blauen Wassers blitzte. Täglich lag sie regungslos da vom Morgen bis zum Abend; nur ich und der Steward reichten ihr ein wenig Essen, oder ich saß bei ihr und faßte jetzt ab und zu ihre Hand und fühlte nach ihrem Puls, der immer schwächer und unfühlbarer wurde.

Der Champagner, den ich ihr hie und da reichte, wirkte nicht mehr belebend, sie wies ihn zurück und lag in einem Schwächezustand, welcher einem letzten Herbsttag glich, der sich schon zum Hergebendes letzten Blattes an den Bäumen, des letzten Halmes auf dem Rasen und zum Abtöten der letzten Asternknospe im Garten entschlossen hat.

Der Steward und ich führten die Kranke am Spätnachmittag meistens in ihre Kabine und holten sie jeden Tag gegen Mittag von dort ab und legten sie behutsam in Kissen und Decken auf das Wandsofa im Speisesaal. Da aber alle Decken seewassernaß waren und der sechswöchige betäubende Sturmlärm, das Rollen und Stoßen des Schiffes und die höllische Kanonade der Wellen nicht aufhörten, machten wir uns alle darauf gefaßt, daß wir eines Morgens die junge Frau kalt und tot im Bett ihrer Kabine finden würden; und mit einem Grauen im Herzen betrat ich täglich die Kabine der Kranken, und aufatmend freute ich mich, wenn ihre Augen mich groß und offen ansahen und sie die Lippen bewegte, um mich zu begrüßen. Wenn ich auch nie in dem Sturm ihre Stimme, seit Wochen schon nicht mehr, gehört hatte – so war doch schon ihre Lippenbewegung für mich wie ein langes glückliches Gespräch.

Eines Mittags kam der Kapitän polternd in den Speisesaal und sagte, daß wir heute wieder Heizung haben würden, die Kessel seien repariert; und daß wir, wenn der Südwest fortgesetzt so heftig andauern würde wie heute, in drei Tagen die Leuchtfeuer der Lizardeilande von England sehen und dann am Morgen darauf in Havre, also in Europa, landen würden.

Der Kapitän sprach englisch, ich übersetzte die frohe Botschaft rasch der Holländerin; diese wendete den Kopf und sah sich um und nickte dem Kapitän zu. Der war ganz stolz, daß die Ingenieure endliche wieder die beiden Dampfkessel instand gesetzt hatten, und als am Nachmittag die wohltuende Wärme wieder in den Marmorsaal einzog, da war es, als ob mitten durch den Sturm eine unsichtbare Sonne zu uns hereinscheine. Endlich fühlte man wieder, daß die Welt nicht bloß aus nassem Wasser, nasser Luft und nassem Nebel bestand – hatte man doch nicht mehr gewußt, daß man auch wieder in einem warmen Zimmer leben würde.

Die blonde Frau richtete sich allmählich auf; sie lächelte; sie verlangte Essen. Wir aßen zusammen und lachten uns zu, denn zu sprechen war wegen des Wellendonners und wegen des Windgeschreies noch immer unmöglich.

Am dritten Abend merkten wir, daß der Fußboden des Speisesaals nicht mehr wie ein Berg erklettert werden mußte, wenn man zum andern Saalende gelangen wollte. Das Schiff stellte sich nicht mehr senkrecht auf und kippte nicht senkrecht zur Tiefe; man sah sich auch wieder, wenn man in den Spiegel schaute, Gesicht und Spiegel flogen nicht mehr voneinander fort.

"Morgen früh sind wir in Europa", verkündete dann der Kapitän eines Morgens.

Die junge Frau war schon aufgestanden und erschien zum erstenmal wieder gehend und sich an den Möbeln vorwärts tastend; ihr dichtes goldgelbes Haar war geflochten, und wenn es auch noch immer mit dem Schleier umwickelt war, sah man doch, daß sie sich Mühe gegeben hatte, ihr Haar zu ordnen.

Alle schüttelten ihr die Hände. Die Schiffsoffiziere kamen zur Mittagszeit, der Kapitän lachte und glänzte mit seinem blauroten Gesicht unter der goldgestickten Kapitänsmütze; er war sehr gerührt, daß die junge Frau am Leben geblieben war, so gerührt, daß er ihr die Hände küßte, als sie ihm die Hand reichte.

Am Nachmittag war ich beim Kapitän oben auf der Kommandobrücke und hörte seine Klagen. Er meinte, daß er, als Vater von fünf Kindern, immerhin auf Rücksicht hoffe. Die Reeder in Dublin würden ihm den Schiffsdienst nicht aufsagen, denn das Schiff wäre ja doch heil geblieben, wenn es auch dreimal so viel Zeit gebraucht hätte, als vorgeschrieben war. Aber wer hätte auch wissen können, daß die Dampfkessel lecken würden, wer hätte einen solchen Orkan von vier Wochen voraussehen können! Aufgeregt ging der arme geängstigte und abgearbeitete Kommandant heftig in seiner Brückenkabine auf und ab und rief dazwischen durchs Sprachrohr Befehle zu den Maschinisten in den Heizraum hinunter.

Ich tröstete ihn und sagte, wir beide Passagiere würden an die Reeder in Dublin schreiben, daß wir den unermüdlichen Kommandanten als unsern Lebensretter betrachteten, und ich versicherte ihm, daß es doch die Hauptsache wäre, daß er Schiff und Menschen doch noch heil heimbringe. Denn wenn unsere Schiff auch bereits auf der Verlustliste verzeichnet stand, und wenn es jetzt auch drei Wochen zu spät kam, nachdem es schon zu den Toten des Atlant in allen Schiffslisten der Europahäfen aufgezählt stand, wie der Kapitän sagte, dann waren die Reeder in Dublin natürlich gar nicht ärgerlich, wenn das Schiff endlich doch noch, wenn auch mit dreifacher Reisezeitverspätung, heim in den Hafen einlief.

Immer noch tobte der Sturm um uns, wenn auch nicht mehr so wirbelnd und kreiselnd wie vorher; aber das schäumende Meer glich immer noch einer Alpenkette, die einem entgegenschwamm und sich fortgesetzt mit ihren Gletschergestalten verwandelte.

Wie seltsam wird es mir sein, wenn ich nicht mehr den Sturm durchschreiten muß und nicht mehr diesen schiefen, gebirgigen und marmorierten Fußboden des Meeres vor meinen Augen haben werde, dachte ich.

Ich sah mich im Geist von der Schiffsbrücke ans Land steigen, mich hinknien und vor allen Leuten den ersten Pflasterstein Europas, auf den ich trat, küssen. Es würde keine Ankunft, es würde eine Auferstehung aus einem vielfachen Sterben sein, wenn ich wieder Europa unter meinen Füßen fühlen dürfte.

An diesem Abend dachte niemand daran, zu Bett zu gehen; um ein Uhr in der Nacht, hatte uns der Kapitän verkündet, würden wir, wenn der steife Südwest standhielte, die Leuchtfeuer der Lizardinseln sehen können. Bei der angezündeten Hängelampe im Marmorsaal saßen die junge Frau und ich wieder traulich zusammen, wie zwei, die es immer gut gehabt hätten – so fröhlich glänzten unsere Augen einander an. Denn wenn das Grauen und die Schwächezustände überwunden sind, löst sich die Zunge leicht, und das Vergessen stellt sich schnell ein; Menschen, die Unglück miteinander ertragen und das Sterben miteinander vor Augen gehabt haben, die bleiben nach den Schreckensstunden einander immer verwandt.

Als es nach zwölf Uhr war, zogen wir unsere Mäntel an und wickelten uns in Schals und warteten auf den Kapitän, der uns rufen wollte, wenn die Leuchtfeuer erschienen.

Die Apollohymne!

Diese einfache, wunderbare Harmonie, dieser wandelnde Takt griechischer Tänzerinnen, die um Apollos Altar wandeln, indessen das Altarfeuer senkrecht ins Himmelblau nach Vereinigung mit der blauen Weltseele strebt, mit der Weltseele des Dichtergottes Apollo.

Nur wenige sanfte, feierliche Takte, rhythmisches Wiederholen und festliches Ausklingen in den blauen Himmel der Weltharmonie – das ist die Hymne.

Ich saß zwischen den vierzig Drehstühlen auf einem der ewig sich bewegenden und kreiselnden Stuhlkobolde und genoß die griechische Musik, ohne zu fühlen, daß ich noch auf dem Meere war. Die Nebelluft wurde zu Sonne, das Sturmwasser schwieg und wurde zu Wiesen und zu grünem Rasen, der alte Klavierkasten war der Altar Apollos, und die in unförmige Mäntel gewickelte Gestalt sah ich nicht ,ich sah nur ihre zehn weißen, gelenkigen Finger, die sich dort wie zehn junge, schlankbeinige griechische Tänzerinnen wiegten und am Altar hinwanderten.

Ich wollte aufstehen und jene Finger von den Tasten nehmen und an meine Lippen führen.

Aber als ich aufstand und mich an einem der beweglichen Drehstühle stützte, da glitt ich auf dem Fußboden aus und fiel in ganzer Länge auf den Boden.

Es war zufällig der Stuhl, auf dem ich neulich die tote Mexikanerin in Gedanken hatte sitzen sehen, und ich sagte mir: Die Tote ließ dich hinstürzen, die Tote will nicht, daß du sie verleugnest.

Bei meinem Sturz und meinem Gepolter sah sich die Spielenden um, aber zugleich trat der Kapitän zu der Saaltür ein und rief uns. Dann ein paar Minuten später arbeiteten wir uns im Dunkel der immer noch tosenden Nacht zwischen gespannten Seilen über das Deck, und der Kapitän hielt die junge Frau fest und half ihr vorwärts durch den Sturm, der hohe Wellen über das Deck warf. Wir mußten uns fest an den Seilen halten, um nicht von einem Wasserberg plötzlich über Bord geworfen zu werden.

"Es ist ein heftiger Sturm im Kanal heute nacht", sagte der Kapitän.

Aber mir schien es auf einmal, als ich in der Ferne die Lichtpunkte der Leuchtfeuer sah und dann wieder das Meer betrachtete, als ob sich das Meer im Mondschein nur glitzernd bewege, als ob es glatte See sei. "Glatt wie der Wasserspiegel des Genfer Sees", sagte ich zum Kapitän, als wir von der hohen Kommandobrücke hinuntersahen. "Wo sind denn die Gebirgszüge, wo ist die Atlantische Schweiz geblieben?"

"Ja, wir sind schon im Kanalwasser," lachte der Kommandant, "und Sie sind seit Wochen die Atlantwellen gewöhnt; darum kommt Ihnen der Sturm im Kanal wie glatte See vor. Jetzt sind Sie sturmgetauft, nach diesen vier Wochen, für alle Zeiten," lachte er, "jetzt werden Sie nie mehr etwas Schlimmeres an Stürmen auf dem Atlant erleben können."

Dann gab der Kapitän der Frau eine Rakete in die Hand, er hatte die Zündschnur drinnen in seiner Kabine schon angezündet, und die weiße Rakete sollte als Signal in die Luft leuchten, mit dem Licht sollten die englischen oder französischen Lotsen gerufen werden.

Die junge Frau hielt den Arm hoch, die Rakete zischte, und der turmhohe weiße Magnesiumstrahl beleuchtete uns alle einen Augenblick, bis er dann im Weltraum erlosch.

Während das Licht der Rakete uns alle beschien, begegneten mir die Augen der jungen Frau. Sie hatte Tränen im Blick. Warum weinte sie? Sie hatte die Apollohymne gespielt und dabei an ihren toten Mann gedacht. Sie sah Europa und kehrte allein und als Witwe zurück; dorthin, von wo beide so schwärmerisch abgereist waren, glücklich und von Liebe und Zukunftshoffnungen umgeben – dorthin kam sie alleine wieder. Ich hatte sie einmal küssen wollen damals nach dem Brande der Hochbahn in New York, als ich sie halb ohnmächtig im Automobil vom Broadway zum Hafen fuhr. Daran mußte ich jetzt denken. Ich hätte ihr gern jetzt die Tränen aus den Augen geküßt. Morgen sollten wir uns für immer voneinander trennen, jeder von uns sollte morgen seinen Weg in Europa gehen, nach Richtungen, die weit auseinander lagen.

Einen Abend auf der Hinreise nach Mexiko, kurz vor Habana – hatte ich damals nicht den Wunsch gehabt, ein Raubmensch zu sein und diese Frau ihrem Mann zu rauben? Da war der junge Astronom zu mir gekommen und hatte Bekanntschaft mit mir geschlossen, und ich hatte alle verbrecherischen Liebeswünsche aufgegeben und die junge blonde Frau bis zur Landung in Vera Cruz nur im Stillen angebetet, wie man ein geweihtes goldenes Heiligenbild betrachtet.

Die Meerluft, die Erlösung aus vielen Todesnächten, der Anblick des ersten europäischen Lichtes von den Leuchttürmen machten alle Sinne zu Giganten. Warum legten wir zwei einsamen Menschen hier auf der Brücke nicht die Arme umeinander, wir zwei Überlebenden, wir, auf die noch ein Leben voll täglicher Kraft und Arbeit dort an der europäischen Küste von morgen an wieder wartete? –

Es dröhnte ein dumpfer Schuß in der Ferne. Der Kapitän gab mir das Fernrohr und deutete nach Süden, wo die senkrechten Felsenklippen der französischen Küste wie eine graue Nebelmauer, vom Mond silbern verändert, dastanden. Die Küstenhöhen zogen sich am ganzen Südhorizont entlang gleich der langen Häuserreihe einer Gasse, auf deren Dächer der Mond schien.

Wieder erdröhnte ein dumpfer Schuß.

"Notschüsse!" sagte der Kapitän.

"Ich sehe bei der Küste im Mondnebel den dunkeln Rumpf eines Dampfers", rief ich erschrocken.

"Es ist einer der schlimmsten Kanalstürme heute nacht", sagte der Kapitän ernst.

"Wenn der Dampfer aufgerannt ist, dann ist er verloren", meinte der Kapitän, und er nickte mir, vom Mond weiß beschienen, wie ein Totenkopf ernst zu.

Die junge Frau – ich sah mich um –, sie war die Treppe von der Brücke allein hinuntergestiegen und ging dort, aus ihrem Mantel halb ausgewickelt: der Sturm riß ihr den Mantel halb von den Schultern.

"Um Gottes willen! Halten Sie die Dame fest!" rief der Kapitän, als er sah, daß diese zwischen den Seilen des unteren Verdeckes schritt und sich nicht anhielt. "Wir sind erst am Eingang des Kanals," sagte der Kapitän rasch zu mir, "und es kommen oft noch große Ozeanwellen hinter uns her. Vorhin, ehe Sie kamen, wäre der Koch beinahe von Deck fortgewaschen worden. Es ist besser, Sie eilen der junge Frau nach und sagen es ihr. Sehen Sie, wie sie stillsteht und das Meer betrachtet. Sie ist dort keinen Augenblick lebenssicher."

Ich war mit ein paar Sprüngen unten auf dem Verdeck – da sah ich vor mir aus der Meerestiefe einen sich bis zum Mond emporblähenden Wasserberg steigen, der schoß wie eine ungeheure graue Stahlwalze heran, war im Nu haushoch über Bord, über dem Schiff, ging über die Mastspitzen hoch in die Luft; vor mir verschwand alles, und mich selbst preßte ein ungeheurer Luftdruck an ein Rettungsboot.

Ich wußte blitzschnell, das Wasser würde wie eine riesige Lawine über das ganze Schiff fegen. Ich rief: "Hanna!" – Ich rief: "Eine Ozeanwelle!" Und dann hielt ich in der mich umgebenden Finsternis und in der Eiskälte des Sturzwassers plötzlich die junge Frau in den Armen. Sie war geflüchtet und vom Wasserdruck zu mir geschleudert worden. Ich hielt sie unter dem Geprassel und Gedonner, die das ganze Schiff durchdröhnten, fest wie mit Eisenfäustenan mich gepreßt, indessen ich eine Schulter an das Rettungsboot stemmte und mich mit den Zähnen an einem Tau festbiß, um nicht von einem Boot fortzugleiten und über Bord geschwemmt zu werden.

Dann kamen der Kapitän und die Leute, sie rissen uns unter die Treppe der Brücke, denn der ersten Sturzwelle folgte eine zweite. – Später, als wir in dem weißen Marmorsaal wieder in Sicherheit waren, sahen wir uns um, als wären wir beide von den Toten auferstanden. Der Saal, der uns so vertraut und voll von wochenlangen Schrecken war, empfing uns wie unser gemeinsames Haus so heimisch, und die brennende Hängelampe über dem Tisch, die vierzig kreiselnden Drehstühle – alles, was wir hier ausgestanden hatten, war verblaßt gegen diese letzten Sekunden einen wirklichen Kampfes mit dem Untergang.

"Jetzt wären wir bei den Fischen", sagte die junge Frau und ließ sich auf einen Stuhl sinken.

Das Klavier, auf dem sie vorhin die Apollohymne gespielt hatte, stand noch offen und zeigte die weißen Tasten.

Ich nahm ihre Hände, die zehn Tänzerinnen, die ich vorhin hatte küssen wollen – aber sie entzog mir ihre Finger.

"Glauben Sie mir, seit Sie mich neulich nacht anschrien, daß ich nicht mehr lachen dürfe, fürchte ich mich vor Ihnen; es ist jetzt jemand in mir, ich bin nicht mehr mit meiner Trauer allein; ich bin verfolgt von diesem Ton, dieser Stimme, die mir Gehorsam befohlen hat, und – ich kann Ihnen nicht einmal dafür danken, daß Sie mich vor der Ozeanwelle retteten..."

Sie schwieg.

Ich sah wieder die Frau vor mir, die ich damals als Raubmensch ihrem Gatten hatte nehmen wollen. Ich sah sie plötzlich wieder ganz so, wie ich sie schon längst vergessen hatte. Ihr Haar glänzte wie das Messing der Hängelampe, und ich hatte Lust, mein Gesicht in diesen weichen Haarwellen zu vergraben, die wie eine Fülle von goldgelben Blumen das Haupt der jungen Frau schmückten. Ich bewunderte die schöne Frau, die im weißen marmornen Saal wie ein herrliches Schmuckstück leuchtete. Wo war sie so lange gewesen? Wo war ich gewesen, daß ich sie jetzt erst wiedersah?

Ich hatte vorhin die ersten Lichter von Europa wiedergesehen, und es war, als scheine das Leuchtturmlicht nun auch durch die Schiffswände. "Europa!" sang es rund um mich her. "Europa!" sangen die kanrrenden Schiffswände. "Europa!" sang der Regen draußen und der Wasserschaum an den Kabinenfenstern; das Schiff war wie ein riesiges Harmonium geworden, ich fühlte mich getragen von dem feierlichen Akkordklang: "Europa." Wie eine Verheißung tönte es durch diese Nacht, durch mein Blut und durch meine Zukunft: "Europa!"

Sie, die Europäerin, erkannte mich jetzt wieder, nachdem der Atlant und Mexiko und Amerika mir das Blut im eigenen Leibe entfremdet hatten. Dieses Land über dem Wasser drüben voll von Alpträumen, von Götzenbildern, von Raubmenschen; dieses Land, wo man Mißgeburten verehrte und mich, einen Europäer, stündlich wie einen Eindringling, wie einen Todfeind, wie einen vom Erdboden Gehaßte, von der mexikanischen Erde und vom mexikanischen Himmel Verfluchten verfolgt und gefoltert hatte – und sie, die ich eben aus dem heimtückischen Überfall der letzten Ozeanwelle gerettet hatte, sie, die wie ich vom fremden Kontinent da drüben beraubt, verfolgt, gefoltert worden war – sie war mir nun nicht nur die Blutsverwandte aller Leiden, sie war auch wieder Europäerin wie ich Europäer, Mitglied eines großen, gesitteten, kulturreichen und geordneten Weltteiles geworden, seit das Licht der europäischen Leuchttürme in unsere Augen gefallen war, seit wir die europäische Küste im Mond gesehen hatten, und seit sie das Raketenzeichen in die Luft geschickt hatte.

Ich stand auf und mußte die bleiche weiße Frau umarmen. Ich küßte sie auf den Mund. Und ich sagte, den Mund wieder dicht vor ihren Augen: "Hanna – wir dürfen nicht auseinander gehen – –"

Sie lag mit dem Kopf an meiner Schulter. Einen Augenblick lag sie still, und ich durfte ihr Haar, ihre Wange, ihre Lippen küssen und streicheln, durfte diese Frau einatmen wie einen einzigen Atemzug. Mit geschlossenen Augen küßte ich mich bis in ihr Herz.

Sie faßte meinen Kopf, preßte mich fest, fest an ihre Brust, sie küßte mich wieder, wieder und wieder. Dann murmelte sie: "Oh, dies ist Liebe! Gott im Himmel, verzeih mir, wenn ich eine Sünde begehe und diesen Mann küsse. Es konnte ja nicht anders sein. Ich wußte es in allen Zeiten, seit ich ihn zum erstenmal sah – o Gott, verzeih mir, daß ich das wußte –, daß wir uns einmal küssen würden und liebhaben – das wußte mein Blut; meine Gedanken sagten es nicht, aber mein Blut wurde süß, wenn ich dich ansah, Rennewart."

Mußten wir beide deshalb Europa verlassen, um uns zu finden, und mußten du und ich wieder einsam in diesem Schiff nach Europa zurückkehren, um uns zu finden? – Dann kann der Himmel, der das eingerichtet hat, diese Küsse jetzt nicht sündig finden, diese Küsse, die du mir noch im Trauerkleid gibst, dachte ich bei mir und vergrub mein Gesicht in ihr Haar. Und weiter dachte ich: Keiner von uns wußte, ehe wir Europa verließen, daß wir beide zusammengehören. Als ich dich deinem Mann rauben wollte, da stellte sich dein Mann unbewußt zwischen uns, machte uns zu Freunden und entwaffnete mich durch diese Freundschaft.

Aber jetzt küßten wir uns schweigend, wie Menschen, die sich nie mehr wieder verlassen wollen.

"Aber in Mexiko, da liebtest du eine andere – die dir starb –", sagte Hanna leise und vorwurfsvoll – "ich habe es in den Zeitungen gelesen."

"Ja, ich liebte, wie das Blut liebt, das nicht einsam sein will. Aber dich liebe ich nicht wie eine Seltenheit, nicht wie eine fremde Festlichkeit, dich liebe ich, wie ich den Erdboden liebe, der mich geboren hat, dauernd, einfach und irdisch, ohne Abenteuersucht; uns hat derselbe Erdteil geboren, und wir gehören zusammen; uns hat nie ein Atlant getrennt."

Und ich genoß es, in Worten das auszusagen, was mich immer in Mexiko bedrückt hatte, wenn ich dort eine Fremde lieben wollte. Meine Sinne liebten dort, aber nicht meine ganze Person; ich war in der Liebe zu Orla immer ein gedemütigter Fremder gewesen, der von ihr geliebt wurde, aber einer, der ihrem Wesen nicht angeboren war, nicht von der gleichen Rasse, nicht auf demselben Kontinent geboren.

Nie war ich mir dessen so bewußt wie jetzt, wo ich die goldblonden Haare dieser Frau streicheln durfte – meine Hände fühlten sich nicht mehr leer und gierig, sondern waren zu Hause bei diesem seidenen Blond, bei dieser weißen und rosigen Haut, die wie der Meeresschaum in der Morgenröte glänzte, die jetzt an den Fenstern sanft die Schaumwellen färbte, als wären sie Rosenbüsche.

Während wir uns im Speisesaal stundenlang geküßt, geliebkost, befragt und geschwiegen hatten, um uns liebevoll zu belauschen und unsere Liebe bewältigen zu können, war es sanfter rosiger Nebelmorgen geworden. Ein fliegender Vogel, der in der Morgenröte nach Osten flog – war das Schiff.

Wir lehnten Kopf an Kopf an einem der runden Fenster, knieten an dem Wandsofa, hielten uns umfaßt und sahen in die sich rosenrot enthüllende Morgenwelt. Auf den nächsten hohen Felsenufern waren Häuser, Vororte von Havre, kleine europäische Häuser; europäische Menschen wohnten dort unter den Dächern. Hanna fragte: "Wozu ist nun das alles gewesen, daß wir von Europa fort mußten?"

"Mutter Europa hat uns erst fortlaufen lassen, damit wir wissen, daß wir eine Mutter Europa haben. Vielleicht hätten wir uns in Europa nie entdeckt."

"Ich war so europamüde," sagte sie, "aber nun will ich es nicht mehr sein – solange du es nicht bist –", setzte sie lächelnd und mit schöner weiblicher Vorsicht hinzu. –

Dann verabredeten wir, daß wir uns nur noch für ein paar Tage trennen müßten, danach wollten wir uns in Paris, wo Hanna ihren Musiklehrer aufsuchen wollte, wiedersehen. Ich würde nur für drei Tage nach Berlin und nach Bayern reisen und dann zu ihr kommen, um das Leben dann für uns so einzurichten, wie wir es am besten finden würden.

Wir gingen auf Deck und stellten uns dem gar nicht erstaunten Kapitän als Verlobte vor. Und als er fragte, ob uns die Ozeanwelle einander in die Arme geworfen habe oder die Ankunft in Europa, sagte Hanna: "Die Ozeanwelle." Ich aber entgegnete entschieden: "Es war der Anblick von Europa, der mir wieder die richtigen Augen gegeben hat, um Hanna zu sehen."

Darüber stritten wir lächelnd. Und Hanna sagte: "Die Ozeanwelle aber hat dir die Arme zu den Augen gegeben, um mich zu umarmen und zu halten."

"Aber", widersprach ich, "Europa hat mir zu den Augen und Armen auch noch das richtige Herz gegeben."

An diesem Morgen, als das Schiff gegen neun Uhr am Kai von Havre anlegte, war der Hafen von der nächtlichen Sturmflut bis in die Straßen hinein überschwemmt, und wir wurden mit Kähnen über das Pflaster gerudert.

Man begrüßte uns erstaunt; die Agenten des Schiffsbureaus, die mit im Kahn waren, waren verwundert, daß das verloren geglaubte Schiff sich gerade in der schlimmsten Sturmnacht durch den Kanal heimgefunden hatte. Man berichtete uns, daß ein großer Dampfer mit vielen hundert Passagieren ganz in unserer Nähe untergegangen war.

Der Sturm hatte ihn auf die Klippen geworfen, er gab Notschüsse ab, aber es war wegen der Brandung unmöglich, an das Schiff zu kommen, es ging mit allen Seelen unter.

"Und uns ist der Kanal glatt wie ein Teich erschienen gegen die Orkanwochen auf dem Atlant", sagte ich zu dem Agenten.

"Nun sind Sie wohl froh, bald wieder Pflaster unter den Füßen zu haben?" fragte der Agent lachend.

"Ja, und besonders froh, daß es europäisches Pflaster ist", sagten wir, Hanna und ich, wie aus einem Munde.

Die vielen hellen, das Meerlicht und den klaren Winterhimmel widerspiegelnden Fenster der Stadt Havre glänzten uns entgegen.

Es war, als tanzten alle Häuser vor uns, wenn ihre Scheiben vor Licht zuckten und sich bewegten, als drängten sich uns die Reihen der Häuser aus der Stadt entgegen.

Über dem stummen Entzücken, Europa mit jedem Schritt zu fühlen, "Mutter Europa", vergaß ich für Augenblicke fast Hanna an meiner Seite. Während wir aus der überschwemmten Hafenstraße auf Bretterplanken zu einer trockenen Straße schritten, sprach ich nur immer von dem Glück, wieder auf der europäischen Erde und nicht mehr auf dem Atlant zu sein. Ich hatte gar nicht beachtet, daß Hanna allmählich still, fast herausfordernd still geworden war. Sie hatte immer noch ihr graues Reisekleid an, das sie auf dem Schiffe getragen; es fiel mir auf, daß sie ihre Toilette für Havre nicht gewechselt hatte. Auch ihre Handschuhe schienen mir abgenützt, und als sie das Kleid hob, sah ich, daß ihre Schuhe vom Salzwasser der Seereise Flecken bekommen hatten. Doch daß die arme Frau vielleicht kaum zwei Kleider, daß sie keine Handschuhe und keine Schuhe mehr hatte, kam mir nicht in den Sinn. Auf dem Schiff, in dem von allen Sturmgiganten umheulten hölzernen Sarg, der uns wie durch tausend Begräbnisse über den Atlant getragen, sich in tausend Wellengräber gesenkt und tausenmal Auferstehung gespielt hatte, bis er endlich wieder endgültige Ankunft im realen Leben mit uns feierte – dort auf dem Schiff hatte keiner sich um die Toilette des anderen kümmern können; jeder sah gut aus, wie er aussah. Aber nun schwieg das Meer, das großzügige, und das kleinliche Straßenpflaster trat wieder in sein Recht ein, und die kleinen Schaufenster, an denen wir vorüberschritten, um zu einem Wagenhalterplatz zu gelangen, spiegelten unsere Kleider mehr zurück, als der große Spiegel des Atlant es je getan hatte. Trotzdem dachte ich nicht, daß bei uns die Kleiderfrage die erste sein müßte, die wir so viel Gefühl reden lassen konnten, so viel hellauf brennende Leidenschaft zu bewältigen hatten.

Aber Frauen fühlten vorsichtiger und bewanderter als Männer in der Rücksicht auf Kleidung, und so kam es, daß ich mitten im Rausch über die Heimkehr in den Heimatkontinent eine Scheu empfand, mit irgendeinem Blick Hanna vielleicht zu beleidigen, indem ich zufällig auf ihre Handschuhe oder auf ihre abgenützten Stiefel sähe. Ich nahm mir deshalb vor, meine Augen in der Gewalt zu behalten und Hanna nicht mit Blicken zu stören, die ihr ungemütlich sein könnten.

Aber der Mensch sollte den Menschen, für den er Liebe und Leidenschaft hegt, immer mit seinen Vorsätzen und Gedanken bekannt machen, denn niemand ist empfindlicher als Verliebte; wenn sie noch neu in ihrer Liebe sind und aufeinander hinhorchen, kommt es vor, daß sie sich Rätsel aufgeben dadurch, wenn sie schweigend Vorsätze fassen.

Als ich mit Hanna in einen Wagen steigen wollte, um zum Bahnhof von Havre zu fahren, wohin unser Gepäck beordert war, und von wo wir eine gute Strecke zusammen reisen sollten, bemerkte ich plötzlich, daß ich den Rubinring, den mir Orla gegeben hatte, nicht mehr am Finger trug. Ich wußte, ich hatte ihn in meiner Kabine auf den Tisch gelegt.

"Laß den Ring sein", sagte mein Herz. "Aber nein," meinte mein Verstand, "du wirst doch schnell zurückgehen und den Ring vom Schiff holen." Und ich bat Hanna, voraus zum Bahnhof zu fahren, ich würde in zehn Minuten nachkommen, ich hätte auf dem Schiff einen Ring liegenlassen. Ich wollte nicht, daß er gestohlen würde, und wollte deshalb selbst umkehren und ihn holen.

"Ist es ein kostbarer, wertvoller Ring?" fragte Hanna bestürzt. "Vielleicht hat ihn dir die Ozeanwelle vom Finger gerissen."

"Von Orla ein Rubinring", sagte ich lächelnd. Im gleichen Augenblick zogen die Pferde den Wagen schon an, und ich konnte Hannas Gesicht nicht mehr sehen, denn sie saß im Wagenfond, während ich noch draußen am Trottoirrand stand. Ich winkte dem Kutscher, er solle Hanna zum Bahnhof fahren, und ahnte dabei nicht, daß ich sie nie mehr sehen sollte.

Als ich mit dem Rubinring eine halbe Stunde später zum Bahnhof kam, sagte mir der Schiffsagent, der meine Koffer dorthin gebracht hatte, die Dame sei soeben mit dem Pariser Schnellzug abgereist. Sie habe im Restaurant während der ganzen Wartezeit einen Brief geschrieben. Und der Agent übergab mir ein mit Bleistift beschriebenes blaues Kuvert.

"Liebster, wir sind nicht mehr zu zweien, seit wir landeten. Dich begrüßt die Heimat, und mich begrüßt die Heimat.

Ich muß Dir außerdem sagen, daß mich die Heimat nicht so lachend begrüßt wie Dich: sie kommt mit dem Schrecken der Armut zu mir. Das Geld, das wir besaßen, wurde beim Herumziehen in Mexiko und für meines Mannes Einkäufe und Krankheit ausgegeben. Wir sollten zum Bau der Sternwarte und zum Weiterleben Geld von einem Verwandten bekommen, aber mit dem Tode meines Mannes fiel diese Unterstützung fort, und ich will mich auch nicht an Verwandte wenden. Ich mag aber auch nicht, daß Du Dich im Augenblick eines stürmischen Geständnisses an eine arme Frau gebunden haben sollst. Die Ozeanwelle hat uns einander in die Arme geführt, und keine Macht auf der Welt reißt mein Herz von Deinem; auch wenn ich nicht bei Dir bin, gehöre ich nur Dir.

Wenn ich mir in Paris mir Musikstunden etwas Geld verdient habe und Dich auch äußerlich würdig empfangen kann, werde ich Dir gleich schreiben. Bis dahin suche mich nicht auf, suche nicht nach meiner Abreise; ich schreibe Dir in Deine Vaterstadt, wohin Du jetzt zu Besuch reisest, wie Du mir sagtest.

Glaube mir, daß ich jetzt nicht gern ein Tote für Dich bin, aber es wäre unwürdig, wollte ich anders handeln, als es mir die Liebe zu Dir vorschreibt."

"O wie töricht", rief mein Blut, als ich den Brief gelesen hatte. "Die Welt ist eine Raubwelt, und man muß sich die Liebe in ihr rauben, und nicht die Liebe einrichten und würdig einrichten wollen, wenn sie sich nicht würdig darbieten will. Man liebt sich doch, weil man einander sein Blut und seinen Leib anbietet, und nicht, weil man die Kleider des andern anbeten will. O Hanna, warum haben wir uns nicht heute nacht Fleisch und Blut gegeben, warum haben wir gewartet, bis uns Europa empfing und bis das Straßenpflaster uns trennte? Eine Ozeanwelle hat uns aneinandergedrückt – die Liebe ist ein Ozean, der auch über das Pflaster fluten sollte, dort, wo kein Atlant hinreicht. Die Liebe will großzügig genossen sein, jeder Tag der Liebe, jede Stunde muß fähig sein, das Blut in Ozeanwellen aufrauschen zu lassen, so daß Armut, Alltag und Pflaster davon überschwemmt werden. Oh, warum war ich kein Raubmensch, Hanna!"

"Wir werden uns nie wiedersehen!" klagte mein Blut in all den nächsten Tagen, während ich nach Paris eilte und Hanna suchte, sie tagelang suchte und nicht wiederfinden konnte.

Einen Menschen in Paris zu finden, das ist nicht so einfach wie in Berlin, wo jeder binnen vierundzwanzig Stunden angemeldet ist. Ich setzte alle Detektivbureaus, die sich darboten, in Bewegung und kam endlich zu dem Resultat, daß Hanna gar nicht in Paris ausgestiegen war; entweder war sie nach Rotterdam gereist oder nach Deutschland. Von der Mutter Seite war sie Deutsche, von des Vaters Seite Holländerin, und einige Verwandte von ihr lebten in Rotterdam, einige in Deutschland am Bodensee. Alles dies konnte ich ermitteln. Auch hatte sie verwandtschaftliche Beziehungen in London und in Petersburg. So viel wurde mir klar: wenn Hanna nicht selbst an mich schriebe, könnte ich sie nicht mehr finden.

Meine Freunde, die mich am Bahnhof Saint-Lazare in Paris abholten, sagten, daß ich auf dem Meer durch das Schreien in den Sturm eine so mächtige Stimme bekommen hätte, daß sich alle Leute in den Straßen nach mir umwendeten, wenn ich spräche. Ich glaubte aber: es war der Schreck und die jagende Angst, Hanna für immer verloren zu haben, die meine Stimme so laut machte, daß alle Bekannten sich wunderten.

Nach dem vergeblichen Suchen in Paris mußte ich eine notwendige Reise nach Berlin unternehmen; dort wurde ich bis in den Frühling hinein aufgehalten, aber als herrliche lange Maiabende kamen, packte mich eines Abends eine unruhige Sehnsucht, nochmals nach Paris zu reisen und Hannas Spur zu suchen. Es wurde mir dann noch eben vor der Abreise berichtet: eine Dame, wie ich sie beschrieben hätte, eine Dame mit auffallend gelbem Haar, sei Gesanglehrerin in einer altadeligen französischen Familie, aber sie lebe dort unter einem angenommenen Namen und sehr zurückgezogen.

Als ich am Nordbahnhof in Paris ankam, war es ein heller Maiabend; wunderbar blendend milchweiß war der Abendhimmel, und die Straßen liefen alle blau in die Dämmerungsbläue hinein, als münde jede Straße unter dem weißseidenen Abendhimmel in einen blauen Wald. Da ich Paris so schön sah, geheimnisvoll beleuchtet von dem blauweißen Maiabend, glaubte ich sicher, daß ich Hanna heute abend noch finden würde. Ich sah das schöne Abendlicht als eine gute Vorbedeutung an.

Spät an diesem Abend, nachdem ich mich im Hotel umgekleidet hatte, schlenderte ich mit dem unerläßlichen Zylinder auf dem Kopf die Rue Royale entlang zu den großen Boulevards, wo bereits vor dem Grand Café und dem Café de la Pair die elektrischen Lampen brannten und die Strohhüte der Damen wie erotische Blumensträuße unter den rotundweißgestreiften Leinendächer der Caféterrassen leuchteten. Die Wangen der vielen gepuderten und geschminkten Gesichter und die Lippen, die farbroten, und Augenwimpern, die dunkelbemalten, lachten künstlich, alle Damen glänzten wie neue Pfingstpuppenköpfe neben den glänzenden schwarzen Zylinderhüten der Herren. Das Gewühl der Wagen, die zu den Theatern fuhren, eilten mit vielen Reihen von Gesichtern an den Gesichtern der Kaffeehäuser und an den Gesichtern und Gestalten der tausend Abendspaziergänger vorüber.

Ich saß an einem Marmortisch bei einem Glas Grenadine und hörte einem Gespräch zu, das hinter meinem Rücken geführt wurde. Man erzählte von einem großen Unglück, von einem Brand. Von Hunderten von Leichen. Ich bin doch nicht mehr in Mexiko, dachte ich und rief den Zeitungsausrufer und kaufte ein paar Abendblätter. Da las ich von einem Basarbrand, der, während ich hier im Café saß, immer noch wüten sollte. Ein großer Teil der französischen Aristokratie war unter den Opfern des Wohltätigkeitsbasars aufgezählt – unter der Liste der Schwerverwundeten finde ich, als Musiklehrerin in einer Herzogfamilie eingetragen – Hannas Namen! – – –

Noch am selben Abend stand ich in der Charité an Hannas Bett; sie lag mit Binden umschnürt. Ich sah kaum ihre zwei Augen. Aus den weißen Binden sahen mich diese zwei Augenkreise bis zum nächsten Morgen unaufhörlich groß an. Ich konnte nicht sehen, ob sie lächelte, ich konnte nicht sehen, ob ihre Lippen sich bewegten, denn ihr Gesicht war vollständig in die weißen Binden und Bandagen eingewickelt, ebenso ihr Körper und ihre Glieder.

Ähnlich hatten wir uns wochenlang auf dem Atlant angesehen, wenn sie, in den blauen Schleier gewickelt und in die Reisedecken eingehüllt, auf dem Schiffssofa lag und sich nicht rühren konnte vor Sturm und Herzschwäche, und wenn ich ihr manchmal Essen oder zu Trinken reichte.

Ich sah jetzt von ihr nur zwei Pupillen in den stahlblauen Iriskreisen und die silberigen weißen Augäpfel. – Kein Laut wurde zwischen uns gewechselt, keine Hand wurde gerührt, keine Geste gemacht, und unsere Augen sahen einander totenstill stundenlang an. Da auch die Ohren verbunden waren, konnte sie meine Stimme nicht hören. – Am Morgen schauten mich diese blauen Iriskreise noch an, aber – sie sahen mich nicht mehr. –

Am gleichen Vormittag noch besuchte ich den Herzog von D., in dessen Haus Hanna gelebt hatte. Obwohl ich aus den Zeitungen wußte, daß auch die Herzogin von D. zugleich mit Hanna bei dem Basarbrand ein Opfer jener Katastrophe geworden und ihr Mann also in tiefe Trauer versetzt war, mußte ich doch den Herzog sprechen, um mir von Hanna berichten zu lassen.

Ich nahm an, daß der Herzog einem von der gleichen Trauer betroffenen, wie ich es war, eine Unterredung nicht verweigern würde; ich kannte den Herzog auch schon flüchtig, ich hatte ihn einmal in England bei der französischen Exkaiserin Eugenie ein paar Augenblick gesprochen.

Er empfing mich auch sofort, und wir saßen mehrere Stunden in Hannas Zimmer, wohin er mich führte. Der Herzog, der ein Mann Ende der Fünfziger war, erzählte mir dort in den blauen Veilchentapeten und blauweißen Seidenstoffen ausgestatteten Frauengemach von der Toten, von der Zuneigung, die er und seine Frau für das Violinspiel und für die schöne Stimme Hannas gefaßt hätten.

"Aber sie wollte nicht länger als drei Monate bei uns bleiben; sie war als musikalische Gesellschafterin bei uns, und es war eigentümlich, wie sparsam und beinahe etwas geizig diese Künstlerin mit ihrem Gehalt umging, das sie sich ausbedungen hatte. Wir dachten öfters, es müsse eine besondere Bewandtnis damit haben. Und wenn Sie mir jetzt sagen, daß sie zu stolz war, um von Ihnen Geld anzunehmen, und daß sie sich selbständig aus eigenen Mitteln kleiden wollte, um dann würdig zu Ihnen zu kommen, so verstehe ich, daß der Dame vermeintlicher Geiz und ihre Lust am Verdienen in der Aussicht gipfelten, Ihnen dann nach drei Monaten würdig entgegentreten zu können, sobald sie sich Geld zu einer Ausstattung erspart hätte. Wir glaubten oft, die Melancholie der Dame gälte ihrem in Mexiko verstorbenen Mann, und ahnten nicht, daß sie sich nach einem Mann, den sie liebte, sehnte. Nur einmal dachte ich, es sei möglich, daß sie heimlich eine tiefe Neigung verberge. Sie sang mit Vorliebe ein altes deutsches Volkslied, das der "Totenmarkt" heißt, und in dem Lied ist von todesmüden Leuten die Rede, die sich dem Tod anbieten: einem Greis, einem sterbenden Krieger und einem sehnsüchtigen Mädchen. Den Vers dieses Mädchens, das sich auf dem Totenmarkt anbietet, sang Hanna so wundervoll, daß meine Frau sie bat, diesen Vers in einen unserer Phonographen hineinzusingen."

Ich bat, das Lied hören zu dürfen.

Der Herzog ließ von einem Diener einen kleinen Phonographen bringen. Aus der Walzenschatulle entnahm er eine kleine Walze, die er selbst behutsam in den Apparat einfügte.

Und der Trichter des kleinen Phonographen begann plötzlich mit Hannas Stimme den Vers des deutschen Volksliedes zu singen:

"Tod, eile dich!

Die Sonne steht am Fenster dort, bald kalt, bald heiß,

Doch von mir ging die Nacht nicht fort, die Nacht nicht wich.

Ist auch der Tag wie Silber weiß, wie Silber weiß –

Seit ich den Liebsten ließ, wer tröstet mich?

Tod, eile dich! –"

Meine Augen wurden undurchsichtig, ich sah nichts mehr vor Tränen, die mir das Zimmer dunkel machten.

Der Herzog saß in seinem schwarzen Traueranzug vor mir und wendete sein Gesicht ab und weinte in seine Hände. Auch ich konnte nicht länger gegen das Weinen ankämpfen.

Da saßen wir Männer und weinten noch lange, nachdem der kleine Phonograph verstummt war.

"Mein Lieber," sagte der Herzog, "diesen Phonographen will ich Ihnen geben, wenn er Sie etwas trösten kann."

"Nur ihre Augen habe ich gestern wiedergesehen, und heute nur ihre Stimme wiedergehört", klagte ich. Ich konnte vor Schluchzen nicht weitersprechen – und als ich von meinem Taschentuch aufsah, erschrak ich beinahe vor den vielen schwarzen Menschen, die das Zimmer füllten.

Wir waren nur zwei Trauernde, aber mehr als fünfzig Trauernde sahen mir aus den Spiegelwänden des Boudoirs entgegen, und alle fünfzig bewegten sich mit uns, waren schwarz gekleidet, hatten rot verweinte Augen weiße Taschentücher in der Hand, und alle fünfzig führten die weißen Taschentücher an die Augen, wie wir beide Einsamen es taten. Vervielfacht boten die Spiegel um uns die Trauer dar. "Das ist wie ein schwarzer Markt von Trauernden", dachte ich, und ich mußte bei den Spiegelbildern mich daran erinnern, daß viel mehr noch als fünfzig heute in Paris so saßen wie wir und weinten – Tausende weinten heute in Paris; Hunderttausende weinten täglich auf der Erde über immer neue Tote, die sich täglich auf dem Totenmarkt anboten.

Der Herzog begleitete mich dann zur Treppe, und wir kamen durch den Saal, wo der silberne geschlossene Sarg mit den verbrannten Überresten der Herzogin zwischen langen Leuchterreihen stand. Die Diener ordneten Blumenkränze, und Handwerker schlugen die Wände des Saales mit schwarzem Stoff aus und hatten die Spiegel und Lüster mit Flor verhängt. Die Füße der Arbeiter traten leise auf, aber im ganzen Haus hämmerten die dumpfen Hammerschläge der Tapezierer. Und als ich mich verabschiedet hatte und das Haus verließ, mußte ich zwischen Leitern und Handwerkern meinen Weg suchen; auch im Treppenhaus arbeiteten die Dekorateure an dem Trauerschmuck; über Berge schwarzer Laken mit Silbertressen bestickt, mußte ich fortklettern, und unter dem Tor fuhren eben große Wagen der Gärtnereien vor, die Orangenbäume und Palmen abluden; wieder andere Dekorateure standen auf Leitern draußen auf der Straße und schmückten das Tor von außen mit einem schwarzen und silbergestickten Baldachin und mit schwarzen und weißen Straußenfedern. Überall beschäftigt der Totenmarkt das Leben, dachte ich. Ich hatte vor Schreck und Trauer noch an keine Blumengabe für Hannas Grab gedacht, und ich ließ mich jetzt zu den großen Boulevards fahren. Dort hinter den Riesenglasscheiben der großen Blumengeschäfte war heute ein außergewöhnlicher Reichtum an Kränzen und Inschriften. Auf breiten Bandschleifen sprachen gestickte Buchstaben viele Namen, Trauer, Verehrung und Todesgedanken aus.

Ich trat in ein Blumengeschäft. Eine der Verkäuferinnen fragte mich, in welcher Farbe ich den Kranz wünsche. "Weiß und blau", sagte ich. "Die Mode ist in diesem Jahr gelb und lila", entgegnete sie höflich. "Weiß und blau", sagte ich beharrlich und dachte dabei an den blauweißen Maiabend, in dem ich gestern in Paris angekommen war, und an Hannas weiß eingehülltes Gesicht, von dem ich nur die beiden blauen Iriskreise ihrer Augen hatte wiedererkennen können, und verlangte einen Kranz aus weißen Maiglocken und blauen Waldglockenblumen.

"Und welche Inschrift soll das band haben?" fragte die Verkäuferin weiter und legte mir zwei gelbe Bänder vor, auf dem einen stand lila geschrieben: "Des Lebens Blume ist der Tod." Auf dem anderen stand: "Des Lebens Blume ist die Liebe."

Ich aber hörte in meinen Ohren immer noch die Stimme Hannas aus dem kleinen Phonographen singen und sagte: "Lassen Sie auf ein weißes Band mit blauer Seide sticken: ›Tod, eile dich‹" Die Dame sah mich beinahe erschrocken an. "Wenn das auch nicht Mode ist, so wünsche ich doch, daß das auf dem Band stehen soll: ›Tod, eile dich‹", sagte ich wieder beharrlich!

"Das haben wir allerdings nicht vorrätig," meinte die Geschäftsdame, "das führen wir gar nicht, und es wird nie verlangt. Das müßten wir erst anfertigen lassen."

Wie seltsam, dachte ich, als ich den Laden verließ und draußen an dem Schaufenster vorbeikam, wo die meisten Konfektionsgeschäfte eben ihre Auslagen umänderten und Trauerstoffe in schwarzen Massen ausbreiteten, da ganz Paris durch den Basarbrand in Trauer versetzt war – wie seltsam, daß mitten im Leben täglich ein Totenmarkt besteht. Die Erkenntnis, daß neben dem Liebesmarkt des Lebens auch der Totenmarkt täglich Moden und Erfindungen darbietet und Marktstände errichtet, wurde mir nie so bewußt wie an diesem Tag.

Der Totenmarkt der Stadt Mexiko fiel mir wieder ein, wo die Kinder an kleinen Grabdenkmälern von Schokolade knusperten, und wo man Totenköpfe aus Marzipan und Totenskelette als Hampelmänner und Särge und Leichenzüge als Spielzeug vor meinen Augen am ersten November verkauft hatte.

"Oh," sagte ich zu meinem Herzen, "du trägst auch einen Totenmarkt in dir; drei Frauen, die dir nahe kamen, sind im Tod gleichsam zu Waren vor deinen Augen geworden. Von der ersten trägst du einen Karbonbleistift in der Tasche, von der zweiten einen Rubinring am Finger und von der dritten blieb dir noch die Stimme für dein Ohr auf der Walze eines Phonographen."

Als ich auf der Straße weiterging, wurden immer wieder neue Totenkränze an mir vorübergetragen. Und mitten durch den Strom der Lebensfülle, der in den bunten mächtigen Straßen der Weltstadt wogte, schien sich ein dunkler Totenpfad zu schlängeln; es begegneten mir viele Damen, in dichte Trauerschleier gehüllt, Schleier, die von schwarzen Hüten über schwarze Gestalten schwarz bis auf das Pflaster herabreichten; man trug Kränze und große Palmenzweige mit bestickten breiten Seidenschleifen und Seidenbändern an mir vorbei; und auf dem Fahrdamm sah man, mehr als sonst, prunkvolle Leichenkarossen heranfahren; mit großen schwarz und weißen Federbüschen und mit schwarzen, silberbetreßten Decken waren Wagen und Pferde verhangen, und die leeren Leichenwagen fuhren in scharfem Trab durch die Menge der Automobile und Equipagen, um die Toten aus den Palästen abzuholen, da die meisten Opfer des Basarbrandes der französischen Aristokratie angehört hatten.

Die Inschrift auf einem Kranz: "Des Todes Blume ist die Erinnerung" ging mir so zu Herzen, daß ich meine Selbstbeherrschung verlor und mich kaum noch aufrecht halten konnte. Ich trat in die Tür des nächsten Hauses, denn ich fühlte, daß ich in ein Restaurant eintreten müsse, um mich einen Augenblick vom Anblick der Totenwaren zu erholen, da meine Knie zitterten. Aber ich sah mich hinter der Glastür plötzlich vor der Kasse eines Kinematographentheaters. – O ja, dachte ich, in dem dunklen Raum des Theaters hier sieht es keiner, wenn dir die Tränen aus den Augen stürzen, und hier kannst du dich in der Finsternis vom grellen Leben draußen einen Augenblick erholen, ohne ganz allein zu sein.

Ich saß dann im Hintergrund des Theaters auf einem Klappstuhl, und es behagte mir, daß das Theater fast leer war und im dunklen Raum kaum ein paar Köpfe vor den hellen beweglichen Lichtbildern zu sehen waren. Die Bilder dort, die eben das allbekannte Effektbild zeigten, daß eine ganze Herde Menschen hinter einem herrannte, der irgend etwas verbrochen hatte, und dessen Verfolger sich, je mehr Leute der Fliehende umstieß, an jeder Straßenecke mehrten, bis sie den Verfolgten endlich eingeholt hatten und ihn verprügelten – diese Bilder sah ich an, als ob sie in einem jenseitigen Leben vorkämen: als hätte ich mich hier in dem dunklen Raum in mein eigenes dunkles Grab gelegt und sähe nur noch von fern das Leben als halbhelle Erinnerung, als ein spukhaftes Blendwerk.

Dann wechselten plötzlich die Bilder.

"Der Basarbrand. Die Brandkatastrophe von Paris," sagte die Schrift, die auf der Bühnenwand erschien, "photographiert während des Brandes bei der Beleuchtung des elektrischen Scheinwerfers der Feuerwehren von Paris."

Ich fuhr auf meinem dunklen Sitz zusammen. Nein, ich wollte das nicht sehen; das anzuschauen, das war unmöglich für mein erschüttertes Herz. Ich schloß die Augen. Aber als ich sie wieder öffnete, stand eine neue Inschrift an der Wand: "Fliehende, die brennend aus dem Feuerherd auf die Straße springen, um sich zu retten."

Ich behielt die Augen offen und starrte erschrocken auf die Lichtbilder, die jetzt erschienen.

Männer, mit den Spazierstöcken in die Luft schlagend, über gestürzte Frauen hinwegspringend; Kinder, von Feuerwehrmännern aus dem brennenden, qualmenden Bretterausgang des Basars herausgezerrt. Da – Hanna – sie zieht eine brennende Dame nach sich, die Herzogin von L.; Feuerwehrmänner umfassen die Herzogin, die sie in Tücher wickeln, indessen Hannas Haar als eine Rauchsäule vor meinen Augen emporweht. Sie schlägt nach den Flammen, die an den Falten ihres Kleides wimmeln, und die sie nicht ersticken kann...

Mein Hals wird wieder so trocken wie damals, als mir der Gesandte in Mexiko die Zeitung zu lesen gab, worin ich Orlas Ermordung angezeigt fand.

Aber außer der Trockenheit im Halse und außer meinem stockenden Herzschlag fühlte ich nichts Schlimmeres an mir. Ich saß und starrte nur – und sah Hannas Erscheinung an.

Stundenlang saß ich im dunkeln Theater und wartete auf die Wiederkehr des Brandbildes. Acht Tage ging ich täglich, mittags und abends, in alle Kinematographentheater von Paris. Die Sucht, Hanna zu sehen, von Hanna Abschied zu nehmen, trieb mich jeden Tag von neuem in die dunkeln, grabdunkeln Theater, wo ich heimlich weinen und mein Taschentuch vor das Gesicht halten und meinen Tränen freien Lauf lassen konnte, und dann ging ich in ein Zimmer, das ich mir in einem Privathaus gemietet hatte. Es war kein eigentliches Zimmer, es war ein leeres Maleratelier, darin standen nur ein langer Strohstuhl zum Liegen und ein Tisch, darauf hatte ich den kleinen Phonographen stehen, den mir der Herzog gesandt hatte.

Da Atelier lag in einem leeren Hinterhaus, und dort konnte ich lange Maiennächte hindurch den kleinen Phonographen das Lied singen lassen – von Hanna:

"Tod, eile dich!

Die Sonne steht am Fenster dort, bald kalt, bald heiß,

Doch von mir ging die Nacht nicht fort, die Nacht nicht wich.

Ist auch der Tag wie Silber weiß, wie Silber weiß –

Seit ich den Liebsten ließ, wer tröstet mich?

Tod, eile dich!" –

So erlebte ich Grausameres, als jemals erlebt wurde. Die Geliebte zu hören, ohne ihr antworten zu können; die Geliebte zu sehen, ohne sie umarmen zu können; die Geliebte verbrennen zu sehen, ohne ihr helfen zu können! – Täglich wieder ein totes Leben aufwachen zu sehen in Rede und Bild, ohne diesem Leben einen Körper geben zu können – das war eine Hölle voll Himmel und ein Himmel voll Höllen. Als das Theaterprogramm des Kinematographen wechselte, kaufte ich mir den Film der Brandkatastrophe.

Ich wollte ihn mir selbst in dem kleinen Atelier vorführen.

Ich weiß nicht, ob ich nicht allmählich irrsinnig geworden wäre vor diesem täglichen lebenden Spiegelbild und von dem Geisterlied einer Toten. Das Schicksal half mir indessen, indem es mir den Phonographen und den Film nahm. Eines Tages, als ich wieder das Zimmer aufschließen wollte, um die Nacht hindurch den Phonographen singen zu lassen, fand ich das Schloß erbrochen – der Phonograph, der Film, der Liegestuhl und der Tisch waren aus dem leeren Haus gestohlen. Ich erhielt trotz aller Mühen nichts wieder zurück. So wurde ich gewaltsam aus dieser furchtbaren Geisterwelt erlöst.

Raubmenschen haben mir eine Geliebte in Mexiko geraubt, Raubmenschen haben mir eine geliebte Geisterwelt in Europa geraubt.

Jene Raubmenschen verfluche ich ein Leben lang, diese muß ich ein Leben lang segnen.

Der Raubmensch, der der jungen Österreicherin die Ehre nahm, und der Raubmensch, der Orla tötete, und der Raubmensch, der mir Hannas Stimme und Hannas Bild stahl, sie alle drei sind im Grunde eine und dieselbe Seele in drei verschiedenen Verkörperungen; sie sind die Seele aller Vernichtung, die bald Böses, bald Gutes ausrichtet, die Seele des Todes, die aber im Grunde in nichts verschieden ist von der Seele des Lebens. Dieses zu erfassen wird nur dem möglich sein, den jemals beides – höchstes Leben und grausame Vernichtung – abgründig erschütterte.


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