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Eine wichtige Beratung zwischen Mr. Pickwick und Sam, der Mr. Weller beiwohnt. Ein alter Herr in schnupftabakfarbenen Kleidern tritt unerwartet auf.
Mr. Pickwick saß allein auf seinem Zimmer und sann über mancherlei Dinge, besonders aber darüber nach, wie er am besten für das junge Paar sorgen könne, dessen gegenwärtige unsichere Lage für ihn ein Gegenstand beständiger Sorge und Unruhe war, als Mary eilig hereintrippelte und etwas hastig meldete:
»Ach, Sir, erlauben Sie, Samuel ist unten und fragt, ob er Sie mit seinem Vater besuchen darf.«
»Gewiß, warum denn nicht?« erwiderte Mr. Pickwick. »Ist Sam schon lange hier?«
»Ach nein, Sir«, erwiderte Mary eifrig. »Er ist eben erst nach Hause gekommen. Er wird Sie von jetzt an um keinen Urlaub mehr bitten, Sir, sagt er.«
Mary mochte selbst gefühlt haben, daß sie diese letzte Mitteilung mit mehr Wärme gemacht hatte, als eben notwendig war, oder hatte sie vielleicht das gutmütige Lächeln bemerkt, mit dem Mr. Pickwick sie ansah, als sie mit ihrem Vortrag zu Ende war, jedenfalls ließ sie das Köpfchen sinken und betrachtete den Zipfel ihrer hübschen kleinen Schürze mit mehr Aufmerksamkeit, als unumgänglich erforderlich schien.
»Sagen Sie ihnen, sie könnten sogleich heraufkommen«, sagte Mr. Pickwick, und Mary eilte erleichterten Herzens mit ihrer Botschaft fort.
Mr. Pickwick ging ein paarmal im Zimmer auf und nieder und rieb sich mit der linken Hand das Kinn, wie er gerne zu tun pflegte, wenn er in Gedanken verloren war.
»Jaja«, sagte er mit gutgelauntem, aber doch etwas wehmütigem Ton vor sich hin, »das ist die beste Art, wie ich ihn für seine Anhänglichkeit und Treue belohnen kann. So sei es denn in Gottes Namen. Es ist nun einmal das Los eines alten einsamen Mannes, daß seine Umgebung neue und andere Verbindungen anknüpft und ihn verläßt. Ich habe kein Recht zu erwarten, daß es mit mir anders sein sollte. Nein, nein«, fügte er ein wenig heiterer hinzu, »es wäre selbstsüchtig und undankbar von mir. Ich muß mich freuen, eine Gelegenheit zu haben, ihn so gut zu versorgen, und ich freue mich auch wirklich.«
Der Eintritt der beiden Herren Weller riß ihn aus seinen Betrachtungen.
»Freut mich, daß du wieder da bist, Sam«, rief er gutgelaunt. »Und wie befinden Sie sich, Mr. Weller?«
»Recht gut, danke Ihnen, Sir«, erwiderte der Witwer. »Und Sie sin hoffentlich auch wohl, Sir?«
»O ja, gewiß, ich danke Ihnen.«
»Ich möchte gerne paar Worte mit Ihnen sprechen, wenn Sie so fünf Minuten für mich übrig hätten.«
»Gewiß, warum denn nicht?« erwiderte Mr. Pickwick freundlich. »Sam, gib deinem Vater einen Stuhl.«
»Dank dir, Samuel, habe schon einen«, wehrte Mr. Weller ab und schleppte einen Stuhl herbei, »'n wunderschöner Tag heute«, setzte er hinzu, stellte seinen Hut auf den Boden und setzte sich.
»Ja, sehr schön«, bestätigte Mr. Pickwick. »Sehr angenehmes Wetter.«
»'s angenehmste Wetter, wo ich je gesehen habe.«
Hier wurde der alte Kutscher von einem heftigen Husten befallen, nickte mit dem Kopf, zwinkerte und machte seinem Sohn allerhand wütende Gebärden, die dieser jedoch hartnäckig ignorierte.
Als Mr. Pickwick die Verlegenheit des alten Herrn bemerkte, stellte er sich, als wäre er beschäftigt, ein neben ihm liegendes Buch aufzuschneiden, und wartete geduldig, bis Mr. Weller mit dem Zweck seines Besuches herausrücken würde.
»Zeit meines Lebens habe ich noch nich so ein gottverlassenen Lausejungen gesehen, wie du bist, Samuel«, sagte Mr. Weller schließlich mit einem ungnädigen Blick auf seinen Sohn.
»Was tut er denn?« erkundigte sich Mr. Pickwick.
»Der will einfach nicht anfangen, Sir«, erwiderte Mr. Weller, »dabei weiß er ganz genau, daß ich mir nich ausquetschen kann, wenn es nich was Absonderliches is, und da steht er nu und sieht mir dasitzen, und wie ich Ihre kostbare Zeit raube und kommt mir nich mal mit eine Silbe zu Hilfe. Das is kein kindliches Benehmen nich, Samuel«, fuhr Mr. Weller fort und wischte sich die Stirn, »bestimmt nich.«
»Ich dachte, du wolltest doch selber reden«, entgegnete Sam, »wie konnte ich denn da wissen, ob du nich schon fertig warst?«
»Du hättest doch sehen müssen, daß ich nich in Schwung kam«, erwiderte der Alte. »Ich bin ebend auf die falsche Straßenseite geraten und in Gräben und allerhand Deubeleien gefallen und du streckst nich mal die Hand aus und hilfst mir. Ich schäme mich für dich, Samuel.«
»Die Sache ist die, Sir«, begann Sam mit einer leichten Verbeugung, »mein Vater hat sein Geld flüssiggemacht.«
»Sehr gut, Samuel, sehr gut«, lobte Mr. Weller und nickte zufrieden, »ich habe es nich so böse gemeint, Sammy. Sehr gut. So mußt de anfangen; denn bist de gleich am Ziel. Sehr gut, wahrhaftig, Samuel.«
»Setz dich doch, Sam«, unterbrach Mr. Pickwick, fürchtend, die Zusammenkunft könnte leicht länger werden, als er erwartet hatte.
Sam verbeugte sich abermals, setzte sich und fuhr fort:
»Der Alte hat fünfhundertunddreißig Fund losgeeist.«
»Reduzierte Konsols«, ergänzte Mr. Weller senior.
»Das hat nun nichts zu sagen, ob es reduzierte Konsols sin oder nich«, sagte Sam, »fünfhundertdreißig Fund is die Summe, oder nich?«
»Stimmt genau, Samuel.«
»Zu dieser Summe kommt noch 'n bißchen was für das Haus und Geschäft+…«
»Mietzins, Vergütung, Kapital, Niet- und Nagelfestes«, erklärte Mr. Weller. »Jedenfalls so viel, daß die Summe im ganzen elfhundertachtzig Fund ausmacht.«
»Was höre ich?« rief Mr. Pickwick. »Das freut mich; da kann man Ihnen ja gratulieren, Mr. Weller, daß Sie so gut abgeschnitten haben.«
»Warten Sie noch 'ne Minute, Sir«, bat Mr. Weller und hob beschwörend die Hand hoch. »Fahr weiter, Samuel.«
»Und dieses Geld«, sagte Samuel mit einigem Zögern, »dieses Geld möchte er irgendwo unterbringen, wo er weiß, daß es sicher is, und ich möchte es auch, denn wenn er es behält, denn wird er es entweder verpumpen oder in Pferde stecken, oder seine Brieftasche mal verlieren, oder es sich auf die eine oder andre Art abluchsen lassen.«
»Sehr gut, Samuel«, lobte Mr. Weller wieder. »Sehr gut.«
»Und aus diesen Gründen«, fuhr Sam fort und stierte nervös auf seine Hutkrempe, »aus diesen Gründen hat er nu heute sein Geld mitgenommen und is mit mir hierhergekommen, weil er letzten Endes …weil er es Ihnen anbieten, oder mit anderen Worten, weil+… ähem+…«
»Um folgendes zu sagen«, fiel der alte Mr. Weller ungeduldig ein, »daß ich das Geld nich brauchen kann. Ich habe im Sinn, daß ich wieder 'ne regelmäßige Postkutsche fahren will, und ich hab keinen Ort, wo ich es aufbewahren kann, außer wenn ich den Kondukteur dafür bezahlen tue, daß er darauf aufpaßt, oder ich stecke es in den Kutschkasten und denn is es nu wieder 'ne Versuchung für die Innenpassagiere. Wenn Sie es mir aufbewahren würden, Sir, denn würde ich Ihnen sehr verbunden sein. Vielleicht«, setzte er hinzu, trat näher an Mr. Pickwick heran und flüsterte ihm ins Ohr, »vielleicht wäre Ihnen 'n bißchen damit gedient, von wegen Ihre Prozeßkosten; mit 'm Zurückzahlen isses halb so wild, bis ich mal drauf komme.«
Mit diesen Worten legte Mr. Weller die Brieftasche in Mr. Pickwicks Hände, ergriff seinen Hut und rannte mit einer Geschwindigkeit zur Tür hinaus, die man von einem so wohlbeleibten Herrn kaum erwartet hätte.
»Halt ihn fest, Sam!« rief Mr. Pickwick aufgeregt. »Eile ihm nach und bring ihn augenblicklich zurück. Mr. Weller! Heda! Kommen Sie zurück!«
Sam sah ein, daß den Befehlen seines Herrn der Gehorsam nicht verweigert werden durfte, ergriff daher seinen Vater am Arm, als er gerade die Treppe hinab wollte, und schleppte ihn mit Gewalt wieder zurück.
»Mein lieber Freund«, sagte Mr. Pickwick und faßte den alten Herrn bei der Hand. »Wirklich, Ihr Vertrauen rührt mich.«
»Ich sehe aber ganz und gar nicht den Grund ein«, erwiderte Mr. Weller verstockt.
»Und ich versichere Ihnen, mein lieber Freund, ich besitze mehr Geld, als ich jemals bedarf, weit mehr, als ein Mann in meinem Alter je noch verbrauchen kann«, sagte Mr. Pickwick.
»Niemand weiß, wieviel er brauchen kann, bis er's probiert hat«, belehrte Mr. Weller.
»Mag sein«, gab Mr. Pickwick zu. »Da ich aber durchaus keine Lust habe, solche Experimente anzustellen, so werde ich wahrscheinlich nicht leicht in Not kommen. Ich muß Sie aber bitten, Ihre Brieftasche wieder zurückzunehmen, Mr. Weller.«
»Na gut«, brummte Mr. Weller mit sehr unzufriedenem Blick. »Aber merk dir, was ich dir sage, Sammy; ich werde mit dem Gelde da was Verzweifeltes anfangen, was ganz Verzweifeltes!«
»Laß das lieber bleiben«, riet Sam.
Mr. Weller besann sich eine Weile, knüpfte dann mit großer Entschiedenheit seinen Rock zu und sagte:
»Ich werde mir 'n Schlagbaum pachten.«
»Was?« rief Sam.
»'n Schlagbaum«, murmelte Mr. Weller durch die Zähne, »ich werde Schlagbaumwärter werden. Nimm Abschied von deinem Vater, Samuel; ich widme mir für den Rest meiner Tage 'nem Schlagbaum.«
Diese Drohung lautete so schrecklich, und Mr. Weller schien so fest entschlossen, sie auszuführen, und durch Mr. Pickwicks Weigerung dermaßen gekränkt zu sein, daß der Gelehrte nach kurzem Bedenken sagte:
»Nun gut, Mr. Weller, ich will das Geld annehmen. Ich kann vielleicht mehr Gutes damit tun als Sie.«
»Ganz meine Meinung«, rief Mr. Weller strahlend, »'türlich können Sie das. Herr – ich – hm.«
»Gut, sprechen wir nicht mehr davon«, sagte Mr. Pickwick und verschloß die Brieftasche in sein Pult, »ich bin Ihnen herzlich verbunden, mein lieber Freund. Jetzt aber setzen Sie sich wieder, ich möchte Sie nämlich um Ihren Rat fragen.«
Das triumphierende innerliche Lachen, das nicht nur Mr Wellers Gesicht, sondern auch seine Arme, Beine und seinen ganzen Leib krampfhaft zusammengezogen hatte, während die Brieftasche eingeschlossen wurde, wich plötzlich der würdevollsten Gravität, als er diese Worte hörte.
»Sam, warte draußen ein paar Minuten«, befahl Mr. Pickwick.
Sam zog sich sogleich zurück.
Mr. Weller blickte höchst weise und verwundert drein, und Mr. Pickwick begann folgendermaßen:
»Sie sind, glaube ich, kein Anhänger des Ehestandes?«
Mr. Weller schüttelte den Kopf. Er schien der Sprache gänzlich beraubt zu sein, und unbestimmte Befürchtungen, irgendeiner ruchlosen Witwe könnten Pläne auf Mr. Pickwick geglückt sein, lähmten seine Zunge.
»Haben Sie vielleicht zufällig ein junges Mädchen unten gesehen, als Sie mit Ihrem Sohn heraufkamen?«
»Ja. 'ch hab da so 'n junges Ding gesehen«, erwiderte Mr. Weller kurz.
»Was halten Sie von ihr? Aufrichtig gesprochen, Mr. Weller, wie gefiel sie Ihnen?«
»Ich glaube, sie war recht stramm und gut gebaut«, sagte Mr. Weller mit ernster Kennermiene.
»Ja, das ist sie. Ein hübsches Mädchen. Und wie hat Ihnen ihr Benehmen gefallen, soviel Sie von ihr gesehen haben?«
»Hm, sehr angenehm«, erwiderte Mr. Weller, »sehr angenehm und komformabel.«
»Ich interessiere mich sehr für sie, Mr. Weller«, platzte Mr. Pickwick heraus.
Mr. Weller hustete.
»Das heißt«, fuhr Mr. Pickwick fort, »ich interessiere mich insofern für sie, daß ich wünsche, es möchte ihr noch mal gut gehen. Sie verstehen mich?«
»Vollkommen«, erwiderte Mr. Weller, der noch immer nicht im mindesten begriff.
»Diese junge Person«, fuhr Mr. Pickwick fort, »ist in Ihren Sohn verliebt.«
»In Samuel Weller?«
»Ja.«
»'s is ja natürlich«, meinte Mr. Weller nach einigem Nachdenken, »'s is ja natürlich, aber doch recht beunruhigend. Sammy soll sich nur in acht nehmen.«
»Wieso?«
»Na, er muß sich sehr in acht nehmen, daß er nichts zu ihr sagt, damit daß er sich nich in ein unschuldigen Augenblick verleiten läßt, was vorzubringen, was zu eine Klage wegen Eheversprechen führen kann. Man is bei die Weibsbilder nie sicher, Mr. Pickwick. Wenn sie mal Absichten auf einen haben, denn haben sie einen ruckzuck beim Wickel, ehe man sich versieht. So habe ich mir ja selbst das erstemal verheiratet, Sir, und Sammy war die Folge von das Manöver.«
»Sie ermutigen mich nicht sehr bei dem, was ich sagen will«, bemerkte Mr. Pickwick, »und doch muß es heraus. Diese junge Person ist nicht nur in Ihren Sohn verliebe, Mr. Weller, sondern Ihr Sohn auch in sie.«
»Schön«, sagte Mr. Weller, »das sin ja recht erfreuliche Sachen für mein väterliches Ohr.«
»Ich habe sie bei verschiedenen Gelegenheiten beobachtet«, fuhr Mr. Pickwick fort, ohne von Mr. Wellers letzter Bemerkung weiter Notiz zu nehmen, »und ich hege nicht die mindesten Zweifel darüber. Wenn ich ihnen nun irgendein kleines Geschäft oder dergleichen verschaffen würde, mit dessen Einkünften sie anständig miteinander leben könnten, was würden Sie dazu sagen, Mr. Weller?«
Im Anfang nahm der alte Herr mit allerhand Grimassen den Vorschlag auf, der die Verheiratung eines Menschen bezweckte, der ihm nahestand; als aber Mr. Pickwick näher mit ihm auf die Sache einging und großen Nachdruck auf das Faktum legte, daß Mary doch keine Witwe sei, wurde er allmählich gefügiger und gab schließlich klein bei. Auch war ihm Marys Äußeres ausnehmend nett vorgekommen, und er hatte ihr bereits einigemal sehr unväterlich zugeblinzelt.
Endlich sagte er, es würde ihm schlecht anstehen, sich Mr. Pickwicks Wünschen zu widersetzen, und er werde mit Freuden seinen Rat befolgen, worauf ihn Mr. Pickwick fröhlich beim Worte nahm und Sam wieder hereinrief.
»Sam«, begann er und räusperte sich, »dein Vater und ich haben soeben von dir gesprochen.«
»Ja, von dir, Samuel«, bekräftigte Mr. Weller in nachdrucksvollem Beschützerton.
»Ich bin nicht so blind, Sam«, fuhr Mr. Pickwick fort, »um nicht schon geraume Zeit bemerkt zu haben, daß du gegen das Kammermädchen Mrs. Winkles etwas mehr als freundschaftliche Gefühle hegst.«
»Hörst du, Samuel!?« rief Mr. Weller in demselben richterlichen Ton wie zuvor.
»Ich hoffe, Sir«, antwortete Sam, »ich hoffe, daß Sie nichts Böses daran finden tun, wenn ein junger Mann seine Augen auf ein junges Frauenzimmer wirft, wo ganz unbestritten hübsch aussieht und sich gut aufführen tut.«
»Ganz gewiß nicht.«
»Nö, nich im geringsten«, stimmte Mr. Weller in freundlichem, aber dennoch würdevollem Ton ein.
»Ich bin«, fuhr Mr. Pickwick fort, »soweit entfernt, an einem so natürlichen Benehmen etwas Unrechtes zu finden, daß ich vielmehr deinen Wünschen in dieser Beziehung entgegenzukommen und sie zu fördern beabsichtige. Ich habe schon mit deinem Vater eine kleine Unterredung darüber gehabt, und da ich den Eindruck habe, daß er meiner Meinung ist+…«
»Weil nämlich das Frauenzimmer keine Witwe nich is«, fiel Mr. Weller erläuternd ein.
»Ja, weil das Frauenzimmer keine Witwe ist«, wiederholte Mr. Pickwick lächelnd. »Ich wünsche also, dich von dem Zwang zu befreien, den dir deine gegenwärtige Stellung auferlegt, und dir meine Dankbarkeit für deine Treue und vielen vortrefflichen Eigenschaften dadurch zu beweisen, daß ich dich in den Stand setze, das Mädchen zu heiraten und für dich selbst mit einer Familie ein unabhängiges Leben zu führen. Ich werde stolz darauf sein, Sam«, fügte Mr. Pickwick hinzu, dessen Stimme bisher ein wenig gebebt hatte, jetzt aber ihren gewöhnlichen Ton wieder annahm, »ich werde stolz darauf sein und mich glücklich schätzen, deine künftigen Aussichten im Leben zum Gegenstand meiner dankbaren und ganz besonderen Sorgfalt zu machen.«
Auf einige Augenblicke trat eine kurze Stille ein, dann aber sagte Sam mit etwas leiser und dumpfer, aber fester Stimme:
»Bin Ihnen ungemein verbunn für Ihre Güte, Sir, die Ihnen wieder ganz ähnlich sieht; aber 's kann nich sein.«
»Kann nicht sein?« rief Mr. Pickwick erstaunt.
»Samuel!!« ermahnte Mr. Weller.
»Ich sage, es kann nich sein«, wiederholte Sam in bestimmtem Tone. »Was würde denn aus Ihnen werden, Sir?«
»Du bist ein guter Kerl!« erwiderte Mr. Pickwick. »Aber die neuerlichen Veränderungen in den Verhältnissen meiner Freunde werden auch meine künftige Lebensweise ganz verändern; überdies werde ich älter und bedarf der Ruhe und Stille. Mein langes Herumziehen wird bald ein Ende haben, Sam.«
»Kann man noch nich so bestimmt wissen«, meinte Sam. »Jetzt denken Sie zwar so, aber wenn's Ihnen mal wieder anders einfällt, was nich unwahrscheinlich ist, denn Se sin immer noch jugendlich wie 'n Fünfundzwanziger, was sollte dann aus Ihnen werden ohne mir? Nö! Es kann nich sein, Herr, kann einfach nich sein.«
»Sehr gut, Samuel, das is mal vernünftig gesprochen«, lobte Mr. Weller.
»Ich spreche nach langer Überlegung, Sam, und mit der Gewißheit, daß ich mein Wort halten werde«, sagte Mr. Pickwick und schüttelte den Kopf. »Ein neues Arbeitsfeld ist mir erschlossen. Mein Herumziehen hat ein Ende.«
»Tadellos!« erwiderte Sam. »Das is ja denn gerade der beste Grund, warum Sie immer einen bei sich haben müssen, der wo Ihnen versteht und aufheitert und in gute Laune bringt. Wenn Sie irgendwie 'ne feinere Sorte von Menschen brauchen, auch gut und schön, denn nehmen Sie einen! Aber mit oder ohne Lohn, mit oder ohne Beachtung, mit oder ohne Kost und Logis: Sam Weller, den Sie in dem alten Krug in Borough aufgefischt haben, der bleibt bei Ihnen; da kann kommen, was will, da kann passieren was will und da können irgendwelche Leute noch so mit mir rumfuhrwerken, es is mir alles Wurst.«
Am Schluß dieser Erklärung, die Sam mit großer innerer Bewegung hervorgestoßen hatte, sprang Mr. Weller von seinem Sitz auf, vergaß alle Rücksichten auf Zeit, Ort und Schicklichkeit, schwenkte seinen Hut über dem Kopfe und brach in drei stürmische Hurras aus.
»Mein guter Junge«, sagte Mr. Pickwick, als Mr. Weller, etwas beschämt über seinen Enthusiasmus, sich wieder gesetzt hatte, »du mußt aber das junge Mädchen doch auch bedenken.«
»Tue ich auch, Sir«, sagte Sam. »Ich habe das junge Frauenzimmer bedacht, ich habe mit ihr gesprochen und ihr gesagt, wie meine Lage ist; sie ist bereit, zu warten, bis ich sie heiraten kann, und ich glaube auch, daß sie es tun wird. Und wenn nich, denn is sie ebend nicht das junge Frauenzimmer, für was ich sie halte, und denn lasse ich ihr mit Vergnügen sausen. Sie haben mir schon mal kennengelernt, Sir. Mein Entschluß is gefaßt, und nichts kann ihn jemals ändern.«
Wer hätte gegen solche Gesinnungen ankämpfen können? Mr. Pickwick gewiß nicht. Er empfand in diesem Augenblick mehr Stolz und Wonne über die uneigennützige Anhänglichkeit seiner niedriggestellten Freunde, als zehntausend Freundschaftsversicherungen der vornehmsten Leute in seinem Herzen hätten erwecken können.
Während in Mr. Pickwicks Zimmer diese Unterhaltung vor sich ging, erschien unten ein kleiner alter Herr in schnupftabakfarbenen Kleidern, gefolgt von einem Träger mit einem kleinen Mantelsack – versicherte sich eines Bettes für die Nacht und fragte dann den Kellner, ob eine gewisse Mrs. Winkle hier wohne, eine Frage, die dieser natürlich bejahend beantwortete.
»Ich glaube ja, Sir. Ich kann indes ihr Kammermädchen rufen, Sir, wenn Sie+…«
»Nein, das braucht es nicht«, wehrte der alte Herr schnell ab. »Führen Sie mich nur in ihr Zimmer, ohne mich anzumelden.«
»Wieso, Sir?« fragte der Kellner.
»Sind Sie vielleicht taub?« fragte der kleine alte Herr. »Nicht? Nun, dann hören Sie mich gefälligst an. Können Sie mich jetzt anhören?«
»Ja, Sir.«
»Nun gut, dann zeigen Sie mir Mrs. Winkles Zimmer, ohne mich anzumelden.«
Während der kleine Herr diesen Befehl aussprach, ließ er fünf Schilling in die Hand des Kellners gleiten und sah ihn fest an.
»Wahrhaftig, Sir«, stotterte der Kellner, »ich weiß wirklich nicht, Sir, ob+…«
»Aha, ich sehe schon, Sie wollen es tun«, unterbrach ihn der kleine alte Herr. »Tun Sie es deshalb lieber gleich, dann sparen wir Zeit.«
Es lag etwas so Ruhiges und Bestimmtes in dem ganzen Benehmen des alten Herrn, daß der Kellner die fünf Schilling einsteckte und ihn ohne weitere Einwendungen die Treppe hinaufführte.
»Dies ist also das Zimmer? Nun, dann können Sie gehen.«
Der Kellner gehorchte und wunderte sich, wer wohl der Fremde sein möge und was er wolle. Der kleine alte Herr wartete, bis er verschwunden war, und klopfte dann an die Tür.
»Herein!« rief Arabella.
»Hm! Jedenfalls eine hübsche Stimme«, murmelte der kleine alte Herr, »das will aber noch nichts heißen.«
Dann öffnete er die Tür und ging hinein. Arabella, die gerade bei einer Handarbeit saß, erhob sich beim Anblick eines Fremden einigermaßen verwirrt, was ihr indes allerliebst stand.
»Bitte lassen Sie sich nicht stören, Ma'am«, begann der Unbekannte, trat ein und schloß die Tür hinter sich. »Mrs. Winkle, wie ich vermute?«
Arabella neigte den Kopf.
»Mrs. Nathaniel Winkle, die den Sohn des alten Winkle in Birmingham geheiratet hat?« wiederholte der Fremde und betrachtete Arabella mit sichtlicher Neugierde.
Arabella nickte abermals mit dem Köpfchen und blickte unruhig um sich, halb unentschlossen, ob sie nicht um Hilfe rufen solle.
»Wie ich sehe, habe ich Sie überrascht, Ma'am?«
»Ich kann es nicht leugnen«, erwiderte Arabella, sich immer mehr wundernd.
»Wenn Sie erlauben, nehme ich mir einen Stuhl, Ma'am.«
Der Fremde setzte sich, zog ein Brillenfutteral aus der Tasche, nahm nachlässig sein Augenglas heraus und setzte es auf die Nase.
»Sie kennen mich nicht, Ma'am?« fragte er und faßte dabei Arabella so scharf ins Auge, daß es ihr unheimlich wurde.
»Nein, Sir«, antwortete sie schüchtern.
»So? Wirklich nicht?« sagte der alte Herr und schlug sich auf sein linkes Knie. »Ich wüßte allerdings auch nicht, woher Sie mich kennen sollten. Doch kennen Sie vielleicht meinen Namen, Ma'am?«
»Bitte um Entschuldigung«, sagte Arabella und zitterte heftig, obgleich sie kaum wußte, warum. »Darf ich Sie vielleicht um Ihren Namen bitten?«
»Sogleich, Ma'am, sogleich«, sagte der Unbekannte, der seine Augen noch immer nicht von ihrem Gesicht abgewandt hatte. »Sie haben sich doch erst vor kurzem verheiratet, Ma'am?«
»Ja«, erwiderte Arabella kaum hörbar, legte ihre Arbeit beiseite und schien sehr aufgeregt zu werden, da ein Gedanke, der ihr schon vorher gekommen war, sich ihr immer stärker aufdrängte.
»Ohne Ihrem Gatten vorgestellt zu haben, daß es sich geziemt hätte, seinen Vater, von dem er doch abhängig ist, zuerst um Rat zu fragen, nicht wahr?«
Arabella hielt ihr Tuch vor die Augen.
»Ohne sich auch nur die Mühe zu nehmen, durch irgendeine indirekte Anfrage in Erfahrung zu bringen, wie der alte Mann über eine Sache denkt, die ihn natürlich in hohem Grade interessieren muß?«
»Ich kann es nicht leugnen, Sir«, schluchzte Arabella.
»Und ohne Vermögen genug zu besitzen, Ihrem Gatten ein hinlängliches Auskommen zu sichern und ihn für die zeitlichen Vorteile zu entschädigen, die ihm natürlich nicht entgangen wären, wenn er den Wünschen seines Vaters gemäß geheiratet hätte? Knaben und Mädchen nennen dies uneigennützige Neigung, bis sie selbst Knaben und Mädchen haben und dann die Sache in einem ganz andern Lichte betrachten.«
Arabellas Tränen flossen reichlich, als sie zur Entschuldigung anführte, sie sei jung und unerfahren; Liebe allein habe sie zu diesem Schritte verleitet, und sie habe beinahe von Kindheit an des Rates sowie der Leitung ihrer Eltern entbehren müssen.
»Es war unrecht«, sagte der alte Herr in milderem Tone, »sehr unrecht. Es war romantisch, eines Geschäftsmannes unwürdig! Töricht!«
»Es ist meine Schuld, ganz meine Schuld, Sir«, jammerte die arme Arabella.
»Unsinn!« brummte der alte Herr. »Gewiß war es nicht Ihre Schuld, daß er sich in Sie verliebte. Und doch ist es so«, fügte der alte Herr hinzu und blickte Arabella schalkhaft an, »und doch war es Ihre Schuld; er konnte nicht anders.«
Dieses kleine Kompliment oder die sonderbare Art, wie es der kleine alte Herr vorbrachte, oder sein verändertes Benehmen, das um so vieles freundlicher war als im Anfang – oder all diese drei Umstände zusammen, nötigten Arabella mitten unter ihren Tränen ein Lächeln ab.
»Wo ist denn Ihr Mann?« fragte der alte Herr schnell, um ein Lächeln zu unterdrücken, das eben sein Gesicht überflog.
»Ich erwarte ihn mit jedem Augenblick. Ich redete ihm zu, heute früh einen Spaziergang zu machen. Er ist sehr niedergeschlagen und unglücklich, weil sein Vater nichts von sich hören läßt.«
»Niedergeschlagen? Geschieht ihm recht.«
»Ich fürchte, er ist es meinetwegen«, sagte Arabella. »Aber glauben Sie mir, ich empfinde es auch sehr schwer, denn ich bin doch allein schuld an seiner gegenwärtigen Lage.«
»Lassen Sie es sich nicht so sehr zu Herzen gehen, meine Liebe«, rief der alte Herr. »Es geschieht ihm ganz recht. Es freut mich – freut mich direkt. Wenigstens soweit es ihn betrifft.«
In diesem Augenblick kamen Fußtritte die Treppe herauf, die der alte Herr und Arabella beide genau zu kennen schienen. Der kleine alte Herr wurde blaß, gab sich indes viel Mühe, ruhig zu erscheinen, und stand auf, als Mr. Winkle ins Zimmer trat.
»Vater!« rief Mr. Winkle und prallte verblüfft zurück.
»Jawohl«, erwiderte der kleine alte Herr. »Nun, was hast du mir zu sagen?«
Mr. Winkle schwieg.
»Du schämst dich hoffentlich vor dir selbst, was?«
Mr. Winkle sprach immer noch nicht.
»Schämst du dich, oder schämst du dich nicht?«
»Nein, Vater«, erwiderte Mr. Winkle und zog Arabellas Arm unter den seinigen. »Ich schäme mich weder meiner selbst noch meiner Frau.«
»Wirklich nicht!?« rief der alte Herr ironisch.
»Es tut mir wirklich herzlich leid, etwas getan zu haben, was deiner Neigung zu mir Abbruch tut«, sagte Mr. Winkle, »aber zugleich muß ich erklären, daß ich keinen Grund habe, mich meiner Frau und du ebensowenig dich einer solchen Schwiegertochter zu schämen.«
»Gib mir die Hand, Nathaniel«, lenkte der alte Herr mit veränderter Stimme ein. »Küß mich, mein liebes Kind, du bist in der Tat ein allerliebstes Schwiegertöchterchen.«
Nach wenigen Minuten ging Mr. Winkle auf Mr. Pickwicks Zimmer, kam mit ihm zurück und stellte ihn seinem Vater vor, worauf die beiden alten Herren einander fünf Minuten lang ununterbrochen die Hände schüttelten.
»Mr. Pickwick, ich danke Ihnen aufs herzlichste für all Ihre Freundschaft gegen meinen Sohn«, sagte der alte Mr. Winkle mit seinem offenen, bieder-derben Wesen. »Ich bin ein alter Hitzkopf, und als ich Sie das letztemal sah, war ich etwas ärgerlich und ein wenig überrascht. Ich habe mir inzwischen die Sache überlegt und bin jetzt mehr als zufrieden. Soll ich noch mehr Entschuldigungen vorbringen, Mr. Pickwick?«
»Oh, keineswegs«, erwiderte der Gelehrte. »Sie haben getan, was allein noch zur Vollendung meines Glückes fehlte.«
Hierauf folgte wieder ein neuerliches, fünf Minuten lang währendes Händeschütteln, begleitet von einer Unmasse von Komplimenten, die, abgesehen von der darin sich beurkundenden Höflichkeit, auch noch das Gute hatten, wirklich aufrichtig gemeint zu sein.
Sam hatte seinen Vater pflichtgemäß nach Belle Savage begleitet und begegnete auf dem Rückweg im Hof dem fetten Jungen, der ein Billett von Emilie Wardle zu überbringen gehabt hatte.
»Ich sage bloß«, begann Joe, der diesmal ungewöhnlich redselig war, »ich sage bloß, was diese Mary doch für ein hübsches Mädchen ist. Was, Sam? Ich bin ganz verliebt in sie.«
Mr. Weller gab darauf weiter keine Antwort, sondern betrachtete ganz verblüfft über diese Vermessenheit den fetten Jungen einen Augenblick lang, führte ihn dann am Rockkragen bis an die nächste Ecke und entließ ihn mit einem harmlosen, aber durchaus förmlichen Fußtritt und ging dann pfeifend ins Haus.