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Auch sonst geschah es, daß alle unerwartet verstummten. Dann wurde eine helle spöttische Stimme laut, dann schalt ein dreister Junge die weibischen Gesellen, dann kam der einzige, der nie bettelte, weil er es nicht konnte und weil es ihm unwürdig erschien, der nie Geschenke brachte – denn er selber besaß nichts. Er war nie zu Gast bei der Witwe des Podesta; aber wenn er sie sah, dann loderten begehrliche Flammen in seinen Blicken, und es schien ihr, als ob jede Bewegung sie fordere. Wenn er ihr stattlich von Gliedern und schön von Angesicht vorüberschritt, glaubte sie oft, sie empfinde wiederum den Druck seines starken Armes um ihre Hüfte, wie an jenem Tage, an dem ihr Haupt für kurze Weile an seiner Brust eine Ruhestätte gefunden hatte. Sie glaubte, es sei ihr alter Haß, wenn sie das Bild des Mannes überall hin, selbst in ihre Träume verfolgte; wenn sie sich freute, so oft die anderen von ihm sprachen. Sie schalten ihn doch immer und nannten ihn einen Bettler. Sonst zergliederte sich Renata jedes Gefühl; aber sie getraute sich nicht, den Gründen nachzuspüren, warum es ihr Freude machte, daß er über alle herrschte, obzwar sie ihn haßten; und gerade darum war ihr Renatus vielleicht desto wichtiger. So belog sie sich selbst, und Renatus wich ihr aus. Aber er empfand dennoch, als könne ihr kein anderer von allen Ravennaten gefallen. Seiner selbst aber unwürdig wäre es ihm erschienen, alles einem Weibe zu verdanken, und er strebte darum fort aus der Heimat. Denn die Stadt verödete in jener Zeit, ihre Betriebsamkeit verschwand, die Kaufherren verarmten; selbst die Ratsmänner der Königin der Adria empfanden die Ungunst der Tage. Dafür hatte man aber von neuen Ländern erfahren; sie waren dem Beherrscher von Spanien untertan und dort gelegen, wo die Sonne untergeht. Ein Genuese hatte den Zugang zu ihnen gefunden; man rühmte sie wie ein neues Dorado, in dem ein kühner und wagemutiger Mann selbst Königreiche mit starker Faust erstreiten könne. Warum sollte das nicht auch Renatus beschieden sein? Warum sollte er nicht ein Goldland erobern, um dann heimzukehren und Fortunats Tochter zum Weibe zu gewinnen? Ein abenteuerliches Unternehmen – aber gerade das zog ihn an. War nicht alles besser als dies müßige Leben, das hier seine Jugendkraft verzehrte? Und wenn er fiel, dann fiel er dort mindestens mit Ehren.
Sein Verhängnis wollte es anders. Eines Tages saß er in einer schlechten Kneipe, etliche Gesellen um ihn. Keiner darunter war ihm lieb, mancher leidig. Er hatte aber gerade ein Verlangen nach Gesellschaft, und die anderen trieben es ganz toll. Als sie alle betrunken waren, begann man von diesem und jenem zu sprechen. Niemand weiß, wer zuerst den Namen der Tochter Fortunats genannt hat; nur daß man gerade damals ihrer oft gedachte, denn Herr Giovanni Testa hatte sie kurz vorher in feierlicher Tracht aufgesucht, und es war kein Rätsel geblieben, was den Alten seither so verstimmte. Man spottete der verliebten Greise, von denen doch keiner Renate dem andern gönnen würde. Renatus war verstummt, seitdem der Name des Weibes zuerst genannt worden war, und nestelte nur unablässig an seinem Wehrgehenk. Wie es oft geschieht, machte ihn die allgemeine Lustbarkeit nur noch ernster; und an der Qual, die es ihm bereitete, sie hier genannt zu sehen, wurde er sich erst recht bewußt, wie teuer sie ihm sei. Niemand beachtete aber seine Übellaune; Giuliano Testa war am lautesten und verhöhnte seinen Vater am meisten. Anfangs lachten sie, dann wurde auch dieser Spaß schal. Sie hänselten einander also, und endlich, nachdem jeder sein Teil bekommen hatte, kam auch Renatus daran. Gegen seine Gewohnheit erwiderte er mit keinem Worte; wären sie aber nicht ganz von Sinnen gewesen, so hätten sie doch bemerkt, wie ein Zorn in ihm aufstieg, den er kaum mehr bemeistern konnte; denn er war jähzornig und hatte an jenem Abend seinen trüben Gedanken über Gebühr mit hitzigem Rotwein zugesetzt. Dann fingen sie an, gar hämisch den unantastbaren Ruf der Tochter Fortunats zu zerpflücken, und meinten, die Bäume hinter ihrem Hause wüßten wohl viel zu erzählen, und die Knechte munkelten nicht umsonst von Zwiegesprächen mit einem, den man nicht kommen, nicht gehen sähe. Da brach Renatus los: »Hunde, die ihr nicht wert seid, den Namen der Reinen auch nur zu nennen!« – »Bettler, der du dich in ein warmes Nest setzen möchtest, und dem es freilich gleich sein muß, wer schon früher darin saß«, gab ihm Giuliano Testa zurück, der an diesem Tage zu seinem Unglück das erste und das letzte Mal in seinem Leben einem Starken gegenüber Mut hatte.
Kaum daß er's gesprochen hat, wollten sich die anderen schützend zwischen ihn und Renatus werfen. Es war zu spät. Der Wütende tat einen Satz und stand Giuliano gegenüber. »Zieh«, rief er, und seine Klinge war blank. In kopflosem Entsetzen rannten alle nach Hilfe, denn sie kannten die furchtbare Kraft Renatus' und scheuten seinen jähen Zorn. Fliehend hörten sie noch, wie Renatus noch lauter rief: »Zieh, Verdammter, oder bitte ab.« Ob nun dem Giuliano die Stimme vor Angst versagte, ob ihn sein Trotz hinderte, ob ihm der Rasende auch nicht mehr zu einem einzigen Worte Zeit ließ, dies verschlägt nichts; als sie aber eine gute Weile später zurückkehrten, mit ihnen handfeste Männer und der Podesta selbst, da fanden sie Herrn Giuliano erschlagen, sein Schwert noch in der Scheide – Renatus aber verschwunden.
Dieser hatte sich ohne Eile entfernt. Gerecht und billig schien ihm, was er getan, und beseelte ihn mit neuer Freude. Nun glaubte er, ein bestimmtes Anrecht an Renate zu haben, nachdem er ihre Ehre verteidigt und selbst Blut darum vergossen hatte. Er wußte wohl, daß sein Leben verloren sei, wenn man ihn finge. Aber es blieb ihm immerhin noch genug Zeit zum Entrinnen, denn Classis war nahe und er wollte nur noch zuvor Renate beschwören, mit ihm zu entfliehen, mit ihm und auf glücklicherem Boden ein neues Leben zu beginnen. Sie mußte ihm hold sein; eine klare Stimme in ihm verkündete es. Doch als er endlich vor ihr stand – sie wohnte nicht weit von jener Schenke – da hörte sie ihn stumm und ernsthaft an. Mit glühender Beredsamkeit hatte er begonnen – dieser Kälte gegenüber aber schwand sein Selbstvertrauen, brannte sein Feuer nieder. Und dennoch war Renata nicht so kühl, als sie ihm schien; aber sie kämpfte noch mit sich. Sie lähmte die Überraschung – denn sie war in der Einsamkeit langsam von Entschlüssen und Gedanken geworden – auch saß der Glaube an ihre Glücklosigkeit zu tief in ihrer Seele, als daß sie einer Hoffnung leichten Zugang gestattet hätte. Und als Renatus sie im letzten Aufflammen der Leidenschaft an sich reißen wollte, da stieß sie ihn vor die Brust, daß es dröhnte: »Toller, flieh! Wer aber sagte dir, daß ich dir folgen will?«
Seine starken Arme sanken: »Du liebst mich nicht, Renata?«
»Nein! Nicht einmal dem Henker entzöge ich dich.« Sie hatte stärker gesprochen, als sie gewollt, und das gereute sie, als sie den Ton seiner Abschiedsworte, sein trauriges: »Leb' wohl denn, Renata«, vernahm. Sie mußte ihm nachsehen. Er wandte sich nicht nach Classis, wo das Meer, die Flucht, die Freiheit lagen. Mit unsicheren Schritten zog er der Stadt zu.
In tiefer Betäubung war Renatus geschieden. Seit jenem Kirchgange liebte er die Stolze, und ihm selbst unbewußt war diese Liebe mit seinem Tiefsten verwachsen. Zum erstenmal hatte er heute Worte, von ihr unmittelbar an ihn gerichtet, vernommen; voll und traurig, wie der Ton von Totenglocken, schwangen sie ihm nach. Der Wahn, sie werde mit ihm ins Elend gehen, schien ihm so töricht, daß er, der eigenen Torheit lachend, sich freiwillig den Händen der Häscher übergab. Niemand aber in ganz Ravenna, außer dem Podesta, wollte seinen Tod; zumal die Weiber der Stadt baten bei Vätern und Gatten für ihn. Da ersann Herr Testa, damit ihm seine Rache doch nicht entgehe, einen listigen Anschlag: der Henker von Ravenna war nämlich schon hoch bei Jahren und hatte keinen Sohn, der ihm im Amte nachfolgen konnte. So ging Herr Testa eines Abends zu Renatus und ließ ihm die Wahl, ob er geblendet oder Freimann von Ravenna werden wolle; dies habe der Rat in seinem Handel beschlossen. Renatus schlug ein. Er wollte nicht als Krüppel leben, und wie es bei ungestümen Menschen nicht selten ist, hatte diese letzte, bitterste Enttäuschung einen grimmigen Haß gegen alle Welt in ihm erweckt. Allen wollte er es vergelten, was ihm die eine angetan. Auch wußte er, daß ihm Renata trotz alledem hold gewesen war; sie sollte mit Scham erkennen, wozu ihre Härte Renatus Spada getrieben hatte. Bald erfüllten Henkerstolz – denn er sah die Stärksten schwach – und die tiefste Verachtung derer, die vor ihm zitterten, seine ganze Seele. Und die Ravennaten haben nie so sehr vor dem Richtschwert geschaudert als damals, da es die unbarmherzige und furchtbare Hand Renatus Spadas über ihren Häuptern schwang.
Selbst diese Nachricht brachte der Tochter Fortunats eine gewisse Befriedigung. Der Fluch, dem jeder verfiel, der mit den Malespina in Berührung kam, hatte sich also wieder einmal bewährt. Aber sie war von jenem Tage an ganz gemieden; kein Werber pochte mehr an ihre Tür. Das berührte sie nicht; sie war des Sonnenlichtes wie des Lebens müde und hatte doch keines von beiden je gekannt.
Dabei aber war eines verwunderlich: an demselben Tage, an dem der Mund des Renatus für den Kreis seiner Genossen für immer verstummt war, wurde jenes Schmähwort wieder laut, das der Knabe oft dem Mädchen nachgerufen, wenn es scheu und bang durch die Straßen Ravennas gehuscht war. Aber nicht nur Buben schalten nunmehr die Tochter Fortunats so, sondern man kannte gar keinen anderen Namen mehr für sie als: »Die Hexe.« Und die alten Weiber von Ravenna wußten auch bald, worin ihre Zauberkraft liege. Sie war schön – gewiß; aber daneben besaß sie doch noch zweierlei, wie man nichts Ähnliches zu kennen glaubte: das war ihr Auge und ihre Stimme. Darin mußte ihre Gewalt liegen. Denn Renatus war ihr verfallen gewesen, hatte sich an sie herangedrängt von dem Augenblick, in dem sie ihn auf ihrem Wege zum Altar so recht und voll angesehn hatte. Die entlaufenen Knechte berichteten, ihre Stimme klinge so dunkel und trauervoll, daß jedem Hörer das Herz darüber in Mitleid schwellen müsse. Sie hielt zu Nacht geheime Zwiegespräche – mit wem, wenn nicht mit dem Bösen? Warum hatte sie seit ihrer Hochzeit keine Kirche betreten? Wer hatte in ihren Gemächern jemals ein Kreuz bemerkt, oder sonst ein Sinnbild des christlichen Glaubens unter dem Schmucke, den sie an ihrem Leibe zu tragen pflegte? Nicht umsonst verarmte Ravenna; nicht umsonst war erst ganz vor kurzem von der Kanzel herab jene Bulle wieder verkündet worden, welche Papst Innocenz VIII. gegen die Dämonen und ihre menschlichen Helfer gerichtet hat.
Herr Giovanni Testa sammelte jedes Wort der Anklage, das in irgend einem Winkelchen der Stadt aufflog. Jeden dunklen Vorwurf, jede geheime Sage zeichnete er auf und sah vergnügt den Tag näher und näher schreiten, der ihm Vergeltung für den Tod seines Sohnes wie für die Abweisung seiner eigenen Werbung, zugleich aber auch Befriedigung der beiden Leidenschaften brächte, die im Menschenherzen zuletzt erlöschen: des Stolzes, denn so lange eine Malespina lebte, war sein Geschlecht doch nur das zweite in der Stadt; des Geizes, weil er hoffen durfte, sich an ihrem Erbe zu bereichern. Als nun die Pfingsten des Jahres 1532 vorüber waren, rief er die Ratsherren zusammen; denn es war damals schon so still in Ravenna geworden, daß man nicht einmal einen eigenen Hexenrichter mehr brauchte, und dann ist ja auch jeder Christ verpflichtet, diejenigen zu verfolgen, welche aus der Gemeinschaft der Gläubigen abfallen und das Heil ihrer Seele abschwören. Er trug in wohlgesetzter Rede vor, was er gegen die Tochter Fortunats vorbringen konnte. Er gedachte des Unheils, das sie über die Stadt gebracht, und daß schon Fortunat geheimer Künste verdächtig gewesen sei. Da lief ein beifälliges Gemurmel durch die Versammlung. Er aber erinnerte noch daran, ein wie großes Unrecht es sei, solche Schätze in den Händen einer für ewig Verdammten zu lassen, statt sie in die Hand der Frommen zu legen. Auch das fand Beifall. Einer von ihnen aber, Herr Florio, wiederholte noch einmal alles, dessen man die Tochter Fortunats bezichtigen konnte; denn er war langsam von Geist. Und wie er nun, mit nickendem Haupte und eines nach dem anderen an den Fingern herzählend, sagte: »Und endlich weil sie keinen Liebhaber hat, denn ein junges und schönes Weib muß einen Liebhaber haben, und ist es kein Mensch, dann, nun dann ist's ein anderer«, da stießen die Herren einander an und kicherten. Denn weder Herrn Florios hübsche Ehefrau, noch die Tochter seines ersten Weibes konnten dann Hexen sein. Doch kam dem Würdigen ein neues Bedenken: »Wie aber... wenn Renatas Auge und Stimme jeden Mann bezwingen, wer soll sie dann vor ihre Richter stellen...?« »So senden wir die Weiber der Büttel um sie«, entschied ein Klügerer, »die werden ihrer gewiß nicht schonen.« Und darin lag Wahrheit; denn es gab kein Weib in der Stadt, das Renata nicht grimmig haßte. Herr Florio aber war noch nicht zufrieden: »Wie aber...«, zweifelte er weiter, »wenn sich das Volk, von ihrer Jugend und Schönheit gerührt, zu ihren Gunsten erhöhe? oder auch nur uns übel mitzuspielen? Oder wenn gar ihre Richter, wir selbst, ihrem Zauber erliegen würden? Wir sind doch auch noch Männer!« Herr Testa mußte über dieses Bedenken lächeln, so ernsthaft er sonst war: »Nun denn«, beschloß er, »man wird sie verschleiert und ganz verhüllt, damit sie niemand recht anschauen kann, durch die Straßen führen; und so wird sie dann auch vor uns stehen.«
Dennoch schien es den Herren rätlich, die Tochter Fortunats in verschwiegener Nacht oder am Morgen gefangen nehmen zu lassen. Denn die Malespina, als letzte Zeugen eines entschwundenen Glanzes, hatten im gemeinen Volke noch einen großen Anhang. Auch war die Not so hoch gestiegen, daß der kleinste Anlaß einen Aufstand gegen den Rat erregen konnte, weil sehr viele dabei nur gewinnen würden.
Am dritten Tage nach Pfingsten also, als es eben Morgen werden wollte, schickte man nach ihr. Sie lag noch im leichten Frühschlummer, als die Häscherinnen bei ihr einbrachen. Man trieb sie aus dem Bette auf; die rohesten Scheltworte schlugen an ihr Ohr, ohne daß sie ahnte, was man im Namen des Rechtes bei ihr suchen könne. Aber sie wußte, daß ihr jede Anklage verderblich werden müsse; und weil weiblicher Haß geschwätzig ist und man sie Teufelsliebchen schalt, sah sie bald klar. Man band ihr die Hände mit starken Stricken. Das wäre nicht notwendig gewesen, denn sie hätte nicht entfliehen können, nicht einmal, wenn sie es gewollt; erhob sich doch in ihrem eigenen Hause keine Hand zu ihrem Schutze, und selbst das wohlfeile Bedauern ersparten sich die, welche ihr Brot aßen. Das befremdete sie nicht. Mehr aber als selbst die Striemen, welche die hart angezogenen Bande ihr in die weichen Arme schnitten, tat ihrem Stolz wehe, daß man sie fesselte. Dann warf man ihr eine Hülle über das Haupt, die sie blendete und ihr schier den Atem benahm. Sie schwieg dazu; und während ihre Diener in müßiger Neugierde umherstanden und sich noch vor der Herrin ihr Teil der Beute zu sichern suchten, um dem Gerichte zuvorzukommen, trat die letzte Malespina den letzten Gang zur Stadt ihrer Väter an.
Es war ihr aber selbst befremdlich – während man sie stieß und schmähte, auf diesem Leidenswege zog in das Herz der Tochter Fortunats eine tiefe, wundersame Ruhe ein, ganz verschieden von jener bänglichen Grabesstille, die es so lange umfangen hatte.