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Windhaag und Kronstorf

Er blieb in Windhaag bis zu seinem 19. Lebensjahr (Januar 1843). Eingeschlossen in ein kleines Bauernnest – Windhaag zählte damals etwa 250 Einwohner – und mit einem Gehalt, das zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel war, wird er keine frohen Zeiten mitgemacht haben.

Die oberösterreichischen Dörfer enthielten ja außer Schule, Wirtshaus und Kirche nur noch wenige Bauerngehöfte, oft viertelstundenweit voneinander entfernt zwischen Feldern, unter Obstbäumen versteckt. Die Angaben Brunners und Gräflingers über Bruckners Einkommen schwanken, aber wenn in der Linzer Dom- und Stadtpfarrschule der Schulgehilfe damals (wie aus Pillweins Linzer Wegweiser hervorgeht) mit 120 Gulden jährlich besoldet wurde, kann man sich vorstellen, was einer auf dem Land bekam, vielleicht kaum ein Viertel. Jedenfalls wurde für wenig Geld sehr viel verlangt. Der Unterlehrer war überdies Meßner, Kirchendiener, Organist, Chorleiter und Pädagog in einer Person und mußte, um sein Einkommen zu erhöhen, tanzgeigen, das heißt bei Bauernhochzeiten, Kirchweihen und Faschingstänzen aufspielen; zwei Violinen, eine Baßgeige, eine rauhstimmige Klarinette und »eine sehr vorlaute Trompete« bildeten das Orchester; unter der Musikantenbank standen die steinernen Bierkrüge und neben dem Primgeiger der Teller, auf den die Tänzer auflegten, das heißt ihre Geldspenden warfen. Wenn dann die Bauernstiefel auf dem Tanzboden scharrten und schliffen, der Vorgeiger den groben Takt dazu trat, in ungefügen Freudenjauchzern das ululatus des Tacitus hörbar wurde und der Bursch seine Erkorene im Ländlerwirbel an die Decke schwang, daß man ihre wohlgeformten Beine sah, mag der junge Unterlehrer die Ureindrücke empfangen haben, die er später in den Dorferinnerungen seiner Sinfonien sehnsüchtig verklärte –: auf sehr angenehme Weise hat er den Musikstoff allerdings nicht gesammelt.

Sozial betrachtet war der Unterlehrer der letzte im Dorf. Was bedeutete der Schulgehilf, selbst wenn er Latein verstand, gegen den Bürgermeister, die reichen Großbauern, und wie kommandierte ihn der Pfarrer in seinem Fischbeinhut! Man muß solche Einzelheiten kennen – Julius von der Traun erzählt davon so manches –, um die Lebenstiefen zu ermessen, aus denen einst ein Künstler aufstieg.

In Windhaag fällt er seiner Umgebung auch zum erstenmal als Original auf. Er ist gar nicht wie die andern. Er liebt einsame Spaziergänge, womöglich abseits auf Feldrainen, nicht auf den gewöhnlichen Wegen, und es werden nicht nur seine »rotjuchtenen Stiefln« gewesen sein, die er damit schonen wollte. Der Eigenbrötler ärgert die Windhaager Bauern auch dadurch, daß er wie J. S. Bach in Darmstadt »die Gemein' confundiret« haben soll, wenn er sich in der Kirche beim Segen einer phantastisch entführenden Begleitung hingab, die geradlinige Gemüter hinauswarf. Und dann – die »Verrucktheit«! Wenn der Schulg'hilf' querfeldein wandelte, trug er immer ein Buch mit sich, blieb zuweilen stehen, nahm den großen Bauernhut vom Kopf, zog daraus einen Streifen Notenpapier hervor und begann zu notieren! Einen »Mückenfänger« nannte ihn sein Vorgesetzter, der Schulmeister Fuchs, und das wird so ungefähr die öffentliche Meinung Windhaags gewesen sein …

Im Jahr 1843 wurde er von Windhaag, das im Norden Oberösterreichs (bei Freystadt im Mühlviertel) lag, nach Kronstorf versetzt. Bei dieser Gelegenheit stellte der Geistliche Rat und Pfarrer Franz von Schwinghaimb »dem Anton Pruckner, Lehrer an der Trivialschule zu Windhaag im Dekanat Freystadt« auf sein Ansuchen ein Zeugnis aus, worin neben dem Fleiß im Lehrfach »seine achtungsvolle Unterwürfigkeit gegen seine Seelsorger und Katecheten, gute Behandlung der Schulkinder und auferbauliches Betragen bey den Verrichtungen im Messnerdienste« hervorgehoben und weiter festgestellt wird, daß »Anton Pruckner auch seine freyen Stunden mit allem Fleiss dazu verwendet habe, um sich in der Kirchenmusik immer mehr zu vervollkommnen« sowie »auch andre Kenntnisse, besonders in der für den Text der Kirchenmusik nicht überflüssigen lateinischen Sprache zu erwerben«. – In der langen Reihe der Brucknerschen Zeugnisse bestätigt dieses nicht als einziges die vormärzliche Tugend der »Unterwürfigkeit«, die Bruckner aus der Jugend in sein Leben mitnahm. – Hiermit verließ er Windhaag.

Kronstorf war in jeder Hinsicht besser. Zwar zählte das Dorf nur 150 Einwohner, und er wohnte in einem Raum, den der Volksmund »Speckkammerl« nennt – aber man hatte nur zwei und eine halbe Wegstunde nach Stadt Steyr – Steyr mit seiner wunderbaren alten gotischen Pfarrkirche und der schönen Orgel, die auch von Krismann stammte und etwas ganz anderes war als die Dorforgel von Windhaag. Ein glücklicher Zufall wollte es überdies, daß sich in Kronstorf ein Bauer fand, der ein – Spinett hatte, oder ein altes Klavichord, und es sogar herlieh, so daß der Schulgehilfe alle Morgen seinen Bach üben konnte. Und wenn ihm in Kronstorf geistig etwas abging, er konnte es jederzeit aus den nahen Städten holen, aus Steyr und Enns, und hiermit fängt ein neues Thema in der Brucknerwelt an: das Wandern ums Wissen, die Wallfahrt nach Musik.

In dieser Provinzferne stand keine Akademie, die frischgelieferte Talente ausbuk, und in halbmittelalterlicher Schwerfälligkeit, in einem Alter, wo die Heutigen schon »fertig« sind, muß Bruckner die Pythagorasse aufsuchen, die die Geheimlehre vermitteln. Folgt er mit seinem Bestreben, Lehrer zu werden, der Linie der Familie, so führt ihn der Trieb nach musikalischer Ausbildung schon eigene Wege, das Nebenamt wird in erster Ahnung sein Hauptamt, und wie er später die beschwerlichen Fahrten von Linz nach Wien unternahm, so ging er jetzt von Kronstorf nach Enns. Dort hauste als Chorregent Leopold Edler von Zenetti, der als Organist in großem Ruf stand. Bei ihm suchte Bruckner sich zu vervollkommnen und legte ihm die ersten schüchternen Skizzen zum Ausbessern vor. In Figur und Kleidung, sagt Gräflinger, paßten Lehrer und Schüler vortrefflich zusammen: der alten Mode getreu trugen sie weite, faltige Hosen, hohe Atlaskrawatte und Chemisette. Wahrscheinlich benützte Zenetti beim Unterricht das Lehrbuch des berühmten D. G. Türk, die »Anweisung zum Generalbaßspielen«, deren Ausgabe von 1807 (gedruckt von der Typographisch-Musikalischen Gesellschaft in Wien) die bezeichnende Empfehlung der Verleger enthält: »Es ist Kennern der Musikgelehrtheit bekannt, daß wir kein besseres und gründlicheres Lehrbuch dieser Art in Teutschland besitzen als gegenwärtige Anweisung, welche alle andern früher über diesen Gegenstand erschienenen Werke entbehrlich macht und sie weit hinter sich zurücklässt.« Türk ist zwar altväterlich hinter den Regeln her – die Vorbereitung der Dissonanzen im reinen Satz sei notwendig, »damit das Gefühl bey dem freyen (unerwarteten) Eintritte derselben nicht so heftig angegriffen werde« –, aber als Erzieher denkt er ganz frei und vernünftig: »man glaube nur nicht, daß das schon ein guter Musiker werde, der die Regeln weiß …«, was sogar heute noch nicht ganz veraltet ist, und sicher in die Brucknersche Lehrweise mit überfloß.

So ging es fort zwischen Kronstorf, Enns und Steyr bis 1845. Namentlich Steyr wächst sich ihm ins Herz und bleibt darin gleich nach Sankt Florian.

Dieses Jahr bringt eine weitere Wendung ins Günstige. Der Unterlehrer hatte nun drei Jahre gedient und hiermit die vorgeschriebene Wartezeit hinter sich. Er konnte nach neuerlicher Prüfung bestätigt und an einer größeren Schule angestellt werden. Mit der Zeit ging der Vormärz nicht gerade ökonomisch um. Bruckner unterzog sich der Konkurs-Prüfung, legte sie in Linz, wahrscheinlich mit gutem Erfolg, ab, denn er wurde sogleich als Lehramtsgehilfe angestellt, und zwar in – Sankt Florian. Ob es ein glücklicher Zufall gewesen, ob er selbst einen Wunsch laut werden ließ oder eine freundliche Hand mitgeholfen, ist einerlei – er sah sich in die ungern verlassene zweite, aber eigentliche Heimat zurückversetzt. Zu gleicher Zeit meldete er sich auch an der Normal-Hauptschule in Linz zu einer »ordentlichen Prüfung« aus dem »allgemeinen Musikfach und insbesondere in der Harmonie- und Generalbaßlehre«, erhielt dabei »in der allgemeinen Musiktheorie, in der Harmonik und dem praktischen Orgelspiel« die erste Klasse mit Vorzug und bewies auch »in der Vokal- und Instrumentalmusik, namentlich im Choral- und Figuralgesange sehr empfehlenswerte Kenntnisse und Fertigkeiten«. Mit dem Anstellungsdekret vom 25. September 1845 wurde er zum »ersten sistemisirten Schulgehilfen« ernannt, seine Besoldung stieg auf 30 Gulden jährlich, und wo er fünf Jahre zuvor als zaghafter Schüler eingetreten war, stand er jetzt als bestallter Lehrer.

Es war 1845, das Tannhäuserjahr. Doch bedeuten bei den verschiedenen Meistern dieselben Jahreszahlen nicht das gleiche. Wenn Berlioz im Jahre 1832 aus Rom nach Paris zurückkehrte, so ist Paris ungefähr, was Wien 1872 bei einem Österreicher wäre. Andere politische Entwicklungen geben der Zeit verschiedene Werte, und der einundzwanzigjährige Bruckner steht weit hinter dem einundzwanzigjährigen Berlioz, Wagner oder Schumann.


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