Charles Dickens
Weihnachtserzählungen
Charles Dickens

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Zweiter Teil.

Snitchey und Craggs hatten ein nettes kleines Bureau auf dem alten Schlachtfeld, wo sie ein nettes, kleines Geschäft betrieben und viele kleine Schlachten für viele streitende Parteien lieferten. Obgleich man eigentlich nicht behaupten konnte, daß diese Kämpfe leichte und muntere Schützengefechte waren – denn sie verliefen gewöhnlich recht langsam und mühselig – so konnte man doch die Beteiligung der Firma daran insofern unter dieser Kampfesart charakterisieren, als sie bald einen Schuß auf diesen Kläger, bald eine Kugel auf jenen Verteidiger abfeuerten, bald mit aller Macht über ein unter Sequester stehendes Grundstück herfielen, bald aber wieder ein Scharmützel mit einem beliebigen Korps kleiner Schuldner hatten, je nachdem wie sich dazu die Gelegenheit bot und der Feind sich ihnen stellte. Für sie war ebenso wie für berühmtere Leute die Zeitung ein wichtiges und höchst interessantes Blatt; und von den meisten Unternehmungen, in denen sie ihr Feldherrntalent gezeigt, erklärten die Kämpfenden später, daß sie wegen des vielen Rauchs, von dem sie umwölkt gewesen, sich nur sehr schwer hätten erkennen und kaum hätten erfahren können, was sie eigentlich machten.

Das Bureau der Herren Snitchey und Craggs lag sehr bequem am Markte hinter einer offenen Tür und zwei polierten abwärtsgesenkten Stufen, so daß jeder erboste Pächter, den es nach einem Prozeß gelüstete, mit der größten Leichtigkeit hineinstolpern konnte. Ihre Besprechungen hielten sie in einem Hinterzimmer, eine Treppe hoch, ab; einem Raum mit einer niedrigen dunklen Decke, als ob dieser Raum die Brauen in düsterm Grübeln über verwickelte Rechtsprobleme zusammenzöge. Seine Einrichtung bestand aus einigen Lederstühlen mit hohen Lehnen, besteckt mit großen runden Messingnägeln, von denen einzelne ausgefallen waren, vielleicht auch von dem bewußtlosen Finger wirr gewordener Klienten herausgezogen worden waren. Außerdem gewahrte man einen Kupferstich von einem berühmten Richter, der mit jeder Locke seiner großen Perücke einem Menschen die Haare vor Erstaunen sträuben konnte. Papiere füllten in Ballen die staubigen Schränke, Regale und Tische. Die untere Täfelung aber war verdeckt von Reihen feuersicherer Kisten, mit Vorlegeschlössern und groß darauf geschriebenen Namen. Harrende Klienten sahen sich wie durch einen unbarmherzigen Zauber veranlaßt, diese Namen vorwärts und rückwärts zu buchstabieren, während sie scheinbar Snitchey und Craggs zuhörten, ohne ein Wort von dem, was diese redeten, zu verstehen.

Snitchey und Craggs waren beide verehelicht. Snitchey und Craggs waren die dicksten Freunde von der Welt und schenkten einander wirkliches Vertrauen. Aber wie es häufig im Leben vorkommt, musterte Mrs. Snitchey aus Prinzip Mr. Craggs mit argwöhnischen Blicken, und dasselbe tat in bezug auf Mr. Snitchey Mrs. Craggs. »Mit deinem Snitchey«, pflegte die letztere Dame zuweilen zu Mr. Craggs zu sagen, »ich weiß gar nicht, was du mit deinem Snitchey willst. Du vertraust viel zu sehr auf deinen Snitchey, sage ich, und ich hoffe nur, daß du nie von ihm getäuscht wirst.« Dagegen äußerte sich Mrs. Snitchey zu ihrem Mann über Craggs, daß, wenn er sich jemals von einem Menschen auf Irrwege verleiten ließe, es durch diesen Mann geschehen würde; und daß, wenn ein Mensch einen falschen Blick habe, es Craggs sei. Trotzdem waren sie aber doch im ganzen recht gute Freunde; und zwischen Mrs. Snitchey und Mrs. Craggs bestand ein enges Schutz- und Trutzbündnis gegen das Bureau, das in ihren Augen eine Mörderhöhle und ein gemeinschaftlicher Feind voll gefährlicher und geheimnisvoller Einrichtungen war.

Und doch erzeugten in dieser Klause Snitchey und Craggs ihren Honig. Hier standen sie zuweilen an schönen Abenden bei dem Fenster ihres Empfangszimmers, das auf das alte Schlachtfeld hinausging, und wunderten sich (aber das war meistens der Fall, wo die Assisen »fest« waren, und wo rastlos gutgehende Geschäfte sie sentimental stimmten) über die Torheit der Menschenkinder, die nicht immer in Frieden miteinander leben und ihre Zwistigkeiten in Seelenruhe vor Gericht ausfechten konnten. Hier strichen Tage, Wochen, Monate und Jahre an ihnen vorbei, und ihr Gerichtskalender, die allgemach sich verringernde Zahl der messingenen Nägel in den Lederstühlen und die wachsende Last von Papieren auf dem Tisch zeugten genugsam davon. Hier hatten fast drei seit jenem Lunch im Obstgarten vergangene Jahre die einen vermindert und die anderen vermehrt, als sie eines Abends bei einer Besprechung zusammensaßen.

Sie waren nicht allein, sondern zusammen mit einem Mann von ungefähr dreißig Jahren, der ein wenig nachlässig in seiner Haltung, etwas schmal im Gesicht, aber sonst wohlgebaut, wohlgekleidet und von schmuckem Aussehen war. Er saß in dem Staatslehnstuhl, die eine Hand oben in der Falte des Rocks, die andere in dem ungeordneten Haar, in trübes Nachdenken versunken. Snitchey und Craggs saßen daneben. Eine der feuersicheren Kisten stand geöffnet auf diesem; ein Teil des Inhalts lag auf dem Tisch ausgebreitet, während der Rest durch die Hand Mrs. Snitcheys ging, der ein Dokument nach dem andern gegen das Licht hielt, jedes Papier einzeln prüfte, dabei den Kopf schüttelte und es Mr. Craggs hinreichte, der es ebenfalls prüfte und den Kopf schüttelte. Zuweilen hielten sie damit inne, schüttelten beide den Kopf und sahen ihren in Gedanken versunkenen Klienten an. Da auf der Kiste geschrieben stand: Michael Warden Esquire, dürfen wir aus allem folgern, daß Name und Kiste jenem gehörten und daß die Angelegenheiten Michael Wardens, Esquire, nicht günstig standen.

»Das ist alles«, sagte Mr. Snitchey, und legte das letzte Papier nieder. »Ich sehe keinen Weg weiter. Keinen Weg weiter.«

»Alles verloren, durchgebracht, verpfändet, verliehen und verkauft?« sagte der Klient und blickte auf.

»Alles«, antwortete Mr. Snitchey.

»Weiter ist nichts zu machen, sagen Sie?«

»Gar nichts«, war die Antwort des Advokaten.

Der Klient biß sich in die Nägel und versank wieder in sein altes Grübeln.

»Und sogar meine persönliche Sicherheit ist gefährdet, glauben Sie?« fing er nach einer Pause wieder an.

»In jedem Bezirk der vereinigten Königreiche Großbritannien und Irland«, erwiderte Mr. Snitchey.

»Also nichts als ein verlorener Sohn, der zu keinem Vater mehr zurückkehren kann, keine Schweine zu hüten hat und keine Treber mit diesen teilen kann?« fuhr der Klient fort, indem er ein Bein über das andere schaukelnd schlug und zu Boden blickte.

Mr. Snitchey hustete, gleichsam als wollte er die Zumutung zurückweisen, an irgendeiner allegorischen Deutung eines Rechtsverhältnisses sich zu beteiligen. Mr. Craggs hustete gleichfalls, als wolle er zu verstehen geben, daß dieses in der Tat die Auffassung des Hauses sei.

»Zugrunde gerichtet mit dreißig Jahren«, sagte der Klient. »Hach!«

Snitchey und Craggs bei der Abrechnung mit Michael Warden.

»Nicht zugrunde gerichtet, Mr. Warden«, entgegnete Snitchey. »So arg ist es noch nicht. Sie haben zwar alles dazu getan, muß ich sagen, aber Sie sind nicht zugrunde gerichtet. Etwas Einschränkung –«

»Zum Kuckuck mit der Einschränkung«, rief der Klient.

»Mr. Craggs, wollen Sie mir eine Prise gestatten? Ich danke Ihnen.«

Als der gemächliche Rechtsanwalt die Prise ersichtlich mit großer Vorfreude und ganz in diesen Genuß vertieft in die Nase steckte, verzog sich das Gesicht des Klienten schließlich zu einem Lächeln, und er sagte: »Sie reden von Einschränkung. Wie lange?«

»Wie lange?« wiederholte Snitchey und schnippte sich den Tabak von den Fingern, während er angestrengt nachzudenken schien. »Bei treuen Händen – sagen wir in Snitcheys und Craggs Namen – sechs oder sieben Jahre.«

»Sechs oder sieben Jahre hungern!« sagte der Klient mit verdrießlichem Lachen und rückte ungeduldig auf dem Stuhle hin und her.

»Sechs oder sieben Jahre zu hungern, Mr. Warden, wäre freilich etwas Außerordentliches«, sagte Snitchey. »Sie könnten mit der Zeit allein dadurch, daß Sie sich ausstellen ließen, ein neues Grundstück verdienen. Aber wir glauben nicht, daß Sie dies vermöchten, und raten es Ihnen daher auch nicht.«

»Was raten Sie mir dann also?«

»Einschränkung«, wiederholte Snitchey. »Ein paar Jahre Einschränkung unter unserer Geschäftsaufsicht würde Sie wieder auf die Beine bringen. Aber dann müßten Sie ins Ausland gehen. Was das Darben angeht, so könnten wir Ihnen selbst jetzt schon ein paar hundert Pfund abgeben, Mr. Warden.«

»Ein paar hundert Pfund?« sagte der Klient. »Und ich habe Tausende benötigt!«

»Daran«, entgegnete Mr. Snitchey und legte die Papiere sorgfältig in den eisernen Kasten, »daran ist gar kein Zweifel. Gar kein Zweifel«, wiederholte er langsam, indessen er seine Tätigkeit nachdenklich fortsetzte.

Der Anwalt kannte sicherlich seinen Mann; jedenfalls hatte seine trockene und humorvolle Manier einen günstigen Eindruck auf die Niedergeschlagenheit des Klienten hervorgerufen und veranlaßte ihn, offen und mitteilsamer zu sein. Oder vielleicht wußte der Klient Bescheid über seinen Mann und hatte die ermutigenden Angebote nur herausgelockt, um einen Schachzug, den er enthüllen wollte, besser verteidigen zu können. Er erhob jetzt langsam den Kopf und schaute seine erhabenen Ratgeber mit einem Lächeln an, aus dem bald ein Lachen wurde.

»Im Grunde, mein verehrter Freund –«

Mr. Snitchey wies auf seinen Kompagnon: »Snitchey und – entschuldigen Sie – Craggs.«

»Ich bitte Mr. Craggs um Verzeihung«, sagte der Klient. »Im Grunde aber, meine verehrten Freunde«, er beugte sich dabei vor und ließ die Stimme fallen, »wissen Sie noch gar nicht, wie schlimm es mit mir steht.«

Mr. Snitchey blickte ihn ganz erstaunt und erschreckt an. Mr. Craggs musterte ihn mit denselben Blicken.

»Ich bin nicht nur schrecklich verschuldet«, sagte der Klient, »sondern auch schrecklich –«

»Doch nicht verliebt?« schrie Snitchey.

»Ja!« sagte der Klient, indem er auf den Stuhl zurücksank und die beiden Anwälte ansah. Die Hände hatte er dabei in die Taschen gesteckt. »Schrecklich verliebt.«

»Und nicht in eine Erbin?« fragte Snitchey.

»Nicht in eine Erbin.«

»Auch nicht in eine reiche Dame?« forschte der Anwalt weiter.

»Nicht reich, soweit ich weiß – außer an Schönheit und Vorzügen des Charakters.«

»Hoffentlich eine unverheiratete Dame?« sagte Mr. Snitchey mit großem Nachdruck.

»Selbstverständlich!«

»Nicht in eine von Doktor Jeddlers Töchtern?« sagte Snitchey, und stützte die Ellbogen auf die Knie, wobei er sein Gesicht mindestens einen halben Meter vorschob.

»Doch!« entgegnete der Klient.

»Nicht in seine jüngere Tochter?« fragte Snitchey.

»Doch!« war die Antwort Mr. Wardens.

»Mr. Craggs«, sagte Snitchey erleichtert, »wollen Sie mir eine Prise gestatten? Danke bestens! Es freut mich, Ihnen sagen zu können, Mr. Warden, daß das nichts schadet; sie ist schon verlobt, Sir, sie ist Braut. Mein Kompagnon kann das bezeugen. Wir sind über die Angelegenheit informiert.«

»Wir sind über die Angelegenheit informiert«, wiederholte Craggs.

»Was macht das? Sie wollen Männer von Lebenserfahrung sein und hätten nie gehört, daß ein Weib ihren Sinn geändert hätte?«

»Es sind allerdings Klagen wegen Brechens von Eheversprechen vorgekommen«, sagte Mr. Snitchey, »sowohl gegen Jungfrauen, wie gegen Witwen, indessen in den meisten Affären – –«

»Affären – –!« unterbrach ihn der Klient ungeduldig. »Reden Sie mir nichts von Affären. Das Leben ist ein viel stärkeres und inhaltreicheres Buch als Ihre juristischen Bände. Und im übrigen: glauben Sie vielleicht, ich hätte umsonst sechs Wochen lang in dem Haus des Doktors mich aufgehalten?«

»Ich glaube, Sir«, bemerkte Mr. Snitchey und wandte sich ernst an seinen Sozius, »ich bin der Ansicht, daß von allen Streichen, die Mr. Warden von seinen Rennpferden gespielt worden sind – und sie waren ziemlich zahlreich und ziemlich kostspielig, wie er und wir beide am besten wissen – der schlimmste der war, daß ihn eins von ihnen mit drei gebrochenen Rippen, einem ausgerenkten Schulterblatt und der Himmel weiß, mit wie viel Beulen an der Gartenmauer des Doktors zurückgelassen hat. Damals, als wir ihn unter des Doktors Obhut und Dach gesunden sahen, ahnten wir so Schlimmes nicht. Aber es steht sehr böse, Sir, böse! Es steht sehr böse. Und Doktor Jeddler – unser Klient, Mr. Craggs.«

»Und Mr. Alfred Heathfield – ist auch so etwas wie ein Klient, Mr. Snitchey«, meinte Mr. Craggs.

»Und Mr. Michael Warden auch so etwas wie ein Klient«, fiel der Besuch ruhig in die Rede, »und kein schlechter, weil er zehn oder zwölf Jahre lang leichten Sinnes verbracht hat. Aber Michael Warden hat sich jetzt ausgetobt; dort in dem Kasten liegen die Ergebnisse und Instrumente, um reuig fortan sein klügeres Leben zu beginnen. Und um das zu beweisen, hat Mr. Warden die Absicht, Marion, des Doktors liebenswürdige Tochter, zu heiraten und mit sich fortzuführen.«

»Wirklich, Mr. Craggs?« hub Snitchey an.

»Wirklich, Mr. Snitchey und Mr. Craggs«, unterbrach sie der Klient. »Sie wissen Ihre Pflichten gegen Ihren Klienten, und wissen ferner genau, daß Sie nicht verpflichtet sind, sich in eine Sache zu mischen, die bloß eine Liebesgeschichte ist und die ich Ihnen anvertrauen muß. Ich möchte die junge Dame nicht ohne ihre Zustimmung davonführen. Dabei ist nichts Ungesetzliches. Ich war niemals Mr. Heathfields Busenfreund. Ich mache mich durchaus nicht eines Vertrauensbruchs gegen ihn schuldig. Ich liebe, wie er liebt, und gedenke zu gewinnen, was er gewinnen wollte, wenn es mir möglich ist.«

»Es ist ihm nicht möglich, Mr. Craggs«, sagte Snitchey, offenbar sehr beunruhigt. »Es kann ihm nicht möglich werden, Sir. Sie hängt sehr an Mr. Alfred.«

»Mr. Craggs, sie hängt sehr an ihm«, beteuerte Snitchey.

»Ich habe nicht vergebens sechs Wochen lang in des Doktors Haus gelebt; und ich hatte bald daran meine Zweifel«, meinte Mr. Warden. »Sie würde ihn lieben, wenn es nach dem Wunsch ihrer Schwester geschähe, aber ich habe sie beobachtet. Marion mied es, ihn zu nennen und zu erwähnen; sie litt bei der leisesten Anspielung auf ihn offensichtlich.«

»Wieso sollte sie dies, Mr. Craggs? Warum sollte sie dies, Sir?« forschte Snitchey.

»Wieso, weiß ich nicht, wiewohl es viele Gründe der Erklärung dafür gibt«, sagte der Klient lächelnd ob der Betretenheit und Verwirrung, die in Snitcheys Gesicht zu lesen war, und ob der vorsichtigen Manier, auf die er selbst die Unterhaltung lenkte, um von der Angelegenheit mehr zu erfahren, »aber ich weiß, daß es sich so verhält. Sie war sehr jung, als sie sich verlobten – wenn man das überhaupt so bezeichnen darf – und hat es vielleicht bereut. Vielleicht – es klingt anmaßend, aber ich meine es wirklich nicht so – hat sie sich in mich verliebt, wie ich mich in sie verliebt habe.«

»He, he! Mr. Alfred, ihr alter Spielkamerad«, sagte Snitchey verlegen lächelnd, »kannte sie ja schon von früher Kindheit an!«

»Um so wahrscheinlicher ist es, daß sie es satt hat, an ihn zu denken«, fuhr der Klient selbstsicher fort, »und daß sie nicht abgeneigt ist, ihn gegen einen neuen Liebhaber einzutauschen, der ihr unter romantischen Voraussetzungen entgegentritt – oder hoch zu Roß sich produziert; der in dem für ein Mädchen vom Lande recht lockenden Ruf steht, leichten Sinnes und flott gelebt zu haben nach dem Motto: Leben und leben lassen! und der es seinem Äußern nach – das mag sich wieder anmaßend anhören, indessen bei meiner Ehre, ich meine es nicht so – wohl auch noch mit Mr. Alfred aufnehmen könnte.«

Dies letztere ließ sich gewiß nicht bestreiten, und Mr. Snitchey, als er seinen Klienten anblickte, dachte das gleiche. Gerade sein nonchalantes Wesen lieh ihm eine gewisse natürliche Anmut und machte ihn interessant. Es schien zu sagen, daß sein nettes Gesicht und seine wohlgebaute Gestalt viel besser sein könnten, wenn er nur wollte; und daß er, wenn er sich einmal zusammenraffte und Ernst macht, voll feuriger Tatkraft sein könnte. Das ist ein gefährlicher Spitzbube, sagte sich der menschenkundige Anwalt, er scheint das beseelende Feuer, das ihm mangelt, aus eines Mädchens Augen zu gewinnen.

»Darum hören Sie, Snitchey«, fuhr er fort, indem er aufstand und ihn bei einem Rockknopf ergriff, »und Sie, Craggs«, er packte ihn gleichfalls an einem Knopf, und stellte den einen rechts, den andern links neben sich, so daß sie ihm nicht entgehen konnten, »ich frage Sie nicht um Rat, Sie verfahren sehr richtig, wenn Sie sich von dieser Sache unbedingt ganz fernhalten; denn es gehört sich hierbei nicht, daß sich gereifte Männer, wie Sie es sind, einmischen. Ich will nur kurz meine Situation und meine Absichten dartun und es dann Ihnen überlassen, für mich in betreff meiner Finanzen so geschickt wie möglich zu operieren; denn Sie sehen ein, wenn ich jetzt mit des Doktors schöner Tochter entfliehe (und ich denke das zu erreichen und durch ihre Liebe ein anderer Mensch zu werden), so wird das für den Augenblick mehr Kosten verursachen, als wenn ich allein entfliehe. Aber ich werde dies durch ein anderes Leben bald wieder einholen.«

»Meiner Meinung nach ist es besser, wir hören das nicht an, Mr. Craggs?« sagte Snitchey und blickte auf seinen Sozius.

»Ich meine das auch«, sagte Craggs. Indessen hörten beide aufmerksam zu.

»Sie brauchen es nicht anzuhören«, entgegnete ihr Klient. »Ich will es aber doch mitteilen. Ich habe nicht die Absicht, den Doktor um seine Erlaubnis zu fragen, denn er würde sie mir doch nicht erteilen. Aber ich will dem Doktor nichts Böses zufügen. Ich will ja nur sein Kind (zudem sagt er überdies, daß solche Bagatellen keine ernsten Sachen sind), meine Marion, von etwas befreien, was sie – wie ich weiß – mit Furcht und Schmerz nahen sieht; ich meine die Rückkehr ihres Freundes. Wenn etwas in der Welt wahr ist, so ist es eben die Tatsache, daß sie sich vor seiner Rückkehr fürchtet. Allerdings lebe ich jetzt wie ein gejagter Hund, wage mich bloß im Dunkeln heraus, und darf mein Haus und meinen eigenen Besitz nicht betreten; aber dieses Haus und dieser Besitz wird eines Tages wieder mein sein, wie Sie wissen und selbst zugeben; und Marion wird als Gattin in zehn Jahren – Sie sagen es selbst und Sie sind nicht optimistisch-verschwommen – wahrscheinlich reicher sein, als wenn sie sich mit Alfred Heathfield vermählt, dessen Rückkehr sie voll Furcht erwartet (vergessen Sie das nicht), und dessen Liebe nicht – und keine auf der Welt – glühender sein kann als die meine. Wem geschieht dabei ein Unrecht? Alles erfolgt recht und billig. Meine Sache ist so gerecht wie seine, wenn sie sich eben für mich entscheidet; und auf ihre Entscheidung will ich es ankommen lassen. Es wird Ihnen angenehm sein, nicht mehr von dieser Sache zu hören, und ich werde Sie auch nicht weiter damit belästigen. Sie wissen jetzt meine Absichten und was ich nötig habe. Wann muß ich England verlassen?«

»In einer Woche«, sagte Snitchey. »Mr. Craggs –?«

»Noch etwas früher, würde ich empfehlen«, gab Craggs zur Antwort.

»In einem Monat«, sagte der Klient, nachdem er die beiden Gesichter prüfend beobachtet hatte. »Heute in einem Monat. Heute ist Donnerstag. Glücklich oder unglücklich, heute in einem Monat reise ich ab.«

»Das ist zu lange«, sagte Snitchey; »viel zu lange. Aber schließlich meinetwegen. Ich dachte schon, er würde sich drei ausbedingen«, bemerkte er brummend zu sich selber. »Wollen Sie gehen? Gute Nacht, Sir.«

»Gute Nacht!« versetzte der Klient und drückte beiden die Hand. »Sie werden es noch erleben, wie ich meinen Reichtum gut zu verwenden verstehe. Von jetzt an ist Marion mein Stern des Glückes.«

»Passen Sie auf der Treppe auf, Sir«, sagte Snitchey; »denn dort leuchtet er nicht. Gute Nacht!«

»Gute Nacht!« entgegnete Mr. Warden.

Die beiden Kompagnons blieben bei der Treppe stehen und leuchteten ihm hinunter; als er gegangen war, standen sie immer noch und blickten sich an.

»Was sagen Sie dazu, Mr. Craggs?« fragte Snitchey.

Mr. Craggs schüttelte den Kopf.

»Wir glaubten doch, daß an dem Tag, wo die Mündigkeitserklärung stattfand, an der Manier, wie das Paar voneinander Abschied nahm, etwas Bemerkenswertes gewesen, daran erinnere ich mich«, sagte Snitchey.

»Ja, ja«, sagte Mr. Craggs.

»Vielleicht irrt er sich«, fuhr Mr. Snitchey fort, schloß den feuerfesten Kasten zu und stellte ihn an seinen gewohnten Ort, »wenn das aber nicht der Fall ist, so wäre etwas Wankelmut und Untreue auch kein Wunder, Mr. Craggs. Freilich hätte ich das schöne Gesichtchen für sehr treu gehalten. Mir erschien es so«, meinte Snitchey, indem er seinen Mantel und die Handschuhe anzog (es war recht kalt draußen) und ein Licht löschte, »als ob ihr Charakter gerade jetzt fester und ernster würde. Mehr noch als der ihrer Schwester.«

»Mrs. Craggs war der gleichen Auffassung«, meinte Craggs.

»Es sollte mich wirklich freuen«, sagte Snitchey, der im Grunde ein sehr gutes Herz hatte, »wenn ich annehmen könnte, daß Mr. Warden die Rechnung ohne den Wirt gemacht hat. Aber so leichtsinnig und ruhelos er auch ist, so kennt er doch die Welt und die Menschen (und es wäre schlimm, wenn dies nicht der Fall wäre, denn diese seine Kenntnis ist ihm teuer genug zu stehen gekommen); und ich kann es mir nicht recht wahrscheinlich vorstellen. Das beste ist für uns, daß wir uns nicht hineinmischen; wir können nicht mehr tun, Mr. Craggs, als schweigen.«

»Nicht mehr«, war Craggs Antwort.

»Unser guter Freund, der Doktor, nimmt solche Dinge gleichgültig«, sagte Snitchey und schüttelte den Kopf. »Ich will nur hoffen, daß er seine Philosophie nicht nötig hat. Unser Freund Alfred redet von dem Kampf des Lebens.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Ich hoffe zum mindesten, daß er nicht schon im Anfang des Kampfes fallen wird. Haben Sie Ihren Hut, Mr. Craggs? Ich will das andere Licht auslöschen.«

Als Mr. Craggs bejahte, tat Mr. Snitchey wie er gesagt, und sie tasteten sich zum Besprechungszimmer hinaus, das jetzt so dunkel war, wie das Thema ihrer Rede oder wie die Justiz im allgemeinen.

* * *

Meine Geschichte führt mich jetzt in ein kleines ruhiges Studierzimmer, wo am selben Abend die Schwestern und der muntere alte Doktor vor dem behaglichen Kamin saßen. Grace hatte eine Näharbeit, Marion las aus einem Buch vor. Der Doktor in Schlafrock und Pantoffeln, die Füße auf dem warmen Teppich, saß im Lehnstuhl, hörte der Lesenden zu und blickte auf seine Töchter. Sie waren sehr schön von Aussehen. Zwei erquickendere Gesichter hatten noch nie eine Kaminecke vertraut und heilig gemacht. Etwas von verschiedenem Wesen hatten die verflossenen drei Jahre gemildert; und auf der reinen Stirn der jüngeren Schwester, in ihrem Auge und in dem Klang ihrer Stimme war die gleiche ernste Innigkeit wahrnehmbar, die bei ihrer ältern Schwester die mutterlos verlebte Jugend schon längst zur Reife geführt hatte. Aber immer noch schien sie lieblicher und zarter als die andere; immer noch schien sie ihr Haupt an ihrer Schwester Brust zu legen und auf sie zu achten, und Rat und Hilfe in ihren Augen zu suchen. In diesen seelenvollen Augen, die so ruhig, so sicher und so freundlich waren, wie ehedem.

»Und als sie jetzt im Vaterhaus weilte«, las Marion aus dem Buche, »das ihr so teuer durch alle diese Erinnerungen, begann sie zu empfinden, wie die schwere Prüfung ihres Herzens bald kommen müsse und nicht weiter zu bannen sei. O Vaterhaus, unser Trost und unser Freund, wenn alle andern uns verlassen, von dem der Abschied bei jedem Schritt zwischen Wiege und Grab –«

»Liebe Marion!« rief Grace.

»Mein Herzblatt!« sagte der Vater, »was ist mit dir?«

Sie ergriff die Hand, die ihr die Schwester reichte, und fuhr im Lesen fort. Aber ihre Stimme zitterte, obwohl sie sich bemühte, ihre Erregung zu unterdrücken.

»Von dem der Abschied bei jedem Schritt zwischen Wiege und Grab stets weh tut. O Vaterhaus, du immerdar treues und doch so oft von uns vernachlässigtes, sei nachsichtig gegen die, die dir untreu werden, und folge ihren irrenden Schritten nicht mit zu bitteren Vorwürfen. Laß keinen freundlichen Blick, kein Lächeln alter Zeit über deinem geistigen Antlitz aufleuchten. Laß keinen Strahl von Liebe, Milde, Langmut, Freundlichkeit von deinem hellen Haupt schimmern. Laß kein Gedenken an Liebesversicherung und Liebesglück gegen den, der dich verlassen, als Ankläger auftreten; sondern wenn dein Blick strafend und streng sein kann, dann sieh so voll Erbarmen die Reuevollen an.«

»Liebe Marion, lies heute abend nicht weiter«, sagte Grace – denn sie weinte.

»Ich kann nicht«, entgegnete sie und klappte das Buch zu. »Die Buchstaben scheinen alle zu flammen.«

Der Doktor hatte daran seinen Spaß, und er lachte, als er ihr die Wangen strich.

»Also bis zu Tränen gerührt von einem Roman!« sagte Doktor Jeddler. »Von Druckerschwärze und Papier! Nein, nein, es ist alles gleich, es ist ebenso gescheit, wie jeder andere Gegenstand. Aber wisch diese Tränen ab, wisch deine Tränen ab. Ich bin der Überzeugung, die Heldin ist längst wieder im Vaterhaus und hat sich mit allen versöhnt – und wenn sie dies nicht getan hat, so besteht womöglich ein wirkliches Vaterhaus bloß aus vier Wänden; und eines der Phantasie aus Lumpen und Tinte. Was gibt es?«

»Ich bin es, Herr«, sagte Clemency, und steckte den Kopf zur Tür herein.

»Und was hast du?« fragte der Doktor.

»Ach, lieber Himmel, ich habe nichts«, antwortete Clemency – und sie konnte recht haben, nach ihrem frischgewaschenen Gesicht zu urteilen, aus dem wie gewöhnlich die reine Quintessenz der fröhlichen Laune strahlte, wodurch sie, so wenig hübsch sie war, wirklich sympathisch wirkte. Wundgestoßene Ellbogen werden gewöhnlich nicht zu den schönen Dingen gezählt. Aber bei der Wanderung durch das Leben ist es immer besser, auf dem engen Pfad sich bloß die Arme statt die fröhliche Stimmung zu verderben, und Clemency war so munter und gesund dabei, wie jede Schöne im ganzen Lande.

»O, ich habe nichts«, sagte Clemency und trat vollends ins Zimmer, »aber kommen Sie etwas näher, Herr.«

Etwas erstaunt willfahrte der Doktor ihrem Wunsche.

»Sie sagten, ich sollte Ihnen keinen in ihrer Gegenwart geben, erinnern Sie sich«, sagte Clemency.

Ein in der Familie Fremder hätte nach ihrem seltsamen Augenzwinkern bei diesen Worten und bei der merkwürdig verzückten Bewegung ihrer Ellbogen, als ob sie sich selbst umarmen wolle, vielleicht der Meinung sein können, »keinen« bedeute, am freundlichsten ausgedeutet, einen ehrbaren Kuß. In der Tat schien der Doktor im ersten Moment selbst nicht zu wissen, was er davon halten sollte. Er gewann indessen rasch seine Fassung wieder, als Clemency, nachdem sie beide Taschen durchforscht – wobei sie mit der rechten begann, dann in der falschen wühlte und zuletzt zu der rechten wieder zurückkehrte – einen Brief herausbeförderte.

»Britain fuhr vorbei«, sagte sie und überreichte den Brief dem Doktor, »gerade als die Post ankam, und wartete darauf. Es steht A. H. in der Ecke. Ich wette, Mr. Alfred ist auf der Rückkehr begriffen. Wir bekommen eine Hochzeit im Haus – ich hatte heute morgen zwei Löffel in der Tasse. Mein Gott! wie langsam er ihn öffnet!«

Sie sprach das alles als Selbstgespräch und erhob sich in ihrer Ungeduld, die Neuigkeit zu erfahren, auf den Fußspitzen, zugleich machte sie einen Korkzieher aus ihrer Schürze und eine Flasche aus ihrem Munde. Endlich ließ sie sich, auf dem Gipfel ihrer Erwartung angelangt, indessen der Doktor mit dem Brief noch immer nicht zu Ende war, plötzlich wieder auf die Fußsohlen fallen, warf ihre Schürze als Schleier über den Kopf, von stummer Verzweiflung völlig überwältigt und nicht imstande, dies länger auszuhalten.

»Hier! Mädchen!« rief der Doktor. »Ich kann nicht anders; ich habe in meinem Leben kein Geheimnis bei mir bewahren können. Es gibt auch nicht viel Geheimnisse, die wert sind, bewahrt zu werden in dieser – aber still davon! Alfred ist auf dem Heimweg und kommt demnächst!«

»Demnächst!« rief Marion aus.

»Sieh mal an! Ist der Roman so rasch vergessen?« sagte der Doktor und kniff sie in die Wange. »Ich dachte es mir gleich, daß die Nachricht die Tränen trocknen würde. Ja! ›Ich will sie überraschen‹, schreibt er hier. Aber das geht nicht. Er muß eine Bewillkommnung erfahren.«

»Demnächst!« wiederholte Marion.

»Nun, vielleicht nicht, was deine Ungeduld demnächst nennt«, entgegnete der Doktor; »aber doch ziemlich bald. Wartet einmal! heute ist Donnerstag, nicht wahr? dann will er heute über einen Monat eintreffen.«

»Heute über einen Monat«, wiederholte Marion leise.

»Ein froher Tag und ein Feiertag für uns alle«, sagte die heitere Stimme ihrer Schwester Grace, die sie beglückwünschend küßte. »Ein lange erwarteter Tag, Liebste, und endlich sich nahend.«

Ein Lächeln war die Antwort; ein trübes Lächeln, aber voll schwesterlicher Liebe; und als sie ihrer Schwester ins Gesicht blickte und dem harmonischen Klang ihrer Stimme lauschte, wie sie die Freuden der Rückkehr weiter ausmalte, da schimmerte auch auf ihrem eigenen Antlitz Hoffnung und Freude.

Und noch etwas: ein Etwas, das mehr und mehr durch die übrigen Empfindungen hindurchdrang, und wofür ich keine Bezeichnung habe.

Es war nicht Freude, Jubel, strahlende Begeisterung. Die offenbaren sich nicht so ruhig. Es waren nicht nur Liebe und Dankbarkeit, obschon diese einen Teil davon ausmachten. Es ging aus keinem kleinlichen Gedanken hervor; denn diese leuchten nicht so auf der Stirn, brennen nicht so auf den Lippen.

Doktor Jeddler vermochte trotz seiner Philosophie – die er beständig in der Praxis leugnete, wie es bei berühmten Philosophen oft der Fall ist – nicht anders, ein ebenso großes Interesse an der Rückkehr seines alten Schülers und Mündels zu bekunden, als ob es ein bedeutsames Ereignis wäre. So setzte er sich wieder in seinen Lehnstuhl, streckte die Füße wiederum auf den warmen Teppich aus, las den Brief noch mehrere Male durch und sprach noch viel häufiger von ihm.

»O, es gab noch eine Zeit«, sagte der Doktor und schaute ins Feuer, »als ihr beide zusammen, du, Grace und er, Arm in Arm herumlieft, wie ein paar lebende Puppen. Erinnerst du dich noch?«

»O gewiß«, antwortete sie mit heiterm Lachen und nähte wieder emsig.

»Heute über einen Monat!« sagte der Doktor nachdenklich. »Kaum ein Jahr scheint vergangen zu sein. Und wo war meine kleine Marion damals?«

»Nie weit von ihrer Schwester, so klein sie auch war«, sagte Marion; »Grace war mein Alles, auch als sie selbst noch ein Kind war.«

»Sehr richtig, mein Herzblatt, sehr richtig«, versetzte der Doktor. »Sie war eine wackere kleine Hausfrau, meine Grace, und eine gute Wirtschafterin und ein fleißiges, kluges Kind; voller Geduld für unsere Launen, immer bereit, unsern Wünschen zuvorzukommen, und die eigenen hintanzustellen; selbst damals schon. Schon damals, Grace, warst du nie verdrossen und eigenwillig, von einem einzigen Punkt abgesehen.«

»Ich befürchte, daß ich mich seitdem sehr zu meinem Nachteil verändert habe«, lachte Grace, immer noch eifrig arbeitend. »Was war denn das für ein Punkt, Vater?«

»Alfred natürlich«, sagte der Doktor. »Du warst nur zufrieden, wenn man dich Alfreds Frau nannte; also nannten wir dich Alfreds Frau; und das gefiel dir besser (so merkwürdig es jetzt auch erscheinen mag), als wenn wir dir den Titel einer Herzogin verliehen hätten, wenn wir dich dazu hätten erheben können.«

»Ist es wirklich so?« sagte Grace gelassen.

»Nanu, weißt du das nicht mehr?« fragte der Doktor.

»Ich glaube, ich erinnere mich noch etwas daran«, erwiderte sie, »aber kaum. Es ist zu lange her.« Und während sie nähte, summte sie den Refrain eines alten Liedes, das der Doktor liebte.

»Alfred wird bald eine wirkliche Frau haben«, sagte sie und lenkte das Gespräch auf eine andere Bahn. »Und das wird eine schöne Zeit für uns alle sein. Meine dreijährige Verpflichtung ist bald vorüber, Marion. Du hast es mir sehr erleichtert. Ich werde Alfred sagen, wenn ich dich wieder an seine Brust lege, daß du ihn die ganze Zeit innig geliebt hast und daß er nicht ein einziges Mal meiner Hilfe bedurft hat. Darf ich ihm das sagen, meine Teure?«

»Sage ihm, liebe Grace«, antwortete Marion, »daß nie eine Pflicht so edel, so vornehm, so treulich erfüllt wurde; daß ich dich seit damals von Tag zu Tag immer mehr habe lieben lernen, und daß ich dich jetzt so unaussprechlich liebe!«

»Das vermag ich ihm kaum zu sagen«, versetzte ihre Schwester, sie ihrerseits umarmend, »meine Verdienste mag sich Alfreds Phantasie ausmalen. Er wird reichlich übertreiben, meine Marion: ganz wie du.«

Sie griff nun wieder zu ihrer Arbeit, die sie aus der Hand gelegt hatte, als ihre Schwester so voller Rührung zu ihr geredet, und sie summte wieder das alte Lied, das der Doktor so gern hatte. Und der Doktor saß immer noch im Lehnstuhl, lauschte dem Lied, schlug mit Alfreds Brief den Takt dazu auf seinem Knie, schaute auf seine Töchter und sagte sich, daß unter den vielen Eitelkeiten der eitlen Welt diese wenigstens berechtigt waren.

Inzwischen eilte Clemency Newcome, nachdem sie ihre Botschaft erledigt und im Zimmer gewartet hatte, bis sie endlich alles wußte, wieder in die Küche, wo Mr. Britain es sich nach dem Abendessen behaglich machte, umgeben von einer so umfassenden Sammlung von blitzenden Deckeln, sauber gescheuerten Töpfen, polierten Schüsseln, glänzenden Kesseln und andern Zeugnissen ihres Fleißes an den Wänden und auf den Regalen, daß er gleichsam inmitten einer Spiegelhalle saß. Die spiegelten allerdings kein sehr schmeichelhaftes Bild von ihm wider. Zudem waren ihre Darstellungen keineswegs gleichartig: denn manche verliehen ihm ein sehr langes Gesicht, manche ein sehr breites; manche ein ganz nettes und andere ein sehr häßliches, je nach ihrer Manier zu reflektieren, ganz wie dies die Menschen tun. Aber darin stimmten sie völlig überein, daß in ihrer Mitte ganz gemütlich ein Individuum saß, mit der Pfeife im Mund, einen Krug Bier neben sich und Clemency gnädig zunickend, als sie sich an dem gleichen Tisch niederließ.

»Nun, Clemency«, sagte Britain, »was hast du jetzt, und was gibt es Neues?«

Clemency erzählte ihm, was sie gehört, und er nahm es sehr liebenswürdig auf. Eine wohltuende Verwandlung war bei Benjamin vom Kopf bis zur Zehe erfolgt. Er war viel massiver und viel röter, viel vergnügter und viel lustiger anzusehen. Es machte den Eindruck, als ob sein Gesicht in einen Knoten zusammengebunden gewesen und jetzt aufgeknotet und ausgeplättet worden wäre.

»Das wird wohl ein neues Geschäft für Snitchey und Craggs ausmachen«, versetzte er, behäbig Rauchwolken in die Luft blasend. »Und wir werden vielleicht wieder als Zeugen antreten, Clemency!«

»Himmel!« antwortete Clemency mit der üblichen Bewegung ihrer Lieblingsgliedmaßen. »Ich wollte, ich wäre dran, Britain!«

»Was denn dran?«

»Die dran ist zu heiraten!«

Benjamin nahm die Pfeife aus dem Mund und lachte hell auf. »Ja! Du bist ganz die Richtige dazu«, sagte er: »dummbrave Clemency!« Clemency lachte nun ebenso herzlich wie er und schien an der Idee ebensoviel Vergnügen zu finden. »Ja«, fuhr sie fort, »ich bin ganz die Richtige dazu; findest du nicht?«

»Du wirst selbstverständlich niemals heiraten«, sagte Mr. Britain und führte die Pfeife wieder zum Mund.

»Glaubst du wirklich nicht?« sagte Clemency ganz arglos.

Mr. Britain schüttelte den Kopf. »Dafür bestehen keine Aussichten!«

»Aber bedenke doch!« sagte Clemency. »Nämlich: ich glaube, du wirst nächstens daran sein, Britain; nicht wahr?«

Eine so jäh gestellte Frage über eine so bedeutende Angelegenheit erforderte Überlegung. Nachdem er eine große Rauchwolke gebildet und sie, den Kopf bald auf diese bald auf jene Seite legend, beschaut hatte, als wäre diese Wolke das strittige Problem, und er betrachtete sie von verschiedenen Gesichtspunkten aus, entgegnete Mr. Britain, daß er über die Sache noch nicht ganz im klaren sei, aber – im übrigen – er könnte sich eventuell noch dazu entschließen.

»Wer sie auch sein mag, ich wünsche ihr Glück!« rief Clemency.

»O, daran wird es ihr nicht fehlen«, meinte Benjamin, »bestimmt nicht.«

»Aber sie würde nicht so glücklich sein und keinen so wirklich guten und lieben Mann haben«, meinte Clemency und legte sich halb über den Tisch, um nachdenklich ins Licht zu sehen, »wenn ich nicht gewesen wäre – nicht daß ich es beabsichtigt hätte; denn es war reiner Zufall: ist es nicht so, Britain?«

»Sicherlich«, sagte Mr. Britain, jetzt beim Vollgenuß seiner Pfeife, da der Raucher den Mund nur ein ganz klein bißchen zum Reden zu öffnen vermag und in genußreichster Ruhe in seinem Stuhl sitzt und nur imstande, seinem Gefährten die Augen zuzuwenden, und das sehr langsam und ernst. »O! ich bin dir sehr dankbar dafür, Clemency, das weißt du ja!«

»Ach, wie nett der Gedanke daran ist!« versetzte Clemency. In diesem Augenblick wurden ihre Gedanken und ihr Blick auf das Kerzenunschlitt gelenkt, und weil sie sich plötzlich an dessen Heilkraft als Wundbalsam erinnerte, salbte sie sich den linken Ellbogen ergiebig mit dem neuen Mittel.

»Du weißt, ich habe manche Untersuchung über dieses und jenes unternommen«, fuhr Mr. Britain mit der würdigen Miene eines Denkers fort, »weil ich immer wißbegierig war, und ich habe viele Bücher über die Vorzüge und Mängel der irdischen Güter gelesen; denn ich habe mich selbst in meiner Jugend mit der Literatur befaßt.«

»Wirklich!« rief die bewundernde Clemency.

»Ja«, erzählte Mr. Britain; »ich stand zwei der besten Jahre meines Lebens hinter einer Antiquarsbude und war bereit herauszustürzen, wenn jemand ein Buch in die Tasche steckte; und dann war ich Bote bei einer Putzmacherin; in diesem Amt brachte ich in Wachstuchpaketen nichts als Lug und Trug zu den Leuten. – Dadurch wurde mein Gemüt verbittert und mein Vertrauen auf die menschliche Natur zerstört; und darauf hörte ich hier in diesem Hause vielerlei Reden, die mein Gemüt noch mehr verbitterten, und nach alledem ist es meine Ansicht, daß als sicherer und freundlicher Beruhiger des Gemüts und als guter Führer durch das Leben nichts über das Muskatsieb geht.«

Clemency wollte etwas hinzufügen, aber er kam ihr zuvor. »Im Verein«, setzte er ernst hinzu, »mit einem Fingerhut.«

»Tue was du willst, und so fort, nicht wahr?« fiel Clemency ein und schlug ihre Arme voll Freude über das Geständnis übereinander und rieb sich den Ellbogen. »Ein so trefflicher Spruch, nicht wahr?«

»Ich weiß allerdings nicht«, sagte Mr. Britain, »ob man es richtige Philosophie nennen könnte. Ich habe meine Zweifel deswegen; indessen es muntert auf und erspart viel Zwistigkeiten, was bei den fachmännischen Produkten nicht immer der Fall ist.«

»Bedenke aber, wie du selbst manchmal knurrtest«, sagte Clemency.

»Ach!« sagte Mr. Britain. »Aber das Seltsamste ist, Clemency, daß du mich bekehren mußtest. Das ist das Komischste bei der ganzen Sache. Ausgerechnet du! Ich glaube, du hast keinen halben Gedanken im Kopf.«

Ohne dadurch im mindesten gekränkt zu sein, schüttelte Clemency den Kopf, lachte, umarmte sich und sagte: »Nein, ich glaube es auch nicht.«

»Ich bin dessen ziemlich sicher«, sagte Mr. Britain.

»O! ich glaube wohl, du hast recht«, meinte Clemency. »Ich mag gar keinen. Ich brauche auch keinen.«

Benjamin nahm die Pfeife aus dem Mund und lachte, bis ihm die Tränen über die Wangen kollerten. »Wie einfältig du bist, Clemency«, fügte er, über den Scherz immer noch lachend und sich die Augen wischend, hinzu.

Clemency wandte nicht das geringste ein, sondern lachte ebenso herzlich wie er.

»Aber ich habe dich trotzdem gern«, sagte Mr. Britain; »du bist ein recht gutes Mädchen auf deine Weise; so gib mir die Hand, Clemency. Was auch komme, ich will immer zu dir halten und immer dein Freund sein.«

»Wahrhaftig?«, fragte Clemency. »Nun, das ist gewiß recht schön von dir.«

»Ja, ja«, sagte Mr. Britain und hielt ihr die Pfeife zum Ausklopfen hin; »ich will dich nicht verlassen. Horch! das ist ein seltsames Geräusch!«

»Geräusch!« wiederholte Clemency.

»Fußtritte draußen. Es hörte sich an, als ob jemand über die Mauer springe.«

»Sind sie oben alle zu Bett?«

»O, jetzt sind sie alle schlafen gegangen.«

»Hörtest du nichts?«

»Nein!«

Sie horchten beide, hörten aber nichts mehr.

»Ich will dir was sagen«, meinte Benjamin und nahm eine Laterne herab; »ich will der Vorsicht halber einmal draußen die Runde gehen, bevor ich mich schlafen lege. Öffne die Tür, während ich die Laterne anzünde, Clemency.«

Clemency gehorchte schnell, merkte aber dabei, daß er sich umsonst bemühte, sich einzureden, es sei Einbildung. Mr. Britain sagte nämlich »sehr möglich«, und ging hinaus. Bewaffnet mit dem Schüreisen leuchtete er nach allen Seiten.

»Es ist so still wie auf dem Kirchhof«, sagte Clemency, als sie ihm nachblickte: »und auch fast so gräulich!« Als sie wieder in die Küche zurückschaute, schrie sie angstvoll auf, als sich ihr eine leichte Gestalt näherte. »Wer ist da?«

»Still!« flüsterte ihr Marion aufgeregt zu. »Du hast mich immer geliebt, nicht wahr?«

»Geliebt, Kind! Gewiß.«

»Ich weiß es. Und ich kann mich dir anvertrauen, nicht? Ich habe jetzt hier fast niemanden, dem ich mich anvertrauen kann.«

»Ja«, sagte Clemency herzlich.

»Es harrt jemand draußen«, sagte Marion und deutete nach der Tür, »den ich heute abend noch sehen und sprechen muß. Michael Warden, um Himmels willen, gehen Sie fort von hier! Jetzt nicht!«

Clemency schrak überrascht und beunruhigt auf, als sie dem Blick der Sprechenden folgte und eine dunkle Gestalt im Torweg stehen sah.

»Im nächsten Augenblick können Sie entdeckt sein«, sagte Marion. »Jetzt nicht! Warten Sie möglichst in einem Versteck. Ich werde gleich kommen.« Er grüßte sie mit der Hand und war verschwunden.

»Geh nicht zu Bett. Warte hier auf mich!« sagte Marion voll eiliger Hast. »Ich habe schon vor einer Stunde mit dir sprechen wollen. O, verrate mich nicht!« Marion ergriff heftig ihre Hand und drückte sie an die Brust – eine Bewegung, die in ihrer Leidenschaft mehr sprach, als das heißeste Flehen in Worten. Sodann eilte sie davon, als das Licht der zurückkehrenden Laterne die Stube zu erhellen begann.

»Alles ruhig und still. Niemand hier. Wohl Einbildung«, sagte Mr. Britain, als er die Tür zuschloß und abriegelte. »Eine von den Folgen einer lebhaften Phantasie. Heda! Nun, was ist los?«

Clemency, die ihre Aufregung nicht zu verbergen vermochte, saß blaß und am ganzen Leib zitternd auf einem Stuhl. »Was los ist?« wiederholte sie und rieb sich, nach Fassung suchend, Hände und Ellbogen, wobei sie überall hinschaute, nur nicht ihm ins Gesicht. »Das ist ja nett von dir, Britain! Erst jagst du einem einen Totenschreck ein mit Lärmen und Laternen und der Himmel weiß was sonst noch. Was los ist! Auch noch!«

»Wenn du einen Totenschreck von einer Laterne bekommst, Clemency«, sagte Mr. Britain und blies die Laterne ganz kaltblütig aus, »so läßt sich das Gespenst bald vertreiben. Aber du hast doch sonst Courage genug«, sagte er und blieb stehen, um sie zu mustern: »und warst auch erst ganz ruhig nach dem Lärm und als ich die Laterne anzündete. Was ist dir in den Kopf gefahren? Doch nicht ein Gedanke?«

Aber da ihm Clemency leidlich wie sonst gute Nacht wünschte und sich zum Schlafengehen anzuschicken schien, sagte ihr auch Klein-Britannien gute Nacht, nachdem er noch die originelle Bemerkung geäußert hatte, es könne niemand wissen, wie er mit den Weibern daran sei. Darauf nahm er sein Licht und ging schläfrigen Schritts zu Bett. Als alles still war, kam Marion zurück.

»Schließ die Tür auf«, sagte sie, »und warte dicht bei mir, während ich draußen mit ihm rede.«

So schüchtern ihre Haltung auch war, so zeigte sich an ihr doch eine Sicherheit und Unbeirrtheit des Wollens, der Clemency nicht zu widerstehen vermochte. Sie entriegelte leise die Tür, aber bevor sie den Schlüssel im Schloß umdrehte, schaute sie sich um nach der jugendlichen Gestalt, die bloß das Öffnen abwartete, um hinauszueilen. Das Gesicht war nicht abgewandt oder zu Boden gesenkt, sondern blickte sie voll an in der Blüte der Jugend und Schönheit. Eine Ahnung von der schwachen Schranke, die zwischen dem glücklichen Vaterhaus samt der ehrbaren Liebe des schönen Mädchens lag, ein Gedanke an den Schmerz in diesem Hause und die Vernichtung der schönsten Hoffnungen, zogen in Clemencys einfache Seele und trafen ihr empfindungsfähiges Gemüt so tief, daß sie in Tränen ausbrach und ihre Arme um Marions Hals schlang.

»Ich weiß nur wenig, liebes Kind«, rief Clemency, »sehr wenig: aber ich weiß, daß das nicht recht ist. Bedenken Sie doch, was Sie tun.«

»Ich habe es vielmal bedacht«, sagte Marion ruhig.

»Noch einmal«, bat Clemency. »Bis morgen!«

Marion schüttelte das Haupt.

»Um Herrn Alfreds willen«, sagte Clemency. »Um seinetwillen, den Sie einst so sehr liebten!«

Sie verhüllte ihr Antlitz mit den Händen und wiederholte: »Einst!«, als ob das Wort ihr Herz zerschneide.

»Lassen Sie mich zu ihm hinaustreten«, bat Clemency. »Ich will ihm sagen, was Sie wollen. Treten Sie nur heute nacht nicht über die Schwelle. Ich bin überzeugt, es kann nicht gut werden. Ach, es war ein Unglückstag, als Mr. Warden hierher gebracht wurde! Denken Sie an Ihren guten Vater, liebes Fräulein – an Ihre Schwester.«

»Ich habe es getan«, sagte Marion und erhob rasch den Kopf. »Du weißt nicht, was ich tue. Ich muß mit ihm sprechen. Du hast dich in dem, was du gesagt hast, als meine beste und zuverlässigste Freundin vor der Welt erwiesen, aber ich muß diesen Schritt tun. Willst du mich begleiten, Clemency«, sie küßte ihr freundliches Gesicht, »oder soll ich allein gehen?«

Verwirrt und kummervoll drehte Clemency den Schlüssel im Schloß um und öffnete die Tür. Marion hielt die Hand der Gefährtin fest und schritt rasch in die schwarze Nacht hinaus. Dort trat er zu ihr, und sie sprachen leidenschaftlich und lange miteinander; und die Hand, mit der sie Clemency hielt, zitterte oder wurde kalt wie die einer Leiche, oder drückte sie innig im Feuer der Worte, die ihr willenlos entströmten. Als sie zurückkehrten, begleitete er Marion bis an die Tür; hier ergriff er die andere Hand und drückte sie an die Lippen. Dann entfernte er sich vorsichtig.

Die Tür ward wieder verriegelt und verschlossen, und wieder stand sie im Vaterhaus. Nicht niedergebeugt von dem Geheimnis, das sie heimtrug, obwohl sie noch so jung war. Mit dem gleichen Ausdruck jedoch in dem Gesicht, wofür mir schon früher der Name fehlte, und der durch ihre Tränen schimmerte. Sie dankte ihrer einfachen Freundin wiederholt und vertraute ihr, wie sie erklärte, völlig und ohne Vorbehalt. Als sie glücklich ihre Schlafkammer erreicht hatte, sank sie auf die Knie und konnte, ihr Geheimnis im Herzen, beten! Ja, sie vermochte aufzustehen vom Gebet so ruhig und glücklich, und sich über die schlummernde Schwester beugen, sie ansehen und lächeln – wenn auch traurig. Und als sie ihre Stirn küßte, murmelte sie leise vor sich hin, daß Grace ihr immer eine Mutter gewesen, und daß sie an ihr hinge wie ein Kind. Und sie konnte den willenlosen Arm sich um den Hals schlingen, als sie auf das Kissen sank – und der Arm schien sie selbstbewußt mit Schutz und Liebe festzuhalten, und die zarten Lippen schienen zu hauchen: Gott segne dich! Und sie konnte selbst ruhig einschlafen, nur von einem Traum gestört, in dem sie mit ihrer unschuldigen und ergreifenden Stimme rief, daß sie ganz allein sei und alle sie vergessen hätten. Ein Monat zieht bald vorüber, selbst wenn er langsam dahinzieht. Der Monat, der zwischen dieser Nacht und der Rückkehr lag, zog schnell vorbei und glitt dahin wie ein Nebelhauch.

Der Tag erschien. Es war ein stürmischer Wintertag, der das alte Haus manchmal erschütterte, als friere es. Ein Tag, wie er den heimischen Herd doppelt lieb macht, wie er der Ecke am Kamin neue Anziehungskraft verleiht, einen rötlichen Glutschimmer auf die um die Feuerstätte gereihten Gesichter wirft, und die Gruppen um jeden Kamin einen engeren und innigeren Bund gegen die tobenden Gewalten draußen schließen läßt. Ein rauher Wintertag, wie er am besten auf die ausgesperrte Nacht, auf zugezogene Fenster, freundliche Gesichter, Musik, Lachen, Tanz, Lichterfülle und geselliges Vergnügen vorbereitet!

Für all das hatte der Doktor gesorgt, um Alfred willkommen zu heißen. Sie wußten, daß er erst in der Nacht eintreffen konnte; und sie wollten die Nacht von Jubel widerhallen lassen, erklärte er, wenn er käme. Alle seine Freunde sollten versammelt sein. Kein Gesicht, das er gekannt und geliebt, sollte fehlen. Nein: sie sollten alle zugegen sein. Also wurden die Gäste eingeladen, eine Kapelle bestellt, Tafeln bereitet, der Tanzsaal hergerichtet und mit verschwenderischer Gastlichkeit für alle geselligen Wünsche gesorgt. Weil es Weihnachten war, und seine Augen nicht mehr die englische Stechpalme und ihr dunkles, immerwährendes Grün gewohnt waren, war der Tanzsaal damit ausgeschmückt. Die roten Beeren winkten aus der dunklen Laube einen heimatlichen Willkommengruß zu. Es war ein arbeitsreicher Tag für alle, jedoch für niemanden so sehr wie für Grace, die allenthalben still nach dem Rechten sah und die heitere Seele aller Vorbereitungen war. Oftmals schaute an diesem Tag (wie vielmal während des Monats, der ebenso schnell vergangen war) Clemency ängstlich forschend Marion an. Sie war vielleicht etwas blässer als sonst. Aber auf ihrem Antlitz lag eine freundlich sichere Ruhe, die es lieblicher als je machte.

Abends, als sie angekleidet war und in ihrem Haar einen Kranz trug, den Grace selbst hineingeflochten – es waren Alfreds Lieblingsblumen, und darum hatte Glace sie ausgesucht – lag jener bekannte Ausdruck, besinnlich, fast bekümmert, und doch so durchgeistigt, edel und rein wieder über ihrer Stirn und ließ die ganze Erscheinung noch hundertmal anmutsvoller aussehen.

»Der nächste Kranz, den ich in dein Haar flechte, ist der Brautkranz«, sagte Grace; »oder ich bin keine gute Prophetin.«

Ihre Schwester lächelte und umschlang sie mit ihren Armen.

»Noch einen Augenblick, Grace. Verlaß mich noch nicht. Weißt du sicher, daß mir nichts mehr fehlt?«

Sie verstand Marions Anspielung nicht recht. Sie dachte an das Gesicht ihrer Schwester, und ihr Blick ruhte mit zärtlicher Innigkeit über ihr.

»Meine Kunst kann nicht weitergehen, teures Kind«, sagte Grace; »und auch nicht deine Schönheit. Ich habe dich nie so schön gesehen wie jetzt.«

»Ich fühlte mich nie so glücklich«, entgegnete diese.

»Ja, aber größeres Glück harrt noch auf dich. An einem andern solchen Herd, ebenso freundlich und anheimelnd wie dieser hier«, sagte Grace, »werden bald Alfred und seine junge Frau hausen.«

Sie lächelte wieder. »Du denkst dir ein glückliches Heim, Grace. Ich sehe es deinen Augen an. Ich weiß es, daß es glücklich sein wird, Liebe. Wie fröhlich bin ich, das zu wissen!«

»Nun«, sagte der Doktor, geschäftig eintretend. »Sind wir alle fertig, um Alfred zu empfangen? Er kann erst ziemlich spät eintreffen – etwa eine Stunde vor Mitternacht – so haben wir Zeit genug, um vor seiner Ankunft in Stimmung zu kommen. Er soll nicht erscheinen, bevor das Eis gebrochen ist. Schüre das Feuer, Britain! Laß es auf die Stechpalme leuchten, bis sie glüht. Es ist eine Welt der Narrheit, meine guten Kinder, Liebhaber, – alles andere – lauter Unfug. Jedoch wir wollen mit den andern Menschen töricht sein und unserm treuen Liebhaber einen ausgelassenen Willkommen geben. Wahrhaftig!« sagte der Doktor und blickte seine Töchter mit stolzer Freude an, »ich glaube heute abend beinahe neben anderer Narrheit, daß ich Vater von zwei hübschen Töchtern bin.«

»Und alles, was die eine je begangen hat und noch begehen kann, um dir Schmerz zu bereiten, lieber Vater«, sagte Marion, »das vergib ihr jetzt, wo ihr Herz voll ist. Sage, daß du ihr vergibst. Daß du ihr vergeben wirst. Daß du ihr immer deine Liebe erhalten wirst, und« – sie brach ab und barg ihr Gesicht an des alten Mannes Brust.

»Kind, Kind!« sagte der Doktor sanft. »Vergeben! Was soll ich denn vergeben? Wahrhaftig, wenn unsere treuen Liebhaber zurückkehren, um uns solche Szenen zu bereiten, dann müssen wir sie uns vom Leibe halten. Wir müssen ihnen Sendboten entgegensenden und sie nur eine Stunde für den Tag reisen lassen, bis wir gehörig vorbereitet sind, um sie zu empfangen. Küsse mich, mein Herzblatt. Vergeben! Was für ein einfältiges Kind du bist. Wenn du mich fünfzigmal des Tages geärgert hättest, statt gar nicht, so würde ich dir alles vergeben, nur nicht eine solche Bitte. Küsse mich, mein Herzblatt! Also: in Vergangenheit und Zukunft – reine Rechnung zwischen uns. Schürt das Feuer an! Sollen die Leute in der kalten Dezembernacht erfrieren? Laßt es licht und warm und heiter sein, oder ich vergebe gewissen Leuten gewiß nicht!«

So guter Dinge und vergnügt war der Doktor. Und das Feuer wurde angeschürt, die Lichter brannten hell; die Gäste kamen, ein frohes Durcheinander hob an, und schon herrschte ein angenehmer Ton festlicher Erregung im ganzen Hause. Immer mehr Gäste kamen an. Helle Augen grüßten Marion. Lächelnde Lippen wünschten ihr Glück. Erfahrene Mütter spielten mit dem Fächer und hofften, sie möge nicht zu jung und leichten Sinnes für das häusliche Leben sein. Temperamentvolle Väter fielen in Ungnade, weil sie ihre Schönheit zu sehr bewunderten. Töchter beneideten sie. Söhne beneideten ihn. Ungezählte verliebte Paare machten sich die Gelegenheit zunutze; alle waren voll Beteiligung, Aufregung und Erwartung.

Mr. Craggs und Mrs. Craggs erschienen Arm in Arm, aber Mrs. Snitchey erschien allein. »Mein Gott, wo haben Sie Ihren Mann?« fragte der Doktor.

Der Paradiesvogel auf Mrs. Snitcheys Turban bebte, als ob er wieder lebendig geworden wäre, und sie sagte, daß es jedenfalls Mr. Craggs wisse. Ihr teilten sie es ja nie mit.

»Das garstige Bureau«, sagte Mr. Craggs.

»Ich wollte, es würde bis auf den Grund niederbrennen«, seufzte Mrs. Snitchey.

»Er ist – er ist – eine kleine geschäftliche Angelegenheit hält meinen Sozius etwas auf«, sagte Mr. Craggs und sah sich beunruhigt um.

»Ach was, geschäftliche Angelegenheit. Machen Sie mir das nicht weis!« begann Mrs. Snitchey.

»Wir wissen, was es heißt, geschäftliche Angelegenheit«, sagte Mrs. Craggs.

Aber daß sie es nicht wußten, war vielleicht die Ursache, weshalb Mrs. Snitcheys Paradiesvogel so unheilverkündend bebte und alle einzelnen Teile von Mrs. Craggs' Ohrringen wie kleine Schellen läuteten.

»Es wundert mich, daß du kommen konntest, Craggs«, meinte seine Frau.

»Mr. Craggs ist darob glücklich, sicherlich«, sagte Mrs. Snitchey.

»Das Bureau nimmt sie so in Anspruch«, sagte Mrs. Craggs.

»Jemand, der ein Geschäft hat, darf eigentlich gar nicht heiraten«, sagte Mrs. Snitchey.

Dann stellte Mrs. Snitchey für sich fest, daß der Blick, mit dem sie dies gesagt, Craggs ins tiefste Herz getroffen habe und daß er dies empfinde. Mrs. Craggs aber meinte zu ihrem Gatten, daß Snitchey ihn hinter dem Rücken betrüge, und daß er das erkennen werde, wenn es zu spät sei.

Aber Mr. Craggs blickte sich, ohne diese Bemerkungen sehr zu beachten, noch immer beunruhigt um, bis sein Blick Grace begegnete, die er alsbald begrüßte.

»Guten Abend, Ma'am«, sagte Craggs. »Sie sehen entzückend aus. Ihre – Fräulein – Ihre Schwester, Fräulein Marion ist –«

»O, sie ist ganz munter, Mr. Craggs.«

»Ja – ich – ist sie hier?« fragte Craggs.

»Hier! sehen Sie sie dort nicht? Sie tritt eben zum Tanz an«, sagte Grace.

Mr. Craggs setzte die Brille auf, um besser zu sehen; musterte Marion eine Weile. Dann räusperte er sich und steckte die Brille mit zufriedener Miene wieder ins Futteral und in die Tasche.

Jetzt erklang die Musik und der Tanz hob an. Das helle Feuer prasselte lustig und sprang, als ob es vor lauter Freude selber mit tanzen wollte. Zuweilen knisterte es, als wollte es auch musizieren. Dann wieder strahlte und glühte es, als wäre es das Auge des alten Zimmers, und manchmal zwinkerte dies Auge pfiffig, wie ein ausgelassener Alter, wenn er die Jugend in den Ecken miteinander tuscheln sieht. Manchmal kokettierte es mit den Stechpalmenzweigen; und wenn sein flimmernder Schein auf die dunkeln Blätter fiel, schien es, als ständen diese wieder draußen in der kalten Winternacht und wurden gezaust vom Winde. Manchmal ward seine Stimmung ganz wild und ausgelassen und übersprang alle Grenzen. Dann verpustete es laut lachend mitten unter die Tanzenden einen Regen harmloser Funken und schwang sich laut jubelnd den alten Schornstein empor. Ein zweiter Tanz war fast vorüber, da ergriff Mr. Snitchey seinen zuschauenden Sozius beim Arm.

Mr. Craggs zuckte zusammen, als wäre sein Freund ein Geist.

»Ist er fort?« fragte er.

»Pscht!« sagte Snitchey. »»Er hat länger als drei Stunden bei mir verweilt. Er überprüfte alles und nahm es sehr gründlich. Er – hm!«

Der Tanz war vorbei. Marion schritt dicht an ihm vorüber, als er redete. Sie achtete weder auf ihn noch seinen Sozius, vielmehr sah sie sich nach ihrer Schwester im Hintergrunde des Saales um, als sie langsam durch das Gewimmel schritt und ihren Blicken entschwand.

»Sehen Sie, alles gut und in Ordnung«, sagte Mr. Craggs. »Er sprach nicht mehr davon, denke ich?«

»Kein Wort.«

»Und ist er wirklich weg? Und ohne Gefahr?«

»Er hält sein Wort. Er fährt in seiner Nußschale bei Ebbe stromabwärts und segelt vor dem Wind in dieser dunklen Nacht zum Meer. Ein Abenteurer ist er einmal. Es gibt sonst nirgends eine so verlassene Reederei. Das ist ihm gleich. Die Ebbe tritt gegenwärtig eine Stunde vor Mitternacht ein, meinte er. Ich bin froh, daß es vorüber ist.« Mr. Snitchey wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht, das ganz rot und erregt ausschaute.

»Was halten Sie«, sagte Craggs, »von der –«

»Still!« warnte sein vorsichtiger Sozius und blickte geradeaus. »Ich verstehe Sie. Nennen Sie keinen Namen und lassen Sie sich nicht merken, daß wir von Geheimnissen reden. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll; und um Ihnen die Wahrheit zu gestehen, es ist mir jetzt auch gleichgültig. Mir ist es eine wirkliche Erleichterung. Ich glaube, seine Eitelkeit täuschte ihn. Vielleicht war auch das Mädchen ein wenig kokett. Es scheint fast so. Ist Alfred da?«

»Noch nicht«, sagte Mr. Craggs, »er wird aber jeden Augenblick erwartet.«

»Schön.« Mr. Snitchey trocknete sich die Stirn von neuem. »Es ist eine große innere Befreiung. Ich bin noch nicht so unruhig gewesen, seitdem wir zusammen arbeiten. Ich möchte nun den Abend genießen, Mr. Craggs.«

Mrs. Craggs und Mrs. Snitchey traten zu ihnen, als er diese Absicht äußerte. Der Paradiesvogel war in großer Erregung; und die Glöckchen läuteten vernehmlich.

»Es ist allgemein darüber geredet worden, Mr. Snitchey«, sagte Mrs. Snitchey. »Ich hoffe, das Geschäft ist befriedigt.«

»Womit befriedigt, meine Beste?« fragte Mr. Snitchey.

»Daß ein wehrloses Weib dem Spott und der Rederei der Welt ausgesetzt worden ist«, erwiderte seine Frau. »Das liegt aber völlig in der Natur des Geschäfts, das ist ganz klar.«

»Ich bin schon so lange daran gewöhnt«, fuhr Mrs. Craggs fort, »das Geschäft mit allem, was das häusliche Glück verdirbt, verbündet zu sehen, daß ich schon zufrieden bin, es als den ehrlichen Feind meiner Ruhe zu erkennen. Das ist doch wenigstens offen und ehrlich.«

»Liebe Frau«, versetzte Mr. Craggs, »deine werte Meinung in allen Ehren! Aber ich habe doch nie behauptet, daß das Geschäft der Feind deiner Ruhe sei.«

»Nein«, entgegnete Mrs. Craggs und schüttelte ihre Glöckchen, »Nein, du natürlich nicht. Du würdest dich ja des Geschäfts nicht würdig erweisen, wenn du so aufrichtig wärest.«

»Was mein langes Bleiben heute abend anbelangt, meine Beste«, sagte Mr. Snitchey und nahm seine Frau am Arm, »so war das Mißgeschick allein auf meiner Seite; aber, wie Mr. Craggs weiß –«

Mrs. Snitchey ließ ihn das Kompliment nicht zu Ende ausreden; denn sie zog ihren Gatten zur Seite und verlangte von ihm, diesen Menschen anzusehen. Ihr den Gefallen zu tun, ihn anzusehen.

»Wen, liebe Frau?« fragte Mr. Snitchey.

»Den Verbündeten deines Lebens; das bin ich dir freilich nicht, Mr. Snitchey«, seufzte Mrs. Snitchey.

»Aber, ich bitte dich, liebe Frau«, beruhigte ihr Gatte.

»Nein, nein«, sagte Mrs. Snitchey mit erhabenem Lächeln. »Ich kenne meine Stellung. Sieh ihn an, den Verbündeten deines Lebens; dein Musterbild, den Bewahrer deiner Geheimnisse; den Mann, dem du vertraust; dein zweites Selbst –«

Dem Blicke seiner Frau folgend, sah Snitchey nach seinem Sozius hin.

»Wenn du heute abend diesem Menschen in die Augen blicken kannst«, sprach Mrs. Snitchey weiter, »und nicht weißt, daß du belogen und betrogen bist; daß du ein Opfer seiner Hinterhalte, ein Knecht seines Willens geworden bist durch einen rätselhaften Zauber, vor dem ich dich umsonst gewarnt habe, so kann ich nur sagen: du tust mir leid!«

Im gleichen Augenblick ließ Mrs. Craggs eine Standpauke los. Wie es nur möglich sei, fragte sie, daß er seinem Snitchey so blind zu trauen vermöchte? Ob er etwa behaupten wolle, er habe Snitchey nicht hereinkommen und in seinem Gesicht nicht Hinterlist, Tücke und Verrat harren sehen? Ob er leugnen wolle, daß schon die Manier, wie er sich die Stirn trockne und scheu um sich schaue, verrate, daß etwas schwer auf seines Snitcheys Gewissen drücke, wofern sein Snitchey überhaupt ein Gewissen habe? Ob etwa andere Leute auch wie sein Snitchey zu festlichen Abenden wie Einbrecher ins Haus einfielen? – was übrigens kaum ein passender Vergleich war, denn er war sehr leise zur Tür eingetreten. Und ob er wirklich am hellen lichten Tage (es war beinahe Mitternacht) so hartnäckig dabei beharren wolle, seinen Snitchey entgegen allen offenbaren Tatsachen, aller Vernunft und Weltkenntnis noch zu verteidigen und in Schutz zu nehmen?

Weder Snitchey noch Craggs hielten es für ratsam, sich dem Strom dieses Zornes offen zu widersetzen. Vielmehr begnügten sie sich damit, sich in diesem treiben zu lassen, bis seine Kraft abgeebbt war; und das geschah in demselben Augenblick, als man zu einem neuen Tanz antrat. Diese Gelegenheit nutzte Mr. Snitchey aus, um Mrs. Craggs um ihre Hand zu bitten, während Mr. Craggs so viel Kavalier war, Mrs. Snitchey aufzufordern. Die Damen willigten auch nach einigen nichtigen Ausflüchten, wie: »Warum fordern Sie nicht eine andere auf?« oder: »Ich weiß, Sie würden froh sein, wenn ich es ausschlage«, oder: »Mich wundert es, daß Sie auch außerhalb des Bureaus tanzen können« (dies schon scherzend), gnädig ein und traten an.

Es war diese wechselweise Höflichkeit bei den beiden Familien ein alter Brauch. Sie waren nämlich alle sehr befreundet miteinander und lebten im Tone vergnügter Vertraulichkeit. Vielleicht war der falsche Craggs und der böse Snitchey bei den Damen nur eine Rechtsfiktion, wie Cajus und Sempronius in den Akten der beiden Ehemänner; oder die beiden Damen hatten diese beiden Akten im Geschäft selbst hergestellt und gefördert, bloß um nicht gänzlich ausgeschlossen zu sein. So viel ist jedenfalls sicher, daß jede der beiden Damen ihr Fach ebenso eifrig und stetig betrieb, wie ihr Mann das seine, und daß jede eine glückliche Entwicklung der Firma ohne ihre lobenswerten Anstrengungen fast für gänzlich ausgeschlossen gehalten hätte.

Aber jetzt schwebte der Paradiesvogel in der Mitte herab; und die Glöckchen fingen an zu nicken und zu klingeln; und das rote Gesicht des Doktors drehte sich rundherum, wie ein glänzend gefirnißter Kreisel mit einem Menschengesicht. Der außer Atem geratene Mr. Craggs begann schon zu zweifeln, daß das Tanzen wie das übrige Leben den Menschen zu leicht gemacht worden. Mr. Snitchey aber tanzte mit muntern Sprüngen für sich selbst, für Craggs und für ein halbes Dutzend andere Leute.

Und auch das Feuer faßte frische Lust und loderte heller auf, angefeuert von dem Zug, den der Tanz hervorbrachte. Es war der Genius des Zimmers und überall vorhanden. Es glänzte in den Augen der Männer, schimmerte in den Juwelen am weißen Busen der Mädchen, gaukelte um ihre Ohren, als ob es ihnen neckisch etwas zuraune, erleuchtete den Fußboden und bereitete zu ihren Füßen einen rosigen Teppich, er glänzte und spiegelte und entflammte eine große Illumination in Mrs. Craggs' kleinem Glockenturm . . .

Und jetzt wurde die Luft, die es anfachte, frischer. Die Musik wurde fröhlicher, und der Tanz bewegte sich in lebhafterem Takt. Ein Wehen erhob sich, das die Blätter und Beeren an den Wänden sich wiegen machte, wie früher im Freien. Ein Rauschen ging durch das Zimmer, als ob eine unsichtbare Schar Elfen den irdischen Tänzern auf den Fersen folgte. Nun konnte kein Zug von dem Gesicht des Doktors erkannt werden, wie er sich rundherum drehte. Jetzt sah es aus, als ob ein Dutzend Paradiesvögel durchs Zimmer flögen und tausend kleine Glöckchen erklängen. Jetzt ward ein Geschwader wehender Kleider im Sturm dahin getrieben, als die Musik verklang und der Tanz sein Ende hatte.

Der Doktor fühlte sich erhitzt und außer Atem, so daß er nur noch ungeduldiger auf Alfreds Kommen ward.

»Hast du etwas erblickt, Britannien, etwas gehört?«

»Es ist zu finster, um weit zu schauen, Herr, und zu viel Lärmen im Hause, um etwas hören zu können«, antwortete der Diener.

»Das ist richtig! Um so lustiger der Willkomm. Wie spät ist es?«

»Punkt zwölf, Herr. Er kann nicht lange mehr verziehen, Herr.«

»So frische das Feuer auf und wirf noch einen Kloben dazu«, sagte der Doktor. »Sein Willkomm soll ihm durch die Nacht entgegenglänzen, je näher er kommt!«

Er schaute es – ja! Aus seinem Wagen bemerkte er den Schein, da er um die Ecke bei der alten Kirche fuhr. Er kannte das Zimmer, aus dem er strahlte. Er sah die nächsten Zweige der ihm wohlbekannten Bäume zwischen dem Leuchten und sich. Er wußte, daß einer dieser Bäume in sommerlichen Tagen hold vor Marions Fenster rauschte.

Tränen traten ihm ins Auge. Sein Herz klopfte so stark, daß er kaum sein Glück auszuhalten vermochte. Wie oft hatte er dieser Epoche gedacht, sie sich vorgestellt in allen ihren Umständen – gebangt, daß sie doch nicht erscheinen würde, und danach verlangt und sich gesehnt, fern, fern von hier!

Wieder der Glanz! Deutlich und weithin leuchtend, entzündet, wie er wußte, um ihn willkommen zu heißen und um ihm nach dem alten Haus zu leuchten. Er winkte mit der Hand, schwenkte den Hut und begrüßte sie mit Zurufen, als ob sie die Glut wären und als ob sie ihn schauen und hören könnten, wie er jauchzend ihnen auf der Straße entgegenfuhr.

Doch halt! Er kannte den Doktor und vermutete, was dieser getan hatte. Er sollte sie nicht überraschen. Und doch konnte er dies, wenn er nämlich zu Fuß auf das Haus zuschritt. Wenn die Gartentür geöffnet stand, so konnte er dort hinein. Wenn dies nicht der Fall war, so war die Mauer bald überklettert; das wußte er von früher her, und er hätte in einem Augenblick unter ihnen gestanden.

Er stieg aus dem Wagen und befahl dem Kutscher – selbst dies fiel ihm nicht leicht in seiner Erregung – ein paar Minuten zu warten und ihm dann langsam nachzufahren. Darauf eilte er schnell voraus, versuchte, ob die Tür offen war, kletterte über die Mauer, sprang auf die andere Seite herab und stand schweratmend in dem alten Obstgarten.

Es lag ein heller Reif auf den Bäumen, der in dem matten Licht des umwölkten Mondes an den dünnen Zweigen gleich welken Girlanden hing. Dürres Laub raschelte unter seinem Schritt, als er leise auf das Haus zuschlich. Die Winternacht starrte in ihrer ganzen Öde auf die Erde und erschien ebenso am Himmel. Aber der rote Glanz leuchtete ihm freundlich aus den Fenstern entgegen; Gestalten bewegten sich an ihm vorbei, und das Brausen menschlicher Stimmen traf angenehm sein Ohr.

Bemüht, ihre Stimme aus den übrigen herauszuhören und schon zur Hälfte der Überzeugung, daß er sie wirklich höre, hatte er fast schon die Tür erreicht, als sie jäh geöffnet ward und eine Gestalt ihm entgegentrat. Sie wich erschrocken und mit unterdrücktem Ruf zurück.

»Clemency«, sagte er, »kennst du mich nicht mehr?«

»Kommen Sie nicht herein!« sagte sie und suchte ihm den Eintritt zu verwehren. »Gehen Sie fort. Fragen Sie nicht weshalb. Kommen Sie nicht herein!«

»Was ist denn?« rief er aus.

»Ich weiß es nicht. Es graut mir, daran zu denken. Eilen Sie von hinnen. Hören Sie?«

Ein Lärm erhob sich im Hause. Sie hielt sich die Ohren mit den Händen zu. Ein Verzweiflungsruf, so gellend, daß keine Hand das Ohr absperren konnte, erscholl; und Grace – Entsetzen in Gesicht und Haltung – stürzte aus dem Hause.

»Grace!« Er fing sie mit den Armen auf. »Was ist los? Ist sie tot?«

Sie machte sich frei, als wollte sie ihm ins Gesicht schauen, und sank bewußtlos vor ihm zu Boden.

Eine Anzahl Menschen kam aus dem Hause gerannt. Darunter der Vater, der ein Papier in der Hand hielt.

»Was gibt es?« stöhnte Alfred und wandte seinen Blick verzweifelt von Gesicht zu Gesicht, indessen er neben der Ohnmächtigen kniete. »Will mich niemand anblicken? Will niemand mit mir sprechen? Kennt mich denn niemand? Ist keine Lippe vorhanden, die mir verrät, was passiert ist?«

Ein Geraune ward hörbar: »Sie ist fort!«

»Fort!« wiederholte er.

»Geflüchtet, lieber Alfred!« sagte der Doktor mit gebrochener Stimme und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Geflüchtet aus dem Vaterhaus. Heute nacht! Sie sagt, sie hätte selbständig und einwandfrei gewählt – bittet, wir möchten ihr verzeihen – und ist geflüchtet.«

»Mit wem? Wohin?« fragte er hastig unterdrückt.

Er sprang auf, als ob er ihr folgen wollte. Aber als sie ihm aus dem Weg wichen, sah er verstört um sich, wankte ein paar Schritte zurück und sank wieder nieder. Er blieb neben Grace knien und ergriff eine ihrer kalten Hände.

Große Verwirrung und Aufregung hatten Platz gegriffen, aber ohne Sinn und Ziel. Einige eilten auf verschiedenen Straßen nach, andere holten Pferde oder Fackeln herbei, andere redeten laut miteinander und wandten ein, daß man nicht die geringste Spur hätte. Einige traten auf ihn zu und versuchten ihn zu trösten. Andere bedeuteten ihm, daß Grace in das Haus geschafft werden müsse, aber er duldete es nicht. Er hörte auf niemanden und rührte sich nicht.

Der Schnee fiel immer dichter. Er sah einmal zum Himmel empor und dachte bei sich, daß diese weiße Asche, die über sein Hoffen und sein Leid gestreut ward, ihr gut stehe. Er schaute umher auf dem weißen Erdboden und dachte daran, daß die Spur von Marions Fuß, kaum eingedrückt, wieder verdeckt werde, und selbst dieses Gedenken an sie nicht von Dauer sein würde. Bei alledem spürte er nichts von dem Wetter und bewegte sich nicht von der Stelle.



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