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Auf dieser Staatswohnung, der Merdleschen Wohnung, in Harley Street, Cavendish Square, ruhte der Schatten keiner gemeineren Mauer als auf der Front anderer Prachtwohnungen auf der Seite gegenüber. Wie die Vollblutgesellschaft sahen die gegenüberliegenden Häuserreihen in Harley Street sehr verdrießlich aufeinander. Wirklich waren die Wohnungen und die Bewohner in dieser Beziehung einander so gleich, daß man die Leute häufig, wenn sie an den Speisetischen gegenüber im Schatten ihres eigenen Stolzes saßen, mit der Finsterheit der Häuser nach der andern Seite der Straße hinüberstarren sah.
Jedermann weiß, wie ähnlich der Straße die beiden Speisetischreihen von Leuten sein würden, die auf die Straße gingen. Die ausdruckslosen, gleichförmigen zwanzig Häuser, die alle den gleichen Klopfer und die gleiche Klingel haben, zu denen allen man über gleich schwerfällige Treppen gelangt, die alle durch die gleichen Geländer geschützt sind, alle dieselben unbrauchbaren Feuerlöschmaschinen und alle dasselbe unbequeme, wandfeste Hausgerät haben und alles ohne Ausnahme so hoch angeschlagen wissen wollen – wer hat nicht in diesen zu Mittag gegessen? Das baufällige, traurige Haus, das da und dort ein Bogenfenster hat, das mit Stuck überzogene Haus, das mit einer neuen Front versehene Haus, das Eckhaus mit lauter Eckzimmer, das Haus, dessen Rouleaux beständig herabgelassen sind, das Haus, dessen Wappen immer hervortritt, das Haus, wo der Einsammler gebettelt und niemand zu Hause getroffen – wer hat dort nicht diniert? Das Haus, das niemand kaufen will und das um einen Spottpreis dem Verkauf ausgesetzt ist – wer kennt es nicht? Das Haus, das der getäuschte Gentleman für sein Leben gekauft und das ihm durchaus nicht paßt – wer kennt diese unheimliche Wohnung nicht?
Harley Street, Cavendish Square war auf mehr stolz, als daß Mr. und Mrs. Merdle dort wohnten. Es gab Eindringlinge in Harley Street, deren sie nicht gewahr wurde; aber Mr. und Mrs. Merdle ehrten sie gern. Die Gesellschaft achtete auf Mr. und Mrs. Merdle. Die Gesellschaft hatte gesagt: »Laßt uns sie autorisieren: laßt uns sie anerkennen.«
Mr. Merdle war ungeheuer reich; ein Mann von außerordentlich unternehmendem Geiste; ein Midas ohne die Ohren, der alles, was er berührte, in Gold verwandelte. Er war in allem bewandert, vom Bankiergeschäft bis zum Bauen herab. Er war natürlich im Parlament. Er war notwendig in der City. Er war Vorsitzender von diesem, Vertrauensmann von jenem, Präsident von etwas Drittem. Die gewichtigsten Männer sagten zu Erfindern gewöhnlich: »Nun, welche Namen habt ihr für euch gewonnen? Habt ihr Merdle?« Und wenn die Antwort verneinend ausfiel, sagte man: »Dann möchte ich mich nicht mit euch einlassen.«
Dieser große und glückliche Mann hatte den breiten Busen, der so viel Raum brauchte, um gefühllos darin zu sein, einige fünfzehn Jahre früher mit einem Nest von Scharlach und Gold versehen. Es war nicht ein Busen, um daran zu ruhen, sondern ein Kapitalbusen, um Juwelen daran aufzuhängen. Mr. Merdle brauchte etwas, um Juwelen daran aufzuhängen, und kaufte ihn zu diesem Zweck. Storr und Mortimer hätten aus demselben Grunde heiraten können.
Wie alle seine andern Spekulationen war diese glücklich und erfolgreich. Die Juwelen glänzten äußerst vorteilhaft daran. Der Busen, der sich reich behängt mit Juwelen in der Gesellschaft bewegte, zog die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Gab die Gesellschaft ihren Beifall zu erkennen, so war Mr. Merdle befriedigt. Er war der uninteressierteste Mann, – tat alles für die Gesellschaft und hatte so wenig von all seinem Gewinn und seiner Sorge, als ein Mann nur haben kann.
Das heißt, es ist anzunehmen, daß er alles hatte, was er brauchte, sonst würde er es sich mit seinem unbegrenzten Reichtum verschafft haben. Aber sein Verlangen war, die Gesellschaft (wer sie auch sei) im höchsten Grade zu befriedigen und all ihre Tratten als Tribut auf sich zu nehmen. Er glänzte nicht in Gesellschaft; er hatte wenig für sich selbst zu sagen; er war ein zurückhaltender Mann, mit einem breiten, überhängenden, beobachtenden Kopfe, einer eigentümlichen, dünnen Röte auf seinen Wangen, die eher matt als frisch war, und mit einem etwas um seine Rockaufschläge besorgten Ausdrucke, als ob diese in seinem Vertrauen ständen und Gründe hätten, seine Hände zu verbergen zu suchen. In dem wenigen, was er sagte, war er ein angenehmer Mann; einfach, großen Wert auf öffentliches und privates Vertrauen legend und darauf haltend, daß von jedermann der Gesellschaft Achtung bezeugt werde. In dieser selben Gesellschaft (wenn Leute da waren, die zu seinen Diners und zu Mrs. Merdles Soireen und Konzerten kamen), schien er sich selbst kaum sehr zu unterhalten und war zumeist an den Wänden und hinter den Türen zu finden. Auch wenn er sich in Gesellschaft begab, statt daß sie zu ihm kam, schien er etwas ermüdet und gewöhnlich viel mehr für das Bett disponiert; aber er besuchte sie nichtsdestoweniger beständig und bewegte sich immer in ihr und gab mit der größten Freigebigkeit Geld für sie aus.
Mrs. Merdles erster Gatte war ein Oberst gewesen, unter dessen Auspizien der Busen sich in einen Rangstreit mit Nordamerikas Schneemassen eingelassen, hatte zwar im Punkte der Weiße etwas weichen müssen, jedoch nicht im Punkte der Kälte. Der Sohn des Obersten war das einzige Kind von Mrs. Merdle. Er war ein dickköpfiger, hochschultriger Mensch und schien im allgemeinen nicht so sehr ein junger Mann als vielmehr ein geschwollener Knabe. Er hatte so wenig Beweise von Vernunft gegeben, daß unter seinen Kameraden die Redensart gang und gäbe war, sein Gehirn sei bei einem starken Frost, der zur Zeit seiner Geburt in Saint John in Neu-Braunschweig herrschte, eingefroren und seit der Zeit nicht mehr aufgetaut. Eine andere Redensart sagte von ihm, er sei durch die Nachlässigkeit einer Amme aus einem hohen Fenster auf seinen Kopf gefallen, der wie glaubwürdige Zeugen versichern, gekracht habe. Wahrscheinlich sind diese beiden Behauptungen von einem späteren Ursprung; der junge Mann (dessen bezeichnender Name Sparkler hieß) hatte die Monomanie, allen Arten von nicht wünschenswerten jungen Frauenzimmern die Heirat anzubieten, und von allen Frauenzimmern hintereinander, denen er einen Heiratsantrag machte, behauptet, sie seien »ganz feine Mädchen – sehr gut erzogen – und auf Ehre, ohne allen Scherz«.
Ein Stiefsohn mit diesen beschränkten Talenten wäre für einen andern Mann eine Last gewesen; aber Mr. Merdle brauchte keinen Stiefsohn für sich, er brauchte einen Stiefsohn für die Gesellschaft. Da Mr. Sparkler in der Garde gestanden und die Gewohnheit gehabt, alle Wettrennen und alle Müßiggängerklubs und alle Gesellschaften zu frequentieren, und überall gut bekannt war, so war die Gesellschaft auch mit seinem Stiefsohn zufrieden. Dies glückliche Resultat würde Mr. Merdle als großen Gewinn betrachtet haben, wenn Mr. Sparkler auch ein kostbarer Artikel gewesen wäre. Und er gewann Mr. Sparkler, wie die Sachen standen, nicht mal sehr billig für die Gesellschaft.
Es wurde in der Harley-Street-Wohnung ein Diner gegeben, während Klein-Dorrit an ihres Vaters neuen Hemden in der Nacht an seiner Seite nähte; es waren Magnaten vom Hofe und Magnaten von der City, Magnaten vom Unterhaus und Magnaten vom Oberhaus, Magnaten von der Richterbank und Magnaten von der Verteidigerbank, bischöfliche Magnaten, Schatzmagnaten, Magnaten von der Leibgarde zu Pferde und von der Admiralität – alle die Magnaten, die uns im Gang halten und uns bisweilen ein Bein stellen, waren zugegen.
»Man erzählt mir«, sagte der bischöfliche Magnat zu dem Magnaten von der Leibgarde zu Pferde, »daß Mr. Merdle wieder einen ungeheuren Gewinn gemacht hat. Man sagt mir hunderttausend Pfund.«
Der Magnat von der Leibgarde hatte gehört zwei.
Der Magnat vom Schatz hatte gehört drei.
Der Advokatenmagnat, der sein doppeltes Augenglas überzeugend handhabte, war nicht gewiß, ob es nicht vier seien. Es wäre einer jener glücklichen Fälle von Kalkulation und Kombination, deren Resultat schwer einzuschätzen sei. Es wäre einer jener Griffe von vielumfassender Tragweite, mit gewohntem Glück und charakteristischer Kühnheit vereint, von denen ein Jahrhundert nur wenige aufzuweisen habe. Aber hier wäre Kollege Bellows zugegen, der bei der großen Banksache beteiligt gewesen und der uns wahrscheinlich mehr sagen könnte. Wie hoch schätzte Kollege Bellows diesen neuen Gewinn?
Kollege Bellows war gerade auf dem Wege in einem Bogen auf den Busen loszusteuern und konnte ihnen nur im Vorbeigehen sagen, daß er mit großem Schein der Wahrheit habe versichern hören, daß sich alles in allem auf eine halbe Million belaufe.
Admiralität sagte, Mr. Merdle sei ein herrlicher Mann. Schatz sagte, er sei eine neue Macht im Lande und wäre imstande, das ganze Unterhaus zu kaufen. Bischof sagte, er freue sich, daß dieser Reichtum in die Kisten eines Gentlemans fließe, der immer bereit sei, die besten Interessen der Gesellschaft zu wahren.
Mr. Merdle kam gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten spät, wie ein Mann, der noch in den Klauen von Riesenunternehmungen festgehalten wurde, wenn andre Männer ihre Zwerge für den Tag abgeschüttelt hatten. Diesmal war er der letzte, der kam. Schatz sagte, Merdles Arbeit strafe ihn ein wenig. Bischof sagte, er freue sich, daß dieser Reichtum in die Kisten eines Gentlemans fließe, der denselben mit Demut annehme.
Puder! Es wartete so viel Puder auf, daß das Essen einen Geschmack davon bekam. Puderteilchen kamen in die Speisen, und das Essen der Gesellschaft schmeckte nach Bedienten ersten Ranges. Mr. Merdle führte eine Gräfin in das Speisezimmer, die irgendwo in dem Herzen eines ungeheuren Kleides stak, zu dem sie in einem Verhältnisse stand wie das Herz eines Kohlkopfes zu der reichen Blätterfülle. Wenn ein so niedriger Vergleich erlaubt ist, so ging das Kleid die Treppe hinunter wie ein reich mit Brokat überladener »Hans im Grünen«, und niemand wußte, was für eine kleine Person es trug.
Die Gesellschaft hatte alles, was sie bei Tische brauchte und nicht brauchte. Sie hatte alles mögliche zu sehen, alles mögliche zu essen und alles mögliche zu trinken. Hoffentlich unterhielt sie sich gut; was Mr. Merdle von den Speisen genoß, hätte mit achtzehn Pence bezahlt werden können. Mrs. Merdle sah prachtvoll aus. Der oberste Mundschenk war das nächste Prachtstück des Tages. Er war die stattlichste Person in der Gesellschaft. Er tat nichts, aber er sah zu, wie's wenigen andern möglich gewesen wäre. Er war Mr. Merdles letzte Gabe an die Gesellschaft. Mr. Merdle brauchte ihn nicht und kam außer Fassung, wenn die große Kreatur ihn ansah; aber die ungenügsame »Gesellschaft« wollte ihn – und hatte ihn erhalten.
Die unsichtbare Gräfin brachte der Grüne auf das gewöhnliche Gesprächstapet, und die Reihe der Schönheiten wurde mit dem Busen abgeschlossen. Schatz sagte Juno; Bischof sagte Judith.
Advokatenstand ließ sich mit Leibgarde in ein Gespräch über Kriegsgerichte ein. Kollege Bellows und Richterbank schlugen sich zu ihnen. Andre Magnaten unterhielten sich paarweise. Mr. Merdle saß schweigend da und sah auf das Tischtuch. Bisweilen redete ihn ein Magnat an, um den Strom seines Gesprächs auf ihn zu richten; aber Mr. Merdle gab selten viel Gehör, und erwachte nur auf Augenblicke aus seinen Kalkulationen und ließ den Wein umhergehen.
Als sie aufstanden, hatten so viele von den Magnaten besonders mit Mr. Merdle zu sprechen, daß er kleine Levers an einem Seitentische gab und sie beim Fortgehen aus dem Zimmer abfertigte.
Schatz hoffte, er dürfe es wohl wagen, einem der weltberühmtesten Kapitalisten und Handelsfürsten Englands (er hatte diesen Originalgedanken schon mehrmals in dem Hause angewandt, er wurde ihm deshalb geläufig) zu einer neuen, glücklichen Spekulation gratulieren. Mehrten sich die Triumphe solcher Männer, so mehrten sich damit auch die Triumphe und Reichtumsquellen der Nation, und Schatz fühlte sich – gab er Mr. Merdle zu verstehen – in diesem Punkte patriotisch zumute.
»Ich danke Ihnen, mein Herr«, sagte Mr. Merdle, »ich danke Ihnen. Mit Stolz nehme ich Ihren Glückwunsch an und freue mich über Ihren Beifall.«
»Ich kann jedoch meinen Beifall nicht ganz unbedingt aussprechen, mein lieber Mr. Merdle. Weil«, fügte Schatz scherzend hinzu und drehte ihn leicht am Arm nach dem Seitentisch, »weil es nicht der Mühe wert scheint, zu uns zu kommen und uns zu helfen.«
Mr. Merdle fühlte sich geehrt durch den –
»Nein, nein«, sagte Schatz, das ist nicht das Licht, in dem man von einem durch seine praktischen Kenntnisse und seine große Vorsicht so ausgezeichneten Manne erwarten kann, daß er die Sache betrachte. Wenn wir je so glücklich sein sollten, dadurch, daß wir zufällig die Umstände beherrschen, in den Stand gesetzt zu sein, einem so eminenten Manne den Vorschlag zu machen, – zu uns zu kommen und uns das Gewicht seines Einflusses, seiner Kenntnisse und seines Charakters zugute kommen zu lassen, so könnten wir es ihm bloß als eine Pflicht vorschlagen. Wirklich, als eine Pflicht, die er der Gesellschaft schuldig ist.«
Mr. Merdle gab zu verstehen, die Gesellschaft sei sein Augapfel, und ihre Ansprüche stelle jede andere Rücksicht bei ihm in den Hintergrund. Schatz ging und Advokat kam.
Advokat mit seiner kleinen, einschmeichelnden Juryverbeugung, und sein überredendes, doppeltes Augenglas handhabend, hoffte Entschuldigung zu finden, wenn er gegenüber einem der großen Männer, die die Wurzel alles Bösen in die Wurzel alles Guten umkehrten und auf lange Zeit lichten Glanz selbst auf die Annalen unsres Handelslandes geworfen, – wenn er ganz ohne alles Interesse und als, wie die Advokaten es in ihrer pedantischen Sprache nennen, ›amicus curiae‹ einer Tatsache erwähne, die durch Zufall zu seinen Ohren gekommen. Er sei aufgefordert worden, die Urkunden eines sehr bedeutenden Gutes in einer der östlichen Grafschaften durchzusehen – dasselbe liege, fügte er hinzu, da, wie Mr. Merdle wisse, die Advokaten genau zu sein lieben, an den Grenzen von zwei der östlichen Grafschaften. Die Urkunden seien vollkommen in Nichtigkeit und das Gut könne jemand, der über – Geld (Juryverbeugung und überredendes Augenglas) zu verfügen habe, unter sehr vorteilhaften Bedingungen erwerben. Dies sei erst heute zu Advokatenkenntnis gekommen, und es sei ihm eingefallen: »Ich werde heute abend die Ehre haben, bei meinem verehrten Freunde Mr. Merdle zu speisen, und ganz unter uns will ich ihm von der günstigen Gelegenheit, die sich bietet, sprechen.« Dieser Kauf würde nicht allein großen, gesetzlichen, politischen Einfluß in sich schließen, sondern auch ungefähr ein halbes Dutzend kirchlicher Präsentationen von beträchtlichem, jährlichem Einkommen. Advokat wisse zwar wohl, daß Mr. Merdle nicht in Verlegenheit sei, Mittel zu finden, selbst sein Kapital anzulegen, um seinen tätigen und rüstigen Geist vollauf zu beschäftigen, aber er möchte sich zu bemerken erlauben, daß die Frage in ihm aufgestiegen, ob nicht ein Mann, der verdientermaßen eine so hohe Stellung und einen so europäischen Ruf errungen, – wir wollen nicht sagen, es sich selbst, sondern der Gesellschaft schuldig sei, sich in den Besitz so großen Einflusses wie des genannten zu setzen und diesen – wir wollen nicht sagen, zu seinem oder seiner Partei, sondern zum Nutzen der »Gesellschaft« auszuüben.
Mr. Merdle erklärte wiederum, daß er sich ganz und gar diesem Gegenstand seiner beständigen Erwägung widmen werde, und Advokat setzte sein überzeugendes Augenglas auf, während er die große Treppe hinanstieg. Bischof bewegte sich absichtslos nach dem Seitentisch hin.
Sicherer könnten die Güter der Welt, bemerkte ganz zufällig der Bischof, kaum in glücklichere Kanäle geleitet werden, als wenn sie sich unter dem Zauberstab der Weisen und Klugen anhäuften, die, während sie den wahren Wert des Reichtums kennten (Bischof suchte sich hier das Aussehen zu geben, als wenn er selbst arm wäre), ihren vernünftig angewandten und richtig verteilten Einfluß zur Wohlfahrt unsrer Brüder im weitesten Sinne zu schätzen wußten.
Mr. Merdle drückte mit aller Demut seine Überzeugung aus, der Bischof könne nicht ihn meinen, und fügte ungereimterweise seinen lebhaften Dank für die gute Meinung des Bischofs hinzu.
Der Bischof, der sein wohlgeformtes, rechtes Bein vergnügt etwas vorstreckte, als wollte er zu Mr. Merdle sagen: »Achten Sie nicht auf den Priesterrock, eine reine Form!«, legte seinem guten Freund den Fall vor:
Ob es seinem guten Freunde schon in den Sinn gekommen, daß die Gesellschaft nicht mit Unrecht erwarten könne, ein in seinen Unternehmungen so gesegneter Mann, dessen Beispiel in seiner Stellung von so großem Einfluß sei, werde doch auch etwas Geld für eine Mission nach Afrika spenden?
Als Mr. Merdle andeutete, daß der Gedanke seine volle Aufmerksamkeit verdiene, legte ihm der Bischof eine andere Frage vor:
Ob sich sein guter Freund schon für den guten Fortgang unsres kombinierten und vermehrten Kirchendienerstellenkomitees interessiert und ob er schon daran gedacht, daß etwas Geld in dieser Richtung zu verwenden, die Ausführung eines großen Gedankens ermögliche?
Mr. Merdle gab eine ähnliche Antwort, und Bischof erklärte seinen Grund, weshalb er sich erkundige.
Die Gesellschaft erwartete von Männern, wie sein guter Freund, daß sie dergleichen tun. Nicht er, sondern die Gesellschaft sehe darauf. Gerade wie es nicht sein Komitee sei, das die Vermehrung fundierter Kirchenstellen brauche, sondern die Gesellschaft sei es, die sich in einem Zustande der größten Unruhe und Unbehaglichkeit befinde, bis sie sie habe. Er bat seinen guten Freund, versichert zu sein, daß er wohl wisse, wie sehr sein guter Freund bei allen Gelegenheiten auf die besten Interessen der Gesellschaft bedacht sei, und er glaube zugleich im Interesse der Gesellschaft zu handeln und die Gefühle der Gesellschaft auszusprechen, wenn er ihm fortdauerndes Glück, fortdauernden Zuwachs seines Reichtums und Fortdauer in allem wünsche.
Bischof begab sich dann hinauf, und die andern Magnaten folgten ihm allmählich, bis niemand mehr übrig war als Mr. Merdle. Nachdem dieser so lange auf das Tischtuch gestarrt, bis die Seele des ersten Tafeldeckers in edlem Zorne glühte, ging er langsam hinter den andern drein und ward unter dem Strom aus der großen Treppe gar nicht beachtet. Mrs. Merdle war in ihrem Element, die besten Juwelen waren zur Schau ausgehängt, die Gesellschaft erhielt, weshalb sie kam. Mr. Merdle trank für zwei Penny Tee in einer Ecke und hatte mehr als er brauchte.
Unter den Magnaten des Abends war ein berühmter Arzt, der jedermann kannte und den jedermann kannte. Als er in die Tür trat, stieß er auf Mr. Merdle, der in der Ecke seinen Tee trank, und berührte seinen Arm.
Mr. Merdle fuhr zurück. »Oh! Sind Sie es?«
»Geht es heute besser?«
»Nein«, sagte Mr. Merdle, »ich fühle mich nicht besser.«
»Ach, bedaure, daß ich Sie heute morgen nicht sah. Bitte, kommen Sie morgen zu mir, oder ich will zu Ihnen kommen.«
»Bitte«, antwortete er. »Ich werde morgen im Vorüberfahren bei Ihnen vorsprechen.«
Advokat und Bischof hatten diesen kurzen Dialog gehört, und als Mr. Merdle von der Menge hinweggeführt worden, machten sie dem Arzte ihre Bemerkungen darüber. Advokat sagte, es gebe einen gewissen Punkt geistiger Anspannung, über den niemand hinauskönne; dieser Punkt wäre nach der verschiedenen Bildung des Gehirns und den Eigentümlichkeiten der Konstitution, wie er bei mehreren seiner gelehrten Brüder zu bemerken die Gelegenheit gehabt, verschieden; sei jedoch der Punkt der Dauerbarkeit um die Breite einer Linie überschritten, so folge Entkräftung und Dyspepsie. Ohne in die geheiligten Mysterien der Medizin eindringen zu wollen, glaube er (mit der Juryverbeugung und seinem überzeugenden Augenglas), daß dies Mr. Merdles Fall sei. Bischof sagte, daß, als er ein junger Mann gewesen und eine kurze Zeit lang die Gewohnheit gehabt, am Sonnabend seine Reden zu schreiben, eine Gewohnheit, die alle jungen Söhne der Kirche ängstlich vermeiden sollten, er häufig eine Entkräftung gefühlt, die, wie er vermutete, eine Folge von Überanstrengung des Geistes gewesen, auf die der Dotter eines frischgelegten Eis, das ihm die gute Frau, in deren Haus er damals wohnte, mit einem Glas guten Xeres, Muskatnuß und gestoßenen Zuckers zubereitet, wie ein Zauber gewirkt. Ohne sich anmaßen zu wollen, ein so einfaches Mittel der Erwägung eines so tiefsinnigen Kenners der Heilkunde empfehlen zu wollen, möchte er sich doch die Frage erlauben, ob, wenn die Störung der Harmonie durch schwierige und verwickelte Kalkulationen eingetreten, die Geister nicht durch ein leichtes und doch wirksames Reizmittel (nach menschlichen Begriffen gesprochen) wieder reingestimmt werden könnten.
»Ja«, sagte der Arzt, »ja, Sie haben beide recht. Aber ich muß Ihnen dessenungeachtet sagen, daß ich nichts der Art bei Mr. Merdle finde. Er hat die Konstitution eines Rhinozeros, die Verdauungskraft eines Straußes und die Konzentration einer Auster. Was die Nerven betrifft, so hat Mr. Merdle ein sehr kühles Temperament; er ist beinahe so unverletzlich, möcht' ich sagen, wie Achilles. Wie solch ein Mann sich ohne Grund für unwohl halten sollte, werden Sie seltsam finden. Aber ich habe nichts der Art bei ihm gefunden. Er muß ein tiefsitzendes, verborgenes Übel haben. Ich weiß es nicht. Ich kann nur sagen, bis jetzt habe ich es noch nicht herausgefunden.«
Kein Schatten von dem Übel Mr. Merdles ruhte auf dem Busen, der die kostbarsten Steine ausgelegt hatte und darin mit mancher ähnlichen, prachtvollen Auslage rivalisierte; es ruhte kein Schatten von Mr. Merdles Übel auf dem jungen Sparkler, der sich in den Zimmern umhertrieb und monomanisch nach einer hinlänglich unwählbaren jungen Dame suchte, die keinen Unsinn an sich habe; es ruhte kein Schatten von Mr. Merdles Übel auf den Barnacles und Stiltstalkings, von denen ganze Kolonien zugegen waren; überhaupt auf niemandem von der Gesellschaft. Sogar auf ihm selbst ruhte nur ein flüchtiger Schatten, als er sich unter der Masse umherbewegte und ihre Huldigungen entgegennahm.
Mr. Merdles Übel. Die Gesellschaft und er hatten in allem andern so viel miteinander zu tun, daß man kaum glauben kann, sein Übel, wenn er wirklich ein solches hätte, wäre nur seine Sache gewesen. Hatte er wirklich solch tiefsitzendes, verborgenes Übel und fand der Doktor heraus, was es war? Geduld. In der Zwischenzeit hatte der Schatten der Mauer des Marschallgefängnisses einen wirklich verdunkelnden Einfluß und konnte in jeder Periode des Sonnenlaufes auf der Familie Dorrit gesehen werden.