Charles Dickens
Bilder aus Italien
Charles Dickens

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Nach Parma, Modena und Bologna

Ich verließ Genua am 6. November, um nach vielerlei Orten (darunter England) zu reisen, zuerst aber nach Piacenza, wohin ich in dem Coupé eines Vehikels fuhr, das einem Frachtwagen nicht unähnlich sah, begleitet von dem wackeren Kurier und einer Dame mit einem großen Hund, der die ganze Nacht hindurch kläglich heulte.

Die Nacht war sehr feucht und sehr kalt, sehr finster und sehr unheimlich; wir fuhren kaum vier englische Meilen die Stunde und hielten nirgends an, um uns zu erfrischen. Um zehn Uhr am nächsten Morgen wechselten wir den Wagen in Alessandria, wo man uns in eine andere Kutsche packte, deren Kasten zu klein gewesen wäre für eine Fliege,Fliegen heißen kleine vierspännige Wagen in den englischen Seebädern (Anmerkung des Übersetzers). und zwar in Gesellschaft von einem sehr alten Priester; einem jungen Jesuiten, seinem Gefährten, der ihre Breviere und andere Bücher trug und der beim Einsteigen so eifrig gewesen war, daß eine fleischfarbige Lücke zwischen dem schwarzen Strumpf und den schwarzen Kniehosen erschien, die an Hamlet in Ophelias Zimmer erinnerte, nur daß sie an beiden Beinen sichtbar war; einem Advokaten aus der Provinz und einem Herrn mit einer roten Nase, die einen ungewöhnlichen und eigentümlichen Glanz zeigte, den ich an einem menschlichen Wesen noch nie vorher bemerkt hatte. Auf diese Weise reisten wir weiter bis vier Uhr nachmittags, denn die Wege waren immer noch sehr schlecht und die Kutsche sehr langsam. Um die Reise noch zu verschönern, war der alte Priester noch mit dem Wadenkrampf behaftet, so daß er alle zehn Minuten einen schrecklichen Schrei ausstoßen und durch die vereinten Bemühungen der Gesellschaft herausgehoben werden mußte, wobei die Kutsche allemal mit großem Ernst auf ihn wartete. Dieses Übel und die Wege bildeten den Hauptgegenstand der Unterhaltung. Als ich nachmittags entdeckte, daß das Coupé von zwei Leuten verlassen worden war und nur noch einen Passagier hatte – einen furchtbar häßlichen Toskaner mit einem großen roten Schnauzbart, dessen Enden kein Mensch entdecken konnte, wenn er seinen Hut aufhatte –, machte ich mir diesen bessern Sitz zunutze und setzte die Reise in Gesellschaft dieses Herrn (der ein sehr unterhaltender und launiger Mann war) bis fast um elf Uhr nachts fort, als der Kutscher erklärte, daß er nicht daran denken könne weiterzufahren. Wir machten also halt in einem Orte namens Stradella.

Der Gasthof war eine Reihe von seltsamen Galerien um einen Hof herum, wo unsere Kutsche und ein oder zwei Frachtwagen und ein Trupp Hühner und Brennholz in bunter Verwirrung übereinandergeschichtet standen, so daß man nicht wußte und nicht hätte beschwören können, was ein Huhn und was ein Karren war. Wir folgten einem verschlafenen Mann mit einer lodernden Fackel in ein großes, kaltes Zimmer, wo zwei ungeheuer breite Betten auf Gestellen lagen, die wie zwei ungeheuer breite Speisetafeln aus Tannenholz aussahen, dann noch eine dritte Tannenholztafel von ähnlicher Größe in der Mitte des nackten Flurs, vier Fenster und zwei Stühle. Jemand sagte, es sei mein Zimmer, und ich ging darin wohl eine halbe Stunde lang hin und her und starrte den Toskaner, den alten Priester, den jungen Priester und den Advokaten an (Rotnase wohnte in der Stadt und war nach Hause gegangen), die auf den Betten saßen und mich ebenfalls anstarrten.

Die etwas ungemütliche Drolligkeit dieser Situation wird durch die Ankündigung des Wackeren, der unterdessen gekocht hat, unterbrochen, daß das Abendessen fertig sei, und wir alle verfügen uns in das Zimmer des Priesters nebenan, welches ein Seitenstück zu dem meinigen war. Das erste Gericht bestand aus Kohl mit viel Reis, in einer großen Terrine voll Wasser gekocht und mit Käse gewürzt. Es war so heiß und uns war so kalt, daß man fast fidel dabei werden konnte. Das zweite Gericht bestand aus kleinen Stückchen Schweinefleisch mit Schweinsnieren geröstet, das dritte aus zwei Hühnern, das vierte aus zwei kleinen Truthühnern, das fünfte aus einem Ragout von Knoblauch und Trüffeln und ich weiß nicht was sonst, und damit schloß das Gelage.

Ehe ich in meinem eigenen Zimmer Platz nehmen und es für das schaurigste halten kann, geht die Tür auf, und herein tritt der Wackere, in einer solchen Masse Brennholz versteckt, daß er aussieht wie der wandelnde Birnamswald auf einem Winterspaziergang. Er setzt diesen Haufen im Nu in Brand und macht ein großes Glas Grog zurecht, denn seine Flasche hält gleichen Schritt mit der Jahreszeit und enthält jetzt nichts als den reinsten Branntwein. Sowie er diese Tat verrichtet hat, verabschiedet er sich für die Nacht, und ich höre ihn noch eine Stunde später und sogar bis ich einschlafe Späße machen in einem Nebengebäude (scheinbar dicht unter meinem Kopfkissen), wo er in einer Gesellschaft vertrauter Freunde Zigarren raucht. Er ist in diesem Hause in seinem Leben noch nicht gewesen, aber er kennt allerwärts jedermann, bevor er wo fünf Minuten gewesen ist, und kann sicher darauf rechnen, in dieser Zeit sich die begeisterte Liebe des ganzen Hauses zu erwerben.

Dies ist um zwölf Uhr nachts. Um vier Uhr am nächsten Morgen ist er wieder auf den Beinen, frischer als eine neu aufgeblühte Rose, zündet lodernde Feuer an, ohne die geringste Ermächtigung vom Wirt, bringt Kannen mit siedend heißem Kaffee, wenn alle andern Leute nichts als kaltes Wasser bekommen können, und geht auf die finstere Straße hinaus und brüllt nach frischer Milch auf die Möglichkeit hin, daß jemand mit einer Kuh herbeikommen könnte. Während die Pferde kommen, stolpere auch ich in die Stadt hinaus. Sie scheint aus einer einzigen kleinen Piazza zu bestehn, durch deren Bogen ein kalter feuchter Wind ein und aus bläst, regelmäßig wechselnd wie ein Muster. Aber es ist stockdunkel und regnet sehr, und ich würde sie morgen nicht wiedererkennen, wenn man mich wieder hinbrächte – was der Himmel verhüten wolle!

Die Pferde kommen in etwa einer Stunde. Unterdessen flucht der Kutscher, zuweilen christlich, zuweilen heidnisch, zuweilen, wenn es ein langer und zusammengesetzter Fluch ist, fängt er mit dem Christentum an und gelangt allmählich ins Heidentum. Verschiedene Boten werden abgeschickt, nicht eigentlich nach den Pferden, sondern mehr einer nach dem andern, denn der erste Kutscher kommt gar nicht zurück, und die übrigen ahmen ihn alle nach. Endlich erscheinen die Pferde, umringt von allen Boten; einige stoßen sie, andere ziehen sie, und alle schelten sie laut aus. Dann nehmen der alte Priester, der junge Priester, der Advokat, der Toskaner und wir alle unsere Plätze ein, und verschlafene Stimmen rufen hinter den Türen wunderlicher Löcher in verschiedenen Teilen des Hofes hervor: »Addio, corriere mio! Buon viaggio, corriere!« Grüße, welche der Kurier, dessen ganzes Gesicht in ein einziges Schmunzeln verwandelt ist, in gleicher Weise erwidert, während wir durch die schmutzige Straße rumpeln.

In Piacenza, vier oder fünf Stunden von dem Wirtshause in Stradella, löste sich unsere kleine Gesellschaft mit verschiedenen Beweisen freundschaftlicher Gefühle von allen Seiten auf. Der alte Priester bekam wieder den Krampf, ehe er noch halb die Straße hinab war, und der junge Priester legte seinen Bücherpack auf eine Türschwelle und rieb pflichtgemäß des alten Herrn Waden. Der Klient des Advokaten erwartete ihn an der Gasthoftür und küßte ihn mit einem so lauten Schmatz auf den Backen, daß ich fürchtete, er hatte entweder einen sehr schlechten Prozeß oder eine sehr kärglich gefüllte Börse. Der Toskaner schlenderte fort, eine Zigarre im Munde, den Hut in der Hand tragend, damit er die Enden seines wirren Bartes besser aufwickeln könne, und der wackere Kurier begann, sowie wir in die Straßen traten, um uns umzusehen, mich mit den Privatgeschichten und Familienangelegenheiten der ganzen Gesellschaft zu unterhalten.

Eine gar braune, alte, herabgekommene Stadt ist Piacenza. Ein verlassener, öder, grasbewachsener Ort mit verfallenen Wällen, halb zugeschütteten Gräben, welche den magern Kühen, die darin herumwandern, kärgliches und ungesundes Futter geben, und Straßen düsterer Häuser, die mürrisch die Häuser auf der andern Seite ansehen. Die schläfrigsten und harmlosesten aller Soldaten streifen herum, beladen mit dem doppelten Fluch der Trägheit und der Armut, der ihre schlecht passenden Uniformen mißgestaltet zusammenschrumpfen macht; die schmutzigsten aller Kinder spielen mit ihrem improvisierten Spielzeug (Schweine und Straßenkot) in den armseligsten Gossen, und die magersten Hunde wandern die ödesten Torwege aus und ein, beständig etwas zu fressen suchend, was sie niemals zu finden scheinen. Ein geheimnisvoller und feierlicher Palast, bewacht von zwei riesenhaften Standbildern, Zwillingsgenien des Ortes, steht ernst in der Mitte der verödeten Stadt, und der König mit den marmornen Füßen, der zu den Zeiten von »Tausendundeiner Nacht« regierte, könnte da drinnen ganz zufrieden leben und in seiner obern Hälfte von Fleisch und Blut niemals die Kraft zu dem Wunsche herauszukommen fühlen.

Was für ein seltsames, halb schmerzliches und halb köstliches Hinträumen ist es, durch diese Orte zu streifen, die sich in die warme Sonne schlafen gelegt haben! Sobald man einen neuen erblickt, scheint er immer von allen öden, modrigen, gottverlassenen Städten in der weiten Welt die vornehmste.

Während ich auf diesem Hügel saß, der früher eine Bastei war und noch früher, als sich eine alte römische Station hier befand, eine lärmende Festung, da wurde ich gewahr, daß ich bis jetzt noch nicht wußte, was es heißt, faul zu sein. Einer Haselmaus, ehe sie sich unter die Wolle in ihrem Kasten verkriecht, muß es gewiß ziemlich ähnlich zumute sein, oder einer Schildkröte, ehe sie sich eingräbt. Ich fühle, daß ich einroste, daß der geringste Versuch zu denken mit einem störenden Geräusch verbunden sein würde, daß nirgends etwas zu tun ist oder getan zu werden braucht, daß es keinen Fortschritt, keine Bewegung, keine Anstrengung, keinen Gewinn für das Menschengeschlecht mehr gibt über diesen hinaus, daß alles hier vor Jahrhunderten stillstand und sich niederlegte zu ruhen bis zum Tage des Gerichts!

Aber nicht, solange der wackere Kurier lebt! Seht, wie er zum Tore von Piacenza hinausrasselt, in dem höchsten Postwagen, den ich jemals gesehen, so daß er aus dem Vorderfenster herausguckt wie über eine Gartenmauer, während der Postillion, eine konzentrierte Essenz aller Schäbigkeit Italiens, einen Augenblick die lebendige Unterhaltung unterbricht, um vor einer kleinen stumpfnäsigen Madonna, die kaum weniger schäbig ist als er und in einem gemauerten Marionettenkasten draußen vor dem Tore steht, an den Hut zu greifen.

In Genua und in der Umgegend ziehen sie die Reben an Gittern, von plumpen viereckigen Pfeilern gestützt, die schon an und für sich nichts weniger als malerisch sind. Aber hier windet man sie um die Bäume oder läßt sie über die Hecken hinlaufen, und die Weinberge stehen voller Bäume, die man zu diesem Zweck in regelmäßigen Zwischenräumen gepflanzt hat, und jede Rebe schlingt sich um ihren besonderen Stamm. Die Blätter glänzen jetzt im hellsten Gold und tiefsten Rot, und nie hatte ich einen so anmutigen und bezaubernd schönen Anblick. Meilenlang windet sich der Weg durch diese lieblichen Formen und Farben. Die üppigen Girlanden, die zierlichen Kränze und Kronen von allen Gestalten, die Elfennetze, die über große Bäume geworfen sind und sie scherzend zu Gefangenen machen, die Blätterberge von köstlichen Formen auf dem Boden, wie reich und schön sind sie! Und dann und wann erblickt man eine lange, lange Reihe Bäume, alle mit Rebengewinden untereinander verknüpft, als hätten sie einander angefaßt und kämen das Feld herabgetanzt.

Parma hat für eine italienische Stadt heitere und belebte Straßen und ist daher nicht so charakteristisch wie manche Orte von weniger Ruf. Ausnehmen muß man aber die abgelegene Piazza, wo der Dom, das Baptisterium und der Campanile – alte Gebäude von einem düstern Braun, geschmückt mit zahllosen grotesken Ungeheuern und grauenhaft aussehenden Gestalten aus Marmor und rotem Sandstein – sich in großartiger Ruhe gruppieren. Ihr Schweigen wurde nur, als ich sie sah, von dem Zwitschern der vielen Vögel gestört, welche in den Spalten der Steine und in den kleinen Eckchen und Winkelchen des Gebäudes, wo sie ihre Nester angelegt hatten, aus und ein flogen. Sie flatterten geschäftig aus dem kalten Schatten der von Menschenhand gebauten Tempel in die sonnige Himmelsluft hinaus. Nicht so die Andächtigen drinnen, die demselben schläfrigen Gesang zuhörten oder vor denselben Bildern und Kerzen knieten oder mit tiefgebeugten Häuptern in dieselben dunklen Gebetbücher flüsterten, die ich in Genua und überall verlassen hatte.

Die verblichenen und verstümmelten Gemälde, mit denen die Mauern dieser Kirche bedeckt sind, machen nach meiner Meinung einen merkwürdig melancholischen und niederschlagenden Eindruck. Es ist ein Kummer, große Kunstwerke – gleichsam die Seelen der Maler – vergehen und verschwinden zu sehen wie menschliche Körper. Dieser Dom ist durchweht von dem Vermodern von Correggios Fresken in der Kuppel. Der Himmel weiß, wie schön sie einst gewesen sind, Kunstkenner geraten jetzt noch bei ihrem Anblick außer sich vor Entzücken; aber ein solches Labyrinth von Armen und Beinen, solche Haufen von verkürzten Gliedmaßen, verwickelt, verwirrt und durcheinandergeworfen, könnte kein verrückt gewordener Chirurg im wildesten Wahnsinn sich ausdenken.

Der Dom hat eine sehr interessante unterirdische Kirche; das Dach wird von marmornen Pfeilern getragen, und hinter jedem schien wenigstens ein Bettler im Hinterhalt zu liegen, ohne noch die Gräber und abgelegenen Altäre zu erwähnen. Aus jedem dieser Schlupfwinkel humpelten solche Scharen gespensterhaft aussehender Männer und Weiber hervor, die andere Männer und Weiber mit verkrüppelten Gliedern und zerschmetterten Kinnladen oder paralytischen Gebärden, irren Gesichtern oder andern Gebrechen herbeiführten und für sie bettelten, daß die verblichenen Gemälde droben in der Kuppel, wenn sie plötzlich lebendig geworden wären und sich in diese unterirdische Kirche geflüchtet hätten, schwerlich eine größere Verwirrung hätten machen oder einen beklemmendem Anblick von Armen und Beinen geben können.

Auch Petrarcas Denkmal ist hier. Und dann das Baptisterium mit seinen schönen Bogen und seinem riesenhaften Becken; und dann eine Galerie mit sehr merkwürdigen Gemälden, von denen einige von überreichlich behaarten Künstlern mit kleinen Samtmützen, die mehr vom Kopf fielen, als darauf saßen, kopiert wurden. Ferner befindet sich hier der Palast Farnese und darin ein unheimliches, großes, altes, düsteres Theater, das langsam vermodert.

Es ist ein großer, hölzerner Bau in Hufeisenform, die unteren Sitze eingerichtet wie in den römischen Theatern, aber darüber große schwere Logen oder vielmehr Zimmer, wo der Adel saß, fern von den übrigen in Stolz und Prunk. Mit einem solchen Verfall, wie ihn dieses Theater zeigt – und der Eindruck auf den Beschauer wird noch grauenhafter durch den Gedanken an die Bestimmung des Gebäudes –, können nur Würmer vertraut sein. Hundertundzehn Jahre sind vergangen, seit das letzte Stück hier gespielt wurde. Der Himmel scheint durch die Öffnungen im Dach. Die Logen senken sich tiefer und tiefer und sind nur von Ratten besucht. Moder und Schwamm bedecken die verblichenen Farben und zeichnen gespenstische Landkarten auf die Täfelung; bleiche Lumpen hängen herab, wo einst die glänzenden Vorhänge des Proszeniums waren; die Bühne ist so verfault, daß man eine schmale hölzerne Galerie darüber gebaut hat, denn sie würde unter dem Tritt des Besuchers einsinken und ihn in der schaurigen Tiefe unten begraben. Verödung und Verfall prägen sich allen Sinnen auf. Die Luft hat einen modrigen Geruch und einen erdigen Geschmack; was sich von Tönen aus der Außenwelt mit einem seltenen Sonnenstrahl etwa herein verirrt, klingt dumpf und hohl, und Würmer und Fäulnis haben für das Gefühl die Oberfläche des Holzes so verändert, wie die Zeit eine glatte Hand in Runzeln zieht. Wenn jemals Gespenster Stücke aufführen, so spielen sie sicher auf dieser gespensterhaften Bühne.

Es war das köstlichste Wetter, als wir nach Modena kamen, wo die Dunkelheit der düstern Kolonnaden an den Häusern der Hauptstraße entlang erfrischend und angenehmer wurde durch den klaren, wunderbar blauen Himmel. Ich trat aus dem Vollglanz des Tages in einen dämmrigen Dom, wo gerade das Hochamt zelebriert wurde, düstere Kerzen brannten, Leute in allen Richtungen vor allen möglichen Altären knieten und die Priester den gewöhnlichen Gesang in dem gewöhnlichen leisen, schläfrigen, langgezogenen, melancholischen Ton hören ließen.

Mit dem Gedanken, wie seltsam es sei, in jeder dieser stagnierenden Städte dasselbe Herz mit demselben eintönigen Pulsschlag als den Mittelpunkt desselben erstarrten, halb regungslosen Körpers zu sehen, trat ich zu einer andern Tür hinaus und wurde plötzlich zu Tode erschreckt vom Schall der gellendsten Trompete, die jemals geblasen wurde. Im nächsten Augenblick trabte eine Kunstreitertruppe aus Paris um die Ecke und zog dicht an der Mauer der Kirche hin, mit den Hufen ihrer Pferde die Greise, Löwen, Tiger und andere Ungeheuer von Stein und Marmor schlagend. Zuerst kam ein stattlicher Ritter mit vielem, vielem Haar und ohne Hut, in der Hand ein ungeheures Banner mit den Worten: »Heute abend Mazeppa!« Dann ein mexikanischer Häuptling, eine große birnenförmige Keule auf der Schulter, wie Herkules. Dann sechs oder acht römische Wagen, und in jedem stand eine schöne Dame mit außerordentlich kurzem Rock und unnatürlich rotem Trikot. Sie spendeten der Menge strahlende Blicke, in denen aber ein Ausdruck von Unruhe und Besorgnis versteckt lag, den ich mir erst nicht erklären konnte, bis sich die offene Rückseite des Wagens zeigte; jetzt erst entdeckte ich, mit welch unendlicher Schwierigkeit die roten Beine bei dem unebenen Pflaster der Stadt festen Stand behielten, was mir eine ganz neue Vorstellung von den alten Römern und Griechen gab. Der Zug schloß mit einem Dutzend unerschrockenen Kriegern verschiedener Nationen, die paarweise ritten und stolz auf die unkriegerische Bevölkerung von Modena herabblickten: sie ließen sich aber doch herab, dann und wann mit freigebiger Hand Zettel unter sie auszustreuen. Nachdem sie auf den Löwen und Tigern lange genug herumkarrioliert und die Vorstellung des Abends mit Trompetenschall verkündet hatten, verschwanden sie an dem andern Ende des Platzes und ließen eine neue und ansehnlich vermehrte langweilige Öde zurück.

Als die Prozession so ganz vorüber war, daß die gellende Trompete sanft in der Entfernung ertönte und der Schweif des letzten Pferdes endgültig um die Ecke verschwunden war, da gingen die Leute, welche neugierig aus der Kirche getreten waren, wieder hinein. Aber eine alte Dame, die drinnen dicht an der Tür auf dem Boden kniete, hatte alles gesehen und mit großem Vergnügen, ohne aufzustehen, und gerade jetzt trafen zu unserer gemeinschaftlichen Verwirrung mein und der alten Dame Auge zusammen. Sie machte jedoch unserer Verlegenheit schnell ein Ende, indem sie sich andächtig bekreuzigte und sich vor einer Figur in buntem Rock und vergoldeter Krone auf das Gesicht niederwarf; so ähnlich war diese Figur den Gestalten in dem Zuge, daß sie vielleicht jetzt noch das Ganze für eine himmlische Erscheinung hält. Wie dem auch sei, ich hätte ihr ihr Interesse am Zirkus vergeben, und wenn ich ihr Beichtvater gewesen wäre.

In dem Dom war ein kleiner alter Mann mit funkelnden Augen und einem Buckel, der es sehr übelnahm, daß ich mich nicht bemühte, den in einem alten Turm aufbewahrten Eimer zu sehen, den die Modenesen den Bolognesen im vierzehnten Jahrhundert raubten und über den ein Krieg und auch ein komisches Heldengedicht von Tasso entstand. Da ich mich aber ganz und gar mit der Außenseite des Turmes und mit dem Phantasiebild des Eimers darin begnügte und lieber im Schatten des schlanken Campanile und vor dem Dome verweilte, so habe ich bis auf den heutigen Tag keine Bekanntschaft mit diesem Eimer gemacht.

Wir waren wahrhaftig in Bologna, ehe der kleine alte Mann (oder der Reiseführer) uns das Zeugnis geben konnte, daß wir den Wundern Modenas nur halb hätten Gerechtigkeit widerfahren lassen. Aber es ist eine solche Freude für mich, neue Umgebungen hinter mir zu lassen und immer weiter zu schweifen, um neue Umgebungen zu finden – und außerdem habe ich einen so eigensinnigen Charakter in bezug auf Sehenswürdigkeiten, die anerkannt und vorgeschrieben sind, daß ich sehr fürchte, ich werde überall, wohin ich komme, gegen ähnliche Autoritäten sündigen.

Sei dem, wie ihm wolle, ich befand mich am nächsten Sonntagmorgen auf dem hübschen Kirchhof von Bologna mitten unter stattlichen Marmorgräbern und Säulengängen in Gesellschaft einer Schar von Bauern und begleitet von einem kleineren Cicerone des Ortes, der sich die Ehre der Stadt sehr angelegen sein ließ und eifrigst bestrebt war, meine Aufmerksamkeit von den schlechten Denkmälern abzuwenden, während er niemals müde ward, die guten zu rühmen. Ich bemerkte, daß der kleine Mann (ein sehr launiger kleiner Kerl, dessen ganzes Gesicht aus glänzenden Zähnen und Augen zu bestehen schien) trübselig auf einen Rasenfleck blickte, und ich fragte ihn, wer dort begraben sei. »Das arme Volk, Signore«, sagte er mit einem Achselzucken und einem Lächeln und blieb stehen, um sich nach mir umzusehen – denn er ging immer ein wenig voraus und nahm seinen Hut ab, um jedes neue Denkmal vorzustellen –, »nur die Armen, Signore! Es ist sehr hübsch. Es ist sehr freundlich. Wie grün und wie kühl ist es! Es ist wie eine Wiese! Fünf kleine Kinder von mir sind dort begraben, Signore.« Als er die Zahl nannte, streckte er alle Finger seiner rechten Hand aus, was der italienische Bauer immer tut, wenn er die Zahl mit seinen zehn Fingern ausdrücken kann. »Gerade dort, ein wenig rechts. Ja, gedankt sei Gott. Es ist sehr freundlich. Wie kühl und wie grün es ist! Ganz wie eine Wiese!«

Er sah mir fest ins Gesicht, und als er bemerkte, daß es mir leid tat, nahm er eine Prise (jeder Cicerone schnupft) und machte eine kleine Verbeugung, teils zur Entschuldigung, so etwas erwähnt zu haben, und teils dem Gedächtnis seiner Kinder und seines Lieblingsheiligen zu Ehren. Es war eine so unaffektierte und so vollkommen natürliche Verbeugung, wie nur jemals ein Mensch eine machte. Gleich darauf nahm er den Hut ganz ab und bat um die Erlaubnis, mir das nächste Denkmal vorstellen zu dürfen, und seine Augen und seine Zähne glänzten heller als je vorher.


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