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Mögen die Moralisten und Philosophen sagen, was sie wollen, jedenfalls fragt es sich sehr, ob ein Schuldiger sich in jener Nacht nur halb so elend gefühlt haben würde, als es bei dem armen Kit trotz seiner Unschuld der Fall war. Die Welt, die ohne Unterlaß eine Menge der größten Ungerechtigkeiten begeht, tröstet sich nur allzugerne mit der Idee, daß das Opfer ihres Truges und ihrer Bosheit, soferne es nur ein reines Gewissen hat, unmöglich unter seinen Prüfungen erliegen kann und auf die eine oder die andere Weise endlich zu seinem Rechte gelangen muß, »in welchem Falle,« sagen Diejenigen, welche es zu Tode gehetzt haben, »– obgleich es nicht zu erwarten steht – Niemand sich mehr freuen wird, als wir.« – Die Welt würde indessen recht wohl thun, zu bedenken, daß die Ungerechtigkeit an sich schon für jeden edlen und kräftigen Geist die unleidlichste, quälendste und unerträglichste Kränkung ist und daß manches gesunde Herz drüber brach, manches reine Gewissens seine Rechtfertigung jenseits suchen mußte; denn das Bewußtsein der Unschuld erhöhet nur das Leiden und macht es unerträglicher.
In Kit's Lage war jedoch der Welt nichts vorzuwerfen. Er war zwar unschuldig, aber in diesem Bewußtsein und in dem Gefühle, daß seine besten Freunde ihn schuldig glaubten – daß Herr und Madame Garland ihn als ein Scheusal von Undankbarkeit betrachten müßten – daß Barbara alles, was schlimm und verbrecherisch ist, mit seinem Namen in Verbindung brächte – daß der Pony sich für verlassen betrachten würde – und daß vielleicht selbst seine eigene Mutter den gewichtigen Zeugnissen, die gegen ihn sprachen, Glauben beimessen und in ihm den Elenden sehen könnte, welcher er dem Anscheine nach war – in dem Gefühle alles dessen erlitt er anfangs eine Seelenqual, die sich nicht mit Worten beschreiben läßt, und er ging in der kleinen Zelle, in welche er die Nacht über eingeschlossen war, fast wahnsinnig vor Kummer und Schmerz auf und nieder.
Und selbst als der Sturm dieser Gefühle sich einigermaßen beschwichtigt hatte und er ruhiger zu werden anfing, tauchte ein neuer Gedanke in seiner Seele auf, der ihn kaum weniger ängstigte. Nell – der leuchtende Stern in dem Leben des einfachen Knaben – sie, die immer wie ein schöner Traum zu ihm zurückkehrte – die den dürftigsten Abschnitt seines Daseins zum glücklichsten und besten gemacht hatte – die immer so edel, so rücksichtsvoll und freundlich gewesen war – was mußte sie denken, wenn sie jemals von seiner gegenwärtigen Lage hören sollte? Während er sich diesem Gedanken hingab, schienen die Mauern seines Gefängnisses wegzuschmelzen, und an ihre Stelle trat das alte Haus, wie es gewöhnlich an Winterabenden war – der Herd, der kleine Tisch, des alten Mannes Hut, Rock und Stock, die halboffene Thüre, die zu ihrem kleinen Kämmerchen führte, – alles war wieder da. Und Nell selbst war da, und er – beide herzlich lachend, wie sie so oft gethan hatten – und als Kit so weit gekommen war, konnte er nicht weiter, sondern er warf sich auf sein ärmliches Lager und weinte.
Es war eine lange Nacht, die kein Ende nehmen zu wollen schien; doch er schlief auch und träumte – immer von der Freiheit, in welcher er draußen herumschweifte, bald mit diesem, bald mit einem andern, doch stets unter der unbestimmten Furcht, wieder in das Gefängniß geschleppt zu werden; nicht gerade in dieses Gefängniß, sondern nach einem, von dem er nur eine dunkle Vorstellung hatte – es war kein Ort, nein, nur ein Aufenthalt des Kummers und der Sorge, etwas Niederdrückendes, nicht von hinnen Weichendes, obschon er außer Stande war, sich einen Begriff davon zu bilden. Endlich grauete der Morgen, und da war der Kerker selbst – kalt, düster und traurig, aber in der That ein wirklicher Kerker.
Er blieb übrigens sich selbst überlassen, und das war ein Trost für ihn. Er durfte zu einer bestimmten Stunde in einem kleinen gepflasterten Hofe spazieren gehen und hörte von dem Kerkermeister, der seine Zelle aufschloß und ihm zeigte, wo er sich waschen könne, daß die Gefangenen jeden Tag zu einer gewissen Zeit Besuche annehmen dürften; wenn also jemand von seinen Freunden zu ihm kommen wollte, so würde er ihn zu dem Gitter hinunterholen. Nachdem ihm der Mann diese Nachricht mitgetheilt und eine zinnerne Schüssel eingehändigt hatte, welche das Frühstück enthielt, schloß er ihn wieder ein, ging rasselnd durch den steinern Gang, und öffnete und schloß viele andere Thüren, zahllose laute Echo's weckend, die lange noch durch das Gebäude hallten, als wären auch sie hier eingesperrt, ohne hinaus zu können.
Der Gefängnißwärter hatte ihm zu verstehen gegeben, daß er, wie ein paar Andere, abgeschieden von dem großen Haufen der Gefangenen untergebracht worden sei, weil man ihn nicht für ganz verderbt und verloren halte und er früher noch nie in der Anstalt gewesen sei. Kit erwies sich dankbar für diese Nachsicht, setzte sich nieder und las sehr aufmerksam den Kirchenkatechismus (obgleich er ihn von früher Kindheit an auswendig wußte), bis er den Schlüssel in dem Schlosse klirren hörte und der Mann wieder eintrat.
»Nun denn,« sagte er, »komm Er mit.«
»Wohin, Sir?« fragte Kit.
Der Mann begnügte sich mit der kurzen Antwort: »Besuch,« nahm ihn dann genau so wie Tags zuvor der Constable, beim Arme, und führte ihn durch mehrere verschlungene Gänge und starke Thore nach einer Flur, wo er ihn nach einem Gitter wies und sich entfernte. Etwa vier oder fünf Fuß hinter diesem Gitter befand sich ein zweites, und zwischen beiden saß ein Schließer, der eine Zeitung laß. Jenseits der äußeren Barriere erblickte jedoch Kit mit klopfendem Herzen seine Mutter, die das Büblein auf dem Arme hatte, Barbara's Mutter, mit dem nie fehlenden Regenschirme, und den armen kleinen Jakob, der aus Leibeskräften hereinstierte, als sähe er sich nach dem Vogel oder dem wilden Thiere um, und als dächte er, die Menschen wären nur zufällig hier und könnten mit den eisernen Stangen unmöglich etwas zu schaffen haben.
Sobald aber der kleine Jakob seines Bruders ansichtig wurde und bemerkte, daß derselbe, obgleich er seine Arme durch das Gitter steckte, um ihn zu umarmen, nicht näher kam, sondern weit weg stehen blieb, den Kopf auf den Arm gesenkt, welchen er auf eine der Eisenstangen stützte, begann er höchst kläglich zu weinen, worauf Kit's Mutter und Barbara's Mutter, die sich allen nur möglichen Zwang angethan hatten, auf's Neue in ein Schluchzen und Weinen ausbrachen. Der arme Kit konnte nicht umhin, mit einzustimmen, und Niemand von allen war im Stande, auch nur ein Wort zu sprechen.
Der Schließer las während dieser trübseligen Pause seine Zeitung mit einer schmunzelnden Miene (denn er war augenscheinlich unter die humoristischen Aufsätze gerathen), bis er zufällig für einen Moment seine Augen erhob, als wolle er mittelst Nachdenkens irgend einen tiefer liegenden Witz bis in's Mark ergründen, und bei dieser Gelegenheit fiel es ihm zum erstenmal auf, daß Jemand weinte.
»Nun, meine Damen, meine Damen,« sagte er überrascht umschauend, »ich möchte euch rathen, eure Zeit nicht in dieser Weise zu vergeuden. Sie ist hier etwas abgemessen, müßt ihr wissen. Auch dürft ihr das Kind keinen solchen Lärm machen lassen. Es ist gegen alle Regel.«
»Ich bin seine arme Mutter, Sir,« schluchzte Frau Nubbles, sich vorbeugend, »und dieß ist sein Bruder, Sir. Ach, mein Gott, mein Gott!«
»Nun,« versetzte der Schließer, indem er seine Zeitung auf dem Knie zusammenlegte, so daß er mit größerer Bequemlichkeit auf die nächste Spalte übergehen konnte; »ihr wißt, es führt doch zu nichts. Er ist nicht der einzige, der hier fest sitzt. Ihr braucht da keinen solchen Lärm darüber zu machen!«
Nach diesen Worten fuhr er zu lesen fort. Der Mann war von Natur nicht grausam oder hartherzig, und hatte es so weit gebracht, Verbrechen als eine Art Krankheit, etwa wie das Scharlachfieber oder den Rothlauf, zu betrachten; einige Leute hatten's – andere hatten's nicht – wie sich's eben traf.
»O mein lieber Kit,« rief seine Mutter, der Barbara's Mutter mitleidig das Bübchen abgenommen hatte. »Daß ich meinen armen Knaben hier sehen muß!«
»Ihr glaubt doch nicht, daß ich gethan habe, was man mir zur Last legt, liebe Mutter?« entgegnete Kit mit erstickter Stimme.
»Ob ich es glaube?« rief die arme Frau. »Ich, die dich nie eine Lüge sagen hörte oder nie eine böse Handlung bei dir sah von deiner Wiege auf – der du mir nie einen Augenblick Sorge gemacht hast, außer der um das kümmerliche Essen, welches du mit solcher Freudigkeit und Zufriedenheit hinnahmst, daß ich vergaß, wie wenig es war, wenn ich daran dachte, wie du, obgleich nur ein Kind, so lieb und verständig warst! – Ich es glauben von dem Sohne, der von der Stunde seiner Geburt an bis auf diesen Tag mein Trost gewesen ist, und über den ich mich nie eine Nacht zornig schlafen legen durfte! Ich es von dir glauben, Kit! –«
»Nun denn, Gott sei Dank!« entgegnete Kit, indem er die Eisenstangen mit einem Eifer packte, daß sie schlitterten; »und ich kann es tragen, Mutter. Mag kommen, was da will, es wird mir immer ein Tropfen von Seligkeit im Herzen bleiben, wenn ich denke, daß Ihr so gesprochen habt.«
Nach diesem brach die arme Frau abermals in ein Weinen aus, und Barbara's Mutter gleichfalls. Auch der kleine Jakob, dessen unzusammenhängende Gedanken sich inzwischen einen etwas klareren Begriff darüber gebildet hatten, daß Kit nicht ausgehen konnte, wann er wollte, und daß es keine Vögel, Löwen, Tiger oder andere Naturmerkwürdigkeiten hinter diesen Stäben gäbe – nein, in der That gar nichts, als einen gefangenen Bruder – vereinigte seine Thränen, so geräuschlos als möglich, mit den ihrigen.
Nachdem Kit's Mutter ihre Augen getrocknet, oder besser, sie noch viel mehr angefeuchtet, als getrocknet hatte (die arme Seele!) nahm sie von den Boden ein kleines Körbchen auf, näherte sich demüthig dem Schließer, und fragte, ob es ihm nicht gefällig sei, sie eine Minute anzuhören. Der Schließer, der gerade mitten in der Krisis eines Spaßes war, winkte ihr mit der Hand, noch eine Minute zu schweigen, so lieb ihr das Leben sei. Auch verwandte er diese Hand nicht aus ihrer Lage, sondern streckte sie immer in derselben warnenden Haltung aus, bis er seinen Abschnitt beendigt hatte, worauf er ein paar Secunden inne hielt, indeß ein Lächeln sein Gesicht überflog, als wollte er sagen: »dieser Zeitungsschreiber ist ein schnurriger Kauz – ein spaßhafter Hund –«, und dann fragte er sie, was sie wolle.
»Ich habe ihm ein Bischen zu Essen gebracht,« sagte die gute Frau. »Erlauben Sie wohl, Sir, daß er es nehmen darf?«
»Ja, das kann er. Es besteht kein Verbot dagegen. Ihr könnt es mir geben, wenn Ihr geht; ich will dann Sorge dafür tragen, daß er es erhält.«
»Nein, ich bitte um Verzeihung, Sir – aber nehmen Sie's nicht übel, Sir – ich bin seine Mutter, und Sie hatten auch einmal eine Mutter – wenn ich ihn nur ein Bischen davon essen sehen könnte; ich würde viel beruhigter fortgehen, und wüßte dann doch, daß er nicht unwohl ist.«
Und abermals strömten die Thränen von Kit's Mutter, von Barbara's Mutter und dem kleinen Jakob. Was das Bübchen betraf, so krähte und lachte es aus Leibeskräften – augenscheinlich, weil es meinte, die ganze Scene sei erfunden und werde aufgeführt zu seiner besonderen Vergnügung.
Der Gefängnißwärter machte ein Gesicht, als käme ihm das Gesuch etwas sonderbar und ungewöhnlich vor; demungeachtet legte er aber die Zeitung nieder, kam an die Stelle, wo Kit's Mutter stand, nahm ihr den Korb ab, händigte ihn, nachdem er von dessen Inhalte Augenschein genommen hatte, Kit ein und verfügte sich wieder an seinen früheren Platz.
Man kann sich leicht vorstellen, daß der Gefangene keinen besondern Appetit hatte; er setzte sich jedoch auf den Boden und aß so gut er konnte, während seine Mutter bei jedem Bissen, den er in den Mund steckte, auf's Neue schluchzte und weinte, obgleich die Freude über diesen Anblick ihren Kummer sehr beschwichtigte.
Während dieser Beschäftigung stellte Kit einige ängstliche Fragen über seine Dienstherrschaft und ob sie eine Meinung über ihn ausgesprochen; aber alles, was er erfahren konnte, bestand darin, daß Herr Abel selbst gestern Abend seiner Mutter die Nachricht mit großer Milde und Zartheit beigebracht habe, ohne jedoch eine Ansicht über seine Schuld oder Unschuld zu äußern. Kit war eben im Begriffe, seinen ganzen Muth zusammenzunehmen und Barbara's Mutter nach Barbara zu fragen, als der Gefangenwärter, welcher ihn hergebracht hatte, wieder erschien, ein zweiter Schließer hinter Kit's Angehörigen zum Vorschein kam, und der dritte Gefangenwärter mit der Zeitung rief: »die Zeit ist aus!« indem er zugleich beifügte: »jetzt die nächste Partie vor,« worauf er sich wieder in seine Zeitung vertiefte. Kit wurde sogleich fortgeschafft, und ein Segenswunsch von seiner Mutter nebst ein Schrei des kleinen Jakobs hallte in seinen Ohren nach. Als er im Geleite seines früheren Führers, das Körbchen in der Hand, über den nächsten Hof ging, hieß ihn ein anderer Gerichtsdiener halten, und kam mit einem Nösel Porter in der Hand heran.
»Das ist Christoph Nubbels, der gestern Abend wegen Veruntreuung hereinkam – nicht wahr?« fragte der Mann.
Sein Kamerad versetzte, daß dieß allerdings der in Rede stehende Zeisig sei.
»Dann ist hier Sein Bier,« sagte der andere Mann zu Christoph. »Warum sieht Er es so an? Es ist keine Lossprechung darin.«
»Ich bitte um Verzeihung,« entgegnete Kit. »Wer schickt es mir?«
»Ei, ein Freund von Ihm'« antwortete der Mann. »Er soll es jeden Tag haben, sagt er. Und so soll's auch geschehen, wenn dafür bezahlt wird.«
»Ein Freund von mir?« wiederholte Kit.
»Er ist, scheint's, ein Bischen aus dem Häuschen,« erwiederte der Mann. »Da ist ein Brief von ihm. Nehm Er.«
Kit nahm ihn, und als er wieder eingeschlossen war, las er Folgendes:
»Trink aus diesem Becher. Du wirst finden, daß in jedem seiner Tropfen ein Zauber liegt gegen die Gebrechen der Sterblichkeit. Was schwatzt man da von der Herzstärkung, die für Helenen funkelte? Ihr Becher war ein geträumter, aber dieser ist Wirklichkeit. (Barclay und Compagnie's.) Wenn man ihn dir in einem schalen Zustand schickt, so beklage dich bei dem Aufseher. Dein R. S.
»R. S.?« sagte Kit nach einiger Ueberlegung. »Das muß Herr Richard Swiveller sein. Nun, es ist sehr wohlwollend von ihm und ich danke ihm herzlich.«