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Eines Abends, im Juli, saß Noemi wie so oft im Hof und nähte. Der Tag war sehr schwül gewesen, und der graublaue Himmel war noch verschleiert wie vom Aschenregen eines fernen Brandes, dessen flammendroter Schein allmählich im Westen verglomm. Die nun schon in voller Blüte prangenden Feigensträucher brachten eine goldene Tönung in das eintönige Grau der Gärten, und dort hinter dem eingestürzten Kirchturm schimmerten die Granatapfelbäume Don Predus, wie gesprenkelt von Blut.
Noemi fühlte tief in sich all dieses Grau und Rot. Die Wehmut, die sie jedes Jahr im Frühling beschlich, verlor sich heuer nicht mit dem Nahen des Sommers; nein, von Tag zu Tag lockte ein heftiges Verlangen nach Einsamkeit sie immer gebieterischer in die Stille, trieb sie, sich zu verstecken und sich hemmungslos ihrem Gram zu überlassen, wie eine Kranke, die nicht mehr auf Genesung hofft.
Heute war sie ganz allein, Esther und Ruth hatten die Einladung des Pfarrers zu einem kleinen Feste angenommen; Giacinto war in Oliena, um für Mileses Rechnung Wein einzukaufen. Ja, so tief war er gesunken – zum Knecht eines Mannes, der früher als Händler durch die Gegend zog. Noemi verachtete ihn, würdigte ihn nicht eines Wortes, aber wenn sie allein war, sah sie noch immer, wie er sich über sie beugte, ihr Gesicht mit Essig besprengte und mit seinen Tränen netzte: »Liebe, liebe Tante, warum – warum all das?« Und seine traurigen, wie dieser Sommerhimmel glühenden Augen gingen ihr nicht aus dem Sinn.
Noch immer glaubte sie den bitteren Geschmack seiner Tränen auf den Lippen zu spüren – einen Geschmack, in dem alle Menschenschwäche, alles Menschenleid enthalten war, und wie im Traume verwandelte sich sein Bild, dies einem ständigen Wechsel unterworfene Bild eines verdrossenen, entwurzelten, tief gesunkenen Giacinto, gegen den sie wehrlos war wie gegen einen Bergsturz, der das Haus zu vernichten drohte, in das Bild eines guten, eines reuigen und tief bekümmerten Giacinto.
Und dann erschauerte ihre Seele jedesmal unter einem Sturm von Leidenschaft. Sie brach in Tränen aus, fühlte sich hingerissen von ihrer Sehnsucht, die all ihre trüben Gedanken entführte wie der Wind, der über einen Baum fegt und ihn all seines welken Laubes entblättert.
Ihr schien, als wäre sie bewußtlos wie an jenem Tage, als wären ihre Tränen die Giacintos; und sie sog sie auf wie den Saft einer herben Frucht, mit gierigen Lippen, die erbebten unter all den Küssen, die sie nie gespendet, nie empfangen hatten. Giacintos Jugend, Leidenschaft und Trauer durchdrangen sie; sie vergaß ihr Alter, ihr Aussehen, ihr tiefstes Wesen; sie glaubte auf dem Grunde eines klaren Quells im Wald zu ruhen und zu sehen, wie eine Gestalt sich zu ihr herabbeugte, um zu trinken, in durstigen Zügen von ihrem Mund zu trinken. Es war Giacinto, aber es war auch sie, die lebendige, die nach Liebe dürstende Noemi: war ein rätselhaftes Zwitterwesen, das alles Wasser aus dem Quell, alles Leben aus ihrem Munde trank und sich dann zu ihr auf den Grund des Waldquells bettete und mit ihr verschmolz.
Ein lautes Klopfen am Tor rief sie in die Wirklichkeit zurück. Sie ging öffnen, im Glauben, daß es ihre Schwestern wären oder Giacinto selbst, dessen Gegenwart sie nicht fürchtete; denn sie genügte, um den Zauber zu brechen. Doch sie sah die Muhme Pottoi auf der Straße stehen und warf das Tor unwillkürlich wieder zu, um sie zurückzudrängen. Die Alte aber stemmte sich dagegen.
»Sie wollen mich wohl zerquetschen wie eine Spinne, Fräulein Noemi? Ich tu Ihnen doch nichts zuleide.«
Kalt und verächtlich trat Noemi zurück und betrachtete das Linnen in ihrer Hand.
»Was wollen Sie denn?«
»Sprechen will ich mit Ihnen, Euer Gnaden. Aber in aller Ruhe, als Mensch zu Mensch«, sagte die Alte, die die Korallen an ihrem braunen Hals ordnete und an allen Gliedern zitterte.
»Fräulein Noemi, schauen Sie mich an! Sehen Sie nicht unter sich. Ich möchte Sie um Hilfe bitten.«
»Mich?«
»Ja, Sie, Euer Gnaden. Drei Monate lassen die Damen mich schon nicht mehr ein. Mit Recht. Aber heute nacht habe ich von Frau Maria Christina geträumt; ich sah sie an meinem Bett stehen, wie seinerzeit, als ich die letzte Ölung nahm. Sie sah so schön aus – mit ihrem schneeweißen Kopftuch. Geh zu Noemi, sagte sie zu mir. Noemi hat mein Herz, denn das Herz der Toten schlägt weiter in den Lebenden. Ja, geh zu ihr, Muhme Pottoi, sagte sie zu mir, und du wirst sehen, daß Noemi dir hilft. Genau diese Worte sagte sie zu mir.«
Noemi lehnte noch immer am Hoftor und versuchte weiterzunähen, den Kopf über das Linnen gebeugt, das rötlich leuchtete im Widerschein des Himmels aus dem Berge.
»Nun, was wünschen Sie?«
»Ich werde es Ihnen sagen. Sie wissen Bescheid. Die beiden jungen Menschen haben sich lieb. Ich sagte mir zunächst: Weshalb soll ich's ihnen verbieten, wenn sie sich wirklich liebhaben? Haben wir in unserer Jugend nicht auch geliebt? Aber die Zeit vergeht, Euer Gnaden, und der junge Mann wird immer seltsamer. Meine Grixenda ist schon dünn geworden wie ein Fädchen. Er will nicht, daß sie das Haus verläßt, daß sie arbeiten geht, und wenn er sie vor der Tür stehen sieht, jagt er sie ins Haus. Und beklagt sich Grixenda dann, so sagt er: ›Nur deinetwegen mache ich den Tanten das Herz so schwer, vor allem Tante Noemi.‹ Weiter sagt er nichts, denn er ist wohlerzogen und herzensgut, aber diese Worte sind wie schleichendes Gift.«
Sie seufzte laut auf und haschte nach einem Zipfel von Noemis Schürze, den sie um die schwarzen Finger wickelte.
Fräulein Noemi, liebe Herrin, Sie haben das Herz Ihrer Mutter. Ihnen kann ich es anvertrauen. Als mein Mann mich warnte: ›Wenn du noch einmal nach Don Zame schielst, stech' ich dir die Augen aus‹, da machte ich die Augen zu, und Don Zame war von dieser Stunde an tot für mich. Grixenda aber ist anders, Grixenda kann die Augen nicht zumachen.«
Unwillkürlich fühlte Noemi sich verwirrt. Die Alte, die schüchtern wie ein Kind am Zipfel ihrer Schürze nestelte, tat ihr leid.
»Sie selbst sind schuld daran«, sagte sie ernst. »Sie als alte, erfahrene Frau hätten wissen müssen, wozu solche Dinge führen.«
»Ach, unsereiner weiß so viel und dennoch nichts, Euer Gnaden. Das Herz wird niemals alt.«
»Das ist wahr«, pflichtete Noemi bei, zögernd, mit widerstrebender Stimme. Gleich darauf aber runzelte sie die Stirn und richtete die kalten, spöttischen Augen starr auf die Alte.
»Also – was wollen Sie?«
»Sie sollen mit Don Giacinto sprechen, sollen ihm sagen: Laß Grixenda in Frieden oder heirate sie.«
»Das soll ich ihm sagen? Warum gerade ich?« fragte Noemi, und da die andere nun sie schweigend anstarrte, überkam sie ein peinliches Gefühl; die Empfindung, daß die Alte alles wüßte. Sie senkte den Blick und fuhr schroff und hochmütig fort: »Nein, ich werde ihm nichts sagen. Vergessen Sie nicht: Sie wußten genau, wer er war, und handelten als eine schlechte Großmutter, als Sie Grixenda erlaubten, sich mit einem jungen Manne einzulassen, der nicht zu ihr paßt.«
»Warum nicht zu ihr paßt? Ein lediger Mann paßt stets zu einer ledigen Frau, vorausgesetzt, daß Liebe vorhanden ist. Und Euer Gnaden werden mir diesen Gefallen tun und mit ihm sprechen, nicht wahr? Und auf Sie wird er sicher hören, denn er ist gut und sagt immer: ›Leid tut mir nur eins, daß Tante Noemi meinetwegen leidet.‹ ... Na ja, im Vertrauen gesagt: er spricht ständig von Ihnen und hat Sie sehr gern. Grixenda ist geradezu eifersüchtig auf Sie, Herrin.«
Da lachte Noemi laut auf. Aber sie fühlte, wie ihre Knie zitterten, fühlte tief im Herzen die strahlende Schönheit des Sonnenuntergangs: ein Meer von Licht, durchbrochen von goldenen Inseln, durchhaucht von überirdischem Glanz. Noch nie hatte sie soviel Seligkeit auf einmal empfunden.
Ein kurzer Augenblick, und alles war wie umgewandelt. Die Alte sah sie an, und in ihren gläsernen Augen blitzte es boshaft.
»Also – was meinen Sie dazu, Fräulein Noemi? Darf ich etwas beruhigter fortgehen? Ja, nicht wahr, Sie werden mir helfen?«
»Gehen Sie ruhig«, sagte Noemi mit veränderter Stimme; aber die Alte ging nicht, sondern verlor sich in demütigen Dankbeteuerungen.
»Unser Häuschen stand ja immer neben Ihrem Haus, wie eine Magd neben der Herrin. Nein, unsere Feindschaft konnte nicht lange dauern. Mein Zuannantò ist immer ganz traurig, wenn er aus dem Garten kommt, und sagt:›Warum haben die Damen mich fortgejagt?‹ Und dann holt er die Ziehharmonika und spielt hinter der Mauer dort. Er bringe Fräulein Noemi ein Ständchen, sagt er immer. Und nun wird ja alles gut werden.«
»Hoffen wir es!« sagt Noemi; aber auch sie wußte nicht, was eigentlich gut werden sollte. Sie empfand nur ein plötzliches Gefühl von Zärtlichkeit für alle Menschen. »Sagen Sie Zuannantò, er soll heute abend zu uns kommen. Dann werde ich ihm ein Körbchen von unseren roten Birnen geben.«
Die Alte ergriff ihre Hand, küßte sie und ging mit Tränen in den Augen fort. Noemi kehrte auf ihr Plätzchen zurück. Der im Osten schon verglommene Himmel glühte noch immer über dem Berge, als wenn aller Tagesglanz sich dorthin geflüchtet hätte. Sie nähte emsig weiter, sah aber weder das Linnen noch die Nadel, sah nur die strahlende Helle, den überirdischen, unendlich tiefen Zauberglanz. Sie glaubte das Ständchen des jungen Burschen zu hören, und sehnsüchtige Liebeslieder tönten durch die leuchtende Abendluft. Und wieder sah sie sich auf der Warte des Pfarrers stehen, hoch über der Marienkirche; im Hof unten flackerte das Reisigfeuer, wogte bunt das Fest. Und plötzlich eilte auch sie hinab, um sich einzureihen in den wirbelnden Reigen der tanzenden Frauen. Auch sie nahm nun teil am Fest, war die übermütigste von allen, war wie Grixenda und Natòlia, und fühlte tief im Herzen die Glut, die Sehnsucht, die Leidenschaft all der engverschlungenen Frauen. Giacinto drückte heimlich ihre Hand, und das Fest ringsum im Hofe, in der Welt, war nur für sie da ...
Da klopfte es wieder am Tor, und wieder ging Noemi öffnen. Ein Mann trat ein und schloß das Tor hinter sich.
Es war der Gerichtsvollzieher, ein dürrer Beamter mit dunklem, bärtigem, seit acht Tagen nicht mehr rasiertem Gesicht. In der Hand hielt er ein langes, zusammengefaltetes Schreiben. Er nahm den steifen, grünlichen Filzhut vom kahlen Kopf und sah Noemi verlegen an. »Ist Fräulein Esther nicht zu Hause?«
»Nein.«
»Ich – ich soll ihr das hier aushändigen. Aber ich kann es auch Ihnen geben«, setzte er schnell hinzu, kritzelte mit dem Bleistift ein paar Zeilen unter das Schreiben und buchstabierte laut die Worte mit, die er schrieb. »Per–sön–lich – persönlich, aus–ge–hän– digt – ausgehändigt an die Schwester der Beklagten, Fräulein No–e–mi – Noemi Pintor.«
Starr sah sie zu, zitterte aber im Innern. Hundert Fragen lagen ihr auf der Zunge, doch sie wollte nicht neugierig und schwach erscheinen vor diesem Manne, den alle im Dorf fürchteten und verachteten.
Auch der Gerichtsvollzieher zögerte noch eine Weile, ehe er ihr das Schreiben aushändigte. Schließlich entschloß er sich dazu und ging eilig fort.
Mit dem Linnen unter dem Arm begann sie zu lesen.
»Im Namen Seiner Majestät des Königs ...« Das Schreiben hatte etwas Unheimliches und Erschreckendes, als hätte ein böses Schicksal es gesandt.
Je länger sie las, je klarer sie begriff, desto mehr glaubte Noemi zu träumen. Sie setzte sich wieder, las noch einmal – genauer. Katharina Carta, Hauseigentümerin von Beruf, ersuchte das Freifräulein Esther Pintor binnen fünf Tagen, gerechnet vom Tage der Beglaubigung des Vollstreckungsbefehls, um Rückgabe von zweitausendsiebenhundert Lire, einschließlich der Zinsen des von genannter Esther Pintor unterschriebenen Wechsels.
Zunächst glaubte auch Noemi, genau wie Efix, an eine unbesonnene Handlung Esthers. Eine flüchtige Röte trat auf ihre Stirn, und wie eine Flamme, die in dunkler Nacht kurz aufflackert und erlischt, erhob sich aus den Tiefen ihres Gewissens die Gewißheit, daß auch sie, vor wenigen Augenblicken noch, zu jeder Torheit für Giacinto bereit gewesen wäre. Dann tiefe Stille, tiefes Dunkel. Ja, sie, vor wenigen Augenblicken noch – aber Esther? Nein, Esther konnte sich nicht einer solchen Torheit überlassen, Esther konnte nicht aus Liebe zu diesem Abenteurer die Familie zugrunde gerichtet haben.
Die Wahrheit überkam sie wie eine plötzliche Erleuchtung, ließ sie aufspringen und im Hofe hin und her irren, strauchelnd und taumelnd, wie im Fieber.
So fanden die Schwestern sie.
Fräulein Esther griff nach dem Schreiben, während Fräulein Ruth, da es schon dunkel war, die Lampe anzündete.
Dann setzten sich alle drei auf die Bank in der Küche, und Noemi, die nun wieder ganz ruhig, fast grausam war, las laut das Schreiben vor. Auf den erschrocken über das Papier gebeugten Gesichtern der Schwestern schimmerte der Angstschweiß; Noemi aber hob die Augen und sagte: »Wenn du nichts unterschrieben hast, Esther, brauchen wir nichts zu bezahlen. Das ist klar, weshalb also verzweifeln?«
»Dann kommt er ins Gefängnis.«
»Geschieht ihm ganz recht.«
»Und das sagst du, Noemi? Darf man einen Menschen denn ins Gefängnis bringen?«
»Was sollen wir denn sonst tun?«
»Bezahlen.«
»Und dann betteln gehen?«
»Auch unser Heiland schämte sich nicht, Almosen anzunehmen.«
»Aber unser Heiland straft auch, züchtigt die Sünder, die Betrüger und Fälscher ...«
»Im Jenseits, Noemi.«
Ruth schwieg, während die Schwestern stritten, aber sie war in kalten Schweiß gebadet und lehnte mit leblos, wie tot herabhängenden Händen auf der Bank. Zum erstenmal in ihrem Leben verspürte sie ein seltsames Gefühl: den Wunsch, aufzuspringen, irgend etwas zu beginnen, der Familie zu helfen.
»Ach«, sagte Esther, während sie aufstand und ihr Tuch auf der Brust übereinanderschlug, »wir dürfen die Ruhe und Vernunft nicht verlieren. Ich werde zu Kallina gehen, werde sie bitten, sich noch ein Weilchen zu gedulden ...«
»Du, liebe Schwester? Du willst zu der Wucherin gehen? Du, eine adlige Pintor?«
Noemi hielt sie am Zipfel des Tuchs zurück; aber obwohl Esther noch eben zur Ruhe und Vernunft gemahnt hatte, riß sie sich heftig los.
»Eine adlige Pintor, lächerlich! Die Not, liebe Schwester – das weißt du – macht alle Menschen gleich.« Und fort war sie.
Da fühlte sich Noemi wieder übermannt von heftiger Empörung. Wie ein Opferlamm, das alles mit sich geschehen läßt, tauchte Efix in ihrem Geiste auf, und sie rannte in den Hof, vor das Tor, und wartete, daß jemand vorbeikommen sollte. Den wollte sie dann bitten, nach dem Gut zu gehen und den Knecht zu holen.
»Er allein ist schuld an allem. Er versprach, Giacinto im Auge zu behalten, uns zu schützen vor ihm ...«
Niemand kam. Es war totenstill ringsum, und auch Ruth im Hause drinnen war wie gestorben. Regungslos stand Noemi auf den zerfallenen Stufen des Eingangs, beugte sich ins Dunkel, schien zu warten auf ein geheimnisvolles Wesen, einen Retter und Rächer zugleich.
Schritte erklangen in der Ferne, langsame, schwere Schritte; eine Gestalt tauchte am Ende der Straße auf, kam näher, wurde größer und größer, ragte gewaltig in den blassen Abendhimmel. Nun stand sie vor Noemi, bemerkte ihre heftige Erregung und blieb stehen, während diese die Hand gegen die Mauer preßte, um nicht zu Boden zu sinken, so tief erschütterten sie das Verlangen und die Angst, den Vorbeigehenden anzusprechen.
Da fragte dieser: »Was ist los, Noemi?«
Und sie fühlte, wie etwas in ihrem Herzen sich löste, wie es nach Hilfe schrie in ihrem Innern.
»Bitte, Predu, schick jemand her, der aufs Gut gehen und Efix holen kann.«
»Ich werde selbst gehen, Noemi.«
»Du? Du? Nein, du nicht ...«
»Warum nicht?« schrie er. »Hast wohl Angst, ich könnte dir deine Melonen stehlen?«
Aber sie stammelte immer wieder, wie im Fieber:
»Nein, du nicht – du nicht ...«
Da erriet Don Predu, welch düsteres Geschick sich dort drinnen erfüllte.
Er wußte nicht, warum; seit einiger Zeit, seit dem Abend, da er den Korb mitgebracht hatte, seit der Stunde, da Giacinto zu ihm gesagt hatte: »Du häufst Geld auf wie Bohnen auf der Streu, um sie nachher den Schweinen vorzuwerfen«, fühlte er eine schreckliche Leere in sich, ein seltsames Leid, als wenn der Fremdling ihn angesteckt hätte, und verspürte beim Gedanken an seine Basen jedesmal ein sonderbares Mitleid. Er sah, daß Noemi zitterte, und preßte auch die Hand an die Mauer, dicht neben der ihrigen. Ihre Gesichter berührten sich fast: das seine strömte einen männlichen Geruch aus, einen Geruch nach Schweiß und Sonne, nach Wein und nach Tabak, das ihre einen zarten Lavendelduft, einen Duft von Stille und von Tränen.
»Noemi«, sagte er rauh und zaghaft, während er den Hut abnahm und wieder aufsetzte, »sagt es mir ruhig, wenn ihr mich braucht. Was ist geschehen?«
Noemi gab keine Antwort, sie konnte nicht sprechen.
»Was ist geschehen?« wiederholte er laut.
»Wir sind erledigt, Predu«, sagte sie schließlich, fast gegen ihren Willen, »sind am Ende. Giacinto hat Esthers Unterschrift gefälscht, die Wucherin hat den Wechsel eingeklagt ...«
»Ah – die verfluchte Hexe!« schrie Don Predu und schlug mit der Faust an die Mauer.
Noemi erschrak bei diesem Fluch und fand ihre Selbstbeherrschung wieder. Sie glaubte schon zu sehen, wie die Nachbarn herbeigeeilt kamen und sich freuten über ihr Unglück.
»Komm mit ins Haus, Predu. Dort werde ich dir alles erzählen.«
Und er folgte ihr in das Haus, dessen Schwelle er schon zwanzig Jahre lang nicht mehr betreten hatte.
Die Lampe brannte auf der alten Bank, und die kleine Flamme schien mitleidig Ruth Gesellschaft zu leisten, die noch immer regungslos das Haupt an die Wand lehnte und die Hände leblos, wie tot herabhängen ließ. Zur Hälfte schimmerte ihr Gesicht wächsern im Licht, zur Hälfte lag es dunkel im Schatten. Ihre halb geschlossenen Augen schielten schräg nach oben, als starrten sie auf einen fernen Punkt.
Bei ihrem Anblick zuckte Don Predu zusammen und blieb mit einem Ruck stehen. Aus dieser plötzlichen Bewegung erriet Noemi die traurige Wahrheit. Sie sah erst ihn an, dann die Schwester, eilte auf sie zu und schüttelte sie.
»Ruth! Ruth!« rief sie leise, beugte sich über sie, umklammerte ihre Arme.
Ruths Haupt fiel zurück, erst nach der einen, dann nach der anderen Seite; und dann schien ihr ganzer Leib sich vorzubeugen, wie um einer Stimme tief unter der Erde zu lauschen, die sie zu sich rief ...